Das Original-Manuskript der „Wacht am Rhein“
Im Mai vorigen Jahres machte die Nachricht, daß das Originalmanuskript des Schneckenburger’schen „Die Wacht am Rhein“ durch Vermittelung eines Berner Banquiers in die Hände der deutschen Gesandtschaft gelangt sei, die Runde durch die Tagesblätter.
Unterzeichneter war hierüber nicht wenig erstaunt, da er bisher der Meinung gewesen war, selber der glückliche Besitzer dieses Schriftstückes zu sein, und das mit um so größerer Berechtigung, als seiner Zeit die näheren Umstände in Burgdorf allgemein bekannt waren und viel besprochen wurden, ohne daß von irgend welcher Seite Einwendungen erhoben worden wären.
Gerade diese näheren Umstände aber sind es, die für die Echtheit des Manuskriptes entscheidend sprechen, und es dürfte auch für ein größeres Publikum von Interesse sein, dieselben kennen zu lernen.
Vor Allem werfen wir einen Blick auf das Manuskript selbst, das wir nachstehend in getreuer zinkographischer Nachbildung, um ein Geringes verkleinert, wiedergeben. Es zeigt sich sofort, daß wir es nicht etwa mit einer späteren Abschrift von der Hand des Dichters zu thun haben; denn obgleich das Manuskript mit Tinte geschrieben ist, findet sich eine ganze Anzahl Abänderungen: die Endreime sind zum Theil korrigirt, auch der Titel ist verbessert; die beiden Zeilen, die den bekannten Refrain bilden, schlossen in der ursprünglichen Fassung des Liedes nur die letzte Strophe ab und lauteten zuerst:
„Lieb Vaterland, magst ruhig seyn
Fest steht die treue Wach’ am Rhein!“
sodann:
„Fest steht wie treu die Wach’ am Rhein“
zuletzt:
„Fest steht und treu die Wach’ am Rhein!“
und endlich, gleichzeitig mit Feststellung des Titels „Die Rheinwacht“ wird aus der „Wach’“ die „Wacht“ am Rhein. Das aber sind Korrekturen,
wie sie später bei einer bloßen Abschrift nicht mehr vorgekommen wären. Lassen wir ferner einem Manne das Wort, der selbst dabei gewesen, als das Lied zum ersten Male verlesen und gesungen wurde.
Bekanntlich war es der verstorbene Professor der Theologie K. Hundeshagen in Bonn, der zuerst den Namen des Dichters nannte sowie über die Entstehungsgeschichte der „Wacht am Rhein“ nähere Einzelheiten veröffentlichte. Es geschah dies durch die „Köln. Zeitung“ im August des Jahres 1870. Der betreffende Aufsatz steht mir gegenwärtig nur noch in der Form zur Verfügung, wie ihn J. C. Lion seinem Buche „Kleine Schriften über Turnen von A. Spieß, nebst Beiträgen zu seiner Lebensgeschichte“[1] einverleibt hat. Er trägt den Titel „Wie die Wacht am Rhein zum ersten Male gesungen ward“. U. a. sagt Hundeshagen darin:
„Die Entstehung des Liedes fällt in die Monate Januar und Februar 1840[2], die Zeit, als die französische Regierung, den kriegslustigen Thiers an der Spitze, um den Pascha von Aegypten, Mehemed Ali, wider die zum Schutze der hart bedrängten Pforte ins Mittel getretene Quadrupel-Allianz der Großmächte zu unterstützen, einen europäischen Krieg in Aussicht stellte, welcher ausgesprochenermaßen Frankreich zugleich die durch die letzten Friedensschlüsse verloren gegangene Rheingrenze wieder verschaffen sollte.
Aus der damaligen Begeisterung der Deutschen für den Schutz des bedrohten vaterländischen Bodens, aus welcher unter Anderem das berühmte Rheinlied von N. Becker: ‚Sie sollen ihn nicht haben‘ hervorging, entsprang auch das Lied Max Schneckenburger’s: ‚Die Wacht am Rhein‘. Ich selbst habe um jene Zeit das Lied in Gegenwart des Dichters in einem Kreise von Freunden zu Burgdorf im Kanton Bern unter stürmischem Beifall verlesen und, wenn auch noch nicht künstlerisch in Musik gesetzt, singen hören.
Es hatte sich nämlich in dieser regsamen Schweizerstadt, um jene Zeit zugleich ein Mittelpunkt der Bewegung des Kantons Bern, seit dem Anfange der dreißiger Jahre auch eine ziemlich zahlreiche Kolonie von Deutschen gesammelt, theils den geschäftlichen Kreisen, theils dem Lehrerstande angehörig. Ein Theil derselben bildete, zusammengehalten durch lebendiges deutsches Nationalgefühl und gemeinsame Anschauungen in Sachen des Vaterlandes, einen auch in geselliger Hinsicht unter sich verbundenen Kreis, welcher sich besonders im Winter Samstag Abends zu einem Glase Wein in dem ‚Stadthause‘ zu versammeln pflegte, dem sich aber auch gern einzelne der besten Männer aus der schweizerischen Einwohnerschaft der Stadt anschlossen. Die Seele dieses Vereins war mein leider längst verstorbener unvergeßlicher hessischer Landsmann und Universitätsfreund von Gießen und Halle her, Adolf Spieß von Offenbach, damals Lehrer an der Stadtschule in Burgdorf, nachmals in der pädagogischen Welt so berühmt geworden durch seine zahlreichen und eingreifenden Schriften über das Turnwesen und als Begründer der Musterturnanstalt in Darmstadt, ein Mann voll Geist, Feuer und Leben. Außerdem gehörten zu diesem Kreise zwei Lützow’sche Jäger, die Pädagogen Langenthal aus Erfurt und Middendorf aus Unna in Westfalen, bereits ältere Männer, welche durch ihre Mittheilungen aus den Befreiungskriegen der Unterhaltung patriotischen Nahrungsstoff zuführten und namentlich oft auf Spieß eine zündende Wirkung ausübten …
In diesen Kreis trat nach seiner Uebersiedelung auch Max Schneckenburger ein, und bald bildete sich zwischen ihm und Spieß ein warmes Freundschaftsverhältniß, welches für beide Männer reiche Früchte trug. Durch Spieß wurde mir häufig Nachricht über die fortgehenden wissenschaftlichen Beschäftigungen des Freundes zu Theil, der damals zugleich anfing, in einige politische Zeitschriften Beiträge zu liefern; außerdem waren gelegentliche Besuche in Burgdorf zum ‚Samstag‘ mir eine erquickende Erholung.
Es läßt sich denken, welch lebhafte Bewegung in diesem kleinen Kreise die Thiers’sche Kriegsdrohung hervorrief. Wiederholt hatte zwischen Spieß und mir schon ein Gedanken- und Gefühlsaustausch über dieselbe stattgefunden. Da schrieb mir der Freund plötzlich: „Komm doch zum nächsten Samstage unfehlbar zu uns nach Burgdorf; Max Schneckenburger hat ein herrliches Lied gedichtet ‚Die Wacht am Rhein‘.“ Ich ermangelte nicht, der Einladung zu folgen und war kaum angelangt, als Spieß mit gewohntem Ungestüme an mich heranstürmte und das Lied vorlas, welches jetzt in Aller Munde ist. Am Abend aber wurde die Vorlesung im Stadthause in Gegenwart des Dichters selbst wiederholt und diesem für seine schöne Schöpfung der wärmste Dank von Seiten aller Anwesenden dargebracht. Spieß aber, der zwar kein Komponist war, aber ein trefflicher Sänger und gewaltiger Gesangsfreund, auch auf dem Klaviere leidlich Bescheid wußte, setzte sich an das Instrument und intonirte mit seiner mächtigen Koncertstimme nach irgend einer von ihm improvisirten Melodie das Lied des Freundes unter einer von ihm eben so improvisirten Klavierbegleitung. Wir Uebrigen hörten zuerst andächtig zu, fielen aber schon vom zweiten oder dritten Verse an in den schönen Refrain mit ein ‚Lieb Vaterland, magst ruhig sein, fest steht und treu die Wacht am Rhein.‘ Von dieser getrosten, durch die großen Ereignisse der letzten Tage so wunderbar bestätigten Ueberzeugung erfüllt, gingen wir aus einander. Seit jenem Abende sind dreißig Jahre verflossen. Die wenigsten von den Samstagsgenossen, welche damals das Lied zum ersten Male hörten und mit sangen, sind noch am Leben. –
Erst der unvergessene Refrain führte mich auf eine sichere Spur, und die Nachricht von der Mendel’schen Komposition mit ihrem M. Sch. machte schließlich aller meiner Ungewißheit ein Ende. So macht es mir nicht [19] geringe Freude, dem deutschen Publikum den so lange gesuchten Namen des Dichters nennen und dem mir aus vielen speciellen Gründen überaus theuern Württemberg zur Einreihung in seinen ohnehin so reichen Sängerkreis übergeben zu können.
Bonn, 11. August 1870.
Während Hundeshagen diese Zeilen schrieb, befand sich das Original-Manuskript der „Wacht am Rhein“, das an jenem denkwürdigen „Samstagsabende“ meinem Vater gedient und von da ab in seinen Besitz gekommen war, in unserer damaligen Wohnung in Paris. Es hatte sich unter den Papieren meines Vaters im Verein mit einer Anzahl anderer Schneckenburger’scher Dichtungen vorgefunden, die sämmtlich von des Dichters Hand geschrieben sind und von denen einzelne als Unterschrift die Buchstaben M. Sch. tragen. Mir waren die Papiere wohl bekannt, nur glaubte ich, sie rührten von Max von Schenkendorff her, und diesem Umstande ist es denn zu danken, daß sie trotz vieler Hin- und Herzüge unseres Hauses dennoch erhalten blieben. Bei Ausbruch des Krieges bewohnten wir mit unserer Mutter ein Logis am Boulevard Montparnasse im südlichen Theile der Stadt. Bis August waren wir, als Schweizer Bürger, obgleich unsere Sympathien für die „Prussiens“ keineswegs unbekannt geblieben waren, doch in keiner Weise angefochten worden. Am 31. August jedoch wurden wir durch einen sergent de ville persönlich aufgefordert, als zu den „bouches inutiles“ gehörend, Paris sofort zu verlassen; so reisten wir, Alles im Stiche lassend, am 1. September über Dijon nach der Schweiz. In Bern erfuhren wir zum ersten Male von den Kriegsereignissen; gleichzeitig hörten wir auch das Lied, das in Aller Munde war. Erst in Burgdorf, der Heimat meiner Mutter, wurde mir klar, daß das M. Sch. meiner Schriften Max Schneckenburger bedeute; hier erkannte ich in einigen Geschäftsbüchern der Firma Schnell u. Komp., der Schneckenberger als Theilhaber angehört hatte, dieselben charakteristischen langgestreckten Züge wieder, wie sie auch meine Schriften trugen; es war also kein Zweifel mehr, das Originalmanuskript der „Wacht am Rhein“ war gefunden, nur freilich einstweilen nicht zugänglich, weil es sich noch in Paris befand. Dort hat es denn auch die Zeit der Belagerung und der Kommune zugebracht, nicht ohne Gefahr zwar, am Schlusse der letzteren noch zu Grunde zu gehen. Als wir im Frühjahr 1871 nach Paris zurückkehrten, um unsere Sachen zu holen, da erzählte man uns, wie nahe unserem Hause Verderben gedroht hatte. Denn als die Versailler Truppen, die bekanntlich durch die Avenue du Maine in Paris ihren Einzug hielten, aus dieser in den durch eine Barrikade versperrten Boulevard Montparnasse einbogen, fiel ein Schuß und tödtete einen Officier. Der Verrath sollte durch Zerstörung des Hauses, aus welchem gefeuert worden, geahndet werden, falls der Thäter nicht erscheine. Schon war eine Kanone aufgefahren, da fand man den Schuldigen im Keller eines benachbarten Hauses; derselbe wurde sofort standrechtlich erschossen; unser Haus war gerettet.
Das Manuskript fand sich unversehrt vor. Völlig veränderte neue Lebensverhältnisse jedoch lenkten bald meine Gedanken von diesem Gegenstande ab, und da es auch an einer äußeren Veranlassung fehlte, so unterblieb jede Veröffentlichung dieser Thatsachen.
Heute jedoch, wo die Heimat des Dichters, die Gemeinde Thalheim, die
Asche ihres verehrten Bürgers vom Burgdorfer Kirchhofe auf den ihrigen
übergeführt und damit einem Lieblingswunsche des früh Entschlafenen
Ausdruck gegeben hat, dürfte der Moment gekommen sein, wo auch obige Zeilen
einem größeren deutschen Publikum zur Kenntniß gebracht werden mögen;
gleichzeitig soll damit einem Irrthume begegnet werden, der hierdurch wohl
seine Erledigung gefunden haben wird. Eduard Spieß.