Die Eroberung des Brotes/Der Wohlstand für Alle

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Textdaten
Autor: Pjotr Alexejewitsch Kropotkin
Illustrator: {{{ILLUSTRATOR}}}
Titel: Der Wohlstand für Alle
Untertitel:
aus: Die Eroberung des Brotes, S. 10-18
Herausgeber:
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1919
Verlag: Der Syndikalist
Drucker: {{{DRUCKER}}}
Erscheinungsort: Berlin
Übersetzer: Bernhard Kampffmeyer
Originaltitel: La conquête du pain. Paris 1892
Originalsubtitel:
Originalherkunft:
Quelle: Cornell-USA* = Commons
Kurzbeschreibung:
Eintrag in der GND: {{{GND}}}
Bild
Bearbeitungsstand
fertig
Fertig! Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle Korrektur gelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Um eine Seite zu bearbeiten, brauchst du nur auf die entsprechende [Seitenzahl] zu klicken. Weitere Informationen findest du hier: Hilfe
Indexseite
[10]

DER WOHLSTAND FÜR ALLE.

I.

Der Wohlstand für Alle ist nicht ein Traum. Er ist möglich, realisierbar nach alledem, was unsere Vorfahren getan haben, um unsere Arbeitskraft zu befruchten. Wir wissen, daß die eigentlichen Produzenten, welche kaum ein Drittel der Einwohner in den zivilisierten Ländern bilden, schon heute genügend produzieren, um dem Herde einer jeden Familie einen gewissen Wohlstand bescheren zu können. Wir wissen außerdem, daß, wenn alle Diejenigen, welche heute die Früchte fremder Arbeit vergeuden, gezwungen wären, ihre Mußezeit mit nützlichen Arbeiten auszufüllen, unser Reichtum in vielfachem Verhältnis zur Zahl der produzierenden Arme wachsen würde. Wir wissen endlich, daß im Gegensatz zur Theorie des Priesters der bürgerlichen Wissenschaft – Malthus – die Produktivkraft des Menschen viel schneller wächst, als seine Fortpflanzung von statten geht. Je mehr Menschen sich auf ein Territorium zusammendrängen, um so größer ist das Wachstum ihrer Produktivkräfte.

*

Während die Bevölkerung Englands vom Jahre 1844 ab nur um 62 Prozent wuchs, hat sich seine Produktivkraft in der gleichen Zeit, schlecht gerechnet, verdoppelt – um 130 Prozent vermehrt. In Frankreich, wo sich die Bevölkerung weniger stark vermehrt hat, ist ihre Steigerung gleichwohl eine äußerst rapide gewesen. Trotz der Krise, welche auf der Landwirtschaft lastet, trotz der schwankenden Leitung des Staates, trotz der Blutsteuer, trotz der ungünstigen Lage des Bankwesens, der Finanzen und der Industrie hat sich während der letzten 80 Jahre die Weizenproduktion daselbst vervierfacht und die industrielle Produktion verzehnfacht. In den Vereinigten Staaten ist das Wachstum ein noch erstaunlicheres gewesen: trotz der Einwanderung oder vielmehr gerade wegen dieses auf Amerika sich abwälzenden „Ueberschusses“ an europäischen Arbeitern haben die Vereinigten Staaten ihre Produktion in kurzer Zeit verzehnfachen können.

Aber diese Zahlen geben uns nur eine schwache Vorstellung von dem, was unsere Produktion unter günstigeren Bedingungen leisten könnte. Wenn sich heute die Produktionsfähigkeit steigert, so wächst zu gleicher Zeit die Zahl der Müßiggänger und Schmarotzerexistenzen [11] in erschreckendem Maße. Im Gegensatz zu dem, was früher die Sozialisten annahmen, nämlich, daß sich das Kapital bald innerhalb einer so geringen Anzahl Hände konzentriert haben würde, so daß man, um in den Besitz der gemeinsamen Reichtümer zu gelangen, nur einige Millionäre zu expropriieren hätte, wird gerade die Zahl derer, welche auf Kosten fremder Arbeit leben, immer beträchtlicher.

In Frankreich kommen auf 30 Einwohner kaum 10 direkte Produzenten. Der ganze jährlich erzeugte landwirtschaftliche Reichtum Englands ist das Werk von kaum 7 Millionen Menschen, und in den beiden großen Industrien – dem Bergwerkswesen und der Weberei – zählt man kaum 2½ Millionen Arbeiter. – Wie hoch beziffern sich dagegen die Ausbeuter der Arbeit? In England (ohne Schottland und Irland) fabrizieren 1 030 000 Arbeiter (Männer, Frauen und Kinder) die gesamten Webestoffe; etwas über eine und eine halbe Million beutet die Bergwerke aus, kaum eine und eine halbe Million arbeitet in der Landwirtschaft, und die Statistiker müssen noch die Zahlen übertreiben, um bei einer Einwohnerschaft von 26 Millionen Menschen zu einem Maximum von 8 Millionen Produzenten zu kommen. In Wirklichkeit sind höchstens 6–7 Millionen Arbeiter die Schöpfer der Reichtümer, welche aus England nach allen Windrichtungen der Welt verschickt werden. Und wie hoch beläuft sich dagegen die Zahl der Renteneinnehmer und der Schmarotzer, welche, abgesehen von allgemeinen Steuern, sich vom Konsumenten 5 oder 20 mal soviel für jede Ware zahlen lassen, als sie dem produzierenden Arbeiter gezahlt haben.

*

Doch dies ist nicht alles. Diejenigen, welche sich im Besitze des Kapitals befinden, reduzieren ständig die Produktion dadurch, daß sie sie vielfach überhaupt verhindern. Sprechen wir nicht von jenen Tonnen Austern, die man ins Meer warf, um zu verhindern, daß die Auster ein Nahrungsmittel des Volkes würde und aufhörte, eine Delikatesse für die bemittelte Welt zu sein; sprechen wir nicht von jenen tausend und aber tausend Luxusobjekten – Stoffe, Nahrungsmitteln usw. usw. –, mit denen man in gleicher Weise verfuhr, wie mit den Austern. Rufen wir uns nur ins Gedächtnis zurück, in welcher Weise man die Produktion der für Jedermann notwendigen Gegenstände eingeschränkt. Ganze Armeen von Bergmännern verlangen nichts Sehnlicheres, als täglich Kohle zu fördern und an diejenigen zu versenden, welche vor Kälte vergehen. Aber sehr häufig sind ein Drittel oder gar zwei Drittel dieser Armeen verhindert, mehr als 3 Tage in der Woche zu arbeiten – es könnten ja sonst die hohen Kohlenpreise ins Sinken geraten. Tausende von Webern können nicht ihrem Berufe nachgehen, zu einer Zeit, wo ihre Frauen und ihre Kinder sich nur mit Lumpen bekleiden können und Dreiviertel der Europäer eine Kleidung tragen, die diesen Namen kaum rechtfertigt.

Hunderte von Hochöfen, Tausende von Manufakturen bleiben ständig untätig, andere arbeiten nur halbe Tage; es gibt Millionen Individuen, welche nach nichts weiter als Arbeit verlangen, die man ihnen jedoch verweigert.

[12] Millionen von Menschen würden glücklich sein, wenn sie die vielen noch unbebauten oder schlecht kultivierten Länderstrecken in Gefilde mit reichen Ernten umwandeln könnten. Ein Jahr zweckmäßiger, intelligenter Arbeit würde genügen, um den Ertrag des Bodens, welcher heute in Frankreich im Durchschnitt nur 8 Hktlt. Getreide pro Hektar liefert, zu verfünffachen. Aber diese bereitwilligen Pioniere müssen feiern, weil Diejenigen, welche den Grund und Boden, die Bergwerke, die Manufakturen besitzen, es vorziehen, ihre Kapitalien – die der Allgemeinheit gestohlenen Kapitalien – in türkische und ägyptische Anleihen zu stecken oder in Gewinnanteilen der Goldminen Patagoniens anzulegen, wo dann die ägyptischen Fellahs, die aus ihrem Geburtslande vertriebenen Italiener oder die chinesischen Kulis für sie arbeiten.

*

Dies ist die bewußte und direkte Einschränkung der Produktion; aber außer dieser gibt es noch eine indirekte und unbewußte Einschränkung, welche darin besteht, die menschliche Arbeit auf die Produktion von absolut unnützen Gegenständen oder von Dingen zu verschwenden, die einzig zur Befriedigung der törichten Eitelkeit der Reichen dienen.

Man könnte es nicht einmal annähernd in Ziffern wiedergeben, bis zu welchem Maße die Produktivität in indirekter Form herabgesetzt wird – durch die Verschwendung der Kräfte, welche wahrhaft produktiv tätig sein könnten und namentlich den für die nützliche Produktion so notwendigen Werkzeugapparat schaffen sollten. Es genügt, der Milliarden zu erwähnen, die in Europa für Rüstungen verausgabt werden, ohne einen anderen Zweck als Märkte zu erobern, als den Nachbarn nachteilige Handelsverträge aufzuzwingen und die Ausbeutung des eigenen Landes zu erleichtern; die Millionen, welche jährlich jenen Menschen gezahlt werden, deren Mission es ist, das Recht der Minoritäten auf die Leitung des ökonomischen Lebens einer Nation zu erhalten; der Millionen, welche für Richter, Gefängnisse, Gendarmen und das ganze Rüstzeug, welches man Rechtswesen nennt, verschleudert werden, während – man weiß es sehr wohl – eine Linderung (und sei sie noch so unbedeutend) des Elends der Großstädte genügte, um die Verbrechensziffer in bedeutenden Proportionen zu vermindern; der Millionen endlich, die verbraucht werden, um durch das Mittel der Presse schädliche Ideen, falsche Neuheiten im Interesse dieser Partei, der und der politischen Persönlichkeiten oder jener Kompagnie von Ausbeutern zu verbreiten.

Aber auch das ist noch nicht alles. Denn es wird noch viel mehr total überflüssige Arbeit verausgabt: hier, um den Reitstall, den Hundepark, das Gesinde des Reichen zu erhalten, dort, um die Launen der Demimonde und den entarteten Luxus der hohen faulenzenden Damen zu befriedigen; ferner, um den Konsumenten zu zwingen, das zu kaufen, dessen er gar nicht bedarf oder um ihm durch Reklame einen Artikel von schlechter Qualität aufzuzwingen; endlich noch, um absolut schädliche Lebensmittel zu produzieren, die allerdings dem Unternehmer einen schönen Gewinn abwerfen. Was auf diesem Wege [13] an Produktionskräften verschwendet wird, würde genügen, um die nützliche Produktion zu verdoppeln, oder um die Manufakturen und die Fabriken mit besseren Werkzeugmaschinen auszustatten, welche dann in kurzer Zeit die Magazine mit allem, was zur Notdurft des Menschen gehört, dessen indes heute zwei Drittel der Nation ermangeln, überschwemmen würden.

Daraus resultiert, daß selbst diejenigen, welche in jeder Nation produktiven Arbeiten obliegen, zu einem Viertel regelmäßig während dreier oder vier Monate im Jahre feiern müssen, und daß die Arbeit eines zweiten Viertels, wenn nicht der Hälfte, keinen andern Zweck hat als das Amüsement der Reichen oder die Ausbeutung des Volkes.

Wenn man also in Betracht zieht, mit welcher Schnelligkeit auf der einen Seite die zivilisierten Nationen ihre Produktivkraft steigern, welche Beschränkungen auf der andern Seite der Produktion, sei es direkt oder indirekt, durch die gegenwärtigen Verhältnisse auferlegt werden, so muß man zu dem Schlusse kommen, daß eine einigermaßen vernünftige Organisation den zivilisierten Nationen es möglich machen würde, innerhalb weniger Jahre so viele nützliche Produkte anzuhäufen, daß man sich sagen müßte: „Vollauf genug Kohle, genug Brot, genug Kleidung; ruhen wir einmal, sammeln wir uns, um unsere Kräfte besser zu verwenden, um unsere Muße besser zu verwerten!“

*

Der Wohlstand für Alle ist kein Traum mehr. Er konnte schon damals herrschen, wo es dem Menschen nur unter unsäglichen Mühen gelang, 8 oder 10 Hektoliter Getreide vom Hektar zu ernten, oder wo er noch mit eigener Hand die Werkzeuge, deren er für die Industrie oder die Landwirtschaft bedurfte, verfertigen mußte. Er ist um so weniger ein Traum, seitdem der Mensch den Motor erfunden hat, welcher ihm vermittels eines wenig Eisens und einiger Kilo Kohle die Kraft eines gelehrigen und fügsamen Pferdes gibt, ihm die Möglichkeit gewährt, die komplizierteste Maschine in Bewegung zu setzen.

*

Aber damit der Wohlstand zur Wirklichkeit werde, ist es notwendig, daß dieses ungeheure Kapital – Städte, Häuser, kultivierte Ländereien, Fabriken, Verkehrswege, Bildung usw. – nicht mehr als ein Privateigentum bewertet wird, worüber der Kapitalist nach Belieben verfügen kann.

Es ist notwendig, daß dieser unendlich reiche Werkzeugapparat, unter unsäglichen Mühen durch unsere Vorfahren erworben, erbaut, gefertigt und erfunden, Gemeindeeigentum werde, damit der Kollektivgeist zu Gunsten Aller den größtmöglichen Vorteil daraus ziehe.

Dies bedingt die Expropriation. Der Wohlstand für Alle ist das Ziel, die Expropriation das Mittel.

II.

Die Expropriation, das ist also das Problem, welches uns, den Menschen des Anfangs des 20. Jahrhunderts, die Geschichte gestellt hat: Rückkehr zum Gemeineigentum an allem, was der Menschheit dazu dienen könnte, sich den Wohlstand zu schaffen.

[14] Doch dieses Problem wird nicht auf dem Wege der Gesetzgebung gelöst werden können. Dies bildet sich auch niemand ein. Der Arme, wie der Reiche begreift, daß weder die gegenwärtigen Regierungen, noch diejenigen, welche aus einer politischen Revolution als Regierende hervorgehen könnten, im Stande sein würden, die Lösung zu finden. Man fühlt die Notwendigkeit der sozialen Revolution, und Reiche, wie Arme verheimlichen es sich nicht, daß diese Revolution nahe ist, daß sie jeden Tag ausbrechen kann.

Von wo wird die Revolution kommen? Wir wird sie sich ankündigen? Niemand kann diese Fragen beantworten. Dies liegt alles im Dunkel. Aber diejenigen, welche beobachten und denken, gehen nicht in dieser ihrer Empfindung fehl: Arbeiter und Ausbeuter, Revolutionäre und Reaktionäre, Geistes- und Handarbeiter, alle fühlen, daß sie vor den Toren ist.

Und was werden wir tun, wenn die Revolution ausgebrochen ist?

Wir haben im allgemeinen die dramatische Seite der Revolutionen studiert, aber ihr wahrhaft revolutionäres Werk liegt nicht in der Inszenierung, in dem Kampf der ersten Tage, im Barrikadenbau usw., denn dieser Kampf, dieses erste Scharmützel ist bald entschieden. Erst nach der Niederlage der alten Regierungen beginnt das eigentliche Werk der Revolution.

Unfähig und ohnmächtig, von allen Seiten angegriffen, werden die Regierungen schnell vom Hauche der Revolution weggefegt sein. Nach Verlauf weniger Tage gab es im Jahre 1848 keine bürgerliche Monarchie mehr, und als ein Fiaker Louis-Philipp über die Grenze führte, dachte Paris nicht mehr an den Ex-König. Am 18. März 1871 war Paris innerhalb weniger Stunden von der Regierung Thiers befreit und damit eigener Herr seiner Geschicke. Und trotzdem waren die Erhebungen von 1848 und 1871 nur politischer Natur. Vor der Volksrevolution werden die Regierenden mit überraschender Schnelligkeit verschwinden. Ihr erstes wird die Flucht sein, unter dem Vorbehalt allerdings, noch anderswo zu konspirieren und sich so die Rückkehr zu ermöglichen.

Die alte Regierung ist beseitigt, die Armee zaudert gegenüber den hochgehenden Wogen der Volkserhebung und gehorcht nicht mehr ihren Führern; diese haben sich übrigens auch kluger Weise aus dem Staub gemacht. Die Arme gekreuzt, läßt das Heer den Dingen ihren Gang oder geht auch mit gesenkter Waffe zu den Aufständigen über. Die Polizei – mit schlenkernden Armen – weiß nicht mehr, ob sie dreinschlagen oder „vive la commune“ rufen soll; und die Schutzleute suchen ihr Heim auf – „der neuen Regierung entgegengehend“. Die Großbürger schnallen ihre Reisekoffer und suchen einen sicheren Ort zu gewinnen. Das Volk allein bleibt auf dem Schauplatze. – So wird sich die Revolution ankündigen.

In mehreren Großstädten zugleich wird die Kommune proklamiert. Tausende von Menschen drängen sich auf den Straßen und eilen abends in die improvisierten Klubs; man fragt sich: „Was ist zu tun?“ und diskutiert eifrig die öffentlichen Angelegenheiten. Jedermann interessiert sich für sie, die Indifferenten von gestern sind vielleicht die eifrigsten. [15] Ueberall der beste Wille und der lebhafteste Wunsch, den Sieg zu sichern. Großer Opfermut offenbart sich. Das Volk verlangt nichts sehnlicher als vorwärts zu schreiten.

Alles dies ist schön, ist erhaben. Aber es ist noch nicht die Revolution. Im Gegenteil, erst jetzt beginnt die Arbeit des Revolutionärs.

*

Die Staatssozialisten, die Radikalen, die verkannten Genies des Journalismus, die effektvollen Redner – Bourgeois oder Ex-Arbeiter – werden zum Stadthaus eilen, in die Ministerien sich begeben und werden auf den verlassenen Sesseln Platz nehmen. Die einen werden sich nach Herzenslust Tressen verleihen, sie werden sich in den Spiegeln der Ministersalons bewundern, sie werden sich einüben, mit gravitätischer Miene von der Höhe ihrer Situation herab Befehle zu erteilen; als unumgänglich wird sich eine rote Schärpe erweisen, eine betreßte Jakobinermütze und vor allem eine Amtsmiene, um ihren ehemaligen Exkameraden von der Redaktion oder der Werkstatt zu imponieren. Andere werden sich in die Akten vertiefen – mit dem besten Willen, etwas darin zu verstehen. Sie werden Gesetze ausarbeiten, Dekrete in feierlichen Tiraden erlassen, um deren Ausführung sich niemand kümmern wird – gerade deswegen, weil man sich in der Revolution befindet.

Um sich eine Autorität zu verschaffen, welche sie nicht besitzen, werden sie die alten Regierungsformen zu sanktionieren suchen. Sie werden Namen wählen, wie provisorische Regierung, Komitee der öffentlichen Sicherheit, Bürgermeister, Kommandant des Stadthauses, Chef der Sicherheit – und was weiß ich für Namen. Durch Abstimmung oder Akklamation gewählt, werden sie sich in Parlamenten oder Ratsversammlungen der Kommune zusammenfinden. Daselbst werden sich nun Männer treffen, die zehn, zwanzig verschiedenen Schulen angehören, die, wie man häufig gesagt hat, nicht persönliche Kirchen sind, aber welche den verschiedenen Auffassungen über die Ausdehnung, Tragweite und Aufgabe der Revolution entsprechen. Possibilisten, Kollektivisten, Radikale, Jakobiner, Blanquisten sehen wir dort, gezwungenermaßen vereint, und ihre Zeit mit leerem Diskutieren verlierend. Ehrliche Männer zusammen mit Ehrgeizigen, die nur von ihrer Herrschsucht träumen und die Masse, der sie entstammen, verachten. Alle, von diametral sich entgegenlaufenden Standpunkten ausgehend, gezwungen, Schein-Allianzen einzugehen, um Majoritäten, die nicht länger als einen Tag währen, zu Stande zu bringen, ständig im Streit, einer den anderen als Reaktionär, als Schurke behandelnd, unfähig, sich über irgendeine ernsthafte Maßnahme zu verständigen; genötigt, sich über Kleinigkeiten herumzuzanken; höchstens dazu gelangend, sich selbst alle außerordentlich wichtig dünkend, während die wahre Kraft der Bewegung auf der Straße sich dokumentiert.

Alles dieses mag diejenigen amüsieren, welche das Theater lieben. Aber noch einmal, es ist nicht die Revolution; nichts ist damit geleistet.

*

[16] Während dieser Zeit leidet das Volk. Die Fabriken feiern, die Werkstätten sind geschlossen, der Handel liegt brach. Der Arbeiter bezieht nicht einmal mehr den geringen Lohn, welchen er vordem hatte, die Preise der Lebensmittel steigen.

Mit jener heroischen Ergebenheit, welche stets das Volk charakterisiert hat, und welche sich in allen außerordentlichen Zeiten zur Erhabenheit steigerte, geduldet es sich. Das Volk war es, welches im Jahre 1848 ausrief: „Ertragen wir drei Monate des Elends im Dienst der Republik“, während die „Repräsentanten“ und die Herren der neuen Regierung bis auf den letzten Polizisten herab regelmäßig ihr Gehalt bezogen. Das Volk leidet. Mit seinem kindlichen Vertrauen, mit der sorglosen Gutmütigkeit der Masse, welche an ihre Anführer glaubt, erwartet es, daß man dort oben, in der Kammer, im Stadthaus, im Komitee der öffentlichen Sicherheit sich seiner annähme.

Aber dort oben denkt man eher an alles andere, nur nicht an die Leiden des Volkes. Als die Hungersnot im Jahre 1793 Frankreich verheert und die Revolution selbst in Frage stellt, als das Volk zum tiefsten Elend angelangt ist – während die Elyseeischen Gefilde von prächtigen Wagen bevölkert werden, in denen Frauen ihren luxuriösen Schmuck zur Schau tragen –, da drängt Robespierre die Jakobiner, eine Diskussion seiner Denkschrift über englische Verfassung herbeizuführen. Als der Arbeiter im Jahre 1848 unter dem allgemeinen Stillstand der Industrie leidet, streiten sich die provisorische Regierung und die Kammer über die Militärpensionen und die Gefängnisarbeit herum, ohne sich zu fragen, wovon während dieser Krisis das Volk lebte. Und wenn man der Kommune von Paris, welche unter dem Kanonendonner der Preußen geboren wurde und nur 70 Tage gewährt hat, einen Vorwurf machen will, so ist es wieder der, daß sie noch nicht begriffen hatte, daß die kommunale Revolution ohne gut gespeiste Kämpfer nicht triumphieren könnte, daß man mit 30 Sous (Mk. 1,20) täglich nicht auf den Befestigungen kämpfen und zu gleicher Zeit seine Familie erhalten könne.

Das Volk leidet und fragt: „Was soll geschehen, damit das Elend endet?“

III.

Es scheint uns, daß es auf diese Frage nur eine Antwort geben kann:

– Anzuerkennen und laut zu proklamieren, daß Jeder, welches auch sein sogenannter Stand in der Vergangenheit war, mag er stark oder schwach, tüchtig oder unfähig sein, vor allem das Recht zu leben, besitzt; und daß die Gesellschaft unter Alle ohne Ausnahme die Existenzmittel, über welche sie verfügt, zu verteilen hat. Dies anzuerkennen, zu proklamieren und danach zu handeln.

– Derart zu handeln, daß der Arbeiter mit dem ersten Tag der Revolution weiß, daß eine neue Aera angebrochen ist: daß zukünftig niemand mehr gezwungen ist, unter den Brücken – neben Palästen – zu schlafen, ohne Nahrung zu bleiben, wo es so viele Nahrungsmittel gibt, vor Kälte zittert – neben Pelzmagazinen. Alles soll Allen gehören in Wirklichkeit wie im Prinzip. Endlich soll in der Geschichte eine Revolution [17] stattfinden, welche an die Bedürfnisse des Volkes denkt, bevor sie Pflichten predigt.

*

Dieses wird sich nicht durch Dekrete verwirklichen, sondern einzig durch die unmittelbare und wirkliche Besitzergreifung alles dessen, was zur Sicherung des Lebens Aller gehört: das ist die einzige, auch wissenschaftliche Art, vorzugehen, die einzige auch, welche von der Masse des Volkes ersehnt und begriffen wird.

Besitzergreifen im Namen des revoltierenden Volkes von den Getreidelagern, von den Magazinen, welche strotzen von Bekleidungsmitteln, von den Wohnhäusern. Nichts zu verschwenden, sofort sich zu organisieren, jegliche Notdurft Rechnung tragen, um allen Bedürfnissen zu genügen, um zu produzieren, nicht mehr im Interesse von irgend jemandes Einkünften, sondern zur Sicherung des Lebens und der Entwicklung der Gesellschaft.

*

Fort mit jenen zweideutigen Forderungen, wie das „Recht auf Arbeit“, mit welchen man das Volk im Jahre 1848 gelockt hat und noch heute zu locken sucht. Haben wir den Mut, anzuerkennen, daß der Wohlstand, da er möglich, sich auch um jeden Preis verwirklichen muß.

Als die Arbeiter im Jahre 1848 das „Recht auf Arbeit“ forderten, organisierte man National- und Munizipal-Werkstätten und schickte die Arbeiter hinein, damit sie sich dort für tägliche 40 Sous (Mk. 1,60) abquälen sollten! Als sie die „Organisation der Arbeit“ forderten, antwortete man ihnen: „Geduldet Euch, meine Freunde, die Regierung wird sich damit beschäftigen, und für heute nehmt diese 40 Sous (Mk. 1,60). Ruhet Euch aus, Ihr armen Arbeiter, die Ihr Euer ganzes Leben Euch gequält habt.“ Und unterdessen fuhr man die Kanonen auf. Man zog die Reserve und den Landsturm ein, man vernichtete die Organisation der Arbeiter durch tausenderlei Mittel. Und eines schönen Tages sagte man zu ihnen: „Geht nach Afrika, um dort Kolonien zu gründen oder wir schießen Euch über den Haufen.“

*

Ganz anders wird das Resultat sein, wenn die Arbeiter das Recht auf den Wohlstand fordern. Sie proklamieren dadurch zugleich ihr Recht, sich des ganzen sozialen Reichtums zu bemächtigen, Besitz von den Häusern zu ergreifen und sich in ihnen entsprechend den Bedürfnissen jeder Familie einzurichten, die aufgehäuften Lebensmittel an sich zu reißen, zu genießen, damit sie endlich einmal den Wohlstand kennen lernen, nach dem sie so lange sich gesehnt haben. Sie proklamieren ihr Recht auf alle Reichtümer – als der Frucht der Arbeit vergangener und gegenwärtiger Generationen; und sie werden sich ihrer bedienen, um endlich einmal die hohen Genüsse der Kunst und der Wissenschaft kennen zu lernen, die nur zu lange das ausschließliche Eigentum der Bourgeoisie gewesen sind.

Und indem sie ihr Recht auf den Wohlstand erklären, erklären sie gleichzeitig – was das Wichtigste ist – ihr Recht, selbst darüber [18] zu entscheiden, worin dieser Wohlstand bestehen soll, was zu seiner Sicherung zu produzieren ist und was als wertlos nicht mehr produziert werden soll.

Das Recht auf Wohlstand bedeutet die Möglichkeit, als menschliche Wesen zu leben und die Kinder so aufzuerziehen, damit aus ihnen gleichberechtigte Glieder einer besseren Gesellschaft als der unserigen werden können, während das „Recht auf Arbeit“ das Recht bedeutet, ewig Lohnsklave zu bleiben, ein Arbeitstier, das geleitet und ausgebeutet wird durch den Bourgeois von morgen. Das Recht auf Wohlstand ist die soziale Revolution, das Recht auf Arbeit ist günstigstenfalls ein industrielles Zuchthaus.

Anmerkungen (Wikisource)