Die Abnahme unserer Sinnesorgane

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Textdaten
Autor: Walther Kabel
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Titel: Die Abnahme unserer Sinnesorgane
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aus: Bibliothek der Unterhaltung und des Wissens, Jahrgang 1915, Siebenter Band, Seite 229–231
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Erscheinungsdatum: 1915
Verlag: Union Deutsche Verlagsgesellschaft
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Erscheinungsort: Stuttgart, Berlin, Leipzig
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[229] Die Abnahme unserer Sinnesorgane. – Der Forschungsreisende Macpherson, der jahrelang unter den Eingeborenen der verschiedensten Stämme in den Steppen und Urwäldern Südamerikas gelebt und die Ergebnisse seiner Forschungen über Land und Leute in einem umfangreichen Werke niedergelegt hat, erörtert in einem besonderen Abschnitt dieses seines Buches die Frage, in welcher Beziehung die Wilden den Angehörigen alter Kulturvölker überlegen sind, und welche Einbußen die Sinnesorgane des auf der Höhe der Zivilisation stehenden Menschen gerade infolge dieser hochentwickelten Kultur erlitten haben. „Wir Europäer, die wir so stolz auf die Fortschritte auf allen Gebieten sind, übersehen eines ganz und gar: daß wir diese Errungenschaften mit einer nicht mehr gutzumachenden Schwächung unserer wertvollsten Sinne bezahlt haben. Unser Auge, unser Ohr und unsere Nase sind im Vergleich zu denen der wilden Naturkinder eigentlich nichts anderes mehr als halb gelähmte Organe. Nie ist mir auch nur ein einziger Eingeborener begegnet, der an Kurzsichtigkeit gelitten hätte. Ich habe Greise angetroffen, die sich mühsam an einem Stock fortbewegten, und die doch den Adler im Äther früher mit bloßem Auge entdeckten als ich mit meinem Fernglase.

[230] Nicht anders steht es mit dem Gehör. Bei den Loa-Indianern im nördlichen Argentinien erlebte ich es verschiedentlich, daß die Leute lediglich aus dem Dröhnen des Bodens ziemlich genau die Zahl eines herangaloppierenden noch weit entfernten Reitertrupps feststellten, wo ich auch noch nicht einmal trotz des fest auf die Erde gedrückten Ohres ein Geräusch vernahm. Ähnliche Beispiele könnte ich in Menge anführen.

Am auffälligsten aber macht sich der Unterschied in der Schärfe der Sinnesorgane von Natur- und Kulturmensch bei der Nase bemerkbar. Der moderne, zivilisierte Mensch braucht nur noch das Gehör und das Gesicht. Der Geruchsinn gilt ihm nichts, da dessen Verlust keine erheblichen Beeinträchtigungen zur Folge hat. Wie anders der Wilde! Alexander v. Humboldt berichtet bereits, daß die peruanischen Indianer eine Fährte lediglich mit der Nase ebensogut wie Spürhunde verfolgen können. Der große deutsche Forscher hat nicht übertrieben, wovon ich mich häufiger überzeugen konnte.

Einmal gedachte ich an der Südgrenze von Venezuela eine Felshöhle zu erforschen, die sich anscheinend tief in das Innere eines Berges hineinzog. Meine beiden Begleiter, zwei Indianer, die notdürftig das Spanische radebrechten, hielten mich jedoch zurück. Nach langem Hin- und Herreden begriff ich endlich, was sie vor einem Betreten der Höhle warnte. Diese sollte, wie sie am Geruch, der dem Eingang entströmte, zu bemerken vorgaben, einem Puma als Zufluchtsstätte dienen. Um der Sache auf den Grund zu gehen, fertigten wir aus harzigen Rindenstücken eine Anzahl von einfachen Fackeln an und drangen dann bei ihrem Scheine in die Felsöffnung ein. Ich war fest überzeugt, daß meine Führer sich hinsichtlich des Pumas geirrt haben müßten, denn vor der Höhle hatte ich auch nicht die kleinste Spur einer Raubtierfährte entdeckt.

Und doch behielten die Indianer recht. Nachdem wir etwa dreihundert Schritte gegangen waren, teilte sich der ziemlich unbequeme Felsgang. Ein schmälerer Seitenast führte in spitzem Winkel ziemlich steil nach unten. Kaum waren wir in diesem neuen Gange etwa hundertundfünfzig Schritte vorgedrungen, als meine Begleiter ängstlich stehen blieben und mich [231] verständigten, daß sich ziemlich dicht vor uns die Lagerstätte einer Pumafamilie befinden müsse. Vorsichtig, die Büchse schußbereit im Arm, schritt ich weiter, während die beiden Rothäute, die die Fackeln trugen, ängstlich hinter mir Deckung suchten. Zwanzig Schritte weiter wurde der Gang plötzlich zu einer geräumigen Höhle, und gleichzeitig sah ich auch durch eine Öffnung mir gerade gegenüber Tageslicht in den Raum hineinfallen. Halb geblendet suchte ich das in der Höhle herrschende Zwielicht mit den Augen zu durchdringen, als auch schon ein warnendes Fauchen von der linken Seite mein Ohr erreichte und mich veranlaßte, schleunigst in den Felsgang zurückzutreten. Denn meine Büchse hätte ich in dem Halbdunkel kaum gebrauchen können, und einem Puma mit dem Jagdmesser gegenüberzutreten, dazu war ich doch zu vorsichtig.

Kurz entschlossen riß ich einem meiner Führer eine Fackel aus der Hand und schleuderte sie mit aller Kraft um die Ecke nach jener Stelle hin, wo ich das drohende Fauchen vernommen hatte. Die List half. Ein Pumaweibchen mit zwei bereits ziemlich entwickelten Jungen verschwand durch die Öffnung ins Freie, freilich nicht schnell genug, um mir nicht noch Gelegenheit zu geben, ihr eine Kugel nachzusenden. Wir haben den Puma, dem ich die rechte Hinterpranke zerschmettert hatte, nachher erlegt und die Jungen lebend mit nach Coira, dem nächsten Städtchen, gebracht.

Die beiden Indianer waren also von ihren Nasen nicht betrogen worden. Sie hatten die Raubtierausdünstungen der Pumafamilie auf eine Entfernung von fünfhundert Schritten gewittert, obwohl die Höhle, deren Ausgang in eine Schlucht mündete, durch die reichlich mannshohe Öffnung recht gut gelüftet wurde und die Zugluft, wie ich feststellte, sich nicht so in den Felsgängen bewegte, daß die Gerüche der Stelle zugetragen wurden, wo wir in den Berg eingedrungen waren. Jede andere Europäernase hätte hier fraglos ebenso versagt wie die meinige.“

W. K.