Zum Inhalt springen

Der Schrecken

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Textdaten
<<< >>>
Autor: Gustav Meyrink
Illustrator: {{{ILLUSTRATOR}}}
Titel: Der Schrecken
Untertitel:
aus: Orchideen, S. 39–44
Herausgeber:
Auflage: 8.–10. Tausend
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: o. J. [ca. 1905]
Verlag: Albert Langen
Drucker: {{{DRUCKER}}}
Erscheinungsort: München
Übersetzer:
Originaltitel:
Originalsubtitel:
Originalherkunft:
Quelle: Commons
Kurzbeschreibung:
Eintrag in der GND: {{{GND}}}
Bild
[[Bild:|250px]]
Bearbeitungsstand
fertig
Fertig! Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle Korrektur gelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Um eine Seite zu bearbeiten, brauchst du nur auf die entsprechende [Seitenzahl] zu klicken. Weitere Informationen findest du hier: Hilfe
Indexseite
[39]
Der Schrecken

Die Schlüssel klirren, und ein Trupp Sträflinge betritt den Gefängnishof. – Es ist zwölf Uhr, und sie müssen im Kreise herumgehen, um Luft zu schöpfen, paarweise – einer hinter dem andern. –

Der Hof ist gepflastert, nur in der Mitte ein paar Flecken dunkles Gras, wie Grabhügel. – Vier dünne Bäume und eine Hecke aus traurigem Liguster. –

Ringsum alte gelbe Mauern mit kleinen, vergitterten Kerkerfenstern.

Die Sträflinge in ihren grauen Zuchthauskleidern, sie reden kaum und gehen immer im Kreise herum – einer hinter dem andern. – Fast alle sind krank. – Skorbut, geschwollene Gelenke. – Die Gesichter grau, wie Fensterkitt, die Augen erloschen. Mit freudlosem Herzen halten sie gleichen Schritt.

Der Aufseher mit Säbel und Mütze steht an der Hoftüre und starrt vor sich hin. –

Längs der Mauer ist nackte Erde. – Dort wächst nichts. – Das Leid sickert durch die gelben Wände.

Lukawsky war eben beim Präsidenten,“ ruft ein Gefangener den Sträflingen durch sein Kerkerfenster halblaut zu. – Der Trupp marschiert weiter. – „Was [40] ist’s mit ihm?“ fragt ein Neuling seinen Nebenmann. – „Lukawsky, der Mörder, ist zum Tode verurteilt durch den Strang, und heute, glaub’ ich, soll sich’s entscheiden, ob das Urteil bestätigt wird oder nicht.“ –

„Der Präsident hat ihm die Bestätigung des Urteils auf dem Amtszimmer verlesen.“ – „Der Lukawsky hat kein Wort gesagt, nur getaumelt hat er.“ – „Aber draußen hat er mit den Zähnen geknirscht und einen Wutanfall bekommen.“ – „Die Aufseher haben ihm die Zwangsjacke angelegt und ihn mit Gurten auf die Bank geschnallt, daß er kein Glied rühren kann bis morgen früh.“ – „Und ein Kruzifix haben sie ihm hingestellt.“ – Bruchstückweise hatte der Gefangene den Vorbeimarschierenden dies zugerufen. –

„Auf Zelle Nr. 25 liegt er, der Lukawsky,“ sagte einer der ältesten Sträflinge. – Alle blicken zum Gitterfenster Nr. 25 hinauf. –

Der Aufseher lehnt gedankenlos am Tor und stößt mit dem Fuß ein Stück altes Brot beiseite, das im Wege liegt. –

In den schmalen Gängen des alten Landgerichtes liegen die Kerkertüren dicht nebeneinander. – Niedrige Eichentüren, in das Mauerwerk eingelassen, mit Eisenbändern und mächtigen Riegeln und Schlössern. – Jede Tür hat einen vergitterten Ausschnitt, kaum eine Spanne im Geviert. Durch diese ist die Neuigkeit gedrungen und läuft längs der Fenstergitter von Mund zu Mund: „Morgen wird er gehenkt!“ –

Es ist still auf den Gängen und im ganzen Hause, und doch herrscht ein feines Geräusch. Leise, unhörbar, nur zu fühlen. – Durch die Mauern dringt es und spielt in der Luft, wie Mückenschwärme. – Das ist das Leben, das gebundene, gefangene Leben! –

Mitten im Hauptgang, dort wo er weiter wird, steht eine alte leere Truhe ganz im Dunkeln.

[41] Lautlos, langsam hebt sich der Deckel. – Da fährt es wie Todesfurcht durchs ganze Haus. – Den Gefangenen bleibt das Wort im Munde stecken. – Auf den Gängen kein Laut mehr, – daß man das Schlagen des Herzens hört und das Klingen im Ohr. –

Die Bäume und Sträucher auf dem Hofe rühren kein Blatt und greifen mit herbstlichen Ästen in die trübe Luft. – Es ist, wie wenn sie noch dunkler geworden wären. –

Ein Trupp Sträflinge ist stehen geblieben wie auf einen Wink: Hat nicht jemand geschrien? –

Aus der alten Truhe kriecht langsam ein scheußlicher Wurm. – Ein Blutegel von gigantischer Form. – Dunkelgelb mit schwarzen Flecken, saugt er sich die Zellen entlang am Boden hin. – Bald dick werdend, dann wieder dünn, bewegt er sich vorwärts und tastet und sucht. – Am Kopfe seitlich in jeder Höhle starren fünf aneinandergequetschte Augäpfel, – ohne Lider und unbeweglich. – Es ist der Schrecken. –

Er schleicht sich zu den Gerichteten und saugt ihnen das warme Blut aus – unterhalb der Kehle, dort wo die große Ader das Leben vom Herzen zum Kopfe trägt. – Und umschlingt mit seinen schlüpfrigen Ringen den warmen Menschenleib. – – –

Jetzt ist er zur Zelle des Mörders gekommen. –

Ein langes grauenhaftes Schreien, ohne Unterbrechung, wie ein einziger nicht endender Ton, dringt auf den Hof. –

Der Aufseher am Türpfosten fährt zu sammen und reißt den Torflügel auf. – „Alle, marsch hinauf, auf die Zellen,“ schreit er, und die Gefangenen laufen an ihm vorbei, ohne ihn anzusehen, die steinernen Treppen hinauf. – Trapp, trapp, trapp – mit plumpen, genagelten Schuhen.

Dann ist es wieder still geworden, – der Wind fährt in den öden Hofraum hinunter und reißt eine alte Dachluke ab, die klirrend und splitternd auf die schmutzige Erde fällt. – – –

[42] Der Verurteilte kann nur den Kopf bewegen. – Er sieht die weiß getünchten Kerkerwände vor sich. – Undurchdringlich. – Morgen früh um sieben Uhr werden sie ihn holen. – Noch achzehn Stunden bis dahin. – Und sieben Stunden, dann kommt die Nacht. – – – Bald wird Winter sein, und das Frühjahr kommt und der heiße Sommer. – Dann wird er aufstehen – früh – schon in der Dämmerung, und auf die Straße gehen, den alten Milchkarren ansehen und den Hund davor … Die Freiheit –! Er kann ja tun was er will. –

Da schnürt es ihm wieder die Kehle. – wenn er sich nur bewegen könnte. – Verflucht, verflucht, verflucht – und mit den Fäusten an die Mauern schlagen. – Hinaus! – – – Alles zerbrechen und in die Riemen beißen. – Er will jetzt nicht sterben – will nicht – will nicht! – Damals hätten sie ihn hängen dürfen, als er ihn ermordet hat, – den alten Mann, – der schon mit einem Fuß im Grabe stand. – – – Jetzt hätte er es doch nicht mehr getan! – – – Der Verteidiger hat das nicht erwähnt. – Warum hat er es den Geschworenen nicht selbst zugerufen?! – Sie hätten dann anders geurteilt. – Er muß es jetzt noch dem Präsidenten sagen. – Der Aufseher soll ihn vorführen. – Jetzt gleich. – – – – – Morgen früh ist’s zu spät, da hat der Präsident die Uniform an, und er kann nicht so dicht an ihn heran. – Und der Präsident würde ihn nicht anhören. – Dann ist’s zu spät, man kann die vielen Polizeileute nicht mehr wegschicken. – Das tut der Präsident nicht. – – –

Der Henker legt ihm die Schlinge über den Kopf, – er hat braune Augen und sieht ihm immer scharf auf den Mund. – Sie reißen an, alles dreht sich – halt, halt – er will noch etwas sagen, etwas Wichtiges. – – –

Ob der Aufseher kommen wird und ihn heute noch losbinden von der Bank? – Er kann doch nicht so liegen bleiben die ganzen achzehn Stunden. – Natürlich nicht, der [43] Beichtvater muß doch noch kommen, so hat er es immer gelesen. Das ist Gesetz. – Er glaubt an nichts, aber nach ihm verlangen wird er, es ist sein Recht. – Und den Schädel wird er ihm einschlagen, dem frechen Pfaffen, mit dem steinernen Krug dort. – – – – – Die Zunge ist ihm wie gedörrt. – Trinken will er – er ist durstig. – Himmel, Herrgott! – Warum geben sie ihm nichts zu trinken! – Er wird sich beschweren. – Er wird vortreten und sich beschweren, wenn die Inspektion nächste Woche kommt. – Er wird es ihm schon eintränken, – dem Aufseher, – dem verfluchten Hund! – Er wird solange schreien, bis sie kommen und ihn losbinden, immer lauter und lauter, daß die Wände einstürzen. – Und dann liegt er unter freiem Himmel, ganz hoch oben, daß sie ihn nicht finden können, wenn sie um ihn herum gehen und ihn suchen. – – – – – – – – – – – Er muß irgendwo herabgefallen sein, deucht ihm, – es hat ihm einen solchen Ruck gegeben durch den Körper. –

Sollte er geschlafen haben? – Es ist dämmerig. –

Er will sich an den Kopf greifen, – seine Hände sind festgebunden. – – Vom alten Turme dröhnt die Zeit – eins, zwei – wie spät mag’s sein? – Sechs Uhr. – Herrgott im Himmel, nur noch dreizehn Stunden, und sie reißen ihm den Atem aus der Brust. – Hingerichtet soll er werden, erbarmungslos – gehenkt. – Die Zähne klappern ihm vor Kälte. – Etwas saugt ihm am Herzen, er kann es nicht sehen. – Dann steigt es ihm schwarz ins Gehirn. – Er schreit und hört sich nicht schreien, – alles schreit in ihm, die Arme, die Brust, die Beine, – der ganze Körper, – ohne Aufhören, ohne Atemholen. – – –

– – – – – – – – – – – –

An das offene Fenster des Amtszimmers, das einzige, das nicht vergittert ist, tritt ein alter Mann mit weißem [44] Bart und einem harten, finstern Gesicht und sieht in den Hofraum hinab. Das Schreien stört ihn, er runzelt die Stirn, – murmelt etwas und schlägt das Fenster zu. – –

Am Himmel jagen die Wolken und bilden hakenförmige Streifen. – – Zerfetzte Hieroglyphen, wie eine alte, verloschene Schrift: „Richtet nicht, auf das ihr nicht gerichtet werdet!“