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Der zweckmäßige Meyer (Löns)

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Textdaten
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Autor: Hermann Löns
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Titel: Der zweckmäßige Meyer
Untertitel:
aus: Der zweckmäßige Meyer. Ein schnurriges Buch, S. 1–7
Herausgeber:
Auflage: 1.–4. Tausend
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1911
Verlag: Sponholtz
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Erscheinungsort: Hannover
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Originaltitel:
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Originalherkunft:
Quelle: Google-USA* = Commons
Kurzbeschreibung:
Eintrag in der GND: [1]
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[1] Der zweckmäßige Meyer.

Meyer schwärmt sehr für die Natur, oder vielmehr, wie er sagt, für Natur, und zwar aus verschiedenen Gründen.

Einmal, weil dieser Sport billig ist, denn Meyer ist für das Billige; zweitens, weil er bekömmlich ist, denn Meyer ist für das Bekömmliche; drittens, weil Meyer eine bedeutende naturwissenschaftliche Bildung hat, denn er hat Primareife, ein Vergrößerungsglas, einen ziemlich richtig gehenden Laubfrosch und ist auf alle im Verlage des Kosmos erscheinenden Schriften abonniert.

Infolgedessen ist für Meyer die Natur eine leicht erklärbare Sache. Über die Tierseele hat ihn Doktor Zell, über die Entstehung der Welt der Urania-Meyer, über die Entwickelung des Menschen Friedrich Wilhelm Bölsche vollkommen genügend unterrichtet; den Rest denkt er sich selbst zusammen.

Meyer und ich gehen oft spazieren; Meyer redet, und ich höre zu; Meyer erklärt, und ich versuche zu folgen; Meyer lehrt, und ich stelle schüchterne Fragen; wenn er sie nicht beantworten kann, erklärt er sie für zu seicht, als daß er darauf eingehen könnte.

Auch gestern nachmittag drei Uhr hatten wir uns zu einem Spaziergang nach auswärts verabredet, weil dort, sagte Meyer, die Natur noch natürlicher sei als bei der Stadt, wo die Kultur schon so tief hineinschneide, daß man die Gesetze derselben nicht mehr bequem erkennen könne.

Da das Wetter schön und warm war, hatte ich meinen dünnsten Anzug, den leichtesten Wanderstab und einen Strohhut [2] gewählt. Meyer als Mann der Wissenschaft hatte seinen Laubfrosch befragt, und da dieser ihm zart andeutete, daß das Wetter sich ändern könne, erschien er in Lodenhut, Havelock und Entoutcas[1].

So hatte er an alle Eventualitäten gedacht, nur nicht an die Zigarren, und war infolgedessen auf meine angewiesen, ein Vorgang, der mich stets in eine gereizte Stimmung versetzt.

Auf der ersten Haltestelle stiegen wir aus und wanderten in jenem gemessenen Tempo, das den besonnenen Naturbetrachter in der unwissenschaftlichen Menge sofort kenntlich macht, unseres Weges.

„Wie zweckmäßig diese Blume, Hieracium, Habichtskraut heißt sie, eingerichtet ist,“ sprach Meyer und zeigte auf eine Blume, die im grünen Grase stand und ob dieser unerwarteten Ansprache fast vom Stengel fiel; „ihre leuchtende Farbe zieht die Insekten an. Wäre sie zum Beispiel rot, so würde sie nicht bemerkt werden.“

In diesem Augenblicke kam eine Hummel an, die irgend etwas in den Bart brummte, das wie Kartoffelkopp klang, übersah vollständig das schreiend gelbe Plakat des Habichtskrautes und ließ sich an einer roten Taubnessel nieder. Meyer wandte sich entrüstet ab.

„Es ist merkwürdig,“ sprach Meyer, indem er sich mit einem rotbaumwollenen Taschentuche, auf dem die Schlacht bei Königgrätz abgebildet war, die Stirn abwischte, „welchen erhebenden Einfluß die Sonne auf alle Geschöpfe ausübt. Ein Zug von Frohsinn, Liebenswürdigkeit, Freude und Harmlosigkeit geht durch alle Wesen.“

„Platz da, zum Donnerwetter,“ brüllte eine rauhe Stimme, und in eine Staubwolke gehüllt und klingelnd, als risse er an der Nachtglocke einer Hebamme, sauste ein Radfahrer zwischen uns durch, es Meyer überlassend, bezüglich [3] der Radfahrer eine einschränkende Fußnote zu seiner Theorie von der Wirkung der Sonnenstrahlen zu machen.

Dann zeigte mir Meyer eine Pflanze, die er Wasserhahnenfuß, Batrachium, nannte. „Sehen Sie,“ sagte er, „würde dieser Graben fließen, so würde diese Pflanze lauter untergetauchte, aber keine schwimmenden Blätter haben. Da das Wasser aber steht, so bringt sie es zu letzteren. Das ist das Gesetz der Anpassung, das Darwin entdeckt hat.“

„Stimmt,“ sagte ich; „es ist dasselbe, als wenn man einen Anarchisten aus den fluktuierenden Wellen des Proletariats in die stabilen Verhältnisse des Kapitalismus bringt; schon nach fünf Bierminuten wird er konservative Blätter treiben.“

„Das ist Unsinn,“ sprach Meyer, „geben Sie mir lieber eine Zigarre.“ Ich gab sie ihm, und er fuhr fort: „Bemerken Sie jenen blanken Käfer?“ Ich bemerkte ihn. „Derselbe ist im Besitz von vier Augen. Mit den oberen sieht er über dem Wasser, mit den unteren unter demselben her, um sowohl die Beute zu erspähen, die auf, als auch die, die unter dem Wasser schwimmt. Zu dem Behufe sind die oberen Augen anders konstruiert, als die unteren.“

„Das ist kolossal praktisch,“ erwiderte ich; „aber was macht er, wenn er einmal auf dem Rücken schwimmt und mit den Wasseraugen in die Luft und mit den Luftaugen in das Wasser kuckt?“

Meyer überging diesen triftigen Einwand und fuhr fort: „Diese kleinen Käfer, die hier überall fliegen, sind Aphodien, Mistkäferchen. Die Natur hat sie dazu bestimmt, alle exkrementalen Stoffe fortzuräumen. Mit unglaublicher Sicherheit wissen sie jeden Mist aufzufinden und fliegen auf ihn zu.“

„Pfui, Spinne,“ sprach er dann und spie eins dieser intelligenten Insekten, das ihm in den stets offenen Mund geflogen war, in die Landschaft, und fuhr darauf fort: „Bemerken Sie diese Lerche da?“ Ich bemerkte sie. „Dieselbe [4] hat einen anderen Gesang, als die Bachstelze, die überhaupt keinen hat, und diese einen anderen, als der Hänfling; das ist deswegen so, damit die Arten sich zusammenfinden, sonst würde es ein heilloses Durcheinander geben.“

Entrüstet runzelte er die Stirne, denn besagte Lerche sang eben genau wie ein Hänfling, lockte dann wie eine Bachstelze, schlug darauf wie eine Wachtel, pfiff alsdann wie ein Star und schwirrte zuletzt wie ein Grünfink. „Was sagen Sie dazu?“ fragte ich Meyern. Er schwieg verletzt.

Als sich aber im weiteren Verfolg unserer Wanderung eine Haubenlerche auf einem Stück Ödland niederließ, erhellten sich seine finsteren Züge: „Bemerken Sie den Vogel?“ fragte er. Ich bemerkte ihn. „Er ist genau so grau gefärbt, wie der Erdboden, und dadurch vor den Nachstellungen seitens der Raubvögel völlig geschützt.“

Ein Sperbermännchen, das hinter einer krüppeligen Föhre hervorkam, war gegenteiliger Ansicht und bewies sie dadurch, daß es mit der Lerche in den Klauen abging und Meyer mit seiner Theorie aufsitzen ließ. Ich grinste in mich hinein und gab Meyer die dritte Zigarre.

Als wir den Wald betraten, wies Meyer mir überzeugend nach, daß die Koniferen, also die Nadelhölzer, aus Gründen der Zweckmäßigkeit Sommer und Winter die Nadeln behielten, was die Laubhölzer nicht könnten, einmal, weil sie keine Nadeln hätten, und dann überhaupt und so. Ich fragte ihn darauf, ob die Natur dazu da sei, um von dem Menschen erklärt zu werden, was er als selbstverständlich bezeichnete, und dann fragte ich ihn, warum die drei Lärchen auf der Lichtung, die doch auch Koniferen wären, ihre Nadeln abwürfen, worauf Meyer zu etwas anderem überging.

„Sehen Sie,“ sagte er, indem er sich Nacken; Hals und Backen kratzte, „die Mücken, die sind so lästig, und es könnte scheinen, als sei hierin die Natur nicht zweckmäßig. Aber bedenken Sie, wovon sollten die Vögel leben, wenn die [5] Mücken nicht wären? Und stechen tun nur die Weibchen, die Männchen nicht, weil die keine Eier zu legen brauchen, und so zeigt sich wieder die absolute Zweckmäßigkeit der Natur.“

„Die Hühner legen auch Eier,“ wandte ich schüchtern ein, „sie stechen aber nicht; wie erklären Sie das?“ Er verzichtete darauf und lenkte meine Aufmerksamkeit auf einige kleine Trichter in dem grauen Bleisande: „Darin sitzt die Larve des Ameisenlöwen. Sie baut sich diesen Trichter und frißt die Ameisen, die da hineinfallen. Das ist doch wieder überaus zweckmäßig?“

Da ich mit Erbitterung bemerkte, daß seine Zigarre sich wieder ihrem kurzen Ende zuneigte, stimmte ich nicht ohne weiteres bei, sondern meinte: „Es wäre doch viel einfacher, wenn die Larve es so machte, wie Mohammed es tat, als der Berg es nicht tun wollte. Ich fände das zweckmäßiger und einfacher.“

Meyer antwortete nicht, sondern fuhr mit der Hand durch die Atmosphäre und zeigte mir auf ihrer Innenfläche ein schwarzes Ding, das dünn und lang war und alle Augenblicke in die Höhe schnellte und ebenso oft wieder auf Meyers Handfläche zurückfiel. „Ein Schnellkäfer ist es, ein Elater. Die Natur hat ihm die Gabe verliehen, sich empor zu schnellen, damit er dadurch seinen Feinden, die dieser Vorgang verblüfft, entgehen kann“ belehrte er mich, und dann warf er den Käfer auf den Weg. Dort hopste das Insekt so lange herum, bis eine Kohlmeise darauf aufmerksam wurde, es ergriff und verzehrte, was Meyer als mit seinen Ausführungen wenig übereinstimmend mißbilligte.

Eine Eidechse, die über den Weg lief, brachte ihn aber wieder auf frohe Gedanken. Er griff zu, erwischte sie beim Schwanze, dieser brach ab, und das um die Hälfte verkürzte Reptil verschwand in den Bickbeerbüschen, während das Schwänzchen in Meyers Hand zurückblieb und sich so aufgeregt [6] benahm, als habe es eine dringende Verabredung mit seiner besseren Hälfte.

Meyer schleuderte strahlenden Auges das Schwänzchen beiseite und sprach: „Wäre ich ein Raubvogel und hätte der Schwanz der Eidechse nicht die Einrichtung, abzufallen, wenn man sie fest daran faßt, so wäre die Eidechse um ihr Leben gekommen. So aber ist sie gerettet; der Schwanz wächst nach, wenn er auch nie die ursprüngliche Länge erreicht. Ungemein zweckmäßig, nicht wahr?“

Ich konnte dem nicht beistimmen, zumal er mich um eine neue Zigarre ersuchte, weil die zweckmäßigen Mücken so lästig wären, sondern ich meinte: „Wenn sie überhaupt keinen Schwanz hätte, stände sie sich noch besser.“ Da Meyer gerade noch meine, jetzt seine Zigarre ansteckte, hatte er keine Zeit zu antworten, und da wir mittlerweile aus der gedankenbelebenden Kühle des Waldes in das freie Feld und in die Sonne kamen und Meyers Havelock und Lodenhut sich als eine von der Natur unzweckmäßig eingerichtete Körperbedeckung erwiesen hatte, so schwieg er, bis er im Dorfe zwei Butterbröte mit Harzkäse und zwei Weiße binnen hatte, worauf er wieder zu seiner Zweckmäßigkeitstheorie zurückkam, nachdem er mir meine letzte Zigarre, seine fünfte, abgenommen hatte.

„Bemerken Sie, lieber Freund, dort oben in dem Baum die Mistel, den Schmarotzerstrauch[2]?“ Ich bemerkte sie. „Dieselbe hat weiße Beeren, deren Kerne ein klebriger Schleim umhüllt. Die Misteldrossel frißt nun die Beeren, verdaut aber nur das Fleisch, nicht den Kern mit der klebrigen Masse. Mit ihren Exkrementen fällt nun die Beere auf den Ast und keimt dort. Finden Sie nicht, wie höchst zweckmäßig das ist?“

Da ich keine Zigarre mehr besaß, war ich in oppositioneller Stimmung: „Ich finde das durchaus nicht,“ sagte ich; „die Misteldrossel ist in meinen Augen ein Rindvieh. Denn warum frißt sie erstens die Beeren, aus deren Schleim man [7] Vogelleim kocht, und wenn schon, warum setzt sie die Kerne nicht auf der Erde ab, wo sie nicht blühen, wachsen und gedeihen können, sondern mit Gewalt auf Bäumen, wodurch sie dem Strauch Gelegenheit gibt, zu keimen, so daß der Mensch wieder Vogelleim kochen kann, womit er die Drossel fängt?“

In diesem Augenblick huschte eine Waldmaus bei uns her und überhob Meyer der Antwort. „Haben Sie die Maus bemerkt?“ Ich hatte es. „Wie unzweckmäßig erscheint auf den ersten Augenblick der lange Schwanz. Aber schneiden Sie ihn ab, und die Maus ist nicht mehr imstande so geschickt zu laufen, weil sie sich nicht mehr im Besitze des für die Entwickelung einer größeren Schnelligkeit nötigen Gleichgewichtes befindet. Ist das nicht überaus zweckmäßig?“

Ich wollte zwar einwenden, daß ich es durchaus nicht für zweckmäßig hielte, einer Maus den Schwanz abzuschneiden, um dessen Zweckmäßigkeit zu beweisen, aber Meyer bemerkte gerade, daß es sieben sei, und um acht müsse er zu Hause sein. Er verschob daher weitere Erörterungen auf das nächste Mal.

Ich freue mich schon darauf.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Lodenhut = Filzhut, Havelock = ärmelloser Mantel mit ellbogenlangen Umhang, En-tout-Cas = großer Schirm gegen Sonne und Regen
  2. Vorlage: Scharotzerstrauch