Die Gartenlaube (1853)/Heft 40
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No. 40. | 1853. |
Ein deutsches Lied.
Singen, das ist freie Kunst,
Frei mußt Du das Herz dir halten –
Nicht in Rauch und Stubendunst
Wird dein Lied sich klar gestalten.
Schlürfe Waldluft, Sonnenfunken,
Und des Lenzes Poesie
Rauscht in deinem Herzen trunken.
Zieh’ hinaus in stiller Nacht,
Und in deinem Busen sacht
Wird der Dichtung Reich erstehen.
Singen, das ist edle Kunst –
Die erlernt sich nicht in Schulen,
Soll der Sänger nimmer buhlen.
Willst du singen, mußt du weit
Gottes Welt am Stab durchwallen,
Und dein Lieben und dein Leid
Heilig ist die Mission,
Die dem Sänger zugetheilet, –
Und sein Lied trägt großen Lohn,
Wenn Ein krankes Herz es heilet.
Gott verloren – Alles verloren.
Es giebt im Menschenherzen eine geheime dunkle Stelle, wo eine giftige Schlange schlummert; ein einziger Gedanke, ein Wort kann sie aufwecken. |
Indem ich dies niederschreibe, zeigt mir die ferne Erinnerung meine Wiege, mit Blumen geschmückt, von seidenen Decken überhangen; das Gemach, worin sie stand, war hell, freundlich und reich – ich sehe das liebliche Angesicht meiner Mutter, sorgsam über mich gebeugt; und kehrt mein Blick zurück in die Wirklichkeit, welch ein Gegensatz – eine enge graue Zelle, ein eisern Bett, ein morscher Holzstuhl und das einst so glückliche Kind eine bleiche verfallene Gestalt. So lieblich der Lebensanfang, so schauerlich das Lebensende.
Ich wurde gegen die Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts geboren und war die Tochter eines begüterten Edelmanns, der auf seinem Stammschlosse lebte. Schon frühzeitig sagten mir Eltern, Verwandte, Dienstboten, daß ich hübsch, reich und aus altadeligem Geschlecht sei. Dieses thörige Einprägen zufälliger irdischer Vorzüge würde auf fruchtbaren Boden gefallen sein, wenn nicht eine andere Persönlichkeit, mein jugendlicher Erzieher, in der Stille kräftig dagegen gewirkt hätte. Als der Sohn eines würdigen Geistlichen in der Schweiz war er von seinem Vater trefflich erzogen worden. Nach beendigten Studien ward er meinem Vater als Erzieher empfohlen, so kam er als mein Lehrer und Hausgenosse für mehrere Jahre in unser Haus. Constantin Falk! Verzeihe, edler Schatten, einer Unwürdigen, daß sie Deinen Namen noch einmal aus dem finstern Schatten der Vergangenheit heraufbeschwört. Verzeihe ihr die Ewigkeit ihrer Gefühle für Dich.
Herr Falk erlangte bald nach Antritt seines Lehramtes eine solche Gewalt über mich, daß nur er allein im Stande war, die Unarten und den Eigensinn des verwöhnten einzigen Töchterchens zu zügeln und meine Trägheit in Eifer für das Lernen zu verwandeln.
Einmal, es war in schöner Sommerzeit, besuchte eine Freundin meiner Mutter unser Gut und brachte ihre kleine Tochter Clemence mit. Auf den Wunsch meiner Eltern, denen es um eine passende Spielgefährtin für mich zu thun war, ließ sich die mütterliche Freundin bewegen, die kleine Clemence, die in meinem Alter stand, auf ein Jahr lang bei uns auf dem Lande zu lassen und meinen Unterricht zu theilen.
So verschieden wir beiden Kinder in unserm Aeußern waren, so verschieden zeigte sich auch unser ganzes Wesen. Clemence stammte von väterlicher Seite aus Frankreich; aber ihre sanften hellbraunen Augen, ihr blondes Haar, der weiße Teint und das Ruhig-schwärmerische ihres Ausdrucks ließen die südliche Abkunft nicht ahnen. Sie war ein stilles Kind, das vor jedem Ungehorsam zurückbebte, alle Menschen für gut hielt und sich am glücklichsten unter Blumen befand. Ich dagegen besaß einen aufbrausenden, eigensinnigen, mißtrauischen und kühnen Charakter. Meine Gesichtsfarbe war südlich dunkel; das schwarze Haar flog in zügellosen Locken um mein Haupt; und waren auch meine Augen blau, so funkelte daraus doch ein leidenschaftliches, stolzes Feuer.
Es verging kein Tag, an welchem Clemence und ich nicht zusammen stritten; doch trug ich fast immer die Schuld. Es machte mir ein eigenthümliches Vergnügen, das sanfte Mädchen zu reizen, indem ich ihre Blumen zertrat, ihr Händchen knipp, ihr irgend eine Freude störte. Und dennoch war ich damals noch nicht bösartig; ach nein! aber schon begann meine Eifersucht. Clemence wurde mir von Herrn Falk wegen ihres Fleißes und Gehorsams oft als Muster hingestellt und mit Furcht und Eifersucht glaubte ich zu bemerken, daß sie dem Herzen meines Lehrers näher stehe als ich. Ging er mit uns spazieren, führte er die furchtsame und folgsame Clemence an der Hand und ich lief ungeführt nebenher. War ein Graben zu überschreiten, so hob er sie sorgfältig hinüber, während ich, vor Neid und Aerger zitternd, rasch einen Sprung wagte. Pflückten wir Obst, so bekam Clemence die schönsten Früchte und zu mir sagte der Lehrer: Du Wildfang, magst Dir die Deinigen selbst pflücken, Du kletterst ja wie eine Katze. Ich verbarg bei solchen Gelegenheiten meine eifersüchtigen Thränen und begann Clemence heimlich zu hassen. Sie stiehlt mir die Freundschaft und Liebe meines Lehrers, sprach ich zu mir, sie ist heimtückisch und lügnerisch.
Meine kleinen Bosheiten verschwieg Clemence großmüthig, denn sie wollte mir von Herrn Falk keine Strafe zuziehen. Aber auch dieser Beweis ihres versöhnlichen Gemüthes rührte mich nicht. Ich war ebenso starrsinnig in meinem Hasse, wie in meiner Liebe. Endlich ward Clemence von ihrer Mutter wieder abgeholt. Sie nahm liebend und weinend Abschied von mir und ich sah sie lange Jahre nicht wieder.
Die Jahre der Kindheit vergingen, ich stand in meinem neunzehnten Jahre. Schon lange hatte uns Falk verlassen, um in B. eine seinen Verdiensten entsprechende Stelle als Beamteter einzunehmen. Auch Clemence hatte ich ganz vergessen und hörte nur zufällig, daß sie mit ihrer kränkelnden Mutter in der Nähe von Genf lebe.
Wenn ein Mädchen, das als Kind guten Schulunterricht genossen, noch einige kleine Künste, Clavierspiel, Gesang, etwas Französisch gelernt hat, so nennt man es eine gebildete junge Dame. So war es mit mir. Meine Schönheit, die durch den Contrast der blauen Augen und schwarzen Haare etwas Eigenthümliches hatte, war zu jener Zeit auffallend und wurde noch durch einen schlanken biegsamen Wuchs gehoben.
Ihr, die ihr dies leset, spottet nicht, daß ich von [431] meinen Jugendreizen rede. Ich betrachte mich längst als eine Ausgeschlossene und Gestorbene und darf daher wohl von meiner vergangenen Schönheit erzählen.
Obschon mich meine Eltern mit Geschenken überhäuften, nicht selten mich mit auf Reisen nahmen, so fühlte ich in meinem Innern doch stets eine traurige Leere, eine drückende Leere. Das Landleben behagte mir nicht mehr und ich sehnte mich mehr und mehr nach den geräuschvollen Freuden einer größern Stadt. Im Strudel von Zerstreuungen, welche die Stadt bietet, hoffte ich die klagende Stimme meines unbefriedigten Herzens zu übertäuben.
Mein Charakter hatte sich wenig geändert. Stolz, Verschlossenheit, Leidenschaftlichkeit und Rachsucht waren vorherrschend darin. Meine schlechten Eigenschaften bewiesen übrigens, wie fruchtbaren Boden für sie mein Inneres darbot. Sie wucherten als Unkraut und begannen allmälig das wenige Gute zu ersticken. Ach es war ja Niemand, der das böse Kraut ausrottete und an seine Stelle die Blumen der uneigennützigen Liebe, der Sanftmut, der Demuth und Religiosität pflanzte. Uebelgewählte Lectüre, besonders die leichtfertige französische Philosophie jener Zeit trugen nicht wenig bei, mich zu verderben.
Für Frauen hatte mein stolzes, leidenschaftliches Wesen wenig Angenehmes, aber auf die Männer übte meine schroffe Eigenthümlichkeit einen besondern Reiz. Die Wenigen, die ich auf dem Lande kennen lernte, lagen zu meinen Füßen. Diese kleinen Triumphe machten mir indeß wenig Freude und vermochten nicht, mich aus meiner stolzen Gleichgültigkeit aufzurütteln.
Bisher habe ich unterlassen, einer Person zu erwähnen, die seit einigen Jahren in unserer Familie, aber sehr abgeschlossen lebte. Es war dies die Tante meines Vaters, Frau Angelika Fioretti, Wittwe eines italienischen Edelmannes. Sie hatte ein fast siebenzigjähriges, sturmbewegtes Leben hinter sich. Nach dem Tode ihres Gatten kam sie aus Italien zurück, um bei uns den Abend ihres Lebens zu beschließen. Obschon in ihrem Wesen etwas Abstoßendes lag, so nahmen sie doch meine Eltern mit anscheinender Freude auf, denn die Fioretti besaß ein ansehnliches Vermögen und hinterlies keine Kinder. Aller Wahrscheinlichkeit nach fiel nach ihrem Tode uns Alles zu.
Ueber dem Leben meiner Großtante ruhte ein düsterer Schleier. Ihre Vergangenheit ward nie erwähnt, und kam ich zuweilen darauf zu sprechen, brach sie schnell ab. Uebrigens war ich die einzige Person, welche ihr nicht unangenehm war. Mein leidenschaftlicher, zwischen Widersprüchen sich bewegender Charakter schien ihr Interesse zu erregen. Sie bat sich oft beim Spazierengehen meine Gesellschaft aus. Auch mußte ich ihr des Abends vorlesen. Mit geheimem Aerger unterzog ich mich dieser unangenehmen Pflicht und zeigte unverholen durch mürrisches Wesen, wie unangenehm mir das häufige Beisammensein mit ihr sei. Wunderlicher Weise zeigte sie sich darüber nicht empfindlich. Sie ließ sich sogar gern von mir widersprechen und lachte, wenn ich mich so recht in zornige Heftigkeit hineingeredet hatte. Aber ihr Lachen war mir unheimlich und wahrhaft empörte mich ihre wiederholte Aeußerung: „Leonore ist ganz wie ich war und sie wird mir immer ähnlicher werden.“
Bei unsern Abendspaziergängen führte sie wunderliche Reden über Leben, Schicksal, Zufall und raubte mir nach und nach jedes höhere Gefühl für Gott und Religion. Sie selbst kannte keinen andern Gott als den Zufall, kein anderes als irdisch-erfaßbares Glück. Als ich einst, bezwungen von der sanften Schönheit eines Sommerabends im Walde in einer ungewöhnlich weichen Stimmung Gottes Herrlichkeit bewunderte und stumm anbetend der untergehenden Sonne nachschaute, da klang wie ein Mißton in die Harmonie der Waldeinsamkeit die heisere Stimme der Großtante: „Was blickst Du so unverwandt nach der blauen Decke, welche fromme Thoren so gern den Himmel nennen? Betest Du etwa?“
„Nein,“ erwiederte ich. „aber ich dachte daran, wie groß und herrlich die Natur ist und wie klein und erbärmlich die Menschen in ihrem Treiben. Ich dachte daran, daß es dort oben nach dem Tode schöner sein müsse.“
Der Mund der Alten zuckte höhnisch. „Auch ich glaubte sonst an Gott,“ sagte sie, „aber später ging er mir aus dem Herzen verloren, weil mir der Glaube an ihm fehlte. Was ist Gott? Wo ist er? Ich habe siebenzig Jahre gelebt; ich war oft unglücklich zum Verzweifeln; er hat mir nie geholfen; darum half ich mir selbst. Ich suchte ihn in der Welt, ich fand ihn nicht. Ich sündigte, er hatte keine Strafe für mich. Ich sah Schuldlose jammervoll untergehen, Böse triumphiren, Gott ließ Alles geschehen! Da kam mir endlich die Gewißheit, daß der Zufall allein unser Gott sei.“
Ich schauderte unwillkürlich und sagte leise: „nicht alle Vergeltung soll hier auf Erden reifen.“ Die Großtante fuhr fort: „Ich habe Wahnwitzige, Blödsinnige und kindische Alte gesehen und mich gefragt, wohin ist ihre unsterbliche Seele gegangen? Und meine Vernunft gab mir stets zur Antwort: die Seele ist nichts als ein feiner Herr, der mit dem Körper stirbt und vermodert. Der Mensch ist zwar das vornehmste Thier, aber doch ein Thier und muß spurlos verschwinden wie seines Gleichen. Und was hätten wir auch von der gerühmten Unsterblichkeitsfabel? Den edeln Unglücklichen würde die schreckvolle Erinnerung an die überstandenen Erdenleiden quälen, den Bösen die nagende Reue.“ Sie brach plötzlich ab, rief: „andiamo!“ und ging tiefer in den Wald, wo sie sich auf einen umgefallenen Baumstamm setzte. Ich stand noch auf derselben Stelle, in die Wolken starrend und den trostlosen Worten der Alten nachdenkend: „Wie ungläubig sie ist,“ sprach ich für mich, und mein böser Genius flüsterte: „Sie hat Verstand und Erfahrung, vielleicht sprach sie die Wahrheit.“
Die Sonne war gesunken, der Mond kam langsam über die Berge und bestrahlte die nächtliche Landschaft mit mildem Strahle. Ich blickte verstohlen nach der Großtante. Sie saß noch immer auf dem Baumstamme, hatte den Kopf vorgebeugt und war eingenickt. In der bleichen Beleuchtung des Mondes sah sie doppelt alt und verwittert und wie zum Hohne schien das buntfarbige [432] seidene Gewand und das großblumige Umschlagetuch die verfallene ruinenhafte Gestalt zu umhüllen. Ich mußte sie wecken und nach Hause führen. Scenen, wie die beschriebene, fielen oft zwischen mir und der Alten vor.
Fast in selbiger Zeit ward unser Gut verpachtet und mein lebhafter Wunsch nach der Stadt erfüllt. Wir zogen nach B. Hier sah ich endlich ihn wieder, der das Ideal meiner Kindheit gewesen; ihn, dessen Lächeln, dessen Lobspruch mich glücklich, dessen ernste Miene, dessen Tadel mich eifersüchtig und unglücklich gemacht und mein Herz den Regungen des Hasses eröffnet hatte. O Constantin! warum mußtest Du mir wieder in den Weg treten und – ohne es zu wollen – die Verehrung des Kindes in glühende Liebe der Jungfrau verwandeln?
Meinen Augen erschien er als der herrlichste der Männer. Er hatte ein ernstes blasses, aber von Geist durchleuchtetes Gesicht; eine edle Gestalt, klare durchdringende Augen, vor denen ich die meinigen erröthend senkte, wenn sie ernst und forschend auf mir ruhten. Man sagt, es gebe Menschen, die geborne Fürsten, sei ihre Herkunft noch so gering. Constantin Falk war ein solcher Fürst. Was ging es mich an, daß er keinen adeligen Stammbaum, keine zahlreichen Ahnen aufzuweisen hatte! Ich liebte ihn mit aller Macht meiner Seele. Der Adelstolz meiner Eltern war mir stets anmaßend und lächerlich vorgekommen. Nur Geist und Witz vermochten mir zu imponiren. Jetzt aber ging eine dunkle Ahnung in mir auf, daß der Standesunterschied einst Unheil über mich bringen könnte.
Falk schien bei unserem Wiedersehen von Freude durchdrungen. Seine Augen weilten oft, wenn er sich unbemerkt glaubte, mit einem gewissen staunenden Wohlgefallen auf mir, und instinktmäßig fühlte ich, daß bald meine Macht über seine Seele beginnen sollte. Da es meinen Eltern gar nicht in den Sinn kam, Falk könne die Verwegenheit haben, mich zu lieben, so freuten sie sich seiner häufigen Besuche und legten durchaus kein Hinderniß in den Weg.
Damals begann die schönste Zeit meines Daseins, aber sie blieb nicht lange ungetrübt. Als einziges Kind reicher Eltern von Allen beneidet; als junges schönes Mädchen von der Männerwelt gefeiert; in einem beständigen Wechsel von Zerstreuungen, hätte ich da nicht befriedigt, nicht glücklich sein sollen? Ja, ich war glücklich; aber der eigentliche Grund meiner Heiterkeit lag tiefer. Es war das entzückende Bewußtsein, von Falk innig und heiß geliebt zu sein. In Worten hatte er mir sein Herz noch nicht entdeckt; aber sein Geständniß leuchtete aus seinen mächtigen Augen. Sein häufiger Farbenwechsel in meiner Gegenwart und tausend andere, von Niemandem als mir erkannten Zeichen, sagten: Du bist geliebt. Das Auge der Frauenliebe sieht scharf. – Ein Zufall gab Constantin’s Gefühlen endlich Worte. Eine wohlhabende Gutsbesitzerin lud mich nebst vielen meiner Bekannten auf ihr romantisch gelegenes Waldschloß. Da die ganze Gesellschaft, ausser zwei alten phlegmatischen Ehrendamen, aus lauter jungem Volke bestand, so war natürlich alle Etiquette verbannt und ein Jedes suchte sich nach Kräften zu amüsiren. Ich ging an Constantin’s Arm den Uebrigen um ein beträchtliches Stück Weges voraus, den anmuthigen Waldpfad entlang. Wir sprachen wenig; aber unser Inneres war von einer unnennbaren Seligkeit durchklungen. Mir war’s, als könne ich mein Leben lang so an seiner Hand dahingehen, ohne müde zu werden oder Erschlaffung zu empfinden.
Als wir an einen mit Wasser angefüllten Graben gelangten, wollte Constantin ein Bret darüberlegen, um mir den Uebergang zu erleichtern. Aber der alte Eigensinn und Stolz kamen über mich. Ich wollte nicht schwächer erscheinen als er und sprang entschlossen, seine Hülfe verschmähend, über den Graben. Obschon ich trockenen Fußes hinüber gelangte, konnte ich doch nicht verhindern, an eine hervorgequollene Baumwurzel zu stoßen. Ich schwankte und stürzte mit dem Kopfe an eine Felsenwand. Constantin sprang außer sich an meine Seite. Er hob mich auf, schlang seinen Arm um mich und untersuchte mit unverkennbarer Angst meine Kopfverletzung. „Lassen Sie mich,“ rief ich in halber Betäubung und auf mich selber zürnend. „Die Wunde ist nicht der Rede werth, o, ich war sehr albern und kindisch! Falk, Verzeihung!“ Beschämt, mit hocherrötheten Wangen sah ich zu ihm auf und faßte bittend seine Hand. Es war um seine Fassung geschehen. „Leonore,“ rief er mit bebender Stimme, „hören Sie auf, mich mit so bezaubernder Sanftmuth anzublicken, es möchte sonst die Rinde schmelzen, die ich, zu Ihrem Besten, um mein Herz gelegt.“
Die Pestilenz in New-Orleans.
Jetzt, wo so viele Gemüther in banger Furcht vor der Cholera schweben, die an vielen Orten mit so beunruhigender Heftigkeit zum Ausbruch gekommen ist, kann es gewissermaßen zum Troste dienen, daß alle Berichte, die wir aus den von der Cholera heimgesuchten Städten in Bezug auf die Verheerungen, welche diese Krankheit anrichtet, haben, noch lange nicht denen gleichkommen, die uns seit einiger Zeit aus New-Orleans über das seit einigen Monaten dort herrschende gelbe Fieber zugehen – eine Krankheit, welche in unserem Klima nicht vorkommen kann.
New-Orleans ist, was pestartige Krankheiten betrifft, eben so – und mit größerem Rechte – verrufen, wie Constantinopel oder Kairo. Die Herbstmonate eines jeden Jahres erzeugen dort in Folge der sumpfigen Lage der Stadt unter den glühenden Sonnenstrahlen
[433][434] eines südlichen Himmelsstrichs verschiedene Krankheiten, namentlich das gelbe Fieber, welches alle drei oder vier Jahre den Charakter einer förmlichen Pest annimmt. Im heurigen Jahre hat diese Krankheit eine vorher noch nie gekannte Höhe erreicht und die Zahl der Todesfälle in der Stadt New-Orleans allein beträgt täglich über zweihundert. Allerdings ist die Gesammteinwohnerzahl der Stadt New-Orleans gegen hunderttausend Seelen, aber es darf, wenn man eine richtige Vorstellung von dem Verhältniß der Todesfälle zu der Einwohnerzahl geben will, nicht unerwähnt bleiben, daß man dieselbe in eine acclimatisirte und eine nicht acclimatisirte theilt. Die erstere besteht aus den Eingeborenen und Eingewanderten, welche von dem gelben Fieber schon einmal befallen worden sind, es glücklich überstanden haben und in der Regel nie wieder davon heimgesucht werden. Die nicht acclimatisirten oder mit andern Worten diejenigen, welche das gelbe Fieber noch nicht durchgemacht haben, werden stets als eine besondere Klasse der Bevölkerung betrachtet und wenn Berechnungen über den öffentlichen Gesundheitszustand während der Fieberzeit in New-Orleans aufgestellt werden, so pflegt man die Procente der Todesfälle nur im Verhältniß zu der Zahl der nicht acclimatisirten Einwohner zu berechnen. Nun beträgt diese Zahl ungefähr dreißigtausend und da von dieser Zahl binnen zwei Monaten dreitausend von der Seuche hinweggerafft worden, so ergiebt sich hiernach, daß, wenn dieselbe ein Jahr lang in demselben Grade fortdauerte, kaum noch zehntausend Nichtacclimatisirte übrig bleiben würden. Ein in New-Orleans erscheinendes Journal berechnet sogar in einer seiner Nummern vom Monat Juni, daß bereits fünfzehntausend Personen erkrankt und entweder gestorben oder wieder hergestellt seien und sonach, da nur noch eben so viel nichtacclimatisirte vorhanden sind, die Seuche im September aus Mangel an Individuen, welche davon befallen werden können, von selbst aufhören müsse.
Diese furchtbare Statistik macht die gräßlichen Mittheilungen, die von mehreren Seiten über die Wegschaffung der Leichen gegeben werden, einigermaßen erklärlich. Es ist nämlich geradezu unmöglich geworden, die Todten alle zu begraben. Anfangs, als die gewöhnlichen an den Kirchhöfen angestellten Arbeiter ihrer Aufgabe zu erliegen begannen, wurden die Kettensträflinge zu diesem Dienste gezwungen und später Neger gemiethet, um die Leichen fortschaffen zu helfen. Aber selbst dieses Auskunftsmittel war unzureichend, obschon der Lohn, den man dafür zahlte – eine Guinee (7 Thaler) die Stunde – das californische Arbeitslohn zehnfach überstieg, und zwei Tage und Nächte thürmten sich die Haufen der unter den sengenden Sonnenstrahlen des Südens verwesenden Leichen immer höher auf. Sogar die Sklaven und Verbrecher konnten nur dadurch, daß man ihnen neben dem ungeheuren Lohn vollauf Branntwein zu trinken gab, bewogen werden, auf den Kirchhöfen zu arbeiten. Auf einigen zog man mit dem Pfluge lange Furchen, in welchen man die Leichen gut oder übel verscharrte, bis man sich endlich zu wiederholten Malen genöthigt sah, sie zu verbrennen.
„In den Hospitälern“ – erzählt ein Reisender, welcher zu der Zeit, wo die Seuche am heftigsten wüthete, in New-Orleans anwesend war – „geht es entsetzlich zu und es ist ein wahres Wunder zu nennen, daß von den hierhergeschafften Patienten wirklich dann und wann einer wieder hergestellt wird. In dem einen Zimmer, welches ich besuchte, befinden sich ungefähr vierzig Frauenzimmer. Sie lagen auf Hängematratzen zu beiden Seiten des Zimmers mit gerade nur so viel Zwischenraum, daß die Wärter den armen Kranken ihre Medizin reichen konnten. Auf der einen Matratze lag eine Mutter, die so eben an dem schwarzen Erbrechen gestorben war und dicht daneben die Tochter, die sich von den Qualen des Fiebers gefoltert hin und her krümmte und obendrein noch die leblose Hülle der Mutter vor den Augen hatte. Auf der andern Seite lag ein junges Frauenzimmer aus Tenessee, die eben erst in’s Hospital gebracht worden war und sich im ersten Stadium der Krankheit befand. Auf der einen Seite neben ihr lag eine Frau, die, weil sie rasete, an ihr Bett festgebunden war, auf der andern die so eben gestorbene Mutter, und man kann sich leicht denken, welches Schicksal der Anblick solcher Nachbarn der neu aufgenommenen Kranken bereiten mußte. Auf einer andern Lagerstätte lagen drei Kinder, deren Eltern bereits gestorben waren und ich konnte mich nicht des Gedankens erwehren, daß es für diese armen Kinder wohl das Beste sei, wenn sie ihren Eltern in das bessere Jenseits nachfolgten. In dem untern Zimmer lagen ungefähr vierzig Männer in den verschiedenen Stadien der Krankheit. Hier waren die Lagerstätten in drei Reihen übereinander angebracht. Viele dieser Kranken hatten das schwarze Erbrechen, andere raseten und waren an ihr Lager festgebunden. Einige stöhnten, andere fluchten und lästerten, wenige waren ruhig. Es ist wirklich, wie ich schon vorhin sagte, ein wahres Wunder, daß doch einer oder der andere dieser Patienten, die hier von Todten und Sterbenden umringt sind und immerwährend Leichen an sich vorübertragen sehen, wieder hergestellt wird. Viele sterben vor Schrecken und andere, wie ruhig sie auch sein mögen, müssen alle Hoffnung verlieren und der Verzweiflung anheimfallen. Sobald als das Leben aus dem Körper entschwunden ist, wird der Todte in einen von den Gefangenen des Arbeitshauses gefertigten, nothdürftig schwarz angestrichenen Sarg gelegt. Der Stadtwagen fährt an dem Hospitale vor, die Särge werden – etwa drei oder vier auf die Ladung – daraufgesetzt und so durch die Straßen gefahren, ohne daß man sich die Mühe nähme, den Wagen oder auch nur die einzelnen Särge zuzudecken. Der heißen Sonne ausgesetzt, fährt man sie eine lange Strecke durch die Hauptstraßen der Stadt nach den Kirchhöfen. In dem Hospital erscheinen fortwährend eine Menge Leute, welche ihre hier liegenden Freunde besuchen wollen, aber natürlich nicht vorgelassen werden können, weil die Patienten so ruhig als möglich gehalten werden müssen.
„Gestern – Sonntag Morgen – befanden sich die Bürger des vierten Distrikts in einem Zustande von großer Aufregung. Wegen der großen Anzahl von [435] Leichen, die nach dem Kirchhofe des vierten Distrikts geschickt worden waren, konnten dieselben nicht so schnell begraben werden, als es eigentlich hätte geschehen sollen, so daß gestern früh noch ungefähr fünfzig unbegrabene Leichen dalagen. Viele davon lagen schon seit achtundvierzig Stunden da. In Folge der Zersetzung der Leichname durch die Sonnenhitze waren viele Särge geplatzt und der Gestank so entsetzlich, daß viele der Näherwohnenden ihre Häuser verlassen mußten. Ich war heute Nachmittag auf dem Begräbnißplatz, wäre aber beinahe wieder umgekehrt, so entsetzlich war der Verwesungsgeruch, der mir schon aus weiter Ferne entgegenkam. Als ich an dem Thore des Kirchhofes anlangte, war das Erste, was meine Aufmerksamkeit anzog, ein altes Negerweib, welches dicht vor dem Kirchhofe ihre Bude aufgeschlagen hatte, wo sie Aepfel, Pfirsichen, Pasteten, Kuchen, Eistorten, Bier und Branntwein verkaufte. Ohne Zweifel hatte sie gute Kunden an den zahlreichen Irländern und Deutschen, welche die Todten hier herausschaffen und begraben helfen. Ich glaube, sie hätte noch mehr verdienen können, wenn sie Kampher[WS 1] verkauft hätte, denn ich fand während der Stunde, die ich auf dem Kirchhofe zubrachte, daß Kampher etwas Herrliches war. Eine Anzahl Kettensträflinge waren eben beschäftigt, lange Gräben, ungefähr achtzehn Zoll tief und etwa fünfzig Fuß lang, zu ziehen. In diese wurden dann die Särge, immer sechs neben einander, hineingelegt, dann Kalk darauf geworfen und Erde darüber gehäuft. Die Deckel der Särge ragten dabei immer noch fünf bis acht Zoll aus der Erde hervor. Als ich fortging, waren noch etwa zwanzig Särge zu begraben, da aber die Gräben schon fertig waren und die Kettensträflinge die Särge blos hineinzusetzen und mit Erde zu bedecken hatten, so mußten sie bald damit fertig sein. Die Neger waren alle betrunken und ließen die Koffer in der Regel mehrmals fallen, ehe sie dieselben in die Gräben hineinbrachten. Einen furchtbaren Anblick gewährten die von der Sonnenhitze aufgeschwellten Leichen, die ihre Särge zersprengt und wie durch Anwendung von Körperkraft die Bande zerrissen hatten, welche ihre Hände und Füße zusammenhielten, so daß sie dieselben weit und starr von sich streckten.
Man sollte glauben, daß eine auf solche Weise heimgesuchte Stadt in die tiefste Trauer versenkt sein müßte und von öffentlichen Vergnügungen nicht die Rede sein könnte, aber dies ist keineswegs der Fall, und die Journale von New-Orleans enthalten Ankündigungen von Bällen und Regatta’s (Ruderwettfahrten), als ob der Würgengel der Pest noch niemals seinen Fuß auf diesen Boden gesetzt hätte. So gewöhnt sich der Mensch an Alles, selbst an das Furchtbarste.
Was die Stadt New-Orleans an und für sich betrifft, so ist sie niemals nach einem angemessenen System kolonisirt worden. Man hat in der Mitte eines Sumpfes eine große Stadt gebaut und es der Sklavenarbeit überlassen, den Boden anzubauen, während die Eigenthümer desselben sich einem üppigen, unthätigen Leben hingaben. Da ist nun freilich die Entstehungsgeschichte der großen nördlichen und westlichen Staaten eine ganz andere.
Die Wahrscheinlichkeit ist nicht dafür, daß irgend etwas Wirksames unternommen werden könnte, um diesen Staat der Gewalt einer so furchtbaren Seuche zu entreißen und dennoch läßt sich fast mit Bestimmtheit nachweisen, daß dieselbe in frühern Zeiten dort gänzlich unbekannt war. Daß wirklich derartige Veränderungen stattfinden, ist außer allen Zweifel gesetzt. Constantinopel zum Beispiel, wo jetzt die Pest fast alle Jahre einmal ausbricht, ward in früheren Zeiten als eine der herrlichsten und gesündesten Städte der Welt betrachtet und in den Niederungen von Mexiko wußte man zu der Zeit, wo die Europäer zuerst dorthin kamen, von dem gelben Fieber noch nichts. Ein aus dieser Thatsache sich von selbst ergebender Schluß ist, daß für den öffentlichen Gesundheitszustand durch geeignete Maßregeln sehr viel gethan werden kann. Wir fürchten uns im neunzehnten Jahrhundert nicht mehr vor der orientalischen Pest, die früher durch ein Bündel Lumpen nach Europa verschleppt werden konnte und vielleicht ist die Zeit nicht mehr fern, wo auch die Choleraepidemie siegreich bekämpft ist.
Aus der Menschenheimath.
Des Schulmeisters emerit. Johannes Frisch an seinen ehemaligen Schüler.
Es gab und giebt in einigen Vertretern noch eine medicinische Meinung, welcher zufolge jede Krankheit, namentlich diejenigen, welche sich in einer gestaltlichen und stofflichen Umänderung der Körpermasse aussprechen, für einen sogenannten Afterorganismus erklärte, der sich als ein böser Dämon im sonst gesunden Menschen- oder Thiertriebe entwickele. Wäre diese Meinung begründet, so wären die Aerzte wahre Teufelsbanner und Geisterbeschwörer und ihre großen Arzneibullen und Pillenschachteln wären vollkommen berechtigt als Munition, womit sie dem Krankheitsdämon auf den Leib rückten.
Jetzt hat diese Meinung wohl nur noch wenige Anhänger. Man ist wieder nüchtern geworden, und gefällt sich nicht mehr darin, für wissenschaftlich noch unerkannte Erscheinungen geistreich klingende Redensarten statt einer Erklärung zu geben.
[436] Am längsten hat sich diese Meinung unter den Pflanzenphysiologen erhalten hinsichtlich gewisser Pflanzenkrankheiten. Bevor man mit den ungemein vervollkommneten Mikroskopen der neueren Zeit die feinsten Theile des Pflanzengewebes und die Entwickelung gewisser ungemein einfacher Pilzgebilde untersuchen konnte, hatte jene Meinung allerdings etwas für sich.
Du kennst als Landwirth den Flugbrand des Hafers und der Gerste und den stinkenden Schmierbrand des Weizens. Diese Pflanzenkrankheiten, die uns schon oft unsere Getreideernten gar sehr geschmälert haben, sprechen sich dadurch aus, daß sich innerhalb der Blüthentheile anstatt gesunder Körner nach und nach eine schwarzbraune Staubmasse entwickelt, und zwar nicht blos auf Kosten der Körner, sondern außer diesen werden auch die Spitzen fast ganz zerstört, so daß zuletzt wenig mehr als die Spindel der Aehre oder Rispe übrig bleibt.
Hier sagte man nun, diese schwarze Staubmasse sei ein Gebilde, eine Folge, ein Symptom der Krankheit. Irgend welche uns unbekannte Ursache habe die Pflanze krank gemacht, und der Krankheitsstoff werde gewissermaßen von Innen auf die Oberfläche der Pflanze herausgetrieben und nehme zuletzt die Gestalt dieses Brandstaubes an.
Das sollte eben der Afterorganismus, oder wenn Dir das verständlicher ist, das Krankheitswesen im an sich gesunden Pflanzenwesen sein, was, in letzterem entstanden, nun sich aus ihm heraus entwickele und dabei dasselbe entweder ganz oder wenigstens einzelne Theile davon zerstöre.
Es ist aber nicht so. Diese Masse ist nicht eine Folge, ein Erzeugniß der Krankheit, sondern die Ursache davon; eben so wenig wie die Krätzmilbe, die sich in den Krätzpusteln findet, nicht eine Folge, sondern die Ursache der Krätzkrankheit ist. Wie die Krätzmilben kleine Thierchen sind, welche in der Haut des Menschen leben, so sind die unendlich kleinen Staubkörnchen der beiden genannten und vieler ähnlichen Pflanzenkrankheiten die Samenkörnchen von Pflanzen, nämlich kleiner Pilzgebilde, welche sich meist unter der Oberhaut der Pflanzentheile bilden. Weil dies meist auf den Blättern und blattähnlichen Theilen, zu denen wir auch die Blüthen rechnen müssen, geschieht, so nennt man sie gewöhnlich Blattpilze. Wie die Krätze blos durch Uebertragung der Krätzmilben von der Haut eines Kranken durch Berührung, Betten, Wäsche und dergleichen auf die eines Gesunden ansteckend ist, so entstehen die Brand- und Rostkrankheiten auch blos durch Ansteckung, d. h. indem die außerordentlich feinen Keimkörper, wie man die Samenkörnchen der Pilze und anderer niederer Pflanzen nennt, auf und unter die Oberhaut anderer Pflanzen getragen werden. Dort keimen und wachsen sie ebenso, wie Du es von der Missel kennst, die auf Bäumen mancherlei Art schmarotzend wächst.
Diese sogenannten Blattpilze bilden gewissermaßen ein kleines besonderes Pflanzenreich, dem trotz unendlicher Kleinheit doch Mannigfaltigkeit und Zierlichkeit nicht abgeht.
Du siehst auf meinem Bildchen zwei solche Blattpilzarten, welche gerade jetzt in jedem Blumengarten sehr häufig zu finden sind. Geh’ in Deinen Garten und sieh Dir die längst ihres Blüthenschmuckes beraubten Rosenstöcke an; ich meine die Centifolien, nicht die Monatsrosen, auf denen Du vergeblich suchen würdest. Auf vielen der älteren noch grünen Rosenblätter bemerkst Du auf der Oberfläche gelbe Flecken (F. 1), und wenn Du ein solches Blatt umdrehst, so findest Du, daß unten auf diesen gelben Flecken kleine Häufchen eines orangerothen Pulvers sitzen; hier und da findest Du auch dazwischen lockere schwärzliche Häufchen.
Das sind zwei verschiedene Blattpilze, welche auf der Rose fast immer gesellig beisammen vorkommen. Der gelbrothe ist der Rosenbrandpilz Urado Rosae und der schwarze führt den wissenschaftlichen Namen Phragmidium bellosum. F. 2 zeigt Dir in 200maliger Vergrößerung den senkrechten Durchschnitt durch ein Häufchen des ersteren. Du siehst aus dem Zellgewebe des Rosenblattes sich fächerförmig das Pilzhäufchen ausbreiten. Dieses besteht aus dem sogenannten Pilzlager, Mycelium, welches den Mittelpunkt bildet. Um dasselbe herum stehen sogenannte Saftzellen, b) welche keulenförmig und nach innen gekrümmt sind. In der Mitte liegen zahlreiche Keimkörner oder Sporen, a) von denen ich aber blos einige wenige hergezeichnet habe, während in der Wirklichken sich davon Hunderte in einem solchen Häufchen finden. Rechts daneben siehst Du eine einzelne Spore in 400maliger Vergrößerung.
Wesentlich verschieden zeigt sich der andere Blattpilz. Neben den Saftzellen (F. 3) bb finden wir hier nicht nackte Keimkörner, sondern kleine schwarzbraune keulenförmige Kapselchen, in denen je 6–7 Keimkörper in [437] eben so vielen Fächern liegen. Du siehst dies besonders deutlich an der 400 Mal vergrößerten F. 3 aa. Bei F. 3 a’a’ siehst Du drei noch unreife kurzgestielte Kapselchen.
Wir sehen also, daß diese unscheinbaren gelben und schwarzen Staubhäufchen auf der Rückseite der Rosenblätter nicht nur organisirte Gebilde, sondern wirkliche Pflänzchen von freilich sehr einfachem Bau, aber mit zahllosen, unendlich kleinen Keimkörnchen versehen sind. Diese Körnchen keimen nun auf ähnliche Weise, wie die Samen vollkommener Gewächse. Wie aber viele andere Pflanzensamen gewisse Bedingungen erheischen, um keimen und sich zur vollkommenen Pflanze entwickeln zu können, so auch diese so kleinen Keimkörnchen. Die erste Bedingung ist, daß sie der Wind und Regen, Insekten oder andere Helfershelfer auf Rosenblätter führen. Hier senken sie höchst wahrscheinlich, was der außerordentlichen Schwierigkeit wegen freilich noch nicht bestimmt beobachtet worden ist, ihre unbeschreiblich feinen Schläuche in die sogenannten Spaltöffnungen. Dies sind außerordentlich kleine spaltförmige Oeffnungen in der Oberhaut der unteren Blattfläche. Da die Blattpilze auch fast nur auf der unteren Oberfläche vorkommen, so scheint dies jene Annahme zu bestätigen.
Viele Pflanzenkrankheiten werden gewiß durch diese kleinen Schmarotzer veranlaßt und Du wirst mir beistimmen, wenn ich sie Dir im Einklange mit der fortgeschrittenen Wissenschaft als Ursachen und nicht als Folge derselben bezeichnete. Wir haben es hier eben wieder einmal mit einer Erscheinung zu thun, wo die außerordentliche Kleinheit der Gebilde eine unzweifelhafte Deutung der natürlichen Vorgänge sehr erschwert. Aber das Mikroskop, die Waage, die chemischen Scheidungsmittel und – Geduld und Ausdauer wird mehr und mehr den Schleier lüften, hinter welchem die Natur sich oft verbirgt und aufgesucht sein will.
Chinesische Spiegelbilder.
Am 28. Fehruar 1850 Morgens 7 Uhr war der kaiserliche Palast zu Peking vollgedrängt von Mandarinen und ihren Dienern in weißen Kleidern und gelben Gürteln. Sie flüsterten und sahen officiell betrübt aus. In der Mitte dieses Meeres von subalternen Beamten standen 16 Personen, Jeder mit einem Knaben, die gesattelte Pferde hielten. Diese 16 Personen trugen seidene Kappen, unter dem Kinn zugebunden und mit weißen Kugeln oben versehen, und Gürtel mit Schellen und gelbe Röhren um die Schultern geschlungen, wie lange Botanisirkapseln, in ihren Händen lange Peitschen haltend. Einer von den Großwürdenträgern kam heraus aus dem Palaste und gab Jedem dieser Sechszehn eigenhändig ein gesiegeltes Document, welches sie in ihre Kapsel steckten, sich verbeugten und dann auf ihre Pferde schwangen, hinter ihnen die Knaben, die sich durch besondere Haken hinten auf den Pferden befestigten. Die Menge machte jetzt Platz und die sechszehn „Fei-ma“ („fliegenden Couriere“) sprengten davon, Jeder verpflichtet, in 24 Stunden 600 „Li“ (60 französische lieus) zurückzulegen, um folgende Depesche an die 16 General-Gouverneurs der 16 Provinzen China’s zu befördern. „Das Amt der Ceremonien und Feierlichkeiten macht in großer Eile bekannt, daß am 14. des ersten Monds der erhabene Kaiser einen Drachen bestieg und in das Land der Ewigkeit abschied. In der Stunde des Mao, Morgens, übertrug die himmlische Majestät die kaiserlichen Würden seinem vierten Sohne Se-go-ko und Abends in der Stunde Hai hob er sich hinweg in das Land der Götter. Es wird deshalb verordnet, daß die Trauer unter den Civil- und Militärbeamten unverzüglich beginnen und Niemandem gestattet sein soll, sein Haupt oder seinen Bart zu scheeren. Eine folgende Ordre soll die Zeit dieser Trauer bestimmen.“
So kam Se-go-ko, der jetzige Kaiser, der als solcher den Namen Hièn-fung führt, zur Regierung. Dieser „Bruder des Mondes“ wird folgendermaßen portraitirt. Er ist jetzt 22 Jahre alt, von mittlerer Größe, schlank und muskelvoll, so daß er den Eindruck macht, als besäße er große körperliche Kraft und Gewandtheit. Sein Gesicht mit dem Ausdruck von Entschlossenheit charakterisirt sich besonders durch eine sehr hohe Stirn und eine ganz außerordentlich-schiefe Lage der Augen. Die Backenknochen sind streng markirt und ragen so weit hervor, daß man etwas daran aufhängen könnte. Der Theil zwischen den Augen ist sehr weit und flach wie bei einem Büffel-Ochsen. Hièn-fung ist sehr hartnäckig, leidenschaftlich und leichtgläubig. Mitten in Verweichlichung und Luxus nimmt er den Schein von großer Sittenstrenge an. Er ist schon verheirathet und zwar mit einer tatarischen Prinzessin, deren große Füße ein derbauftretender Spott auf die klumpfüßige Hinfälligkeit der höhern Chinesinnen sind. Der himmlische Gemahl liebt es, mit ihr in dem kaiserlichen Garten hinter dem Palaste mit der Schnelligkeit, die unter den Tatarinnen beliebt ist, umher zu galoppiren und Hasche mit ihr zu spielen.
Von dem Gegenkaiser, dem Haupte der Rebellen, Tièn-ti, wird folgendes Bild entworfen. Er ist blos ein Jahr älter, als Hièn-fung, aber Nachdenken, Fleiß und Mangel an Ruhe haben ihm bereits den Stempel reifen Alters aufgedrückt. Er sieht schwermüthig und melancholisch aus, hält sich sehr zurückgezogen und spricht [438] blos mit seiner Umgebung, wenn er ihnen Befehle mitzutheilen hat, obgleich er diese immer blos in der Form von Rath und göttlicher Eingebung ertheilt. Sein Gesicht hat einen überaus milden Ausdruck, einer Milde, die Asceten so oft eigen ist und die weder Festigkeit noch jene Hartnäckigkeit ausschließt, durch welche Personen von bestimmten religiösen Ueberzeugungen schon so oft Großes erreicht haben. Seine Farbe grenzt an’s Saffrangelbe, wie in den südlichen Provinzen China’s. Er ist größer als Hièn-fung, aber erscheint weniger kräftig.
Der junge tatarische Kaiser ist leicht in seinen Bewegungen, sein Blick fest und sagt ohne Worte, daß ihn nur blinder Gehorsam befriedigen kann. Tiènti dagegen hat etwas Langsames und Stieres in seinem Blick, als wollte er die Tiefen der menschlichen Seele durchschauen und all’ ihre geheimen Gedanken errathen. Er besitzt jene schweigsame Zurückhaltung, die Männern eigen ist, welche sehr lange nachdenken, ehe sie Jemand in ihre Pläne einweihen.
Das etwa sind die Hauptzüge der beiden jungen Herren, die jetzt um den Thron, dem über 300 Millionen Menschen unterworfen sind, kämpfen. Vergleichen wir sie näher, so ergiebt sich, daß der erstere seiner ererbten Stellung durchaus nicht gewachsen ist, abgesehen davon, daß sie keine Wurzeln im Volke hat, während der andere alle die Eigenschaften besitzt, die einen Usurpator begünstigen. Hièn-fung, ausgestattet mit der absoluten Macht der Staatsregierung und verpflichtet, deren Maschine zu leiten, weiß nicht, wie die Theile, welche durch die Zeit unbrauchbar geworden, ersetzt werden können. Sein Hauptfehler besteht in dem Mangel an feinem Takt, mit welchem auch ein absoluter Herrscher gegen die Untergebenen Maß halten muß in Tadel und Lob. Es fehlt ihm durchaus an richtigem Urtheil und an der Gabe, sich unter der feilen Masse von Dienern, Eunuchen, Concubinen und Sklaven, die ihn umkriechen, zurechtzufinden und bessere und treue von denen zu unterscheiden, die als Abenteurer blos ihren augenblicklichen Vortheil verfolgen und danach rathen, handeln und intriguiren. Heftig und schwach zugleich setzt er in seine augenblicklichen Günstlinge blindes Vertrauen. Und wenn diese auch etwas Vernünftiges rathen, aus seinem Gehirne kömmt es doch wie ein Fehler heraus und beleidigt durch taktlose und grausame Form. Tièn-ti dagegen hat sein politisches System so angelegt, daß es ihm treue Anhänger sichert. Er macht einfach seine Interessen zu den ihrigen. Gegen Alle freundlich und zugänglich hat er doch blos einen einzigen, völlig unbekannten intimen Freund, der ihn stets begleitet. Heftigkeit ist ihm völlig fremd. Er spricht stets wenig und mit Mäßigung und nur mit der größten Zurückhaltung von Hièn-fung. Die Beamten, die ihn umgeben, sind Miteigenthümer seines Glücks und seiner Habe; er wird daher eifriger und treuer bedient, als der Kaiser in Peking. Alle Disciplin geht direct von ihm aus. Während seine Generale immer weiter vordringen, Stadt auf Stadt erobernd, hält er sich im Hintergrund und organisirt sein politisches System in den eroberten Districten auf eine Weise, die zugleich neu und volksthümlich ist, da es hauptsächlich auf Abschaffung bedrückender Mißbräuche hinausläuft. Zugleich hält er sich dem Kriegsschauplatze stets so nahe, daß seine Feinde ihn eben so wenig feig als seine Freunde verwegen nennen dürfen. –
Wie die Kaiserlichen den Insurgenten oft in die Hände arbeiten, davon nur ein Beispiel. Der tatarische Vicekönig Siu, Generalissimus aus der kaiserlichen Armee, beschloß eines Tages, die Rebellen auf einmal zu vertilgen. So ließ er 4000 Büffelochsen, alle mit kaiserlichen Stirnen versehen, zusammenbinden und an ihre Hörner 8000 große Pechfackeln befestigen, diese anzünden und so die ganze gehörnte Armee von 4000 Soldaten in das feindliche Lager treiben, damit sie dasselbe in Brand stecken und alle Rebellen an ihre Hörner spießen sollten. Die Rebellen sahen sich den großartigen Fackelzug ruhig mit an, ließen ihn in ein Thal hereinziehen und überfielen dann mit einem Male die 4000 Soldaten und Ochsen, so daß Keiner lebend blieb. Von letzteren wurden in der ganzen Rebellen-Armee delikate Beefsteaks gebraten.
Niemand zweifelt mehr, daß Tièn-ti China der Civilisation und dem Verkehre der Welt öffnen wird und bald mehr in Europa von China und Nanking geschätzt werden wird, als ein Mittel gegen das Fieber, Thee und Nankinghosen. Die Gartenlaube brachte schon ein Bild von Nanking (in Nr. 27). Wir lassen hier eine genauere Schilderung dieser Perle des himmlischen Reiches, die auch bereits an der Krone Tièn-ti’s befestigt ist, folgen.
Nanking breitet unweit des Meeres an dem ungeheuren Yang-tse-kiang (blauem Flusse), der das eigentliche China in beinahe zwei gleiche Hälften theilt, im Süden von Gebirgen nach der himmlischsten aller Ebenen aus, die von Kanälen dichter durchadert ist, als der menschliche Körper von Blutvenen. Alle diese Kanäle wimmeln stets von Schiffchen und Kähnen und die Ufer derselben seufzen unter der herrlichsten Bürde von Pflanzen und Früchten. In diesen Ebenen wächst die berühmte gelbliche Baumwolle, die in der ganzen Welt bekannt ist, und der größte Theil des Reises, welcher durch ganz China statt unseres Kornes und Weizens dient. Kiang-Nang, d. h. die Provinz Nanking, ist der kostbarste Juwel in der Krone des Sohnes der Sonne und Bruders des Mondes. In ganz Europa giebt es kein Fleckchen Erde, das an Fruchtbarkeit dieser ungeheuren Ebene nur nahe käme. Die Felder geben jedes Jahr mindestens doppelte Ernten und keimen, blühen und reifen stets ohne Aufhören. Die Grenzen der einzelnen Ackergrundstücke bringen die delikatesten Vegetabilien von der Welt hervor. Der Po-tsai, eine Art von Kohl, bittrer Mostrich, Wassermelonen, Kartoffeln, hunderterlei fleischige gurkenartige Früchte und Trauben, die Fremde oft für Weintrauben halten, Granaten, durchsichtig wie Glas, Pfirsiche, gegen welche die von Montreuil wie wilde Holzäpfel erscheinen würden, und unzählige Frucht- und Obstarten, von deren Schönheit, Fülle und Aroma man nur an Ort und Stelle sich überzeugen kann, daß es keine Phantasiegebilde sind, duften und glänzen in schattiger, warmer Luft, dazwischen scharlachrote Fasanen und tausenderlei Vögel und Geflügel von seltsamster [439] Färbung, Gestalt und Manier. Diese einzige Provinz hat nicht weniger als 28 Mill. Einwohner, viel mehr als ganz Frankreich.
Nanking ist auf Wasser gebaut, wie Rotterdam, umgeben von fruchtbaren Thälern, schwammigen Ebenen und Gewässern, die von Fischen strotzen. In südlicher Richtung weitet sich der Fluß plötzlich und bildet eine Art von See mit unzähligen Paradiesen von Inseln, in deren schattige, blüthenduftige Gartenwälder sich die Villa’s der Mandarinen mit ihrer Herrlichkeit vor dem profanen Volke verbergen. Diese Privatlusthäuser der Großen übertreffen an Ueppigkeit und Feinheit der Genüsse die europäische Raffinerie bei Weitem. Eine besondere Liebhaberei bei ihnen ist es, sich ungeheure Massen seltener, größtentheils weißer Vögel in großen luftigen Häusern hinter Gittern und Netzen zu halten, die so fein sind, daß selbst die Vögel meinen mögen, sie seien nicht gefangen. In diesen Villa’s leben, dichten und lieben die poetischen Damen China’s, Aspasia’s des Ostens, in ihrer naiven, leidenschaftlichen Sprache. Freilich erlaubt ihnen die Eifersucht ihrer Herren nicht, das Licht ihrer Schönheit und das Feuer ihrer Poesie vor der Welt leuchten zu lassen und ihre Töne verhallen in echoloser Abgeschlossenheit. Auf dem Wassergeäder leuchten und laufen die elegantesten Schiffe und Fahrzeuge der ganzen Welt. Tausende von Junken bringen fortwährend die Produkte und Fabrikate dieser Provinz bis in die entferntesten Theile des Reiches durch das ungeheure netzreiche Flußgebiet des Jang-tse-kiang, dessen natürliche Arme noch tausendfach durch wahrhafte Legionen von Kanälen vermehrt wurden.
Man kann sich denken, welche Gewalt die Insurgenten, die an diesem Jang-tse-kiang herunterkamen und nun in den Kopf dieses ungeheuren Verkehrsadersystems vorgedrungen sind, bereits erworben haben. Sie sind Herren in der wahrhaften Hauptstadt des Reichs und sitzen in der Hauptspeisekammer für 300 Millionen Menschen. Nanking ist viel mächtiger als Peking und wer erstere mit ihrer Ebene und ihrem Verkehrsadernetze hat, ist der politischen Hauptstadt schon gewiß.
Nanking ist Berlin, Peking das Potsdam dazu. Nanking ist das ehemalige Paris und jetzige Paradies von China, der wirkliche Himmel des himmlischen Reichs. Hier hat eine der himmlischen Schönen einst, dichtend und musicirend in einem schattigen, duftigen Insel-Paradiese des Jang-tse-kiang, oder träumerisch sich wiegend auf dem flüssigen Himmel des „blauen Flusses“ in ihrer sammetnen, goldglitzernden Gondel, die achtseitige Lyra in der Hand, den Namen: „Himmlisches Reich“ erfunden und es besungen. Nach der lebendigen, aus eigener Erfahrung und Anschauung geschöpften Schilderung der Herren Callery und Yvan, die als Dolmetscher und Arzt der französischen Gesandtschaft in China die beste Gelegenheit hatten, lange und genau zu studiren und in die feinsten Geheimnisse der höhern Gesellschaft und Cultur China’s einzudringen und aus deren Werke wir diesen Artikel zusammentrugen, ist Nanking der Brennpunkt aller Größe und Schönheit der Natur, Kunst und Cultur. Alle Reiche, Gebildete und Gelehrte wohnen hier und entwickeln hier alle Pracht, die Verfeinerung des Geschmacks und der Sitten, der Kunst und Wissenschaft in der reizendsten Natur und unter den Augen der Schönsten und Gebildetsten des weiblichen Geschlechts hervorrufen können. Der Speisezettel der Großen ist oft ein hübscher Octavband. Ja die chinesische Kochkunst allein wird die feinsten Hotels von Paris tief in den Staub werfen, wie denn bereits ein chinesischer Restaurateur in St. Francisco alle deutsche und französische Koch- und Küchenkunst besiegt hat.
In Bezug auf das weibliche Geschlecht Nankings kann sich die glücklichste Phantasie des Dichters keine himmlischeren Wesen schaffen, als sie von den genannten Franzosen als wirkliche Wesen geschildert werden. Es ist ziemlich im ganzen Reiche Sitte, daß Eltern ihre Töchter, die durch Schönheit und Talent zu besondern Hoffnungen berechtigen, nach Nanking bringen. Hier fließt ihnen Geld, Bildung, Cultur, Poesie und galanteste Aufmerksamkeit zu. Ihre Schönheit tritt immer im Bunde mit Poesie, Gesang, Musik und Allem, was die Cultur Reizendes bietet, auf und läßt da keine Rohheit aufkommen, wo nach unsern Begriffen verschiedene Tugenden vermißt werden würden. Sie dichten, componiren und singen ihre Dichtungen in der Regel aus dem Stegreife. Welch einen Grad von geistiger Gewandtheit setzt dies voraus. So grob die Gesichter der Chinesen oft sind, die der Chinesinnen sind so fein und durchsichtig wie ihr bestes Porzellan. Ihre Kleidung grenzt an das Bloomer-Costüm, ist aber geschmackvoller, und mit ihrem reichen schwarzen Haar wissen sie diese Gesichterchen mit dem kleinen Munde und den feingeschnittenen lachenden Augen so zu heben, daß diese Kunst der Haartoilette allein eine Revolution unter dem weiblichen Geschlechte Europa’s hervorrufen wird. Gestalt, Wuchs, Hände, Arme und Füße sind durchweg zierlich, klein und von der feinsten Gliederung. Die Japanesinnen sollen noch schöner sein. Da nun die amerikanische Expedition dieses England Asiens, dieses Japan, jedenfalls öffnen wird, welche Aussichten erschließen sich nun dem Weltverkehre, dem Romane und den Heiraths-Candidaten! Damit aber unsere schönen Leserinnen nicht ungetröstet diesen Artikel verlassen, versichern wir sie, daß es nicht nur schöne Chinesen und noch schönere Japanesen giebt, sondern noch viel schönere Damen, Frauen und Jungfrauen, als die himmlischen Dichterinnen Nankings, das sind sie selbst, die deutschen Mädchen, die sich im Wesentlichen vor keiner Concurrenz der Welt zu fürchten brauchen.
Blätter und Blüthen.
Locomotiv-Dörfer in Amerika. Bekanntlich giebt es in Australien Städte von Leinwand bis zu 60–80,000 Einwohner, abgesehen von den Dörfern und Städten, welche Auswanderer aus England in Kisten und Kasten mitbrachten, bestehend aus Häusern, die je in 2–3 Kisten gepackt zugleich alles nöthige Mobiliar und Küchengeräth enthalten. In Amerika giebt es ganze fliegende Dörfer. Auf der Chicago-Missisippi-Eisenbahn stehen solche Dörfer auf Rädern und diese Räder auf Schienen, auf welchen sie je nach Bedarf wie ein Eisenbahnzug fortgezogen werden. In diesen Dörfern wohnen die Eisenbahnarbeiter mit vollständigen Wirthschaften, sogar Kühen und Schafen, die am Tage weiden. Sie gewähren den Vortheil, daß die Arbeiter überall ganz nahe bei ihrer Arbeit wohnen und zwar häuslich und bequem wohnen können, so daß die Demoralisation und Mortalität derselben vermieden wird.
Literarisches. Mit den langen Abenden und den kalten Herbstwinden kömmt nun auch die „Schöne Literatur“ wieder in Masse angezogen. Ist es doch, als könnte die Poesie so recht nur in Sturm und Kälte gedeihen. Selten bringt der Sommer etwas Neues. Für die Leihbibliotheken bietet der literarische Markt bereits große Auswahl. Außer den vielen Uebersetzungen englischer und französischer Novellen erschienen Originalromane von Franz Lewald[WS 2]: Wandlungen; von Belani ein dreibändiger historischer Roman: Hohe Liebe, aus dem Leben des Freiherrn von Trenk; von Norden eine dreibändige Erzählung: das Abenteuer im Riesengebirge; von A. Schoppe ein historischer Roman: der Prinz von Viana. Gutzkow, sagt man, arbeite ebenfalls wieder an einem größern Roman. Von Roquette, dem Verfasser des reizenden „Waldmeisters Brautfahrt“ erscheint nächstens ein dramatisches Gedicht in fünf Aufzügen: das Reich der Träume; von Carl Beck eine Erzählung: Mater dolorosa; von Alex. Jung ein erzählendes Gedicht: Don Alonso, und von Ludwig Storch endlich dessen längst erwarteten Gedichte, auf die wir im Voraus aufmerksam machen.
Die Schnellläuferin. In England, wo das „Wettgehen“ (pedestrianism) zu den verbreitetsten Volksbelustigungen gehört, hat sich auch eine Dame Lorbeeren auf diesem Felde erworben. Mrs. Dunn in Noohs Ark, Hartshill, hat ihre Wette, in 1000 Stunden 1000 (englische) Meilen zu gehen, glänzend gewonnen und einen Umsatz von mehreren Tausenden von Pfunden unter den Wettenden hervorgerufen.
Das Meer der Töne. Die menschliche Stimme ist blos neun vollkommener Töne (in verschiedenen Octaven natürlich) aber dabei 17,592,186,044,415 verschiedener Laute fähig, eine Anzahl, die man mathematisch-arithmetisch genau berechnet hat, von deren Vielheit sich aber die großartigste arithmetische Phantasie keine annähernde Vorstellung machen kann. Die vierzehn directen Muskeln, mit welchen Laute gebildet werden, können einzeln oder in Verbindung nur 16,383 Laute erzeugen, die 13 indirecten Muskeln einzeln oder in Verbindung 173,741,823 und die 27 Muskeln zusammen die obige ungeheure Summe, wobei natürlich die verschiedenen Grade von Stärke, deren jeder einzelne Laut fähig ist, nicht mit berechnet sind. Das Meer der Töne und Laute, durch welche der Mensch seine Seele strömen lässt, besteht aus mehr Wellen und Wogen, als alle Meere und Oceane zusammen.
Alte Schulzucht.. Der Freiherr Ludw. v. Wolzogen, dessen Memoiren Alfred v. Wolzogen herausgegeben hat, erlebte auf der Karlsschule in Stuttgart, wo er seit seinem achten Jahr unterrichtet wurde, unter andern zwei ergötzliche Vorfälle, die wir hier mittheilen. Der Herzog Karl erschien fast täglich in den Klassen und war bei den Prüfungen der Schüler, denen er oft selbst Fragen vorlegte, gegenwärtig. Bei einer solchen Gelegenheit nun hatte sich ein Schüler in der Mathematik so schwach bewiesen, daß der Herzog, darüber erzürnt, ihn anfuhr: er solle sich zum Teufel scheren und Wolzogen an die Tafel lassen. Dieser, nicht viel besser beschlagen als sein Vorgänger, und also gleiches Schicksal befürchtend, erinnerte sich zu seinem Glück, daß der Herzog von der Mathematik ebenfalls wenig verstand und durch Keckheit leicht zu täuschen sein werde. Er begann also drauf los zu demonstriren und gelangte zu einer Gleichung, bei welcher dem Lehrer und den Schülern die Haare zu Berge standen, der Herzog aber ihn der ganzen Klasse als Muster vorstellte. – Noch interessanter ist der zweite Fall. Vergehen der Schüler wurden auf Zetteln verzeichnet, welche sie eigenhändig dem Herzog überreichen mußten. Eines Tages kam dieser am Arm seiner Franziska von Hohenheim in die Klasse, wo ihm ein Schüler, Graf Nassau, der gewöhnlich reichlich mit dergleichen Zetteln versorgt war, auch diesmal ein ziemlich starkes Sündenregister überreichte. Das war ihm doch zu arg und er herrschte den Delinquenten zornig an: Aber Graf Nassau, wenn Er nun Herzog wäre und ich Graf Nassau, was würde Er dann mit mir anfangen? Ohne sich zu besinnen, ergriff der so Gefragte den Arm der liebenswürdigen Franziska, gab ihr einen derben Kuß und sprach: Euer Durchlaucht, das würde ich thun und sagen: Komm, Franzel, laß den dummen Jungen stehen. – Der Herzog, frappirt von solcher Geistesgegenwart und Unverschämtheit, hielt es fürs Gerathenste, die Sache als einen Scherz aufzunehmen und obendrein dem Schuldigen die wohlverdiente Strafe zu schenken.
Die Fortsetzung des in Nr. 39 begonnenen Artikels: Thüringer Gewerbeausstellung von Wieck konnte wegen Mangel an Raum in der heutigen Nummer nicht zum Abdruck kommen; sie folgt in Nr. 41.D. Red.
Anmerkungen (Wikisource)
- ↑ ein aus dem Kampferbaum gewonnenes Heilmittel
- ↑ eigentlich Fanny Lewald