Der Dichter und der Wahnsinn
[184] Der Dichter und der Wahnsinn. Die Dichtung beruht auf der freien Verknüpfung der Phantasiebilder, der Wahnsinn auf der unfreien. Daß die eine leicht in die andere überzugehen vermag, beweisen zahlreiche traurige Beispiele – Tasso, Hölderlin, Lenau! Leider hat die neueste Zeit diese Beispielsammlung wieder bereichert. Man mochte den allzuhohen Flug der Begeisterung bei jenen Dichtern gefährlich finden: vor Kurzem verfiel aber auch ein Wiener Volksdichter dem Irrsinn, und dieser lehnte sich stets an das Volksleben an, das er mit Humor behandelte, und nachtwandelte niemals auf den Zinnen der Poesie. O. Berg, der im Irrenhause zu Döbling starb, hat mehr als hundert Gesangspossen und Volksstücke geschrieben, welche dem großen Wiener Publikum jahrzehntelang eine willkommene Erheiterung boten und von Kalisch und Andern zum Theil von der Donau an die Spree in geeigneter Umarbeitung verpflanzt worden sind. Nicht mit Nahrungssorgen hatte Berg zu kämpfen; er hinterläßt eine halbe Million Gulden. Dagegen hat der Dramatiker Albert Lindner, welcher neuerdings als unheilbar in ein Irrenhaus aufgenommen worden, einen schweren Kampf mit der Noth des Daseins bestanden, und seine Familie bleibt in trostlosen Verhältnissen zurück. Lindner ist kein heiterer Volksdichter wie Berg: seine Muse nahm einen höheren Aufschwung; ein Jünger Shakespeare’s strebte er nach dem Lorber der tragischen Dichtung. Verhängnißvoll wurde für ihn der Schiller-Preis, den das Berliner Komité, welches das beste Drama jedes Trienniums zu krönen hatte, seinem „Brutus und Collatinus“ ertheilte; ermuthigt durch diese Auszeichnung gab er seine Stellung als Gymnasiallehrer in Rudolstadt auf und kam nach Berlin; aber er hatte sich in der Tragweite jener Preisertheilung geirrt. Wir leben nicht in Frankreich! Berlin ist nicht Paris, ein Urtheil des Berliner Schiller-Komités hat durchaus keinen Einfluß auf die deutschen Theater, welche sich nicht beeifern, die preisgekrönten Stücke zu geben. Das hat auch die Folgezeit sehr deutlich bewiesen. Lindner’s nächstes Drama „Die Bluthochzeit“ ging noch über viele Bühnen, besonders da die Meininger es in ihr Repertoire aufgenommen hatten; doch alle seine späteren Tragödien klopften vergebens an die Pforten der deutschen Theater an. Eine kleine feste Stellung und eine litterarisch-kritische Thätigkeit, welche oft die ganze Verbitterung so schmerzlicher Enttäuschung athmetee, reichten nicht aus, das äußere Leben des Dichters in erfreulicher Weise zu gestalten; hierzu kam der nagende Kummer über den Mißerfolg seines dramatischen Schaffens, gegenüber den leichten und glänzenden Siegen, welche die Modeschriftsteller davontrugen. So umnachtete sich sein Geist, und dem gleichen traurigen Lose wie der vermögende und erfolgreiche Possendichter verfiel der arme, erfolglose Tragiker.