Deutschland und Frankreich
[19] Deutschland und Frankreich. Während die beiden Völker sich, die Hand am Schwertesgriff, gegenüberstehen und „die Wacht am Rhein“ keinen Augenblick die Waffe aus der Hand legt, in jüngster Zeit, wo die Gerüchte einer drohenden russisch-französischen Allianz die Luft durchschwirren, noch weniger als früher: hören die beiden Völker nicht auf, sich für einander zu interessiren und ihre geistigen Schätze mit einander auszutauschen.
Neuerdings interessirt es die Franzosen zu erfahren, wie man in
Deutschland über sie denkt und urtheilt, und ein französischer Autor,
Grand-Carteret, hat sich die Mühe nicht verdrießen lassen, Urtheile
deutscher Politiker und Schriftsteller über Frankreich aus mehreren Jahrhunderten
zusammenzustellen in einer Schrift: „Frankreich beurtheilt von
Deutschland“ [1] Nun, unsere Nachbarn brauchen sich im ganzen nicht zu
beklagen über diese Aussprüche, denn sie lassen auch ihren guten
Eigenschaften Gerechtigkeit widerfahren. Einige dieser Urtheile werden als
durchaus zutreffend von dem französischen Autor selbst bezeichnet. Neben
der schwunghaften und begeisterten Kampfesmuse der Jahre 1813 und
1870 ging stets die unbefangene Würdigung der Vorzüge unseres
Nachbarvolkes einher. Die Schrift führt auch die Urtheile unserer großen
Regenten und Staatsmänner, Friedrich’s II. und Bismarck’s über
Frankreich an. Bekannt ist, daß Heine und Börne begeisterte
Franzosenfreunde waren und das junge Deutschland ebenfalls von Paris aus sehr
viele Anregungen empfing, während Wolfgang Menzel von Börne als
Franzosenfresser angegriffen wurde. Die späteren deutschen Touristen
und Feuilletonisten geben ebenfalls
Anlaß zu einer sehr reichen
Blüthenlese von Bemerkungen über
französisches Wesen, von
charakteristischen Schilderungen französischer
Zustände, besonders des Theaters.
Frankreich setzt sich gleichsam auf den
Lästerstuhl und läßt sich von Deutschland
lorgnettiren und bekritteln, hält es
aber doch der Mühe werth, alle diese
kritischen Randglossen in einem Album
zu sammeln und dem französischen
Volke vorzuhalten. Man legt drüben
Gewicht auf unser Urtheil: das war
in früheren Zeiten nicht der Fall.
Deroulède hat in seiner Zeitschrift:
„Le Drapeau“ (Die Fahne) nur die
deutschen Kriegslieder übersetzt, um
die Franzosen zur Rache anzustacheln:
Jetzt erfahren sie auch, wie
viel wohlwollendes, mindestens
Antheilvolles in Deutschland über sie
geschrieben worden ist. Schwerlich
wird dies ihren Groll über die
Niederlagen von 1870 und 1871
entwaffnen; wir sind gerüstet und rüsten
uns immer mehr, ihm zu begegnen:
aber das geistige Zusammenstreben
der so verschiedenartigen und doch
sich ergänzenden Völker würde als
schöner Zukunftstraum selbst einen
abermaligen blutigen Kampf überleben. †
- ↑ J. Grand-Carteret. „La France jugée par l’Allemagne“.