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Das neue deutsche Reichsgericht zu Leipzig

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Textdaten
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Autor: Karl Biedermann
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Titel: Das neue deutsche Reichsgericht zu Leipzig
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube
Herausgeber: Ernst Ziel
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1879
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
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Das neue deutsche Reichsgericht zu Leipzig.


Von Professor Karl Biedermann.



Im alten deutschen Reiche war der Kaiser geborener und berufener Schützer des Rechts in allen Landen. Die alten Kaiser hielten selbst Gericht, oder ließen in ihrem Namen Recht sprechen durch ihre Vertreter, die Pfalzgrafen oder Hofrichter. Nur freilich reichte ihr Blick und ihr Arm nicht immer weit genug, um jedes Unrecht zu entdecken oder jedes Urtheil nachdrücklich zu vollziehen. Auch die Gaugrafen übten ursprünglich, als Statthalter des Kaisers, in dessen Namen und Auftrage die Rechtspflege, allein allmählich verwandelte sich diese übertragene Justizgewalt in eine eigene der Grafen selbst, welche letztere sich dadurch mehr und mehr in vom Kaiser unabhängige Landesherren verwandelten. Dennoch blieb das Kaiserthum der höchste Rechtsschutz; man empfand die Abwesenheit eines solchen schmerzlich in jener „kaiserlosen, schrecklichen Zeit“, die nach dem Absterben der großen Kaiserdynastien über Deutschland hereinbrach, und „das Volk jauchzte“, als „ein Richter war wieder auf Erden“.

Leider nur riß, der Hoffnung des Volks entgegen, unter den nun folgenden Kaisern bald durch die Eigensucht der einen, bald durch die Ohnmacht der andern gegenüber den immer übermächtiger und unbotmäßiger werdenden Vasallen abermals eine immer wachsende Rechtlosigkeit ein. Ja, so groß ward dieselbe, daß zuletzt die Fürsten selbst die Dringlichkeit einer Abhülfe empfanden und, mit dem Kaiser vereint, auf solche bedacht waren.

So entstand vor nunmehr nahezu vierhundert Jahren, 1495, der erste oberste Gerichtshof für Deutschland, das Reichskammergericht; es hatte in der ersten Zeit seinen Sitz in verschiedenen Reichsstädten, namentlich zu Speyer, seit 1689 aber zu Wetzlar. Wie alle Einrichtungen des alten deutschen Reichs, auch die bestgemeinten, an der allgemeinen Schwäche des Reichskörpers krankten, an der Verkümmerung der Gewalt des Hauptes und dem Ueberwuchern der Glieder, so entging auch das damalige Reichsgericht diesem traurigen Schicksal nicht. Weite Gebiete des Reichs wurden bald, und in immer wachsender Zahl, seiner Gerichtsbarkeit gänzlich entzogen, denn die großen Fürsten, vor allen die Kurfürsten, erlangten das bedauerliche Vorrecht, daß von ihren Gerichten nicht an das Reichsgericht Berufung eingelegt werden konnte außer in ganz besonderen Fällen, bei einer förmlichen Rechtsverweigerung, und thatsächlich selbst da wohl kaum. Auch für solche Zweige der Rechtspflege, bei denen das Interesse der Fürsten nicht direct in Frage kam, wie die bürgerlichen Rechtsstreitigkeiten, ward die Wirksamkeit reichsrichterlicher Entscheidungen durch den schleppenden Geschäftsgang gelähmt, eine Folge der Knauserei, mit welcher die Stände des Reichs (Fürsten und städtische Magistrate) die Mittel zur Unterhaltung des Reichsgerichts schmälerten, vorenthielten, wo nicht gar verweigerten. So geschah es, daß die Zahl der Räthe (oder, wie es damals hieß, „Beisitzer“) des Reichskammergerichts, die im westfälischen Frieden 1648 auf fünfzig festgesetzt worden war, schon 1719 durch einen Reichstagsbeschluß auf fünfundzwanzig herabgemindert ward, weil man die andern nicht bezahlen konnte, daß aber auch von diesen fünfundzwanzig selten mehr als die Hälfte, weit öfter viel weniger, wirklich besoldet waren und selbst diese meist sehr unregelmäßig. Natürlich waren die bezahlten die einzigen, welche arbeiteten. Kein Wunder, wenn die Zahl der unerledigten Rechtshändel beim Reichskammergericht, die schon 1620 auf 50,000 geschätzt wurde, 1772 auf 61,233 angewachsen war, daß einzelne solcher Rechtshändel von bedeutenderem Umfange und größerem Belange weit über hundert Jahre sich hinzogen. Zuletzt kam es dahin (wie Goethe, der bekanntlich eine Zeitlang selbst beim Reichskammergericht zu Wetzlar thätig war, in „Dichtung und Wahrheit“ so drastisch erzählt), daß überhaupt nur noch solche Sachen zur Bearbeitung kamen,

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Reichsgerichtspräsident Dr. Simson.
Nach einer Photographie auf Holz gezeichnet von Adolf Neumann.

welche die eine oder andere Partei ausdrücklich wieder in Anregung brachte, oder, wie der Geschäftsausdruck lautete, „sollicitirte“. Da nun dieses „Sollicitiren“ nicht beim Gericht als solchem, sondern bei den einzelnen Beisitzern geschah, die mit den betreffenden Sachen zu thun hatten, so verstand es sich fast von selbst, daß, um der Sollicitation Nachdruck zu geben, man zu Bestechungen griff, für welche die schlechtbesoldeten Beisitzer nur zu empfänglich waren, und daß auf diese Weise eine allgemeine Bestechlichkeit, auch in Bezug auf die Materie der Rechtssprüche selbst, einriß. Im Archiv des Leipziger Rathes befindet sich noch ein Aktenstück über einen Proceß, den Leipzig und Frankfurt an der Oder gemeinsam mit Braunschweig wegen gewisser Meßprivilegien im Jahre 1671 [662] führten. Darin finden sich ganz bestimmte Summen verrechnet, mit denen Mitglieder des Reichskammergerichts (darunter sogar ein Vicepräsident) vom Rathe zu Leipzig für gemeinsame Rechnung bestochen wurden.

Eine weitere Verkümmerung erfuhr die oberstrichterliche Gewalt des Reichskammergerichts durch die bald entstandene Concurrenz einer zweiten, ähnlichen Instanz: des kaiserlichen Reichshofraths, der, wie jenes vorwiegend von den Ständen des Reichs, so seinerseits fast ausschließlich vom Kaiser besetzt und daher beeinflußt ward. Hier war der Gunst und Parteilichkeit noch mehr Thor und Thür geöffnet.

Und endlich sorgten die Stände, insbesondere die Landesherren, dafür, daß die Kaiser in den Wahlcapitulationen, welche jeder vor seiner Krönung unterzeichnen mußte, feierlichst versprachen, die Reichsgerichte – das Reichskammergericht sowohl wie den Reichshofrath – dahin anzuhalten, „daß sie wider Kurfürsten, Fürsten und Stände des Reichs auf von dero Landsassen und Unterthanen bei ihnen angebrachte Klagen nicht leichtlich Proceß erkennen, sondern vorher um Bericht (von den Verklagten) schreiben, auch gegen der Kurfürsten, Fürsten und Stände landesherrliche Rechte auf keine Weise verfahren sollten“.

Kein Wunder daher, wenn die Annalen der deutschen Geschichte aus dem vorigen Jahrhundert reich sind an Beispielen von zum Theil schreienden Rechtsverletzungen, denen gleichwohl durch die Reichsgerichte entweder gar keine oder nur eine sehr späte oder unvollständige Abhülfe geschafft wurde, während äußerst selten einmal wider allzu grobe Gewaltthat und Ungesetzlichkeit einzelner Machthaber (natürlich immer nur kleinerer) ein reichsgerichtliches Erkenntniß erging, wobei es noch allemal fraglich blieb, ob nun solches auch wirklich vollstreckt ward.

Als nach der Wiederbefreiung Deutschlands die deutschen Fürsten auf dem Wiener Congresse an die Neugestaltung des nationalen Gemeinwesens gingen, da rief die öffentliche Stimme laut wieder nach einem Reichs- oder Bundesgerichte. Die Schäden der alten Reichsgerichte waren vergessen, oder man hoffte, daß sie sich nicht erneuern würden: die Idee und das Bedürfniß eines obersten Rechtsschutzes lebte unaustilgbar in den Gemüthern. Im Rathe der Fürsten selbst fand diese Idee und dieses Bedürfniß einen warmen Fürsprecher an Preußen. Aber der starre Widerstand der Mittelstaaten erwies sich stärker und siegreicher als die Beharrlichkeit der preußischen Regierung, obschon diese nur nach langem Sträuben auf ihren Vorschlag eines Bundesgerichts verzichtete. Was dann um volle zwanzig Jahre später, 1834, an dessen Stelle mühsam zu Stande kam, ein sogenanntes Bundesschiedsgericht zur Austragung von Verfassungsstreitigkeiten zwischen Regierungen und Ständen, das trug den Keim des Todes seiner ganzen Anlage nach in sich und ist auch niemals wirklich in’s Leben und in Thätigkeit getreten.

Erst die freigewählte Vertretung der deutschen Nation, die 1848 bis 1849 in Frankfurt am Main tagte, nahm mit voller Kraft und Entschiedenheit den Gedanken der Errichtung eines Reichsgerichts in Angriff. Nur leider blieb er, wie die ganze dort zu Stande gebrachte Reichsverfassung, damals ein bloßes Ideal und ein frommer Wunsch. Nicht besser erging es dem, obschon sehr abgeblaßten Nachbilde jenes Reichsgerichts in der preußischen Unionsverfassung.

Wie viel Schweres aber wäre dem deutschen Volke erspart geblieben, wenn in den Zeiten maßlosester Reaction, die bald darauf über Deutschland hereinbrachen, jede Verfassungsverletzung, jeder Mißbrauch amtlicher Gewalt, jedes dem Einzelnen angethane Unrecht vor einem unbestechlichen, unabhängigen höchsten Gerichtshof sich hätte verantworten und der von diesem gesprochenen Entscheidung beugen müssen!

Auf so düsterem Hintergrunde unserer vaterländischen Vergangenheit hebt sich doppelt leuchtend das Bild der nationalen Einrichtung ab, welche die glücklichere Gegenwart uns Jetztlebenden bietet und hoffentlich einer langen Reihe kommender Geschlechter vermachen wird: das Bild des neuen Reichsgerichts zu Leipzig.

Das Bedürfniß nach einem solchen obersten Gerichtshofe für das ganze Reich hat zum Theil, den Zeitverhältnissen entsprechend, veränderte Gestalt und Richtung angenommen. Der Rechtsschutz für den Einzelnen, obschon nicht mehr so ganz dringend wie unter der Herrschaft des schrankenlosen Despotismus und der Cabinetsjustiz im vorigen Jahrhundert, wird gleichwohl noch immer eine wichtige Aufgabe dieser hohen Reichsbehörde sein; allein kaum minder wichtig und in seiner Anwendung auf praktische Fälle noch weit häufiger begehrt ist die Einheitlichkeit und Gleichmäßigkeit der Rechtssprechung in jenen zahlreichen und oft sehr verwickelten bürgerlichen Rechtsstreitigkeiten, welche namentlich unser vielgestaltiger Handel und Verkehr hervorbringt – Streitigkeiten, deren Entscheidung nach particularen Rechten und durch particulare Gerichte eben diesem Handel und Verkehr oft so empfindliche Nachtheile schuf.

Durch die in ihren Grundzügen bereits den Lesern der „Gartenlaube“ dargelegten (vergl. den Artikel von Helbig in Nr. 37) großen Justizgesetze, das dankenswerthe Geschenk des deutschen Reichstages von 1876, wurden die Formen des Gerichtsverfahrens und die Grundlagen der Gerichtsverfassung nach allen Seiten hin einheitlich gestaltet. Das Strafrecht war schon 1868 ein gemeinsames geworden; für das bürgerliche Recht ist die gleiche Einheitlichkeit angebahnt durch die gründlichen Vorarbeiten einer aus den bedeutendsten theoretischen und praktischen Capacitäten des deutschen Juristenstandes zusammengesetzten Commission, an deren Spitze derselbe Mann, der Wirkliche Geheime Rath Dr. Pape, steht, der zehn Jahre hindurch als erster Präsident des 1869 eingesetzten Bundesoberhandelsgerichts (seit 1871 Reichsoberhandelsgericht genannt) die Verhandlungen des letzteren mit ausgezeichnetem Geschick geleitet hat. Die zehnjährige Wirksamkeit dieses engeren Gerichtshofes, dessen Thätigkeit sich im Wesentlichen auf Handels- und Wechselsachen, Fälle des Nachdrucks- und des Haftpflichtgesetzes beschränkte, hat das deutsche Volk und insbesondere die deutsche Geschäftswelt die Wohlthaten einer einheitlichen Rechtspflege bereits kosten lassen; der Schritt von da zum Ausbau eines Gerichts, dessen Praxis, gestützt auf eine über alle Rechtsgebiete sich ausdehnende gemeinsame Gesetzgebung, das ganze Rechts- und Verkehrsleben der Nation umspannen soll, war ein durchaus natürlicher und nothwendiger. Und so war es auch wohl nur natürlich, daß die Verlegung des neuen, erweiterten Gerichtshofes eben dahin erfolgte, wo die segensreiche Wirkungsstätte des bisherigen gewesen war, nach Leipzig, indem so gleichsam symbolisch angedeutet ward, wie das Reichsgericht bestimmt und berufen sei, die Erbschaft des Reichsoberhandelsgerichts anzutreten.

Die Gerichtsbarkeit des nunmehr in’s Leben tretenden Reichsgerichts umfaßt neben der Rechtssphäre des Reichsoberhandelsgerichts auch die davon bisher noch ausgeschlossenen Theile des bürgerlichen Rechts und das ganze Strafrecht. Sie reicht soweit, wie das Gebiet des Civil- und Strafprocesses reicht. Seiner Entscheidung fallen in letzter Instanz sowohl alle bürgerlichen Rechtsstreitigkeiten von größerem Belang, wie auch alle wichtigeren Strafsachen anheim. Insbesondere sind die Sprüche der Geschworenen im Wege der Revision (wegen Verletzung gesetzlicher Formen) nur beim Reichsgericht anfechtbar. Kein Bundesstaat, auch der größte nicht, kann sich der Gerichtsbarkeit des Reichsgerichts entziehen. Eine einzige, jedoch nur vorübergehende Ausnahme findet statt: die größeren Bundesstaaten mit mehreren Oberlandesgerichten können einem davon gewisse sonst dem Reichsgericht zuständige Entscheidungen bürgerlicher Rechtsstreitigkeiten zuweisen, für welche das bürgerliche Recht noch kein gemeinsames in ganz Deutschland ist. Denn wo Reichsrecht gilt, da entscheidet auch das Reichsgericht. Diese Berechtigung, von der übrigens nur Baiern, nicht einmal Preußen, Gebrauch gemacht hat, findet aber nicht statt bei den bisher der Zuständigkeit des Reichsoberhandelsgerichts anheimgefallenen, sowie bei allen durch besondere Reichsgesetze dem Reichsgericht jetzt schon ausschließlich zugewiesenen Sachen.

Das Reichsgericht ist der einzige zuständige Gerichtshof in Fällen des Hochverraths und des Landesverraths, die gegen Kaiser und Reich gerichtet sind. Endlich hat es in den Staaten, welche keinen obersten Verwaltungsgerichtshof besitzen, die Vorentscheidung bei Klagen von Privatpersonen gegen Beamte wegen Ueberschreitung ihrer Amtsbefugnisse oder Unterlassung denselben obliegender Amtshandlungen. Diese hochwichtige Entscheidung, die früher fast überall den obersten Verwaltungsbehörden zustand, wird hierdurch einer völlig unparteiischen Instanz, wie sie das Reichsgericht ist, anvertraut. In dessen Hand ist es somit gelegt, einerseits öffentliche Beamte vor leichtfertigen und unbegründeten Verfolgungen zu schützen, anderseits dem verletzten Staatsbürger den Weg civilrechtlicher oder strafrechtlicher Verfolgung seines gekränkten Rechts [663] auch gegen solche Personen zu eröffnen, welche sonst leicht im Gefühl ihrer Unantastbarkeit sich Ueberschreitungen ihrer Amtsbefugnisse oder Vernachlässigungen ihrer Amtspflichten könnten zu Schulden kommen lassen.

Für die Unabhängigkeit dieses höchsten deutschen Gerichtshofes sind die möglichst größten Garantieen geschaffen. Die Ernennung sämmtlicher Mitglieder des Reichsgerichts erfolgt auf Vorschlag des Bundesrathes durch den Kaiser. Zum Mitgliede des Reichsgerichts kann nur ernannt werden, wer die Fähigkeit zum Richteramte in einem Bundesstaate erlangt hat und mindestens fünfunddreißig Jahre alt ist. Nur die solchergestalt ernannten und mit allen im Gesetz vorgeschriebenen Erfordernissen versehenen ordentlichen Mitglieder dürfen an den Entscheidungen des Gerichts Theil nehmen; die Zuziehung von Hülfsrichtern wird vom Gesetze schlechthin für unzulässig erklärt. Letzteres geschieht wohl im Hinblick auf die Erfahrungen, die man in Preußen während der Reactionsperiode von 1850 bis 1858 gemacht hat. Auch rücksichtlich der Entsetzung sowie der unfreiwilligen Versetzung eines Mitgliedes in Ruhestand ist jede Willkür und jeder Eingriff der Regierung ausgeschlossen: die eine wie die andere kann nur durch einen Plenarbeschluß des gesammten Reichsgerichts ausgesprochen werden. Eine unfreiwillige Versetzung auf eine andere Stelle ist ohnehin bei den Mitgliedern dieses alleinigen obersten Gerichtshofs im Reiche der Natur der Sache nach ausgeschlossen, würde auch schon nach den allgemeinen Bestimmungen des Gerichtsverfassungsgesetzes ebenfalls nur durch richterliche Entscheidung verfügt werden können.

Ebenso sorgfältig ist vorgesehen, daß sowohl bei der Vertheilung der Geschäfte an die verschiedenen Kammern oder Senate des Reichsgerichts wie rücksichtlich der Zutheilung der einzelnen Mitglieder an letztere jede Möglichkeit einer Willkür oder Parteilichkeit ausgeschlossen bleibe. Zu dem Ende wird das Präsidium, welchem die Verfügung über diese Vertheilung zusteht, nach ausdrücklicher Bestimmung des Gesetzes hierbei verstärkt durch die vier ältesten Mitglieder des Gerichts.

Wie für vollste Unparteilichkeit, so ist auch für möglichste Einheitlichkeit und Gleichartigkeit der Entscheidungen des Reichsgerichts in dem Gerichtsverfassungsgesetze selbst Fürsorge getroffen worden. Glaubt ein Civil- oder ein Strafsenat in einer Rechtsfrage von einer früheren reichsgerichtlichen Entscheidung abweichen zu müssen, so hat derselbe die Verhandlung und Entscheidung der betreffenden Sache vor die vereinigten Civil-, beziehungsweise Strafsenate zu verweisen. Bei Entscheidungen der vereinigten Senate sowie des Plenums ist die Anwesenheit von mindestens zwei Dritttheilen aller Mitglieder erforderlich. Der Geschäftsgang beim Reichsgerichte wird durch eine Geschäftsordnung geregelt, welche das Plenum feststellt und dem Bundesrathe zur Bestätigung unterbreitet.

So sind im Gesetze alle nöthigen Bestimmungen getroffen, um dem neuen Gerichtshofe und seinen Entscheidungen ein möglichst großes und rückhaltloses Vertrauen von vornherein zuzuwenden. Die Bekräftigung und Befestigung dieses Vertrauens steht zu erwarten von der Wirksamkeit des neuen Reichsgerichts selbst, zunächst aber von dem Ansehen der in dasselbe ernannten Persönlichkeiten.

Bei dieser ersten Zusammensetzung des Reichsgerichts für ganz Deutschland lag es nahe, daß in vorderster Linie theils die Mitglieder des bisherigen Reichsoberhandelsgerichts, theils diejenigen der höchsten Gerichtshöfe der Einzelstaaten und hier wieder überwiegend – entsprechend dem numerischen Verhältniß der Bevölkerung – die des höchsten Gerichtshofes der preußischen Monarchie, des Obertribunals zu Berlin, berücksichtigt wurden. So gehen denn aus dem Reichsoberhandelsgericht 18 Räthe in das Reichsgericht über, aus dem preußischen Obertribunal 23; die übrigen 19 von den im Ganzen 60 Mitgliedern des Reichsgerichts sind dem höheren richterlichen oder zum Richteramt befähigten Personal der einzelnen Bundesstaaten entnommen worden, sodaß eine möglichst gleichmäßige und gerechte Betheiligung aller Einzelstaaten an der Besetzung des obersten deutschen Gerichtshofes hergestellt erscheint.* Auch in der Wahl der Senatspräsidenten ward derselbe Grundsatz beobachtet. Zu diesen Stellen wurden ernannt: zwei bisherige Vicepräsidenten des Reichsoberhandelsgerichts, der Mecklenburger Dr. Drechsler und der Baier Dr. Hocheder, der Vicepräsident des preußischen Obertribunals Dr. Henrici, die beiden ersten Präsidenten der preußischen Appellationsgerichte zu Magdeburg und zu Marienwerder, Ukert und Drenkmann, der Director des württembergischen Obertribunals Dr. von Beyerle, der großherzoglich badische Ministerialrath im Justizministerium Dr. Birgner. Das Königreich Sachsen hat von dem ihm angebotenen Vorschlag zu einer Präsidentenstelle keinen Gebrauch gemacht.

Von ganz besonderer Wichtigkeit war natürlich die Wahl des ersten Präsidenten, denn in ihm verkörpert sich gewissermaßen der ganze große Gerichtshof; sein Name, seine Vergangenheit, der Ruf, der ihm vorausgeht, kann, ja muß beinahe der öffentlichen Meinung in ganz Deutschland wie eine Art von Programm der Wirksamkeit des Gerichts, an dessen Spitze er gestellt wird, erscheinen.

Es ist schon oben angedeutet worden, welche hochwichtige anderweite Thätigkeit dem bisherigen Präsidenten des Reichsoberhandelsgerichts, Dr. Pape, zugetheilt ist. Diese Thätigkeit ließ dessen Uebergang in die gegen seine bisherige noch ungleich arbeitvollere, jede andere Beschäftigung neben ihr ausschließende Stellung eines Präsidenten des Reichsgerichts nicht wohl möglich erscheinen. Sah man aber von dieser nächstgegebenen Anknüpfung an das schon Bestehende ab, so trat doppelt bedeutsam die Persönlichkeit des zu Ernennenden in den Vordergrund. Der Vorschlag für die Besetzung der ersten Präsidentenstelle stand dem Kaiser persönlich zu, während für die anderen Präsidentenstellen die verschiedenen Bundesregierungen Vorschläge machten. Kaiser Wilhelm und sein verantwortlicher Berather, der Reichskanzler, waren, wie zuverlässig verlautet, in ihren Ansichten wegen Bezeichnung eines Candidaten für diesen höchsten richterlichen Posten im Reiche sofort und zweifellos einig gewesen. Es war der bisherige erste Präsident des preußischen Appellationsgerichts zu Frankfurt an der Oder[WS 1], Dr. Simson, den Beide gleichmäßig in’s Auge gefaßt hatten, ein Mann, der, neben seiner langjährigen und ausgezeichneten juristischen Thätigkeit sowohl als Praktiker wie als Theoretiker, auch noch in ganz Deutschland und selbst im Auslande ehrenvollst bekannt ist durch seine hervorragende Wirksamkeit als Präsident aller großen nationalen Vertretungskörper in Deutschland vom Frankfurter Parlamente 1848 an bis zu dem deutschen Reichstag von 1873.

Trug daher Simson’s Wahl zum Präsidenten des Reichsgerichts insofern einen gewissen politischen Charakter, als sie bekundete, daß der Kaiser und sein Kanzler mit den Traditionen eines gemäßigten Liberalismus, denen sie seit Begründung des norddeutschen Bundes gefolgt, auch jetzt nicht brechen, daß sie nicht etwa das Reichsgericht außerhalb der constitutionellen Einrichtungen des Reiches stellen wollten, so war es anderseits doch kein einseitiger oder gar schroffer Parteicharakter, der sich an Simson’s Person knüpfte.

[664] Als Präsident so vieler deutscher Parlamente, erst 1848 und 1849, dann des norddeutschen Reichstages und des deutschen Zollparlamentes von 1867 bis 1870, endlich des gesammtdeutschen Reichstages bis 1873 (wo Simson aus Gesundheitsrücksichten und weil er nach so schweren Anstrengungen und Aufregungen sich einmal nach Ruhe sehnte, eine Wiederwahl ablehnte) – in allen diesen hervorragenden Stellungen war Simson nicht sowohl der Erwählte und Vertrauensmann einer einzelnen Partei, als vielmehr – nach Ausweis der Ziffern bei allen den betreffenden Wahlacten – der Vertrauensmann der ganzen großen Versammlung oder doch ihrer überwiegenden Majorität gewesen. In der Handhabung des Präsidentenamtes hatte er seinerseits niemals auch nur die geringste Parteilichkeit zu Gunsten seiner oder zu Ungunsten irgend einer andern Partei, vielmehr jederzeit die strengste Unbefangenheit, Sachlichkeit und Selbstlosigkeit, neben einer seltenen Beherrschung auch der verwickeltsten Angelegenheiten, bethätigt, Eigenschaften, welche für den Vorsitzenden eines Gerichts, zumal eines so hohen, von ausschlaggebendster Wichtigkeit sind.

Zu diesen Vorzügen eines, man könnte sagen geborenen Präsidenten bringt Simson noch einen weitern, ebenfalls nicht zu unterschätzenden mit: das Talent einer würdigen Repräsentation – nicht jener banalen, welche in der peinlichen Beobachtung äußerlicher Formen und eines steifen Ceremoniells die Würde des Amtes und der Person sucht, sondern jener edleren und wesenhafteren, welche auch die blos äußerlichen Formen adelt und mit einem würdigen Inhalt erfüllt. Als Redner hat Simson etwas von der attischen Beredsamkeit jener alten Classiker, die für ihn, den so vielseitig Gebildeten, von früh an, neben unsern großen vaterländischen Dichtern ein Hauptgegenstand eindringenden und feinsinnigen Studiums gewesen und jederzeit geblieben sind; aber er ist kein blos „akademischer“ Redner; er wendet sich nicht blos an den Verstand und Geschmack, sondern auch an das Herz und Gemüth des Hörers; er versteht es, große, allgemeine Gesichtspunkte mit kurzen, treffenden Worten zur Anschauung und zur Geltung zu bringen. Ihm stehen für sein schweres und verantwortungsvolles Amt die wissenschaftlichen Früchte einer fast dreißigjährigen Lehrthätigkeit auf dem juristischen Katheder und die praktischen Erfahrungen einer fünfundvierzigjährigen richterlichen Wirksamkeit zur Seite. Trotz seines vorgerückten Alters – er wurde am 10. November 1810 zu Königsberg in Preußen geboren – ist Simson noch rüstig an Körper, von beinahe jugendlicher Frische und Beweglichkeit des Geistes. So vereinigt sich Alles in ihm, um seine Erhebung an die Spitze des neuen Reichsgerichts als einen glückliche Griff und als eine gute Vorbedeutung für die Thätigkeit und die Volksthümlichkeit des demnächst in’s Leben tretenden nationalen Gerichtshofs erscheinen zu lassen.

Und so können wir nach all dem Gesagten diesem höchsten deutschen Gerichtshofe bei seiner nun bevorstehenden Eröffnung mit vollem Vertrauen in jeder Beziehung unsere wärmsten Segenswünsche darbringen.



[663] * Die 18 Reichsoberhandelsgerichtsräthe sind die Herren Dr. von Hahn, Dr. von Vangerow, Dr. Wernz, Dr. Gallenkamp, Dr. Hoffmann, Dr. Fleischauer, Dr. Boisselier, Dr. Puchelt, Langerhans, Hullmann, Dr. Wiener, Krüger, Buff, Dr. von Meibom, Dr. Dreyer, Dr. Hambrook, Wittmack, Maßmann; die 23 Mitglieder aus dem preußischen Obertribunal die Herren Dr. Bähr, Friedrich, von Specht, Peterssen, Plathner, Henecke, Hartmann, Werner, Dr. von Grävenitz, Lesser, Rappold, Thewalt, Welst, Schwarz, Schlomka, Kirchhoff, von Forcade de Biaix, Meyer, Wulfert, Rassow, Stechow, Dähnhardt, Rottels; dazu kommen noch die Herren Schüler, Oberstaatsanwalt beim preußischen Obertribunal, Möli, Vicepräsident des preußischen Appellationsgerichts zu Kassel, Cuncumus, zweiter Staatsanwalt beim obersten baierischen Gerichtshofe zu München, Dürr, Rath bei demselben Gericht, Dr. Hauser, baierischer Appellationsgerichtsrath, Dr. Wenck, Vicepräsident des sächsischen Appellationsgerichts zu Leipzig, Rüger, sächsischer Oberappellationsgerichtsrath, Petsch, Director des sächsischen Bezirksgerichts zu Leipzig, von Gmelin, von Streich, von Geß, Räthe beim württembergischen Obertribunal zu Stuttgart, Wielandt, badischer Oberhofgerichtsrath, Dr. von Buri, hessischer Staatsanwalt, Dr. Spieß, braunschweigischer Obergerichtsrath, Dr. Agricola, Rath am Gesammt-Oberappellationsgericht zu Jena, Dr. Bolze, anhaltinischer Oberlandesgerichtsrath, Dr. Schlesinger, Rath am hanseatischen Oberappellationsgericht zu Lübeck, Derscheid, Präsident des kaiserlichen Landesgerichts zu Colmar. Als sechszigstes Mitglied trat, nachdem der zuerst ernannte sächsische Reichsoberhandelsgerichtsrath Dr. Schilling gestorben, an dessen Stelle der sächsische Oberappellationsgerichtsrath Scheele ein. Zum Oberreichsanwalt ward bestellt der preußische Generalprocurator beim Appellationsgerichtshof zu Köln, Dr. von Seckendorff, zu Rechtsanwälten der Oberstaatsanwalt beim preußischen Obertribunal von Wolff, der kaiserliche Staatsanwalt aus dem Reichsoberhandelsgericht Hofinger und der königlich baierische Rechtsanwalt bei dem Bezirksgericht München links der Isar Stenglein.


  1. Vorlage: „Frankfurt a. M.“, siehe Berichtigung