Das Wesen des Christentums/Fünfzehnte Vorlesung

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[165]
Fünfzehnte Vorlesung.




Der römische Katholizismus als äußere Kirche, als ein Staat des Rechts und der Gewalt, hat mit dem Evangelium nichts zu thun, ja widerspricht ihm grundsätzlich: darauf haben wir am Schluß der letzten Vorlesung hingewiesen. Daß dieser Staat sich vom Evangelium her einen göttlichen Schimmer borgt, und daß dieser Schimmer ihm außerordentlich nützlich ist, kann das Urteil nicht umstoßen. Die Vermischung des Göttlichen mit dem Weltlichen, des Innerlichsten mit dem Politischen ist der tiefste Schade, weil die Gewissen geknechtet werden und die Religion um ihren Ernst gebracht wird – muß sie ihn nicht verlieren, wenn alle möglichen Maßregeln, die dazu dienen, das irdische Reich der Kirche zu erhalten, als der göttliche Wille proklamiert werden, z. B. die Souveränetät des Papstes? Aber man weist darauf hin, daß eben durch die selbständige Haltung dieser Kirche die Religion im Abendlande davor geschützt worden sei, ganz dem Volkstum oder dem Staate und der Polizei zu verfallen. Diese Kirche hat, so sagt man, den hohen Gedanken der vollen Selbständigkeit der Religion und ihrer Unabhängigkeit vom Staat aufrecht erhalten. Man kann das zugeben; aber der Preis, den das Abendland für diesen Dienst hat zahlen müssen und noch immer zahlt, ist viel zu hoch: den Völkern droht der innerliche Bankerott, so groß ist der Tribut, und der Kirche – für sie ist das Kapital, das sie gewonnen hat, in Wahrheit ein fressendes Kapital. Langsam vollzieht sich ein Prozeß der Verarmung der Kirche bei allem scheinbaren Zuwachs an Macht, langsam aber sicher. Gestatten Sie mir hier einen kurzen Exkurs.

[166] Wer die politische Lage ins Auge faßt, wie sie eben jetzt besteht, hat gewiß keinen Grund, die abnehmende Macht der römischen Kirche zu konstatieren. Welchen Zuwachs hat sie im 19. Jahrhundert erlebt! Und doch – ein scharfes Auge gewahrt, daß sie längst nicht mehr über solch eine Fülle von Kräften gebietet, wie im 12. und 13. Jahrhundert. Damals standen alle materiellen und geistigen Kräfte zu ihrer Verfügung. Intensiv hat seitdem, aufgehalten durch einige kurze Epochen des Aufschwungs wie zwischen 1540 und 1620 und im 19. Jahrhundert, ein ungeheurer Rückgang stattgefunden. Besorgte und ernste Katholiken verhehlen sich das nicht; sie wissen und erklären, daß ein wichtiger Teil des geistigen Besitzes, der zur Herrschaft der Kirche notwendig ist, ihr abhanden gekommen sei. Und weiter – wie steht es mit den romanischen Nationen, die doch das eigentliche Gebiet der Herrschaft dieser römischen Kirche bilden? Eine wirkliche Großmacht ist nur noch eine einzige von ihnen zu nennen, und wie wird es nach einem Menschenalter aussehen? Diese Kirche lebt als Staat heute zu einem nicht geringen Teil von ihrer Geschichte, ihrer altrömischen und ihrer mittelalterlichen, und sie lebt als das römische Reich der Romanen; Reiche aber leben nicht ewig. Wird die Kirche fähig sein, sich in dem zukünftigen Umschwung der Dinge zu behaupten, wird sie die fortschreitende Spannung mit dem geistigen Leben der Völker ertragen, wird sie den Rückgang der romanischen Staaten überdauern?

Doch lassen wir diese Fragen auf sich beruhen. Erinnern wir uns vielmehr, daß diese Kirche in ihrem Mönchtum und ihren religiösen Vereinen, vor allem aber Dank dem Augustinismus ein tiefes und lebendiges Element in ihrer Mitte hat. Zu allen Zeiten hat sie Heilige erzeugt, soweit Menschen so genannt werden können, und ruft sie noch jetzt hervor. Gottvertrauen, ungefärbte Demut, Gewißheit der Erlösung, Hingabe des Lebens im Dienste der Brüder ist in ihr zu finden; das Kreuz Christi nehmen zahlreiche Brüder auf sich und üben zugleich jene Selbstbeurteilung und jene Freude in Gott, wie sie Paulus und Augustin gewonnen haben. Selbständiges religiöses Leben entzündet sich in der Imitatio Christi und ein Feuer, das mit eigener Flamme brennt. Das Kirchentum hat die Kraft des Evangeliums nicht zu unterdrücken vermocht; trotz den furchtbarsten Lasten, die auf dasselbe geworfen sind, dringt es immer wieder durch. Noch immer wirkt es wie ein Sauerteig.[167] Und wie kann man verkennen, daß diese Kirche dicht neben einer laxen Moral, deren sie sich oft genug schuldig gemacht hat, durch ihre großen mittelalterlichen Theologen das Evangelium fruchtbar auf viele Verhältnisse des Lebens angewendet und eine christliche Ethik geschaffen hat? Hier und anderswo hat sie bewährt, daß sie evangelische Gedanken nicht nur so mit sich führt, wie ein Fluß Goldkörner, sondern daß sie mit ihr verbunden sind und sich in ihr weitet entwickelt haben. Der unfehlbare Papst, der „apostolisch-römische Polytheismus“ der Heiligenverehrung, blinder Gehorsam und stumpfe Devotion – sie scheinen alle Innerlichkeit erstickt zu haben, und doch sind auch in dieser Kirche Christen zu finden, wie sie das Evangelium erweckt, ernst und liebevoll, erfüllt von Freude und Frieden in Gott. Endlich, nicht das ist der Schade, daß sich das Evangelium überhaupt mit politischen Formen verbunden hat – Melanchthon war kein Verräther, als er den Papst anerkennen wollte, wenn dieser die reine Verkündigung des Evangeliums zuließe –, sondern er liegt in der Sanktifikation des Politischen und in der Unfähigkeit dieser Kirche, das abzustreifen, was einst unter besonderen geschichtlichen Verhältnissen zweckmäßig war, nun aber zum Hemmnis geworden ist.


Wir kommen zum letzten Abschnitt unserer Darstellung:

Die christliche Religion im Protestantismus.

Wer auf die äußere Lage des Protestantismus, namentlich in Deutschland sieht, der mag beim ersten Anblick wohl ausrufen: Ach wie kümmerlich! Wer aber die Geschichte Europas überschaut vom 2. Jahrhundert bis zur Gegenwart, der wird urteilen müssen, daß in dieser ganzen Geschichte die Reformation des 16. Jahrhunderts die größte und segensreichste Bewegung gewesen ist; selbst der Umschwung beim Übergang zum 19. Jahrhundert tritt hinter sie zurück. Was wollen alle unsre Entdeckungen und Erfindungen und unsre Fortschritte in der äußeren Kultur gegenüber der Thatsache besagen, daß heute dreißig Millionen Deutsche und noch viel mehr Millionen von Christen außerhalb Deutschlands eine Religion haben ohne Priester, ohne Opfer, ohne Gnadenstücke und Zeremonien – eine geistige Religion!

Der Protestantismus muß in erster Linie aus seinem Gegen-[168] satze zum Katholizismus verstanden werden, und zwar ist er hier in doppelter Richtung zu würdigen, erstlich als Reformation und zweitens als Revolution. Reformation ist er gewesen in Bezug auf die Heilslehre, Revolution in Bezug auf die Kirche, ihre Autorität und ihren Apparat. Der Protestantismus ist somit keine spontane, gleichsam durch eine generatio aequivoca erzeugte Erscheinung, sondern er ist, wie schon sein Name besagt, durch die unerträglich gewordenen Mißstände der katholischen Kirche hervorgerufen worden und ist der Abschluß einer langen Reihe ihm verwandter, aber unkräftiger Reformversuche des Mittelalters. Beweist er bereits durch diese geschichtliche Stellung seine Kontinuität mit der Vergangenheit, so tritt diese noch stärker in seiner eigenen, nicht unzutreffenden Behauptung zu Tage, er sei in Bezug auf die Religion kein Neuerer, sondern habe erneuert. Aber auf die Kirche und ihre Autorität gesehen, ist er unzweifelhaft revolutionär aufgetreten. Also ist er in beiden Beziehungen zu würdigen.

1. Reformation, d. h. Erneuerung ist der Protestantismus gewesen in Bezug auf den Kern der Sache selbst, in Bezug auf die Religion und darum auf die Heilslehre. Es läßt sich das vornehmlich an drei Punkten zeigen.

Erstlich: Die Religion ist hier wieder auf sich selbst zurückgeführt worden, sofern das Evangelium und das ihm entsprechende religiöse Erlebnis in den Mittelpunkt gerückt und von fremder Zuthat befreit worden sind. Aus dem ungeheuren, weitschichtigen Gefüge, das man bisher „Religion“ genannt hatte, aus jenem Gefüge, welches das Evangelium und das Weihwasser, das allgemeine Priestertum und den thronenden Papst, den Erlöser Christus und die heilige Anna umfaßte, ist die Religion herausgeführt und auf ihre wesentlichen Faktoren reduziert worden, auf das Wort Gottes und den Glauben. Kritisch wurde diese Erkenntnis geltend gemacht gegenüber allem, was auch „Religion“ sein und sich gleichwertig mit jenen Größen verbinden wollte. Jegliche wirklich bedeutende Reformation in der Geschichte der Religionen ist in erster Linie stets kritische Reduktion; denn im Laufe ihrer geschichtlichen Entwicklung zieht die Religion, indem sie sich den Verhältnissen anpaßt, sehr viel Fremdes an sich, produziert mit ihm zusammen eine Fülle von Zwitterhaftem und Apokryphem und stellt es notgedrungen unter den Schutz des Heiligen. Soll sie nicht üppig verwildern oder in ihrem eigenen dürren Laube ersticken, so muß[169] der Reformator kommen, der sie reinigt und sie auf sich selbst zurückführt. Diese kritische Reduktion hat im 16. Jahrhundert Luther vollzogen, indem er siegreich erklärte: die christliche Religion ist einzig gegeben in dem Worte Gottes und in dem innern Erlebnis, welches diesem Worte entspricht.

Der zweite Punkt lag in der bestimmten Fassung des „Wortes Gottes“ und des „Erlebnisses“. Jenes „Wort“ war ihm nicht die Kirchenlehre, auch nicht die Bibel, sondern die Verkündigung von der freien Gnade Gottes in Christus, die den schuldigen und verzweifelnden Menschen fröhlich und selig macht, und das „Erlebnis“ war eben die Gewißheit dieser Gnade. Im Sinne Luthers faßt sich beides in einem Satz zusammen: Der zuversichtliche Glaube, einen gnädigen Gott zu haben. Damit – so hat er es erfahren und so hat er es gepredigt – ist der innere Zwiespalt im Menschen gehoben, der Druck jeglichen Übels überwunden, das Schuldgefühl ausgetilgt und trotz der Unvollkommenheit der eigenen Leistungen die Gewißheit, mit dem heiligen Gott untrennbar verbunden zu sein, gewonnen:

Nun weiß und glaub’ ich’s feste,
Ich rühm’s auch ohne Scheu,
Daß Gott, der Höchst’ und Beste,
Mein Freund und Vater sei,
Und daß in allen Fällen
Er mir zur Rechten steh’
Und dämpfe Sturm und Wellen
Und was mir bringet Weh.[WS 1]

Nichts anderes soll gepredigt werden als der gnädige Gott, mit dem wir durch Christus versöhnt sind, und wiederum nicht Ekstasen und Visionen gilt es, kein Überschwang von Gefühlen ist nötig, sondern Glaube soll erweckt werden; er soll Anfang, Mitte und Ende der ganzen Frömmigkeit sein. In der Korrespondenz von Wort und Glaube wird die „Rechtfertigung“ erlebt; sie ist darum das Hauptstück der reformatorischen Verkündigung; sie bedeutet nichts Geringeres, als durch Christus Frieden und Freiheit in Gott erlangt zu haben, Herrschaft über die Welt und innere Ewigkeit.

Das Dritte endlich in dieser Erneuerung war die mächtige[170] Umbildung, die nun der Gottesdienst erleben mußte, der des Einzelnen und der Gottesdienst der Gemeinschaft. Jener – das war offenbar – kann und darf nichts anderes sein als Bethätigung des Glaubens. „Gott will von uns nichts anderes als den Glauben und will auch nur durch den Glauben mit uns handeln“: diesen Satz hat Luther unzählige Male wiederholt. Daß der Mensch Gott Gott sein läßt und ihm die Ehre giebt, ihn als den Vater anzuerkennen und anzurufen – nur so vermag er ihm zu dienen. Alle übrigen Wege, die er aufsucht, um zu ihm zu kommen und ihm zu ehren, sind Irrwege, und alle anderen Beziehungen, die er knüpfen will, sind vergeblich. Welch eine ungeheure Masse ängstlicher, hoffender und hoffnungsloser Versuche war nun abgethan, und welch eine Umwälzung im Kultus war damit gegeben! Was aber von dem Gottesdienst des Einzelnen gilt, das gilt genau so von dem gemeinschaftlichen. Auch hier hat nur das Wort Gottes und das Gebet einen Platz. Alles andere ist zu verbannen: die gottesdienstliche Gemeinde soll in Dank und Lob Gott verkündigen, und sie soll ihn anrufen. Darüber hinaus giebt es überhaupt keinen „Gottesdienst“.

In diesen drei Stücken ist das, was in der Reformation die Hauptsache war, enthalten. Um Erneuerung handelte es sich; denn sie bezeichnen nicht nur, wenn auch in eigentümlicher Weise, eine Rückkehr zum ursprünglichen Christentum, sondern sie waren auch im abendländischen Katholizismus selbst vorhanden, wenn auch verschüttet und verdeckt.

Bevor wir aber weiter gehen, gestatten Sie mir zwei kurze Exkurse. Wir sagten eben, die gottesdienstliche Gemeinde dürfe ihren Gottesdienst nicht anders feiern als durch Verkündigung des Wortes und durch Gebet. Wir müssen aber nach Anweisung der Reformatoren noch hinzufügen, daß sie auch als Kirche überhaupt kein anderes Merkmal haben soll als das, Gemeinschaft des Glaubens zu sein, in welcher das Wort Gottes recht gepredigt wird – über die Sakramente dürfen wir hier schweigen, da auch sie nach Luther ihre Bedeutung lediglich am Wort haben. Sind aber Wort und Glaube die einzigen Merkmale, so scheinen die im Rechte zu sein, welche sagen, die Reformation habe die sichtbare Kirche aufgehoben und eine unsichtbare an die Stelle gesetzt. Allein diese Behauptung ist nicht zutreffend. Die Unterscheidung einer sichtbaren und einer unsichtbaren Kirche stammt aus dem Mittelalter[171] bezw. schon von Augustin. Die, welche die wahre Kirche als „die Zahl der Prädestinierten“ definierten, mußten ihre vollkommene Unsichtbarkeit behaupten. Aber die deutschen Reformatoren haben sie nicht so bestimmt. Wenn sie erklärten, die Kirche sei eine Gemeinschaft des Glaubens, in der das Wort Gottes recht verkündigt wird, so haben sie damit alle grobsinnlichen Merkmale abgelehnt und so die sinnenfällige Sichtbarkeit allerdings ausgeschlossen; aber – um einen Vergleich zu brauchen – wer wird eine geistige Gemeinschaft z. B. von gleich strebenden Jüngern der Wissenschaft oder von Patrioten deshalb für „unsichtbar“ erklären, weil sie keine äußeren Merkmale besitzt und nicht mit den Fingern abgezählt werden kann? Ebensowenig ist die evangelische Kirche eine „unsichtbare“ Gemeinschaft. Sie ist eine Gemeinschaft des Geistes, und daher stellt sich ihre „Sichtbarkeit“ auf verschiedenen Stufen und mit verschiedener Stärke dar. Es kann Momente geben, in denen sie völlig unerkennbar ist, und wiederum solche, in denen sie so kräftig in die Erscheinung tritt wie eine sinnenfällige Größe. Allerdings, so scharf umrissen kann sie niemals auftreten wie der Staat von Venedig oder das Königreich Frankreich – ein großer katholischer Dogmatiker[AU 1] hat diese Vergleichung in Bezug auf seine Kirche für zutreffend erklärt –; aber als Protestant soll man wissen, daß man nicht einer „unsichtbaren“ Kirche angehört, sondern einer geistigen Gemeinschaft, die über die Kräfte verfügt, welche geistigen Gemeinschaften zustehen, einer geistigen Gemeinschaft auf Erden, die in die Ewigkeit reicht.

Und nun das andere: der Protestantismus behauptet, die christliche Gemeinschaft ruhe objektiv allein auf dem Evangelium, das Evangelium aber sei in der heiligen Schrift enthalten. Von Anfang an ist ihm entgegnet worden, wenn dem so sei und dabei keine Autorität anerkannt werde, die über den Inhalt des Evangeliums und seine Ermittelung aus der h. Schrift zu entscheiden habe, so sei eine allgemeine Verwirrung die Folge, von der denn auch die Geschichte des Protestantismus ein reichliches Zeugnis ablege; habe jeder die Befugnis zu entscheiden, was „der rechte Verstand“[WS 2] des Evangeliums sei, und sei er in dieser Hinsicht an keine Tradition, kein Konzil und keinen Papst gebunden, sondern übe das Recht der freien Forschung, so könne eine Einheit, eine Gemeinschaft, kurz eine Kirche überhaupt nicht zustande kommen; der Staat müsse daher eingreifen, oder es müsse irgend eine will-[172] kürliche Abgrenzung getroffen werden. Gewiß – eine Kirche mit dem Sanctum Officium der Inquisition kann so nicht in die Erscheinung treten; ferner, es ist wirklich unmöglich, hier aus der Sache heraus eine Gemeinschaft äußerlich abzugrenzen. Was aber der Staat oder geschichtliche Nötigungen gethan haben, kommt überhaupt nicht in Betracht: die Bildungen, die so entstanden sind, heißen im evangelischen Sinn nur uneigentlich auch „Kirchen“. Der Protestantismus – das ist die Lösung – rechnet darauf, daß das Evangelium etwas so Einfaches, Göttliches und darum wahrhaft Menschliches ist, daß es am sichersten erkannt wird, wenn man ihm Freiheit läßt, und daß es auch in den einzelnen Seelen wesentlich dieselben Erfahrungen und Überzeugungen schaffen wird. Dabei mag er sich oft genug täuschen, und es mag auch nach Individualität und Bildung recht Verschiedenartiges entstehen – bisher ist er doch in dieser seiner Haltung nicht zu Schanden geworden. Eine wirkliche geistige Gemeinschaft evangelischer Christen, eine gemeinsame Überzeugung in dem Wichtigsten und in der Anwendung desselben auf das vielgestaltete Leben ist entstanden und ist in Kraft. Diese Gemeinschaft umfaßt deutsche und außerdeutsche Protestanten, Lutheraner, Calvinisten und andere Denominationen. In ihnen allen lebt, sofern sie ernste Christen sind, etwas Gemeinsames, und dieses Gemeinsame ist unendlich viel wichtiger und wertvoller als alle Verschiedenheiten. Es erhält uns evangelisch und es schützt uns vor dem modernen Heidentum und vor Rückfall in den Katholizismus. Mehr aber bedürfen wir nicht, ja jede andere Fessel weisen wir zurück. Jenes aber ist keine Fessel, sondern die Bedingung unserer Freiheit. Und wenn man uns verhält: „Ihr seid zerspalten; soviel Köpfe, soviel Lehren“, so erwidern wir: „So ist’s, aber wir wünschen nicht, daß es anders wäre; im Gegenteil – wir wünschen noch mehr Freiheit, noch mehr Individualität in Aussprache und Lehre; die geschichtlichen Nötigungen zu landes- oder freikirchlichen Bildungen haben uns nur zuviel Schranken und Gesetze auferlegt, wenn sie auch nicht als göttliche Ordnungen verkündigt worden sind; wir wünschen noch mehr Zuversicht zu der inneren Kraft und zu der Einheit schaffenden Macht des Evangeliums, das sich im freien Kampf der Geister sicherer durchsetzt als unter Bevormundung; wir wollen ein geistiges Reich sein und haben kein Verlangen, zu den Fleischtöpfen[173] Ägyptens zurückzukehren; wohl wissen wir, daß um der Ordnung und der Erziehung willen äußere Gemeinschaften entstehen müssen; wir wollen sie gerne pflegen, soweit sie ihre Zwecke erfüllen und der Pflege wert sind; aber unser Herz hängen wir nicht an sie; denn sie bestehen heute noch, können aber morgen unter anderen politischen oder sozialen Bedingungen neuen Gebilden Platz machen; wer eine solche ‚Kirche‘ hat, der habe sie, als hätte er sie nicht; unsere Kirche ist nicht die Partikularkirche, in der wir stehen, sondern die societas fidei, die ihre Glieder überall hat, auch unter den Griechen und Römern. Das ist die evangelische Antwort auf den Vorwurf der ‚Zersplitterung‘, und das ist die Sprache der Freiheit, die uns geschenkt ist. – Kehren wir nach diesen Exkursen zur Darstellung der wesentlichen Züge des Protestantismus zurück.

2. Der Protestantismus ist nicht nur Reformation, sondern auch Revolution gewesen. Rechtlich betrachtet, durfte das ganze Kirchenwesen, gegen das Luther sich auflehnte, vollen Gehorsam beanspruchen. Es war so gut gültige Rechtsordnung im Abendland wie die Gesetze des Staats. Als Luther die päpstliche Bannbulle verbrannte, vollzog er unzweifelhaft einen revolutionären Akt – revolutionär nicht in dem schlimmen Sinn, in welchem es sich um die Auflehnung gegen eine Rechtsordnung handelt, die zugleich sittliche Ordnung ist, wohl aber im Sinne eines gewaltsamen Bruchs mit einem gegebenen Rechtszustande. Gegen einen solchen wandte sich die neue Bewegung, und zwar erstreckte sich ihr Protest in Wort und That auf folgende Hauptpunkte.

Erstlich, sie protestierte gegen das ganze hierarchische und priesterliche Kirchensystem, verlangte, daß das abgeschafft werden solle, und schaffte es ab zu Gunsten des allgemeinen Priestertums und einer aus der Gemeinde sich herausbildenden Ordnung. Welche Tragweite diese Forderung hatte und wie sehr sie in alle bisher bestehenden Verhältnisse eingriff, das läßt sich nicht in wenigen Zügen sagen. Man brauchte Stunden dazu, um das auszuführen. Wie sich die Ordnungen thatsächlich in den evangelischen Kirchen nun gestaltet haben, das läßt sich ebenfalls hier nicht darstellen. Es ist auch nicht von prinzipieller Bedeutung; von prinzipieller Bedeutung aber ist, daß das „göttliche“ Kirchenrecht abgethan wurde.

[174] Zweitens, sie protestierte gegen alle formalen, äußeren Autoritäten in der Religion, also gegen die Autorität der Konzilien, der Priester und der ganzen kirchlichen Tradition; nur das soll Autorität sein, was sich innerlich als solche darthut und befreiend wirkt, also die Sache selbst, das Evangelium. So hat Luther auch gegen die Autorität des Bibelbuchstabens protestiert; aber wir werden noch sehen, daß hier ein Punkt liegt, an welchem er und die übrigen Reformatoren sich doch nicht ganz klar geworden sind, an dem sie daher auch nicht die Konsequenzen gezogen haben, welche ihre prinzipielle Einsicht verlangte.

Drittens, sie protestierte gegen die ganze überlieferte Kultusordnung, gegen allen Ritualismus und jegliches „heilige Thun“. Da sie, wie wir gehört haben, keinen spezifischen Kultus kennt und duldet, keine dinglichen Opfer und Leistungen an Gott, keine Messe und keine Werke, die für Gott und um der Seligkeit willen gethan werden, so mußte der ganze überlieferte Gottesdienst mit seinem Prunk, seinen ganz und halb heiligen Stücken, seinen Gebärden und Prozessionen fallen. Wie viel man aus ästhetischen und pädagogischen Gründen an Formen beibehalten könne, war dem gegenüber eine ganz sekundäre Frage.

Viertens, sie protestierte gegen den Sakramentarismus. Nur die Taufe und das Abendmahl ließ sie als Einrichtungen der Urkirche bezw. als Stiftungen des Herrn bestehen, aber sie wollte sie geachtet wissen, sei es als Symbole und christliche Erkennungszeichen, sei es als Handlungen, die ihren Wert ausschließlich an dem Wort der Sündenvergebung haben, das mit ihnen verbunden ist. Alle übrigen Sakramente schaffte sie ab und mit ihnen die ganze Vorstellung, als sei Gottes Gnade und Hülfe in Stücken zugänglich und sei in geheimnisvoller Weise verschmolzen mit bestimmten körperlichen Dingen. Dem Sakramentarismus setzte sie das Wort entgegen und der Vorstellung, daß die Gnade stückweise gegeben werde, die Überzeugung, daß es nur eine Gnade gebe, nämlich Gott selbst haben als den gnädigen. Nicht weil er so aufgeklärt war, hat Luther in seiner Schrift „Von der babylonischen Gefangenschaft“ den ganzen Sakramentarismus verworfen, – er hatte noch genug Aberglauben in sich, um höchst abschreckende Behauptungen aufstellen zu können –, sondern weil er innerlich erfahren hatte, daß alle „Gnade“ Täuscherei ist, die der Seele nicht den lebendigen[175] Gott selbst giebt. Darum bedeutete ihm diese ganze Sakramentslehre ein Attentat an der Majestät Gottes und eine Knechtschaft der Seelen zugleich.

Fünftens, sie protestierte gegen die doppelte Sittlichkeit und damit gegen die „höhere“, gegen die Behauptung, daß es Gott besonders wohlgefällig sei, die in der Schöpfung gesetzten Kräfte und Gaben nicht zu gebrauchen. Die Reformatoren hatten ein starkes Gefühl dafür, daß die Welt mit ihrer Lust vergeht; man darf sich Luther wahrlich nicht als den modernen Menschen vorstellen, der mit freudigem Gefühl und sicher auf der Erde stand; er hatte vielmehr, wie die mittelalterlichen Menschen, eine lebhafte Sehnsucht darnach, diese Welt los zu werden und aus dem „Jammerthal“[WS 3] abzuscheiden. Aber weil er davon überzeugt war, daß man Gott nichts bieten könne und dürfe als Vertrauen, so kam er in Bezug auf die Weltstellung des Christen zu ganz anderen Thesen als die ernsten Mönche der vergangenen Jahrhunderte. Da Fasten und Askese Gott gegenüber ohne Wert sind, da sie auch den Mitmenschen nichts nützen, und da Gott der Schöpfer aller Dinge ist, so ist es am geratensten, an der Stelle zu bleiben, da Gott einen hingestellt hat. Von hier aus hat Luther doch eine Freudigkeit und Zuversicht zu den irdischen Ordnungen gewonnen, die im Kontrast steht zu seiner weltflüchtigen Stimmung und sie wirklich überwunden hat. Er stellte den entscheidenden Satz auf, daß alle Stände – Obrigkeit, Ehestand usw. bis herab zu den Knechten und Mägden – gottgewollte und deshalb wahrhaft geistliche Stände seien, in denen man Gott dienen solle: eine treue Magd steht höher als ein kontemplierender Mönch. Nicht mit vielen Künsten sollen die Christen eigene Wege suchen, sondern Geduld und Nächstenliebe beweisen innerhalb des gegebenen Berufs. Von hier aus erwuchs ihm die Vorstellung von dem selbständigen Recht aller weltlichen Ordnungen und Gebiete: sie sind nicht blos zu dulden und empfangen erst von der Kirche eine Art von Recht der Existenz – nein, sie haben ihr eigenes Recht und sind das große Gebiet, auf denen der Christ seinen Glauben und seine Liebe zu bewähren hat; ja sie sind selbst dort zu respektieren, wo Gottes Offenbarung im Evangelium noch ganz unbekannt geblieben ist.

So hat derselbe Mann, der seinem persönlichen Empfinden nach nichts von der Welt verlangte und in dessen Seele nur die Sorge um das Ewige lebte, die Menschheit von dem Banne der[176] Askese befreit. Er hat dadurch recht eigentlich das Leben einer neuen Zeit begründet; er hat ihr die Unbefangenheit zurückgegeben in Bezug auf die Welt und ein gutes Gewissen bei aller irdischen Arbeit. Diese Frucht ist ihm zugefallen, nicht weil er die Religion verweltlicht hat, sondern weil er sie so ernst und so tief genommen hat, daß sie zwar alles durchdringen, aber selbst von allem Äußerlichen befreit sein sollte.




Anmerkung des Autors (1908)

  1. Der große Dogmatiker war Bellarmin.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Paul Gerhardt, Ist Gott für mich, so trete (EG 351,2).
  2. Martin Luther, z. B. in „Von weltlicher Oberkeit, wie weit man ihr Gehorsam schuldig sei“ (1523).
  3. Vgl. Phil 1,23f.


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