Der 3. Glaubensartikel/Röm. 11, 33–36. Gleich wie er die ganze Christenheit

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Der 3. Glaubensartikel
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 Röm. 11, 33–36.
 Gleichwie Er die ganze Christenheit auf Erden berufet, sammelt, erleuchtet, heiliget und bei Jesu Christo erhält im rechten einigen Glauben.






 Zwei Worte des Evangeliums vom vorigen Dreifaltigkeitssonntag sollen euch ins Herz dringen, weil sie Erfahrungstatsachen in sich schließen, denen niemand ungestraft sich entzieht. Unser Herr hat nur einen kleinen Streifen Erde übersehen, kleine Gottesäcker, unansehnliche Stätten, unbedeutende Flecken, unbedeutende Menschen. Er hat nicht bei den Großen geweilt, nicht bei den Gelehrten Herberge genommen; Er ist nicht bei den Weisen eingegangen und hat nicht bei Königen Seine Wohnung gehabt; gleichwohl sagt Er: „Alles, was vom Fleisch geboren wird, das ist Fleisch.“ (Joh. 3, 6.)

 Und wenn wir des Krieges Ernst und Ungestüm ansehen, wie in der nun zu Ende gehenden Woche ein hochbedeutender Mann, nachdem er eben seinem verewigten Freunde Worte des Gedenkens nachgerufen hatte, tot niedersinkt, ein junger Krieger, dessen Name vielleicht bei Freund und Feind zu gefeiert war, jählings herabstürzte, die edelsten unserer jungen Mannschaft, Männer in der Kraft und Blüte ihres Lebens rücksichtslos von dem Tod hingemäht werden, wie das Gras, das da frühe blühet und bald welk wird (Ps. 90, 6), da verstehen wir, was es heißt: „Was vom Fleisch geboren ist, das ist Fleisch.“ Der Tod fragt nicht, ob dieses Menschenleben mit besonderen Schmerzen in die Welt eingetreten ist, ob auf ihn sich die Hoffnungen einer alternden Mutter vereinen und die Wünsche eines greisen Vaters, ob die Gattin zu Hause die Tage zählt, bis der angetraute Gemahl wieder heimkehrt. Weil es vom Fleisch geboren ist, darum ist es Fleisch.

|  Und nicht bloß das Menschenleben, ob es mit Purpur oder mit Lumpen bedeckt ist, ob die Wiege aus Gold gefügt oder aus rohen Brettern gezimmert ist, geht so jählings zu Ende, so unvermittelt und unvermutet, sondern auch alle menschlichen Gedanken. Was vom Fleisch geboren ist – die Herrlichkeit der antiken Kunst – jetzt ist sie von Staub bedeckt, die Vergänglichkeit zieht durch die Hallen und auf den Steinen wächst das Moos. Die Geistesgedanken der alten Denker und Dichter, wer kennt sie noch? Die wenigen, die sie kennen und lesen und schätzen, gehen dann auch ihres Weges.

 Als ich vor Jahren an einem Sonntag früh vor dem Gottesdienst durch das Wohn- und Sterbehaus Goethes in Weimar schritt, ich, der einzige, da ist mir diese Predigt so erschütternd entgegengetreten. Hier sind noch all die Bücher, die der Meister brauchte, all die Schriften, die er schrieb, noch ist die Tinte kaum vertrocknet und die Feder nur weggelegt, und an seinem Hause brandet und geht der Verkehr vorüber; denn der Herr ist fortgezogen, der Besitzer liegt in der Erde.

 Es ist so furchtbar schwer, daß man sich eigentlich für nichts müht. „Das Auge sieht sich nimmer satt und das Ohr hört sich nimmer satt“ (Pr. 1, 8), und das Herz schlägt sich nimmer satt, und dann kommt einmal der Tod geschritten, so unvermittelt, so teilnahmslos, ob Ströme von Tränen ihm antworten und das Wehgeschrei die Hallen erfüllt und die Saiten zerreißt und die Kräfte zerbricht. Was vom Fleisch geboren ist, das ist Fleisch. Das hat der Herr gesagt, Der an dem Sterbelager des Mägdleins tröstete und am Sarg des Jünglings die Mutter mit seiner Güte erquickte und am Grab des Lazarus weinte. Wenn es ein Naturverhängnis wäre, das da kommen müßte, so wären Seine Tränen eitel Schein, Mitleid vielleicht, aber Schwachheit zugleich. Gott sei Dank, daß unser Heiland weiterfährt: „Was vom Geist geboren wird, das ist Geist“ (Joh. 3, 6); denn das Fleisch und sein| Vergehen soll nicht das letzte Wort auf Erden sein, und das, was das Auge an Hinfälligkeit und Vergänglichkeit gewahrt, soll nicht sein letzter Anblick bleiben, sondern das letzte Wort soll die Taufgnade haben, von der es heißt: „Der Mensch ist in seinem Leben wie Gras, er blühet wie eine Blume auf dem Felde, wenn der Wind darüber gehet, so ist sie nimmer da. Die Gnade aber des Herrn währet von Ewigkeit zu Ewigkeit“ (Ps. 103, 15–17).
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 „Was vom Geist geboren ist, das ist Geist!“ Das ärmste Kind, über das der Weihquell der heiligen Taufe ausgegossen ist, dessen ärmster Gedanke hin zu Jesu zieht, dessen unbewußtes, unbedachtes Sehnen den Himmel sucht, der Bettler draußen auf der Straße, der seine Krücken alle Morgen in der Gewißheit aufhebt: „es kommt einmal der Tod behende und alle Qual hat dann ein Ende“, die suchende Seele, die weit über Berg und Tal nach einer bleibenden Heimat verlangt, jeder deiner Gedanken, der von der Erde sich löst – bald im Sturm des Jammers, bald in der Stille des Sehnens –, ist vom Geist geboren und ist Geist. Es heißt nicht: alles Geistreiche, alles Großartige, dann wäre Goethe ein Heiliger, während er ein armer Sünder war. Es heißt nicht: alles Suplime, alles Bedeutende, dann wären die Durchschnittsmenschen die allerunglücklichsten, sondern: „was vom Geist geboren ist“. Wenn ein Bauersmann seine schwieligen Hände faltet: „mach End, o Herr, mach Ende!“, wenn ein Tagelöhner draußen auf der Straße, an dem ihr vorbeigeht und denkt gar nicht, daß er eine unsterbliche Seele hat, bittet: „gib, daß ich zufrieden werde!“ wenn in diesen Zeiten, wo all die Fragen nach den Nahrungsmitteln so im Vordergrund stehen, etliche sich heraussehnen: „ach, eins ist not, ach Herr, dies Eine lehre mich erkennen doch!“ seht, das ist vom Geist geboren. Und wenn der Kriegsmann in der entscheidenden Stunde sich zuruft und einer dem andern das Geheimnis anvertraut: „Wer will uns scheiden| von der Liebe Gottes?“ (Röm.8, 35) – das ist Geistesart und Geisteskraft.
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 Was vom Geist geboren ist, das ist Geist! Wenn man euch fragt: „wer hat der Welt mehr genützt, der Welt, nicht der Kirche, Jakobus mit seinen fünf Kapiteln oder Goethe mit all seinen Werken?“ und ihr habt dann den Mut zu sagen: „Goethe“, dann kennt ihr die Welt nicht und Goethe nicht und Jakobus nicht. Ich schäme mich nicht, zu sagen – und ich glaube, daß ich auch ein Urteil besitze –, daß Jakobus mit dem einen Wort: „So seid nun geduldig, lieben Brüder, und wartet auf die Zukunft des Herrn!“ (Jak. 5, 7), viel mehr genützt hat als Goethe vielleicht mit seinem Faust. Das kleinste Gotteswort, das aus innerer Andacht geboren ist, der unscheinbarste Gesangbuchvers, den ein Mensch im Sterben betet, der letzte Katechismus-Erinnerungsklang, den ein nach langen Irrfahrten Heimgekehrter noch erfaßt, das sind Dinge, die aus dem Geist geboren sind, und der Geist kann nicht sterben. Wir würden alles anders ansehen, wir würden auf der einen Seite mit der größten Anspruchsfülle und auf der anderen mit der größten Anspruchslosigkeit unseres Weges ziehen, wenn wir das bedenken wollten. Die Anspruchsfülle heißt: mache mir den Himmel offen, der Du in Deines Vaters Hause viele Wohnungen hast, gib mir, daß meine Seele Frieden hat! Was ist das für eine Anspruchsfülle, daß ein einzelner Mensch sich an seinen Gott und Herrn wendet und Ihn drängt, Er müsse ihm Frieden geben. Denkt euch, was wäre es Anmaßliches, wenn unsereiner dem deutschen Kaiser seine kleinen, armen Anliegen alle Tage von neuem aufs Gewissen legen würde. Die ganze Welt würde ihn einen Narren nennen. Und zu unserem allerheiligsten Herrn dürfen, ja sollen wir alle Tage sprechen: „Erhalte mein Herz bei dem Einigen, daß ich Deinen Namen fürchte!“ (Ps. 86, 11.) Das ist die höchste Anspruchsfülle, und doch mit dieser Anspruchsfülle Hand in Hand geht die größte Anspruchslosigkeit.| Wenn ich nur einmal soviel mit wegnehme, daß es zu einem ehrlichen Begräbnis reicht, wenn ich nur einmal in Frieden diese Welt verlasse, dann soll mir jeder Weg recht sein. Der Christ hat eine doppelte Weise, auf der einen Seite Weltverachtung und auf der anderen Seelsorge für die Welt, auf der einen Seite sagt er zu Gut und Geld: „ihr seid mir noch lange nicht genug“, und auf der andern Seite sagt er: „wenn ich nur den Himmel krieg’, hab’ ich alles zur Genüg’!“ Und zwischen diesen beiden Worten, was vom Fleisch geboren ist und was vom Geist geboren ist, tritt der wunderbare, aus der Tiefe geborene Hymnus, den ich vorhin gebetet habe, den die Kirche am Dreifaltigkeitssonntag betete: „O welch eine Tiefe des Reichtums“, daß Er – und nun kommt die weiseste, wundersamste und seligste Tat – in diese Welt die heilige Kirche eingestiftet hat.

 Denn es genügt nicht, daß du vom Heiligen Geist berufen bist, daß du vom Heiligen Geist erleuchtet und gerecht gemacht bist, es genügt nicht, daß du allein selig wirst. Wenn du nicht deinen Bruder mitbringst, so wirst du auch nicht selig. Es ist nicht möglich, daß ein Mensch allein selig wird, es ist nicht denkbar, daß irgend einer von uns mit leeren Händen kommt und dann zu Gnaden angenommen wird, sondern der Herr spricht: „Wo ist dein Bruder Abel?“ (1. Mos. 4, 9.) Seht, wie es darauf ankommt! Nehmt es nicht zu leicht, nehmt es bitter ernst, daß ihr eine Seele, und wäre es die Seele des verkommensten Bettlers, rettet und heimbringt!

 Darum hat der Heilige Geist in diese Welt eine Gemeinschaft eingestiftet, und diese Gemeinschaft heißt Kirche. Wie wenig die Leute von der Kirche halten! Es hat mir neulich eine fromme Frau geschrieben: „Meine Töchter sind in ihrer Konfirmation mit Jesu in Verbindung getreten und mein Sohn mit der Kirche.“ Ich habe auf diesen Schlag in mein Gesicht nichts geantwortet, weil es mir wahrlich zu töricht war. Aber hört wohl, man kann,| so glaubt jene fromme Christin, der Kirche die Treue geloben und dabei Jesu die Treue brechen. Das aber ist nicht möglich; denn die Kirche, nicht die äußerliche, in der ist so viel Elend und Leid, sondern die wahre Kirche ist die Gemeinschaft aller derer, die Jesum lieb haben. Sie geht über alle Grenzen und Konfessionen, sie ist unsichtbar, und doch wirksam groß.

 Gleichwie Er die ganze Christenheit auf Erden beruft. Menschen, die einander nie kannten, treten jeden Tag gemeinsam vor Gottes Thron, das ist die Kirche. Draußen in den entfernten Gegenden Münchens, drüben in einem entlegenen Weiler, draußen im Feld treten immer wieder Menschen zusammen und beten: „Vater unser, Der Du bist in dem Himmel.“ Ist das nicht etwas wunderbar Großes, über alles Denken Hinübergreifendes, daß Freund und Feind, Gegner und Genosse, die einander bitter befehden und sich verfeinden, in dem Einen sich finden: „Ich weiß, daß mein Erlöser lebt.“ (Hiob 19, 25.) Gleichwie Er die ganze Christenheit beruft. Er beruft dich und mich zur Gemeinschaft. Ein Funke, der nicht auf den andern überspringt, verlischt, eine glühende Kohle, die nicht eine andere entzündet, erstirbt, eine Blüte, an die sich nicht eine andere reiht, verblüht, ohne Frucht anzusetzen. Wir sind zur Gemeinschaft berufen. Das ist auch eine Freude, daß ich einem Menschen begegne zum erstenmal, ich sehe ihm ins Auge, er reicht mir die Hand und, ohne daß wir ein Wort sprechen, merken wir, wir stehen auf einem Grunde. Der eine hat sich seinen Himmel dort angebaut, der andere hier; aber wir stehen auf dem einen Grund, da Jesus Christus der Eckstein ist. So hat der Heilige Geist die Christenheit über die ganze Erde hin berufen.

 Gleichwie Er die ganze Christenheit auf Erden berufet und sammelt. Er weiß ja alles. Die Missionstätigkeit in Afrika und Asien scheint gestorben. Unvergängliche| Werte, die seit jetzt 210 Jahren in Asien in ununterbrochener Folge angelegt wurden, scheinen ausgetan. Die große dänische indische Mission, wie sie Leipzig aufnahm, die der Brüdergemeinde, die Goßnersche sind wie lahmgelegt. Ich habe in diesen Tagen ein Wort gelesen, das sich mir tief in die Seele gelegt hat: „Welche Zukunft gibt Deutschland dem Islam?“ Die Muhammedaner hoffen, daß sie Deutschland missionieren können; denn die Abstinenzbewegung nimmt immer mehr zu, und wie es mit der ehelichen Treue in Deutschland bestellt ist, weiß jedermann. Enthaltung von Wein und Unenthaltung in sittlicher Beziehung seien von Deutschland restlos erfüllt, darum habe der Islam eine Zukunft. Hört! Das ist es, daß der Heilige Geist sich zurückzieht, scheinbar, vom Werk. Wieviel Er am modernen Missionsbetrieb zu tragen hatte an der Ungeheiligtheit der Missionare, an der Veräußerlichung der Anstalten und Häuser, das habe ich nicht zu richten, der ich an mir selbst zu richten habe. Aber es scheint, als ob der Heilige Geist ganz andere Opfer haben wolle, nicht die paar Mark, sondern die persönliche Hingabe an den großen Reichsgedanken. Ist nun der Heilige Geist plötzlich nicht mehr ein Geist der Mission? „Gleichwie Er auf Erden sammelt“, sagt unser Katechismus. Glaubt mir, während wir hier schlafen, weil wir schlafen müssen, untätig sind, weil wir nicht arbeiten dürfen, kommt nicht bloß der Feind in die Lager der Heiden, sondern auch der Herr. Wenn die äußeren Mittel versagen, dann kommt Er mit Seiner Erinnerung. – Er sammelt Sein Volk. Wie werden wir einst staunen, welche Leute angekommen sind, wie werden wir uns einst wundern über die Menge der Unbedeutendheit und Ungeformtheit, die nun alle, alle bei Jesu angelangt sind, weil sie Ihm ihr Herz brachten!
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 Er sammelt, Er erleuchtet und heiligt. Die Kirche, wenn man sie noch so bescheiden ansieht, ist eine Leuchtkraft auf Erden. Es ist doch immer etwas Wunderbares,| daß ich, ein Diener der Kirche, über Dinge mit euch rede und ihr mich anhört, die keiner gesehen hat. Wir reden über Jesum in einer Weise der Vertrautheit, als ob wir Ihn seit Jahren kennen, und niemand hat Ihn gesehen. Wir sprechen über Jesu Werk, Treue, Liebe, Erbarmung, alles ohne daß wir Ihn sehen. Wenn ein Mensch über einen anderen redet, dir viel erzählt von einem Freund, so sagst du: kennst du ihn? und wenn er das verneint, wendest du dich von ihm ab, seine Rede ist Phantasie. Und nun lebt die Kirche Christi 1880 Jahre von dem Bekenntnis zu einem Herrn, Den niemand mehr sah, Den sie bloß auf Grund apostolischer Mitteilungen liebt. Das ist eine Erleuchtung.

 Wir haben eine ganz andere Weltanschauung, Kirche und Welt können sich nie einigen; an dem Tage, an dem sie sich einigen, muß die Kirche sterben. Ich weiß wohl, es gibt eine Zeitschrift, „die christliche Welt“ – die Zeitschrift ist auch darnach. Es gibt keine christliche Welt, so wenig es eine Welt Christi gibt. Welt und Kirche sind die ausschließlichsten Gegensätze; die Welt sieht nach unten und die Kirche sieht nach oben. Die Welt sieht den Schein, die Kirche das Sein. Darum: Er erleuchtet die Kirche, daß sie zum Beispiel mitten im Krieg hofft – die Welt kann das nicht –, daß sie mitten im Krieg den Gang des Friedefürsten gläubig anbetet, von dem Frieden sich nicht goldene Berge, aber die Nähe der Heimat verspricht. Die Kirche hat über den ganzen großen Weltkrieg ganz andere Anschauungen. Sie sagt nicht, das rührt von dem serbischen Mord her und dergleichen mehr, die Kirche sagt: das kommt von dem Herrn, Der geweissagt hat, daß, ehe Er Seine Gemeinde heimholen will, Kriege und Erdbeben (Matth. 24, 6 u. 7) kommen sollen. Das ist die Erleuchtung der Kirche.

 Wie wollt ihr denn eigentlich über all die Fragen, die euch bewegen: über den Tod eurer Geliebten, über das Krankenlager| teurer Menschen, über das Abscheiden eurer Seele, über die großen, bewegenden Gegensätze der Welt, wie wollt ihr denn über all das einen Abschluß bekommen? In den Leitartikeln eurer Zeitungen? – „Bis daß ich ging in das Heiligtum und merkte auf das Ende“, heißt es im 73. Psalm. Da lerne es! das ist es, weil der Heilige Geist erleuchtet. Auf einmal liegt die ganze Szenerie klar vor Augen: das habe ich an meinem Bruder, dem erhöhten Heiland, verschuldet. „Mein Volk tut eine zwiefache Sünde, Mich, die lebendige Quelle verlassen sie und machen ihnen hin und her löcherige Brunnen, die doch kein Wasser geben.“ (Jer. 2, 13.) Auf einmal gibt es eine Antwort: „Das ist deiner Bosheit Schuld, daß du so gestäupet wirst.“ (Jer. 2, 19.) – Wahrlich, und wenn mein Leben sich zu Ende neigt und ich bloß von meiner Lebensarbeit reden will, sagt der Heilige Geist: „rede doch auch einmal von Seiner Lebensarbeit: „Du hast Mir Mühe gemacht mit deinen Sünden.“ Das nennt man: Der Heilige Geist beruft, sammelt, erleuchtet die Kirche und heiligt sie.

 Denn, daß die Kirche keine Gemeinschaft der Heiligen ist, das wißt ihr alle, und das wissen wir auch. Eine Kirche der Heiligen kann man im Traume sehen, kann man im Wahn erleben und wird man einst, so Gott will, in der Ewigkeit erfahren. Solange wir auf Erden sind, ist es eine Kirche der Unvollkommenheit, eine Kirche der Kämpfenden und Ringenden, auch wenn sich einzelne Gemeinschaften bilden, Verbindungen solcher, die für einander beten. Jene fromme Geschichte von Hieronymus, der in die Wüste ging, um von niemand zur Sünde gereizt zu werden, und dann von dem zerbrochenen Krug an der Quelle zum Zorn entflammt wurde, wißt ihr. Wir sind nicht heilig, Christentum ist kein Sein, sondern ein Werden, und der Heilige Geist wirkt doch in der Kirche und heiligt sie. Gleichwie Er die ganze Christenheit auf Erden berufet, sammelt, erleuchtet und heiligt.

|  Es ist doch etwas Großes – ich überschätze es nicht, aber unterschätze es auch nicht –, wenn die Gemeinde am Sonntag früh zur Kirche geht. Es ist doch noch ein heiligender Zug des Heiligen Geistes. Und wenn der Nachmittag nicht das Wenige durch törichte Unterhaltung und Lektüre ertötet, sondern wenn es gepflegt wird, es ist doch eine Heiligung. Und wenn auf die erste Probe, ob die Predigt etwas genützt hat, meine Seele antwortet, wenn Gott auf die Heiligungsgabe der Predigt eine Heiligungsaufgabe des Lebens folgen läßt und man wird ihr gerecht, dann ist es doch das: der Heilige Geist heiligt. Mit einem Wort: Nehmt einmal heute Abend in euern Gedanken eine Viertelstunde die Kirche aus der Welt, nehmt aus München alle Kirchtürme, alle Kreuze, alle christliche Unterweisung, allen Gesang, nehmt nur aus diesem Hause den Betsaal und zugleich die Gelegenheit zum Beten, so kann dieses Haus ein vorzügliches Krankenhaus bleiben, in dem die besten Operationen gelingen und die Kranken hervorragende Pflege finden, und doch ist es ein Haus der Welt; denn die Welt ist sehr kundig und sehr liebenswürdig, oft liebenswürdiger als die Wiedergeborenen; aber es würde dann diesem Hause die Weihe, unserer Stadt die Kraft, unserer Gemeinde das Leben fehlen. Eine Welt ohne Jesum, eine Welt ohne Kirche! Er hat geheiligt, wohl uns, Er heiligt noch.
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 Wenn Er zu uns spricht: „Ihr seid das Salz der Erde“ (Matth.5, 13) und die ganze christliche Gemeinde dazu aufruft, daß sie die Erde vor der Fäulnis bewahre und die faule Welt schmackhaft mache, dann heiligt Er. Ja, wenn du, o Seele, und du, o kleine Gemeinde, nicht die Kraft hast, einer ganz weltlichen Unterhaltung Salz, Würde, Weihe zu geben, dann ist dein ganzes Christentum nichts wert. Wenn in deinem Beisein lockere, lose, zweideutige Worte fallen, so gilt dein ganzes Christentum keinen Deut vor Gott. Dann merkt man, ob der Heilige Geist heiligt, daß wir ein| Salz für unsere Umgebung sind, und wäre es nur ein Salz, das brennt. Welche Aufgabe hat die Kirche! Ja, sie hat die Aufgabe, die Welt vor dem Verfall zu bewahren. An dem Tag, an dem der Herr der Welt die Kirche entzieht, verfällt sie; an dem Tag, an dem die Kirche scheidet, ist die Welt ein entseelter Leichnam. – Ihr seid das Licht der Welt. Seht, wir müssen leuchten, jeder an seinem Ort, in seiner Zeit, unter seinen Verhältnissen, in seiner Umgebung, nicht aufdringlich, nicht mit dem grellen Schein des Eignen, sondern mit dem stillen Licht der göttlichen Weisheit.

 So sammelt, heiligt und so erhält Er bei Jesu Christo im rechten einigen Glauben. Die Kirche beherbergt viele, die ihren Grund verneinen, die nur ihre Säulen betasten, aber ihre Kraft verleugnen. Ich weiß wohl, in der heiligen christlichen Kirche sind viele, die den Eckstein zermalmen, das Kreuzeszeichen verschmähen und die Wahrheit des teuren Gotteswortes verkehren. Aber statt daß wir über die richten, die draußen sind, laßt uns darum bitten, daß Er uns bei Jesu Christo erhalte durch Not und Leid, durch Angst und Sorge, aber nur bei dem Einen erhalte, Der für uns gestorben und auferstanden ist. Er wolle uns alles nehmen, alles, das Kirchengebäude unansehnlich machen, alles, alles, nur das Eine wolle Er nicht tun, obwohl wir es verdient haben, daß Er uns in den Lügengeist geraten läßt, der Jesu den Abschied gibt, und nur das Eine uns geben: das gesunde Auge, daß wir recht erkennen mögen und niemand sehen als Jesum allein (Matth. 17, 8).

 Denkt euch, der Heilige Geist würde sich gegen uns wenden und uns einen falschen Christus erstehen lassen, den wir anbeten und der uns dann verlachte und sagte: ich bin ja der Teufel und nicht Christus. Der Apostel sagt es, daß er sich in einen Engel des Lichtes verkleiden würde (2. Kor. 11, 14). Wir können gar nicht oft genug bitten:|

Erhalte mich auf Deinen Stegen
Und laß mich nicht mehr irre geh’n;
Laß meinen Fuß in Deinen Wegen
Nicht straucheln oder stille steh’n!

Es ist ein großes, herrliches, seliges Geheimnis, daß das Herz fest werde (Hebr. 13, 9), daß Er uns bei Jesu Christo erhalte, bei Ihm allein, bei dem Jesus, auf Den uns die Apostel gegründet haben, bei dem Jesus Christus, Der einmal gekommen ist, um die Welt zu erlösen, und zum zweitenmal kommen wird, um sie zu richten.

 Im rechten, einigen Glauben. Der rechte Glaube einigt, und der einigende Glaube ist recht. Der selige Bengel, der große Württemberger Theologe, sagt einmal, es gäbe zu einer großen Stadt mancherlei Wege; wenn man nur immer den Hauptkirchturm im Auge habe, müßten alle Wege in die Stadt führen. – Es sind mancherlei Wege, aber es ist ein Geist, und es sind mancherlei Wendungen im Leben, aber es ist ein König, der sie gibt und gönnt. Wenn wir nur heimkommen im rechten einigen Glauben, der Weg ist die Nebensache. Jeder Weg, der die Hauptkirche, das Jerusalem, vor Augen hat, ist der rechte Weg.

 So wollen wir dem Herrn danken, daß Er gegenüber dem, was vom Fleisch geboren ist, uns im Geist das wunderbar selige Geheimnis der heiligen Kirche schenkt. Betet mit mir: „O welch eine Tiefe!“ O welch eine Tiefe, daß gegenüber der abgrundtiefen Verirrung und Sünde des menschlichen Wesens Sein Erbarmen die Kirche gegründet hat. Welch eine Tiefe des Reichtums! Tausende von Menschengeschlechtern sind an diesen Reichtum gegangen, haben sich von ihm geholt und der Reichtum ist unvermindert und unverletzt. Was muß das für ein Herr sein, Der Millionen im Leben und Sterben tröstet und nicht müde und matt wird!

 O welch eine Tiefe des Reichtums, o welch eine Tiefe der Weisheit,| daß Er dich und mich so führt, nicht wie wir es wollen, sondern wie wir es brauchen, daß Er jeder einzelnen Seele so entgegentritt, wie es ihr gut ist! Dir gibt Er Sonne, dir Schatten, dir die Wolken, dir den Lärm des Marktes, dir viel Arbeit, dir wenig Arbeit. O welch eine Tiefe der Weisheit, die jeden Menschen so führt und fügt, daß er rufen wird: „O welch eine Tiefe der Erkenntnis!“ Es ist kein Gedanke in meinem Herzen und „kein Wort auf meiner Zunge, das Du, Herr, nicht alles wissest.“ (Ps. 139, 4.) Und das alles hast Du mir vergeben. – Wenn man so denkt: man steht an der Wiege eines Kindes und schaut die sorglosen hellen Augen an, mit denen das Kind in die Welt hinausblickt, und versenkt sich in dieses Wunder eines anhebenden Menschenlebens, und die Mutter und der Vater, halb stolz, halb ängstlich, fragen: „Was meinest du, soll aus dem Kinde werden?“ (Luc. 1, 66.) Und man sieht es und man kann es der Mutter gönnen und dem Vater erlauben, daß sie ihr Kind weit glücklicher, froher, reiner wünschen, als sie selbst waren. Aber es ist bloß Wunsch. O welch eine Tiefe der Erkenntnis, daß Gott über diesem Kinde Gedanken des Friedens hat, die Er hinausführt. Ihr meint es menschlich und Ich göttlich.

 So dankt Ihm dafür, daß in den Kampfplatz eures Lebens, in den engen Raum eures Hauses die großen Gegensätze zwischen Fleisch und Geist eingesenkt sind, und bittet Ihn, daß am letzten Tage und seiner letzten Stunde der Geist, der Heilige Geist, das letzte Wort behält; denn was vom Geist geboren ist, und wenn es ein Todesröcheln wäre, das ist Geist und der Geist erobert die Heimat und der Geist hat Frieden.

Amen[.]



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