Die Feriencolonien
Es war im Hochsommer des Jahres 1880. In Leipzig hatte man zum ersten Male den Versuch gemacht, arme kränkliche Schulkinder als Feriencolonisten in die heilkräftigen Wälder des Erzgebirges zu entsenden. College B. und ich, mit Familie und ein paar guten Freunden selbst eine kleine Feriencolonie bildend, besorgten die Geschäfte des Leipziger Comités an Ort und Stelle und hatten dafür unser Hauptquartier im Rathskeller des prächtig gelegenen Städtchens Schwarzenberg aufgeschlagen. Wiederum sollte eine Inspectionstour durch alle Colonien ausgeführt werden, und so traten wir denn in der ersten Morgenfrühe, allzu zeitig für städtische Schlafgewohnheiten, unsere kleine Reise auf einem leichten Wagen fröhlich an. Der Thau glänzte auf den Gräsern; vor uns hingebreitet lagen Berge und Thäler, und mit Behagen sogen wir die kühle, erquickende Waldluft in unsere solchem Genusse fast entfremdeten großstädtischen Lungen ein. Der ersten Knabencolonie begegneten wir auf einem Waldspaziergange. Da kamen sie heran, die kleinen Bursche, die Botanisirtrommeln voll Blumen, Kraut und Unkraut, die Taschen voll Steine; der Eine hatte für die Mutter daheim Pilze gesammelt, der Andere für den eigenen Bedarf Beeren in ein Körbchen zusammengepflückt. Mit leuchtenden Augen erzählten sie uns von ihren Erlebnissen und Entdeckungen im Walde und ahnten nicht, welche Freude wir selbst an ihrer Frische und Munterkeit hatten.
So ging es den Tag über weiter von Colonie zu Colonie. Hier waren wir Zeugen des fröhlichen Spieles und Gesanges der Mädchen, dort überraschten wir eine andere Ferienfamilie bei der Siesta nach dem Mittagsbrode, die durch die gemeinsame Lectüre einer schönen Geschichte gefeiert wurde. Eine muntere Schaar, die wir beim Turnreigen in der Scheune getroffen hatten, begleitete uns zur Nachbarcolonie und erzählte uns voll strahlenden Glückes von ihrem Einzuge in das Dörfchen, den sie auf einem mit frischem Grün geschmückten, von Kühen gezogenen Leiterwagen gehalten hatte. Dann wieder plauderten mittheilsame kleine Mädchen uns von der großen Wäsche, welche sie unter der Leitung der wackeren Hausfrau angestellt hatten, und thaten sich auf die Errungenschaft, ihre Kleider und Strümpfe selbst waschen zu können, sichtlich etwas zu Gute. Die Knaben konnten ihre Selbstständigkeit nur beim Reinigen ihrer Kleider und Schuhe, sowie beim Bettmachen bethätigen, doch hatte auch hier die Erziehung zur Selbsthülfe bei manchem ungeschickten Stadtkinde sichtlich gute Früchte getragen.
Ueber dem Wandern und Einkehren kam denn auch der Abend heran. Unser kleiner Wagen hatte schon lange umkehren müssen; wir gingen in Begleitung einer Mädchencolonie dem letzten Ziele der Wanderung, einer auf luftiger Höhe gelegenen Bauernschenke, zu. Unvergeßlich wird mir jener Abendgang durch den schönen Buchenwald sein. Das muntere Mädchengeplauder war verstummt; die Kinder gingen Hand in Hand vor uns her; man spürte es wohl: die Weihe und der Friede da draußen in der Natur hatte mit gleicher Stimmung die jungen Herzen berührt. Da hob eine helle Mädchenstimme den alten, lieben Canon zu singen an: „O, wie wohl ist’s mir am Abend, mir am Abend“ – und so klang gar bald der liebliche Kindergesang in harmonisch sich verschlingenden Tönen durch den stillen Wald.
Später kehrten wir dann in der Bergschenke mit dem prächtigen Blicke auf das uns zu Füßen liegende Schneeberg ein. Ich hätte es den edlen Menschen, die durch ihre Gaben unsere Feriencolonien zu Stande kommen ließen, gegönnt, Zeugen des Appetites zu sein, mit dem hier die Kleinen die frugale Abendsuppe verschwinden ließen. Noch lieber aber hätte ich der Mann sein mögen, den nach dem Abendbrode die kleine Schaar bei seinem Erscheinen mit ausgestreckten Händchen und bittenden Blicken umringte: der Briefträger! So einfach die Worte waren, die in diesen Briefen standen, sie machten die Kinder überglücklich; denn sie waren ein Gruß aus der Heimath, von den Lieben; woben sie doch ein Band zwischen dem Elternhaus und dem fernen Kinde. Vielleicht auch waren Manche, Eltern wie Kinder, durch die Trennung erst darauf geführt worden, wie eng sie zusammengehörten.
„O lieb, so lang du lieben kannst,
O lieb, so lang du lieben magst –“
das war die Empfindung, die den Kindern aus den Augen leuchtete, die ungeschrieben zwischen den Zeilen der Briefe zu lesen stand. Als dann alle Grüße ausgerichtet und alle Neuigkeiten erzählt worden waren, ging es schlafen. Um den runden Tisch in der Oberstube sammelten sich die Kinder und falteten die Hände zum Gebet; dann hieß es Gute Nacht, und nach kürzester Zeit schlummerte die eben noch so lebendige Schaar friedlich und fest neben einander auf den einfachen Lagerstätten.
Wir verabschiedeten uns von dem wackeren Colonieführer und begaben uns nach Schneeberg, wo auch wir unsere Ruhe fanden. – – –
So viel in aller Kürze über die Eindrücke, welche wir auf unserer Inspectionstour empfingen! Waren schon diese Eindrücke durchaus angethan, uns in der guten Meinung zu befestigen, welche wir von der Sache der Feriencolonien längst gewonnen hatten, so sahen wir, als dann später nach dreiwöchentlichem Aufenthalt im Gebirge die Kinder in die Stadt zurückkehrten, unsere Hoffnungen zu unserer Freude noch weit übertroffen; denn da konnten nicht nur die Aerzte in Zahlen die geradezu überraschenden Zunahmen der Körpergewichte und der Brustumfänge nachweisen, da zeigte es auch der unmittelbare Augenschein, wie die Kinder unter den günstigen Bedingungen aufgeblüht waren, etwa so wie welke Pflanzen aufleben, wenn die Sonne ihnen lächelt und sie vom Regen und Thau getränkt werden. Und damit noch nicht genug: die Feriencolonie war ein Segensquell auch für das innere Leben der Kinder gewesen; denn sie hatten das Landleben kennen und lieben gelernt; sie waren mit einer Menge einfacher Anschauungen bereichert worden. Besonders werthvoll aber für die Erweiterung des geistigen Horizontes der Kleinen waren die Besuche der vielen industriellen Unternehmungen des Erzgebirges geworden. Die Kinder haben Bergwerke, Eisenhämmer, Blechwaarenfabriken, Holzschleifereien, Blaufarbenwerke etc. besucht und die namhaften Hausindustrien des Erzgebirges, wie das Spitzenklöppeln, die Gorlnäherei, das Tambouriren aus eigener, oft wiederholter Anschauung kennen gelernt. Mehr noch als dieser Gewinn gelten aber die tiefen und mannigfachen Anregungen, welche sie für ihr Gemüthsleben empfingen. Der Umgang mit der Natur vom thaufrischen Morgen bis zum Abend zeigte ihnen reine Freuden, die auch dem Aermsten zugänglich sind.
So kam es, daß in den Gemüthern, die sonst von Sorge und Kummer niedergedrückt waren, helle Lust am Leben aufblühte, daß manches durch Armuth und Krankheit geängstete Kinderherz höher schlug in dem frohen Gefühl, welches die wachsende Gesundheit und Kraft gewährt.
Bei den augenscheinlichen erfreulichen Erfolgen, welche die Feriencolonien überall erzielt haben und zu denen die obigen Mittheilungen nur ein kleines Beispiel liefern wollten, bedarf es wohl kaum noch einer systematischen Beweisführung für deren Vortrefflichkeit. Statt einer solchen Beweisführung wollen wir nur einfach auf die rasche Entwickelung der Feriencolonien aus einem unscheinbaren Keime und auf ihre ungewöhnlich schnelle Verbreitung hinweisen.
Der Anfang der Feriencolonien ist folgender: Pfarrer Walter Bion in Zürich, aus dem Appenzeller Lande nach Zürich versetzt, faßte, angesichts der bleichen, blutarmen Stadtkinder, welche ihm dort begegneten, den Entschluß, eine Anzahl derselben für die Ferienzeit in seine frühere Gemeinde auf das Land zu bringen. Ueber den günstigen Verlauf des Unternehmens berichtete er sodann einer Zeitschrift für schweizerische Aerzte. Dieser Aufsatz kam in die Hände des Sanitätsraths Dr. Barrentrapp in Frankfurt am Main, der dann für die weitere Verbreitung der Idee in der medicinischen Presse sorgte und zugleich die Frankfurter Feriencolonie in’s Leben rief. Dem Beispiele Frankfurts aber eiferten in rascher Folge viele deutsche Städte im Süden wie im Norden nach.
Im Jahre 1876 führte Bion die erste Züricher Colonie auf die Appenzeller Berge, und schon fünf Jahre später, am 15. November 1881, tagte in Berlin ein Congreß, auf welchem Vertreter von Feriencoloniecomités aus ganz Deutschland, aus Oesterreich und der Schweiz ihre Erfahrungen über das Coloniewesen austauschten.
Seitdem hat die Idee weit über die Grenzen Deutschlands und der Schweiz, wo sie ziemliche Ausbreitung gefunden hat, hinaus Wurzel gefaßt. Hier nur einige Beispiele! Im verwahrlosten
[284][286] Osten Londons hat es der Pfarrer von St. Judas, Herr Barrett, schon vor einigen Jahren mit Glück versucht, Kinder von dort auf das Land zu schicken. Anfangs zahlte er 5 Mark für jedes Kind in der Woche, später aber erklärte sich eine Anzahl Bauern bereit, die Kinder unentgeltlich aufzunehmen. So konnte er im Jahre 1881 bereits 500 Kinder versorgen und dazu geistliche Nachbarn, die in gleicher Weise wirkten, mit Geld, das ihm zugeflossen war, unterstützen. Die Sache ist dort noch im Werden und hat allem Anscheine nach eine bedeutende Zukunft.
Ebenso ist in Paris das Interesse für die Angelegenheit lebendig geworden. Brieflichen Mittheilungen zufolge, die ich Herrn Pfarrer Bion verdanke, haben dort, angeregt durch den Züricher Vorgang, mehrere Pfarrer im vorigen Jahre eine Anzahl erholungsbedürftiger Kinder auf dem Lande versorgt.
In etwas anderer Weise wird für einen gesunden Ferienaufenthalt der Kinder in Kopenhagen gesorgt. Dort giebt es keine geschlossenen Colonien unter der Leitung eines Lehrers, sondern die Kinder werden einzeln in solchen Familien auf dem Lande untergebracht, welche sich zu ihrer unentgeltlichen Aufnahme freiwillig erbieten. Ueber diese Einrichtung schreibt Professor Holbech, Schuldirector in Kopenhagen:
„Die Einrichtung der Ferienversorgung der Kinder in den Volksschulen geht ungefähr 30 Jahre in der Zeit zurück. Ein Inspector einer Militärschule (die wesentlich aus Unterofficierskindern bestand), der ein wahrer Kinderfreund war, hat das Verdienst, die ganze Sache in Anregung gebracht zu haben. Er vereinigte sich mit den damaligen Vorstehern der öffentlichen Communalschulen; ein Aufruf erging an alle Landbewohner, Kindern aus diesen Schulen in den Sommerferien einen Aufenthalt in ihren Familien zu gönnen, und zugleich suchte man diesen Kindern freie Reise hin und zurück zu verschaffen. Beides gelang über alle Erwartungen. Man konnte gleich anfangs 1000 Kinder in den Sommerferien auf dem Lande bei Gutsbesitzern, Predigern, Pächtern und Bauern versorgen.“
In der langen Reihe von Jahren ist dieses Princip beibehalten worden, und in den Sommerferien des verflossenen Jahres hat man in dieser Weise fast 7000 Kindern die Wohlthat eines heilkräftigen Ferienaufenthaltes auf dem Lande erwiesen.
Wieder in anderer Weise gestaltet sich die Fürsorge für kränkliche Kinder drüben über dem Ocean, in New-York. Mir ist eine deutsche Zeitung von dort zugegangen, laut welcher die New-Yorker Kinderschutzgesellschaft die Kinder in den heißen Sommertagen vor der gefährlichen Ruhr[WS 1] dadurch zu schützen sucht, daß sie dieselben des Morgens auf einem mit Lebensmitteln reichlich versehenen Dampfer versammelt und sie auf diesem mit ihren Pflegern hinaus auf die offene See fährt. Hier athmen die Kleinen den Tag über die freie, kühle Seeluft, um Abends zu ihren Eltern zurückgebracht zu werden. So fährt während der heißen Jahreszeit täglich ein Dampfer mit 1000 bis 1500 kränklichen New-Yorker Kindern in See.
Nicht nur der Erholung schwächlicher, schlecht genährter, sondern auch der Heilung wirklich kranker, namentlich scrophulöser Kinder dienen die Seehospize, über welche die „Gartenlaube“ erst vor Kurzem (Nr. 8 dieses Jahrgangs) ausführlich berichtete, und in gleicher Weise wirken die in Soolbädern eingerichteten Kinderheilstätten.
Die beiden zuletzt genannten Unternehmungen erstreben die Heilung von Kindern, welche an ausgesprochenen Krankheiten leiden, während die Feriencolonien solche Kinder, die unter ungünstigen Lebensbedingungen, z. B. durch Mangel an Licht und Luft in engen Wohnungen oder durch schlechte Ernährung in ihrer Entwickelung zurückgehalten worden sind, erfrischen und kräftigen und für das Leben brauchbar machen sollen. Beide aber, Kinderheilstätten wie Feriencolonien, verdanken ihren Ursprung der Ueberzeugung, daß die dem kindlichen Organismus rechtzeitig geleistete Hülfe zehnfache Früchte trägt; denn das richtige Mittel, zu rechter Zeit angewendet, erhält nicht nur manches Leben, sondern macht auch spätere dauernde Hülfe entbehrlich.
Ueberschauen wir am Schlusse unserer Betrachtung den Stand des Feriencoloniewesens, so können wir uns der Erkenntniß nicht verschließen, daß die dem Unternehmen zu Grunde liegende Idee sich als lebens- und entwickelungsfähig erwiesen hat. Es ist keine philanthropische Spielerei, die man mit den Feriencolonien treibt, sondern eine ernste Arbeit an der Milderung und Heilung socialer Schäden. Es ist ein Stück Kampf gegen das Anwachsen des Proletariats, und wer Erfahrungen in der Armenpflege hat, der wird wissen, daß es unendlich schwer ist, einen zum Prolelariat Herabgesunkenen daraus zu erheben; darum ist es auch nicht die vornehmste Aufgabe der Armenpflege, bereits Gesunkene wieder zu erheben, sondern vielmehr, noch im Sinken Begriffene rechtzeitig zu halten und zu stützen, damit sie nicht vollends zu Grunde gehen. Nun, die Kinder physisch widerstandsfähig machen, sie körperlich kräftigen und sittlich heben, das heißt wahrlich gegen das Proletariat ankämpfen.
Man wird einem Manne wie Falk, dem ehemaligen preußischen Unterrichtsminister, wohl zutrauen dürfen, daß er ein klares Auge für dergleichen Verhältnisse hat und seine Kräfte nicht ohne weiteres in den Dienst eines seichten Wohlthätigkeits-Dilettantismus stellen wird. In seiner Eröffnungsrede der Berliner Conferenz der Vertreter von Feriencolonien-Comités sagte er aber: „Alljährlich fallen in Berlin Hunderte von Kindern dem Siechthum anheim und entwickeln sich unter der Ungunst der Verhältnisse zu elenden, krüppelhaften, zu jeder ernsten Arbeit untauglichen Individuen, die mit der Zeit nicht nur der Commune zur Last fallen und deren Armen-, Kranken- und Siechenhäuser bevölkern, sondern auch erfahrungsgemäß für Ausbreitung aller größeren Epidemien am wesentlichsten beitragen, weil sie widerstandslos gegen alle krankmachenden Einflüsse sind. Werden solche Kinder zur rechten Zeit – wenn auch nur für wenige Wochen – in zweckentsprechende gesundheitliche Verhältnisse gebracht, so ist ihre dauernde Kräftigung möglich; es kann hierdurch vielem Elend gesteuert, unsere Kranken- und Wohlthätigkeitsanstalten können hierdurch erheblich entlastet werden. In der That bedarf die hohe sociale und sanitäre Bedeutung der Feriencolonien kaum einer Begründung.“
Was wollen dagegen Einwürfe sagen, wie der immer und immer wiederholte: man wolle mit den Feriencolonien nichts, als einer kleinen Anzahl von Kindern aus den unteren Ständen die Annehmlichkeit einer Sommerfrische verschaffen und verwöhne sie dadurch. Es kommt ja hier hauptsächlich darauf an, armen und kränklichen Kindern nach Möglichkeit zur Wiederherstellung ihrer Gesundheit zu verhelfen. Denen, die trotz alledem behaupten, die Kinder würden in den Feriencolonien verwöhnt, muß gesagt werden, daß sie sich durch den Augenschein vom Gegentheil überzeugen mögen, und wenn sie dies nicht wollen, so müssen sie eben Vertrauen fassen zu den Männern, die sich der Sache annehmen und mit ihren Namen für die gewissenhafte Verwendung der ihnen anvertrauten Spenden einstehen.
Andere Gegner aber verschanzen sich hinter der so oft aufgestellten Behauptung, daß bei aller Aufopferung für das Wohl der armen Kinder doch nichts herauskomme. „Auch wenn Ihr sie nicht verwöhnt,“ sagt man, „so nützt Ihr ihnen doch gar nichts. Ihr bringt sie später in die alten Verhältnisse zurück, und dann geht das alte Elend von Neuem an. Dauernd könnt Ihr sie ja doch nicht in bessere Verhältnisse bringen; darum ist es richtiger, sie gar nicht erst in eine glücklichere Lage zu versetzen.“ Das ist eine wunderbare Anschauung. Was würde gesagt werden, wenn man einem die ganze Woche hindurch an die Schreibstube gefesselten Bureaumenschen am schönen Sommersonntag rathen wollte: „Ergehe Dich nicht draußen im Sonnenschein, erquicke Dich nicht am Vogelsang, an den blühenden Blumen und Bäumen, erlabe Dich nicht an dem murmelnden Bach im Schatten des grünen Waldes! Es nützt Dir ja doch nichts; denn am Montag mußt Du wieder am Schreibpulte hocken.“
Das ist die Logik Derer, die nichts beitragen zu dem wahrhaft segensvollen Unternehmen, als das ewig wiederholte scheele Wort: es nützt ja doch nichts. Ich setze nun allen abfälligen Urtheilen die Behauptung entgegen: der Aufenthalt in der Feriencolonie ist eine Wohlthat von eminentem Werthe schon dadurch, daß sie nimmermehr von einem Unbedürftigen durch heuchlerische Vorwände erschlichen werden kann; der Spruch des scharf beobachtenden Arztes wendet sie nur dem wahrhaft Bedürftigen zu. Aber auch darum ist sie vielen anderen Wohlthaten vorzuziehen, weil sie verhältnißmäßig nur geringe Mittel zu einer überraschend günstigen und mit fast absoluter Sicherheit eintretenden Wirkung erfordert.
Und dann, wenn selbst die Früchte der Feriencolonien bisher nur geringe wären, sollte das Wenige nicht immer noch besser sein als gar nichts? Das Wenige wird ja mit der Zeit mehr werden; [287] die Ansätze dazu sind ja sichtlich vorhanden. Die ganze Bestrebung ist aber noch so neu, daß man sich vielmehr wundern sollte über die Erfolge, die bereits errungen worden sind, als es ihr zum Vorwurf anrechnen, daß sie das letzte Ziel nicht mit einem Sprunge erreicht hat.
Der Gedanke an die zukünftige Entwickelung des Feriencoloniewesens erübrigt mir zum Schluß die Beantwortung der Frage: ob seine bisher zu Tage getretenen Formen für die Dauer als fixirt zu betrachten seien oder ob eine erweiternde Ergänzung derselben angestrebt werden solle. Meine Ansicht hierüber geht nun dahin, daß allerdings die in den meisten Städten vorhandene Organisation der Feriencolonien einer weiteren Entwickelung fähig und bedürftig ist. Noch ist es nicht an der Zeit, auf den errungenen Erfolgen auszuruhen und das bisher Geschaffene zu einem abgeschlossenen System erstarren zu lassen. Darum soll man zwar die bisher gepflegten Arten der Ferienversorgung erstens wirklich kranker Kinder in Soolbädern oder, je nach Anordnung der Aerzte, an der See, zweitens schwächlicher, schlecht genährter Kinder in geschlossenen Colonien, und drittens einzelner erholungsbedürftiger in guten Familien, ruhig weiter fortsetzen; vielleicht jedoch so, daß man die Einzelunterbringung in Familien mehr als jetzt betreibt, und zwar in der Weise, wie sie sich bisher in Kopenhagen, in Hamburg und Bremen bewährt hat. Als leitender Gesichtspunkt dafür, welche Kinder den Colonien und welche der Familienpflege zuzuweisen sind, ergiebt sich wohl von selbst die Rücksicht auf ihre Erziehungsbedürftigkeit. Solche, welche des Einflusses eines erfahrenen Erziehers bedürfen, wird man naturgemäß der Colonie zuweisen, schwächliche, aber sorgfältiger erzogene Kinder verarmter Eltern wird man getrost der Familienpflege überantworten können.
Daß ich aber die Unterbringung in Familien mehr betont sehen möchte, ist in dem Wunsche begründet, den Segen des Landaufenthaltes so vielen Kindern wie nur immer möglich zu Theil werden zu lassen. Jedenfalls ist der Umstand von hoher, wenn nicht ausschlaggebender Bedeutung, daß man für ein Coloniekind drei Kinder in Familienpflege unterbringen kann.
Die Kosten nun, die durch die Familienpflege erspart werden, möchte ich vorschlagen zur Bildung von Stadtcolonien, wie sie in Barmen bestehen, zu verwenden. Es ist dies eine Einrichtung, die mir äußerst nachahmenswerth erscheint. Das Comité zu Barmen sendet nur wirklich kranke Kinder hinaus, während die schwächlichen, schlecht genährten in der Stadt bleiben; diese Letzteren werden aber täglich an bestimmten Orten, etwa in der Turnhalle, versammelt und erhalten hier ein halbes Liter gute Milch und ein Stück Brod zum Frühstück. Sodann wird gespielt. Nachmittags kommen sie wieder und empfangen abermals ein halbes Liter Milch, um dann zu einem tüchtigen Spaziergange in den Wald geführt zu werden. Abends nach der Rückkehr erhalten sie zum dritten Mal ihr Theil kräftige Milch und ein Stück Brod dazu, nun aber kehren sie in ihre Behausung zurück.
Der Familienzusammenhang wird also durch die Stadtcolonie nicht unterbrochen, und was die Kosten einer derartigen Verpflegung betrifft, so belaufen sie sich für den Tag und das Kind auf vierzig Pfennig.
In solchen Stadtcolonien könnte man diejenigen Kinder vereinigen, welche von der Reise ausgeschlossen werden müssen, weil sie dafür noch zu klein sind, oder weil sie an einem unheilbaren Leiden kranken, das durch den Landaufenthalt nicht gehoben werden kann, oder weil endlich ihr Leiden leichterer Art ist und schon durch eine minder tiefeingreifende Einwirkung beseitigt zu werden vermag.
Eine andere Ergänzung der bisherigen Organisation würde ich in der Einrichtung von Feriencolonien für Kinder bemittelter Eltern sehen. In ihnen wären Schüler höherer Anstalten gegen Erstattung der Auslagen in einfacher Weise auf dem Lande unterzubringen, um unter der Leitung tüchtiger Erzieher ihre Ferien frisch und fröhlich zu verleben. Dieses Unternehmen würde dem Comité keinen Pfennig kosten und doch viel Segen stiften. In meiner früheren Praxis als Schriftführer des Leipziger Comités ist mir – wie oft! – das Verlangen nach einer solchen Veranstaltung entgegengebracht worden, und es giebt in der That sehr, sehr viele Eltern, die, durch Amt oder Geschäft an die Stadt gefesselt, nicht im Stande sind, die Ferienversorgung ihrer Kinder in einer für diese wahrhaft ersprießlichen Weise zu übernehmen, die aber gern bereit sein würden, die verhaltnißmäßig niedrigen Kosten dafür zu tragen. Solche Eltern sollten in der Sorge für ihre Kinder kräftig unterstützt werden. Es ist meine Ueberzeugung, daß die Schüler höherer Anstalten die Erholung oft noch nöthiger brauchen, als die der Volksschulen; denn diese dürfen sich in den Freistunden das ganze Jahr hindurch auf der Straße tummeln, während jene jahraus, jahrein hinter den Büchern hocken müssen.
Nimmt man die Stadtcolonien und die Colonien für Kinder bemittelter Eltern zu den bisherigen Einrichtungen hinzu, so wird mit einem Schlage – ohne Erhöhung der Ausgaben – eine große Anzahl Kinder einer nicht hoch genug zu schätzenden Wohlthat theilhaftig, welcher sie bisher entbehrten. Damit kommt man dann dem Ziele, womöglich alle Bedürftigen zu erquicken und zu kräftigen, wieder um ein Beträchtliches näher.
Wenn erst zwanzig Jahre hindurch in Deutschlands großen Städten die Feriencolonien bestanden haben werden, dann wird sicherlich in den unteren Schichten der Bevölkerung mehr Gesundheit und Kraft, mehr natürliche Frische und Lebensfreude vorhanden sein als heute. Bewirken die Feriencolonien aber das, so bilden sie wahrlich einen Baustein zur Größe unseres Vaterlandes.
Anmerkungen (Wikisource)
- ↑ Ruhr, die: Infektionskrankheit des Darms, siehe Wiktionary