Der Binger Mäusethurm
Der binger Mäusethurm.
Bange thür. Chronik Bl. 35b. |
Zu Bingen ragt mitten aus dem Rhein ein hoher
Thurm, von dem nachstehende Sage umgeht. Im
Jahr 974. ward große Theuerung in Deutschland,
daß die Menschen aus Noth Katzen und Hunde aßen und
doch viel Leute Hungers sturben. Da war ein Bischof
zu Mainz, der hieß Hatto der andere, ein Geizhals,
dachte nur daran, seinen Schatz zu mehren und sah
zu, wie die armen Leute auf der Gasse niederfielen
und bei Haufen zu den Brotbänken liefen und das Brot
nahmen mit Gewalt. Aber kein Erbarmen kam in
den Bischof, sondern er sprach: „lasset alle Arme und
Dürftige sammlen in einer Scheune vor der Stadt,
ich will sie speisen.“ Und wie sie in die Scheune gegangen
waren, schloß er die Thüre zu, steckte mit
Feuer an und verbrannte die Scheune sammt den armen
Leuten. Als nun die Menschen unter den Flammen
wimmerten und jammerten, rief Bischof Hatto:
„hört, hört, wie die Mäuse pfeifen!“ Allein Gott
der Herr plagte ihn bald, daß die Mäuse Tag und
Nacht über ihn liefen und an ihm fraßen, und vermochte
sich mit aller seiner Gewalt nicht wider sie behalten
und bewahren. Da wußte er endlich keinen andern
Rath, als er ließ einen Thurm bei Bingen mitten
in den Rhein bauen, der noch heutiges Tags zu
sehen ist, und meinte sich darin zu fristen, aber die
[329] Mäuse schwummen durch den Strom heran, erklommen
den Thurn und fraßen den Bischof lebendig auf.