Die Gartenlaube (1854)/Heft 38
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No. 38. | 1854. |
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„Was wollen Sie wissen?“
„Sie waren vorgestern Abend in diesem Hause?“ fragte Ernst leise.
„Ich leugne es nicht.“
„Dann bekennen Sie nur, daß Sie eine Zusammenkunft mit Klementine von Falk gehabt haben.“
„Nein, lieber Herr,“ antwortete Fritz treuherzig; „ich schwöre Ihnen, daß ich an jenem Abende die junge Dame nicht gesehen habe, und daß ich auch nicht erwartete, sie hier zu sehen. Jener Brief, den ich gelesen, weil er offen war, läßt allerdings zu meinem Bedauern vermuthen – –“
„Zu Ihrem Bedauern?“ rief Ernst. „Sie scheinen ein großes Interesse an der Dame zu finden.“
„Das ist wohl sehr natürlich – ich habe ihr in dem Seebade Dobberan das Leben gerettet – sie war dem Ertrinken nahe – und wenn ich eine Minute später gekommen wäre – Sie müssen wissen, daß ich ein guter Schwimmer bin.“
„Ganz recht, Klementine war vorigen Sommer im Bade, sie hat mir die Unglücksgeschichte erzählt. Also Sie sind ihr Retter?“
„Ja, mein Herr, und aus diesem Grunde brachte ich den Brief zurück, den ich sonst würde unbeachtet gelassen haben. Ich glaubte, der liebenswürdigen Klementine einen zweiten Dienst zu erweisen, indem ich verhinderte, daß der Brief in unrechte Hände kommt.“
„Jetzt ist er gut aufgehoben!“ rief Ernst mit schmerzlicher Bitterkeit, .und ich danke Ihnen für den Dienst. Die zukünftige Gattin meines Onkels darf nicht compromittirt werden.“
„Klementine verheirathet sich?“ fragte Fritz bestürzt.
„Begleiten Sie mich, mein Herr, wir wollen Herrn Julian aufsuchen, der hier wohnt, wie Sie sagen.“
Die Undankbare! dachte Fritz, davon hat sie mir kein Wort gesagt. Da sie doch einmal für mich verloren ist, will ich sehen, wie das Abenteuer abläuft. Dieser Mensch scheint einer ihrer Verwandten zu sein, der ihre Schritte bewacht. „Kommen Sie,“ rief er laut, „ich werde Sie führen!“
Beide stiegen in den zweiten Stock hinan. Dort zog Fritz an einer Schelle. Gleich darauf ließen sich klappende Tritte vernehmen und die Alte mit der großen Haube öffnete die Thür.
„Wer ist da?“ fragte sie, ihr Licht emporhaltend. „Ach, Sie, Herr Fritz! Es ist gut, daß Sie mir den Talmamantel zurückbringen, denn ich habe ihn auf morgen vermiethet.“
„Schweigen Sie!“ flüsterte der bestürzte Fritz, „es ist Jemand bei mir!“
Ernst, der diese Worte gehört, errieth leicht den Zusammenhang, und die geheimnißvollen Besuche des jungen Mannes, der offenbar ein armer Teufel war, waren nun erklärt. Ein Blick in sein hübsches, aber einfältiges Gesicht belehrte ihn, daß die Annahme eines Verhältnisses zwischen ihm und Klementine, dem geistreichen Mädchen, ein Unsinn sei. Wäre die Person Julian’s, an den der zärtliche Brief gerichtet war, nicht noch zu erforschen gewesen, er würde seine freudige Ueberraschung laut ausgedrückt haben. Trotzdem fühlte er sich um die Hälfte seiner Herzensbürde erleichtert.
Die Alte ließ die Gäste auf einen freundlichen Vorsaal treten. Hier blieb sie stehen, und fragte Ernst:
„Hat Ihnen Herr Fritz mein kleines Kleidermagazin empfohlen? O, geniren Sie sich nicht, lieber Herr,“ fuhr sie geschwätzig fort, „ich habe schon manchen anständigen Mann, dem es gerade gefehlt, zu einem Balle oder zu einem vornehmen Besuche ausgestattet. Erst gestern Abend haben meine drei besten Fracks getanzt, und kein Mensch hat ihnen angesehen, daß sie gemiethet waren. Was steht zu Diensten? Herr Fritz ist mir ein guter Bürge – –“
„Genug, liebe Frau,“ sagte Ernst. „Mein Besuch gilt nicht Ihnen, sondern Herrn Julian.“
„Herrn Julian?“ fragte die Alte, indem sie den Offizier mit den Blicken maß. „Was weiß ich von Herrn Julian.“
„Ich habe ihm einen Brief durch Frau Hammerschmidt zu übergeben.“
„Steht das auf der Adresse?“
„Hier lesen Sie!“
Ernst hielt den Brief hin. Die Alte kniff die Augen zusammen und las die Adresse. Dann wandte sie das Papier, um das Siegel zu besehen.
„Ganz recht,“ murmelte sie. „Der Brief ist gestern schon einmal abgegeben. Ich begreife nicht, wie Sie dazu kommen? Herr Julian scheint mir ein sehr vorsichtiger Mann zu sein.“
„Er wohnt also bei Ihnen. Kann ich ihn sprechen?“
„Nein, lieber Herr, denn er hat diesen Morgen seinen Koffer gepackt und ist abgereist. Wohin, kann ich Ihnen nicht sagen. Uebrigens bin ich froh, daß der sonderbare Mensch fort ist, obgleich er mich pünktlich und ehrlich bezahlt hat. Es gefiel mir nicht, daß er sich den ganzen Tag einschloß, und nur die Thür öffnete, wenn ein reizend schönes junges Mädchen erschien, das ihm regelmäßig jeden Abend in der Dämmerung einen Besuch abstattete. Kam sie, so flog sie ihm an den Hals, und ging sie, so riß sie sich weinend von ihm los. Wie ich hier mit dem Lichte [442] stehe, so habe ich fast jeden Abend seit vier Wochen den beiden zärtlichen Leuten beim Abschiede geleuchtet. Mir wurde mitunter ganz seltsam zu Muthe. Obgleich sie vierundzwanzig Stunden später wiederkam, so war der Abschied doch jedesmal so herzzerreißend, als ob er für die Ewigkeit gewesen wäre. Aber darüber mußte ich mich am Meisten wundern, daß das junge hübsche Ding, offenbar von sehr anständiger Herkunft, so leidenschaftlich an einem Manne hing, der viel älter war, als sie. Ich muß gestehen, Herr Julian war ein schöner, stattlicher Mann, er sah aus, wie ein ausgedienter Gardeoffizier, und seine großen Augen funkelten wie Kohlen – aber für das junge Mädchen paßte er nicht. Da kann man sehen, wie sich mitunter die Liebe verirrt.“
„Sie sagen,“ fragte Fritz, „der Mann hatte schwarzes, krauses Haar?“
„Schwarz wie Ebenholz und kraus wie Wolle.“
„Dann hat ein Anderer diesen Brief verloren. Jener Mann hatte einen kahlen Kopf und einige schneeweiße Haare. Er bezahlte zwar hundert Thaler auf die gekauften Möbel in unserm Magazine, aber er war eben nicht stattlich gekleidet.“
„Der Alte hat den Brief verloren?“ fragte Ernst hastig.
„Unbedingt; er muß seiner Brieftasche entfallen sein, als er das Geld hervorholte. Vor und nach ihm ist kein Anderer in unserm Magazine gewesen.“
„Und was kaufte er?“
„Sämmtliche alte Möbel des verstorbenen Barons von Below, die mein Prinzipal übernommen hat.“
Ernst glaubte seinen Ohren nicht trauen zu dürfen.
„Des Barons von Below?“
„Um jeden Preis, und dabei will der Narr, daß sie nicht einmal aufpolirt werden sollen.“
Der Offizier starrte den Tapezierer an. Ein Räthsel war kaum gelöst, und schon erschien die furchtbare Sphynx wieder, um ihm den Weg zu versperren. In welcher Beziehung steht der Mann, der den Brief verloren, zu Klementine? Warum will er den Nachlaß des Verstorbenen um jeden Preis kaufen?
„Wissen Sie weiter nichts über Herrn Julian?“ fragte er die Alte.
„Nein. Vor vier Wochen miethete er bei mir, weil ich einen Vermiethezettel an die Thür geklebt hatte, und heute reiste er wieder ab, nachdem ich ihm den Brief übergeben.“
„Mein Freund,“ wandte er sich an Fritz, „ich ersuche Sie, mich zu begleiten. Vielleicht gelingt es unsern vereinten Bemühungen, den Adressaten ausfindig zu machen. Gehen wir!“
„Halt!“ rief Frau Hammerschmidt. „Lassen Sie den Mantel zurück, Herr Fritz, und bezahlen Sie. Er soll morgen mit einem jungen Stutzer spazieren gehen.“
Der arme Fritz machte ein trauriges Gesicht.
„Was kostet der Mantel?“ fragte Ernst.
„Wollen Sie ihn kaufen, mein Herr?“
„Ja.“
„Fünfzehn Thaler – er ist – –“
„Gut – hier ist das Geld! Ich mache ihn meinem Freunde zum Geschenke.“
„Und Ihr Freund, mein Herr,“ rief der entzückte Fritz, „wird dankbar sein.“
Ein Fiacre brachte die beiden jungen Männer nach Ernst’s Wohnung. Als Fritz nach einem einstündigen Gespräche schied, hatte der Offizier die Ansicht gewonnen, daß es seine Pflicht sei, das geheimnißvolle Dunkel, das Klementine umgab, aufzuhellen. Seine Liebe ließ ihn kaum daran zweifeln, daß es ihm in allen Punkten gelingen würde, wie in dem ersten. Er bereute, sein Abschiedsgesuch eingesendet zu haben, weil es jedenfalls angenommen werden und Aufsehen erregen würde. Die Liebe ließ ihn selbst eine Zerstörung der Heirath des Junkers hoffen, und Klementine’s Verzeihung hielt er für gewiß, wenn er mit freiem Herzen um ihre Hand werben konnte. So philosophirte die Liebe, die ewig hoffende und entschuldigende. Aber auch die Eifersucht mit allen ihren Schrecken trat auf, sie erinnerte ihn an den schönen, stattlichen Mann mit den glühenden Augen, den Klementine weinend geküßt hatte.
„Giebt man sich einem heftigen Schmerze hin,“ fragte er sich, „wenn man scheidet, um sich am nächsten Tage wiederzusehen? Es ist leicht zu begreifen, daß Klementine jenen Julian, den sie nicht heirathen kann, liebt, und daß sie den Baron, den sie heirathen muß, nicht liebt. Aber wer ist Julian? Wer ist der alte Mann, der die Möbel des Verstorbenen kaufen will, und den zärtlichen Brief in dem Magazine verloren hat?“
Ernst erschöpfte sich in Muthmaßungen und Annahmen, ohne auch nur ein Resultat zu erhalten, das einige Wahrscheinlichkeit für sich hatte.
Wir verlassen den grübelnden Ernst, und betreten die Wohnung der alten Frau von Falk. Großmutter und Enkelin befinden sich in einem einfach, aber höchst geschmackvoll eingerichteten Zimmer. Eine fast peinliche Ordnung verräth das Streben, Eleganz und Wohlhabenheit zu entwickeln. Man sieht, daß eine aristokratische Hand einen blendenden Schleier über die Dürftigkeit des bürgerlichen Mittelstandes zu ziehen sucht. Die Form der alten, aber saubern Möbel deutet an, daß sie einst das Boudoir einer vornehmen Dame schmückten, daß sie die Ueberreste einer zu ihrer Zeit modernen Ausstattung sind.
Die Großmutter, in einen alten, viel gebrauchten Sammetpelz gehüllt, sitzt in dem Sopha. Sie liest in einem Buche, sieht aber von Zeit zu Zeit über ihre große silberne Brille nach Klementine hinüber, die bei einem tief herabgebrannten Lichte an dem Secretair sitzt und schreibt. Mit einem tiefen Seufzer legt sie die Feder aus der Hand.
„Bist Du fertig, mein Kind?“ fragte die alte Dame.
Klementine zog ein Tuch aus der Tasche ihres einfachen Kattunoberrocks und verhüllte das Gesicht.
„Was ist das?“ rief entrüstet die Alte. „Du weinst?“
„Großmutter,“ flüsterte das junge Mädchen unter Thränen, „verzeihen Sie mir, daß ich Ihnen in diesem Punkte nicht mit der gewohnten Bereitwilligkeit gehorsam sein kann. Sie fordern zu viel, zu viel! Ich kann meine Pflicht nur mit gebrochenem Herzen erfüllen.“
Frau von Falk, eine große, wohlbeleibte Dame mit einem fast männlichen Gesichte, legte das Buch auf den Tisch, und die Brille auf das Buch.
„Es ist recht traurig,“ sagte sie nach einer Pause, „daß Dein Verstand nicht die Herrschaft über das Herz gewinnen kann. Ist mir auch Deine Sentimentalität, eine Folge unserer gedrückten Verhältnisse, erklärlich, so muß ich sie dennoch als unverträglich mit dem Charakter einer Dame vom Stande verdammen. Du machst mir den Vorwurf, ich fordere zu viel – hierauf kann ich Dir nur antworten, daß ich den Stand der Dinge besser begreife, als Du, denn ich habe die Erfahrung für mich. Ich war einmal so schwach, das Glück meines einzigen Sohnes, Deines Vaters, durch mütterliche Nachgiebigkeit zu verscherzen – ein zweites Mal werde ich dieser Schwäche nicht erliegen, denn es ist mir Pflicht, die verarmte Familie der Falk’s wieder emporzubringen. Ein armer Edelmann gilt heut zu Tage nicht so viel, als ein reicher Bürger. Was ist eine Ehe ohne Vermögen? Ein jammervoll elendes Verhältniß, das stets mit dem Untergange endet. Dies hat selbst der Staat eingesehen, und darum den Offizieren der Armee, die sich verheirathen wollen, den Ausweis eines gewissen Vermögens vorgeschrieben. Ich duldete die Annäherung Ernst’s von Below, so lange ich sie Deinem Glücke für ersprießlich achtete – seit ich das Gegentheil kenne, habe ich sie mir verbeten. Du hast ihm kein Versprechen gegeben, folglich hat Ernst keine Forderungen an uns. Der Junker ist reich, er liebt Dich und will sein großes Vermögen mit Dir theilen. Weisen wir den ehrenvollen Antrag zurück, so müssen wir im Frühjahr Berlin verlassen, um das elende Leben meiner armen Schwester in Dobberan zu theilen. Meine bescheidene Pension reicht wohl für das Dorf aus, aber nicht für die Residenz.“
„Mein Gott! Mein Gott!“ schluchzte Klementine, indem sie die Feder wieder ergriff.
„Was soll aus Dir werden?“ fuhr Frau von Falk aufgeregt fort. „Ohne Vermögen ist an eine Heirath mit Ernst nicht zu denken. Von der Liebe allein kann man eben so wenig leben, als von der Gage eines Secondelieutenants. Klementine, muß ich Dich an das Schicksal Deines Vaters erinnern?“ rief sie zornig, als sie das laute Schluchzen des jungen Mädchens hörte. „O, Du kennst nicht alle Phasen seines Lebens, Du weißt nicht, wie furchtbar er untergegangen ist! Wohlan, mein Kind,“ [443] fügte sie bitter hinzu, indem sie sich über den seufzenden Tisch lehnte, „so vernimm ein Geheimniß, das Du eigentlich nie hättest erfahren sollen – höre mich an, und Du wirst meinen festen Willen gerechtfertigt, wirst ihn nicht mehr grausam finden. Dein Vater, der schönste Offizier seines Regiments, liebte in seinem dreiundzwanzigsten Jahre ein zwar schönes und sittsames junges Mädchen, aber es war arm und von zweifelhafter Herkunft. Man nannte Julie ein Fräulein von Selmar, ihr Vater, hieß es, sei in einem Duelle mit einem Polen gefallen, und deshalb lebe sie bei ihrem Vormunde, einem alten Militär, der aus Holland eine kleine Pension bezog. Victor, Dein Vater, hielt um das Mädchen an, der Vormund willigte ein, und mich zwang man durch List und Ueberredung, diese Ehe zu segnen. Mein Verstand rieth mir davon ab, aber mein mütterliches Herz gab dem ungestümen Drängen nach. Die jungen Leute hatten sich heimlich in Altona trauen lassen, und mir blieb nichts, als gute Miene zum bösen Spiele zu machen. O, noch sehe ich das schöne Paar vor mir, und ich muß bekennen, daß es mein Mutterherz mit einem geheimen Entzücken erfüllte. Man hatte den noch jungen Lieutenant für reich gehalten, und Victor war schwach genug, die Welt in dieser Meinung zu bestärken. Seine junge Frau, die er anbetete, umgab er mit Glanz und Luxus, und jemehr man ihn um ihren Besitz beneidete, je verschwenderischer ward seine Liebe, so daß nach zwei Jahren von dem kleinen väterlichen Erbtheile nichts mehr übrig war. Da wurdest Du geboren, Klementine, aber der leichtsinnige, verblendete Victor konnte des Vaterglücks nicht froh werden, da sich der Mangel einzustellen begann. Um der jungen Mutter die wahre Lage zu verbergen, nahm er zum Spiele seine Zuflucht. Anfangs begünstigte ihn das Glück und machte ihn kühn; aber bald wandte ihm Fortuna den Rücken, und Victor, der sonst so brave junge Mann, war nicht allein mit Schulden belastet, er ward auch, um die Entbehrung von seiner Gattin abzuwenden, ein falscher Spieler.“
Klementine schauderte zusammen. Erbleichend starrte sie die aufgeregte Erzählerin an.
„Begreifst Du auch,“ fuhr Frau von Falk fort, „begreifst Du auch ganz, wie tief Dein Vater gesunken war? Und zu diesem Falle hatte ihn sein sentimentales, romantisches Gemüth gebracht. Er war ein zärtlicher Ehemann, aber ein schlechter Offizier, den seine Kameraden verachteten und mieden. Der erste Fehltritt zog bald den zweiten nach sich – Victor, der junge, unerfahrene Mann von fünfundzwanzig Jahren ließ sich durch die Noth verleiten – seine Frau lag auf dem Krankenbette – einen falschen Wechsel auszustellen. Nun war Alles geschehen, was ihn brandmarken konnte, das Offiziercorps trat zusammen, bezahlte den Wechsel, und gab, aus besonderer Rücksicht auf die obwaltenden Umstände, meinem Sohne den Rath, sofort seine Entlassung zu nehmen, ehe sie von dem General-Commando dekretirt werden würde. Ihm blieb nichts, als diesen Rath zu befolgen. Da stand nun der arme, verachtete Mann an dem Krankenbette seiner Gattin, an der Wiege seines lieblichen, unschuldigen Kindes, dessen Zukunft der Vater abgeschnitten hatte. Und fragen wir nun nach der Ursache dieser gräßlichen Zustände? Victor liebte, ohne den Verstand zu fragen; Victor war seiner Neigung gefolgt, ohne die Rathschläge vernünftiger, ruhig denkender Personen zu hören; er hatte über der Romantik die Wirklichkeit vergessen, die mit unerbittlicher Strenge ihre Forderungen geltend macht. Und dabei war er ein guter, rechtlicher Mann. Der Grundsatz: „Ein Herz und eine Hütte, Dich oder Keine,“ kann jetzt nicht mehr in Anwendung gebracht werden, und vorzüglich bei Leuten, denen Rang und Stand, sowie Gewohnheiten des Lebens, die Beobachtung von Aeußerlichkeiten gebieten. Als ich, von der Reise zurückgekehrt, das Unglück meines Sohnes erfuhr, war an eine Abhülfe nicht mehr zu denken, auch wenn ich sie meinerseits hätte ermöglichen können. Jeder sah mitleidig und verächtlich auf meinen Sohn herab, obgleich man allgemein die Motive seiner Handlungen kannte. Nun begrub er sich mit seiner Frau und seinem Kinde in ein einsames Dorf, wo er von dem lebte, was ich ihm sandte. Aber lange ertrug sein Stolz die Annahme von Almosen nicht; er empfahl mir Weib und Kind, und nahm Dienste in dem holländischen Heere, das damals gegen Belgien und Frankreich im Felde stand. Jetzt konnte und mußte er sich von der trennen, ohne die er früher nicht leben zu können geglaubt. Ja, mein Kind, jetzt ließ er seine angebetete[WS 1] Julia, um dem Tode entgegen zu gehen. Was der Liebe unmöglich war, vollbrachte die Noth und der Stolz. Wo blieb die Romantik, die Sentimentalität? Hätte er zwei Jahre früher die Kraft besessen, die ersten heftigen Regungen seines Herzens durch den Verstand zu beherrschen, er würde mir den Kummer und sich die Last eines erbärmlichen Lebens erspart haben, die er außerdem noch zwei unschuldigen Geschöpfen aufbürdete. Ich sorgte mütterlich für meine unglückliche Schwiegertochter und für meine Enkelin, denn Beide waren unschuldig an dem harten Schicksale. Den ersten und letzten Brief schrieb Victor von Antwerpen aus, wo er als Freiwilger unter dem General Chassé diente und die Citadelle besetzt hielt. Wie erschütternd war dieser Brief! Mein Sohn schrieb mir, er wolle durch Muth und Tapferkeit sich eine ehrenvolle Stellung verschaffen, die ihm erlaubte, für seine Familie zu sorgen, oder untergehen. Das war Verzweiflung, mein Kind! Und wer hatte ihn dazu getrieben? Blinde Liebe! Du siehst, der verheirathete Mann dachte schon ganz anders, als der glühende Liebhaber. Ernst von Below steht in demselben Alter, in dem Dein Vater damals stand, und seine Verhältnisse sind genau dieselben. Unterbrich mich nicht, Klementine, ich bin noch nicht zu Ende, und Du sollst Alles wissen.
„Es verflossen sieben Jahre, in denen ich von meinem Sohne keine Nachricht erhielt. Ich wähnte ihn gefallen in dem Kampfe um die Citadelle von Antwerpen, den die Zeitungsberichte als einen der blutigsten in der Geschichte schilderten. Während Du fröhlich emporblühetest, ward Deine arme Mutter von Gram und Kummer verzehrt, denn sie klagte sich an, den Grund zu Victor’s Unglück gelegt zu haben. Ihre zarte Körperkonstitution vermochte den nagenden Seelenschmerz nicht lange zu tragen – sie welkte langsam dahin, bis sie auf das Krankenlager sank. Eines stürmischen Novemberabends saß ich an ihrem Bette, die Vergangenheit zog meinem betrübten Geiste vorüber, und schaudernd gedachte ich der schrecklichen Folgen jener leichtsinnig geschlossenen Ehe. Da klopfte es an die Thür des kleinen Hauses, das ich damals auf dem Lande auch im Winter bewohnte, weil mein geringes Einkommen mir das Leben in der Stadt nicht erlaubte. Ich selbst öffnete die Thür. Ein Mann, gehüllt in einen alten Militärmantel, trat ein. Es war mein Sohn, der vom Schicksale zurückgeführt ward, um noch einmal seine Gattin zu sehen, die in derselben Nacht starb. Da stand nun der arme Mann an der geliebten Leiche – seine starren, trockenen Blicke verriethen deutlich die Verzweiflung, die sein Herz zermalmte. Mutter, rief er aus, ich habe ein schweres Vergehen zu büßen, denn ich habe diese hier gemordet! Wäre ich ihr mit wahrhafter, ruhiger Liebe zugethan gewesen, ich hätte sie nie an mein ungewisses Schicksal fesseln müssen! Dann stürzte er an das Bett seiner siebenjährigen Tochter, an Dein Bett, Klementine, und sank weinend auf die Knie nieder. Der Anblick des ruhig schlummernden Kindes mit dem rosigen Gesichte hatte die Erstarrung des Herzens gelöst, dem armen Vater rannen heiße Thränen über die abgehärmten Wangen. Nun verbrachte er drei schmerzliche Tage in meinem Hause. Du erinnerst Dich jener Zeit wohl noch, und da wir öfter schon davon gesprochen, übergehe ich sie; aber eine Scene theile ich Dir mit, die Du nicht kennst, und die Dir beweisen soll, daß ich selbst die Verpflichtung habe, über die Neigungen Deines Herzens zu wachen und Dich von gefährlichen Schritten abzuhalten.
„Am Abend des Begräbnißtages Deiner unglücklichen Mutter trat Victor, Dein Vater und mein Sohn, zu mir in das Zimmer. Mutter, sagte er im Tone kalter Entschlossenheit, klagen Sie mich nicht der Muthlosigkeit an, wenn ich an meiner Zukunft verzweifele, denn ein hartes Geschick hat mir eine Stellung in der Welt angewiesen, der mich zu entreißen meine gebrochene Kraft zu gering ist. Diese Ansicht hat die Erfahrung bestätigt, und sie ist in mir zur Ueberzeugung geworden. Das Alter der Illusionen ist vorbei, und der ruhige Verstand sieht das Leben, wie es ist. Ich habe eine Tochter, an der mein ganzes Herz hängt, aber ich kann ihr Glück nicht begründen. Nehmen Sie sich des verwaisten Mädchens an, und erziehen Sie es in Ihren Grundsätzen. Von der richtig geleiteten Bildung des Herzens hängt das Leben ab – Mutter, gründen Sie das Glück Klementine’s, und bewahren Sie sie vor der gefährlichen Klippe, an der mein Lebensschiff scheiterte. Das schwöre ich Dir! rief ich aus, und reichte ihm die Hand. Ich überwache als Mutter Dein Kind, und ist es mir noch vergönnt, sie einem Lebensgefährten zuzuführen, so wird es nur einem solchen sein, der sie vollkommen glücklich zu machen befähigt ist. – Nun scheide ich [444] mit erleichtertem Herzen, rief Victor, nehmen Sie meine Tochter! Ich räume Ihnen alle meine Vaterrechte ein, und schwöre feierlich, daß ich alle Ihre Verfügungen billigen werde. – Mein Sohn, antwortete ich, ich werde auch keine Widersprüche dulden, und nur unter dieser Bedingung übernehme ich die Erziehung Klementine’s.“
Klementine sprang auf, und warf sich der Großmutter zu Füßen.
„Und Sie haben so redlich Wort gehalten,“ rief sie aus, „daß ich Ihnen jetzt als eine Undankbare erscheinen muß!“
„Mein Kind, vollende den Brief an den Baron, sprich ihm darin Deine Hochachtung und Zuneigung aus, und Du hilfst mir den Schwur erfüllen, den ich Deinem Vater geleistet habe. Bedenke, daß ich alt bin, daß meine Lebenstage gemessen sind – mein letzten Stündlein würde ein trauriges sein, wenn ich Dich schutzlos in dieser Welt zurücklassen müßte. Eine zweite Gelegenheit, Deine Zukunft zu sichern, bietet sich uns sicher nicht wieder dar. Frage nicht das Herz, frage den Verstand, und er wird Dir sagen, daß ich Recht habe.“
„Ach Gott, daß wir so arm sind!“ seufzte Klementine.
„O, wären wir reich!“ rief Frau von Falk mit blitzenden Augen. „Es wäre heute Alles anders. Der Reichthum hat schöne Vorrechte, denn er erlaubt uns, der Stimme des Herzens Gehör zu geben. Aber wir sind arm,“ fügte sie mit Bitterkeit hinzu, „und dabei müssen wir unter Entbehrungen die Leute vom Stande spielen. Es soll kein Vorwurf für Dich sein, mein liebes Kind – aber im nächsten Monate schon werden wir fühlen, daß wir gestern auf einem Balle gewesen sind. Ich würde Deine Toilette thörichte Verschwendung nennen, wenn sie nicht einen klugen Zweck hätte. Und deshalb trieb ich Dich, den Haarschmuck zu kaufen, obgleich der Preis desselben eine Deiner wochenlangen Arbeiten verschlungen hat.“
„Großmutter,“ fragte Klementine mit gepreßter Stimme, „Sie unterbrachen Ihre Erzählung – wohin ging mein armer Vater, als er sich von Ihnen trennte?“
„Frage mich nicht,“ antwortete die alte Dame, indem sie umsonst eine Aufwallung zu verbergen suchte. „Dein Vater ging, um sich für immer einem Kreise zu entziehen, dem er nicht angehören durfte. Seit der Zeit seines Vergehens sind zwanzig Jahre verflossen, die Welt glaubt, er sei bei der Belagerung von Antwerpen gefallen, und dieser Glaube darf nicht zerstört werden, weil Dein Glück mit ihm zusammenhängt. Glaube mir, Klementine, Dein Vater muß todt für Dich sein, auch wenn er noch lebte.“
„Und wissen Sie nichts von ihm?“
„Nein, nein! Ich will auch nichts von ihm wissen!“
Frau von Falk erhob sich, und ging einige Minuten in großer Aufregung durch das Zimmer. Klementine, die sie ängstlich beobachtete, sah Thränen in ihren großen Augen erscheinen. Plötzlich blieb die alte Dame stehen, und sah auf das neben dem Sopha knieende Mädchen herab.
„Klementine,“ sagte sie mit bewegter Stimme, „mag Dein Vater leben oder im Grabe ruhen – willst Du seine Ehre retten, so vollende den Brief an den Baron!“
Zitternd erhob sich Klementine und ging schwankend dem Schreibtische näher. Dieser Anblick durchschnitt der alten Frau die Seele.
„O diese unglückliche Verirrung!“ rief sie erschüttert. „Sie übt ihre traurige Wirkung auch noch auf die Kinder aus!“
Klementine sank auf dem Stuhle nieder, ergriff die Feder, sandte einen flehenden Blick zum Himmel empor und begann zu schreiben.
„Es muß sein!“ flüsterte die alte Dame, indem sie ihren Gang durch das Zimmer wieder antrat.
Der Brief war nach einiger Zeit vollendet, und die Schreiberin überreichte ihn der alten Dame. Diese las ihn.
„Du hast nicht allein Dein Glück begründet, Du hast auch ein gutes Werk gestiftet!“ sagte sie. „Jetzt gehe zu Bett, mein Kind!“
Die Enkelin küßte der Großmutter die Hand.
„Gute Nacht!“ flüsterte sie, und entfernte sich.
Frau von Falk schrieb noch einige Zeilen, schloß sie mit dem Briefe ihrer Enkelin in ein Couvert, siegelte und schrieb die Adresse. Sie legte sich mit der Ueberzeugung zur Ruhe, daß sie ihre Pflicht gethan habe.
Klementine saß noch in ihrem Stübchen; sie arbeitete an einer großen, prachtvollen Stickerei. Es schlug drei Uhr, als sie die Arbeit in einem Schranke verschloß. Obgleich sie den größten Theil der Nacht gewacht hatte, so fand sie die Morgendämmerung dennoch schon beschäftigt. Die Großmutter schlief wie gewöhnlich sehr lange. Klementine schickte die Magd aus, um kleine Einkäufe zu machen. Um acht Uhr ward die Klingel an der Saalthür gezogen. Klementine öffnete, und Doris, das Bäschen des Tapezierers Thaddäus, trat ein.
„Komme ich recht?“ flüsterte das freundliche Mädchen.
Klementine nickte mit dem Kopfe und führte den Besuch leise in ihr Zimmer. Hier übergab sie Doris die in der Nacht vollendete Arbeit. Die Dame des Magazins betrachtete staunend den prachtvollen Teppich.
„Vetter Thaddäus wird froh sein, daß er fertig ist,“ sagte sie. „Er hat Auftrag erhalten, das Boudoir einer Braut so rasch als möglich auszustatten, und dieser Teppich ist dazu bestimmt.“
„Einer Braut?“ fragte Klementine mit einem schmerzlichen Lächeln.
„Eines reichen und sehr schönen Mädchens.“
„Wer ist sie?“
„Ich weiß es nicht; mein Vetter geht sehr geheimnißvoll zu Werke, ich werde es aber dennoch in einigen Tagen erfahren. Ach, Fräulein, Sie sollten jetzt den Ofenschirm sehen, zu dem Sie die reizende Stickerei geliefert haben – er ist jetzt vollendet und wird ebenfalls in das Brautzimmer wandern. Es ist ein Möbel, mit dem Vetter Thaddäus große Ehre einlegt. Hier sendet er Ihnen das Geld dafür.“
Doris legte sieben Thaler auf den Tisch.
„Und nun einen neuen Auftrag!“ fügte sie rasch hinzu. „Können Sie in vierzehn Tagen die Stickerei zu einem Wandkorbe liefern?“
„Ich verspreche es.“
„Gut, hier sind die Stoffe dazu und die Zeichnung, die Fritz, mein Bräutigam, entworfen hat. In vierzehn Tagen also werde ich die Arbeit abholen. Das Geld für den Teppich werde ich Ihnen morgen oder übermorgen zustellen, verlassen Sie sich darauf.“
„Mamsell Doris,“ fragte Klementine, „es weiß doch Niemand darum, daß ich für Ihr Magazin arbeite?“
„Nein, nein; ich habe Ihnen mein Ehrenwort gegeben, und das halte ich. Es wird mir freilich mitunter schwer, den Fragen nach der geschickten und saubern Stickerin auszuweichen; aber selbst mein Bräutigam erfährt keine Sylbe. Nur unter der Bedingung, gab ich zur Antwort, daß die Stickerin unbekannt bleibt, nimmt sie Aufträge an; wollen Sie also ferner Arbeit erhalten, so fragen Sie nicht mehr. Und damit ist die Sache abgemacht.“
Doris versprach noch einmal Verschwiegenheit, dann entfernte sie sich.
„Für ihn!“ flüsterte Klementine unter Thränen, als sie das Geld verschloß. Ich bringe große Opfer – gebe der gütige Himmel, daß sie nicht vergebens sind!“
Vierzehn Tage sind verflossen. In diesem Zeitraume ist viel geschehen. Ernst von Below hat seine Entlassung erhalten, er ist ein junger Mann ohne Gehalt und ohne Vermögen. Hatte er auch die Hoffnung auf eine Verbindung mit Klementine aufgegeben, so hatte er dennoch die Forschung nach ihren heimlichen Gängen fortgesetzt, denn er wollte sich eine reine, unbefleckte Erinnerung an das Mädchen seiner ersten und einzigen Liebe bewahren. Aber alle Bemühungen waren erfolglos gewesen, und selbst von dem Fremden, der den Brief Klementine’s in dem Magazine verloren, hatte weder er noch Fritz eine Spur entdeckt. Die Möbel aus dem Zimmer des verstorbenen Barons hatte er bezahlt und auf einem Wagen fortfahren lassen, während der junge Tapezierer einen Auftrag seines Herrn in einem entfernten Stadttheile vollzogen.
Um diese Zeit war es, als der Junker eines Morgens zu seinem Neffen in das Zimmer trat.
„Du hast Deine Entlassung genommen, Vetter?“ fragte er gleichgültig.
„Ja!“
„Und was gedenkst Du nun zu thun?“
„Man sucht in der türkischen Armee Instructions-Offiziere [445] – ich glaube, daß dort mein Wunsch nach einem raschen Avancement erfüllt wird.“
„Vetter, der Einfall ist gut!“ rief der Junker. „Ein junger tüchtiger Mann findet überall eine gute Aufnahme. Zähle auf mich bei der Ausrüstung zur Reise. Wann gedenkst Du sie anzutreten?“
„Vielleicht in acht Tagen.“
„Dann, Vetter, kannst Du noch ein Gast bei meinem Verlobungsfeste sein, das in fünf Tagen mit großem Pompe gefeiert werden soll. Außer Dir weiß Niemand um meine Absicht – nun denke Dir die Ueberraschung, wenn ich derselben großen und glänzenden Gesellschaft, die Du bei dem Kommerzienrathe gesehen, meine junge, reizende Braut vorführe! Heute schon fliegen die Einladungen durch die Stadt. Also den zwanzigsten, Vetter, ist unwiederruflich meine Verlobung.“
Der Neffe trat dem Onkel, der in froher Aufregung das Zimmer durchschritt, ernst entgegen.
„Haben Sie auch reiflich überlegt, Onkel?“ fragte er mit bewegter Stimme. „Sie beabsichtigen einen bedeutungsschweren Schritt zu thun, einen Schritt, der verhängnißvoll für das ganze Leben werden kann.“
„Wie meinst Du das?“ fragte erstaunt der lange Junker.
„Ich habe Grund, offen mit Ihnen zu reden, auch wenn ich nicht Ihr Verwandter wäre. Klementine von Falk ist ein junges Mädchen von zwanzig Jahren, sie hat noch die ganze Zukunft ihres Lebens vor sich – glauben Sie, daß bei dem Abstande der Jahre zwischen Ihnen und ihr sich eine glückliche Ehe gestalten könne?“
Der Junker, der beiläufig gesagt, ein eben nicht scharfes Fassungsvermögen besaß, deutete Ernst’s Worte als eine Besorgniß um seine Person.
„Vetter,“ rief er mit einem trinmphirenden Lächeln, „so rasch sich mein Entschluß auch gestaltet hat, so reiflich ist er überlegt. Deine Besorgniß um meine Zukunft freut mich, und ich danke Dir dafür. Du bist der Ansicht – und diese Ansicht werden vielleicht noch viele theilen – daß Klementine, die allerdings etwas jünger ist, als ich, auf die vorgeschlagene Heirath nicht aus Neigung eingeht, sondern deshalb, um die Frau eines reichen Mannes zu werden, der für sie sorgt und sie später zu seiner Erbin einsetzt –?“
„Ja, Onkel, diese Ansicht ist selbst Ueberzeugung bei mir!“
„Dann kennst Du meine Braut nicht, die ein gutes, feinfühlendes und argloses Geschöpf ist! Sie besitzt alle Eigenschaften, die in ihrem Manne Hochachtung und Liebe erwecken müssen.“
„O gewiß, gewiß!“ rief Ernst, und der Ausdruck seiner Stimme verrieth deutlich, daß er seine innige Ueberzeugung aussprach. „Ich theile Ihre Meinung, und verhehle Ihnen die Verehrung nicht, die ich von Klementine hege; aber sie hängt von ihrer Großmutter ab, und jeder Wunsch dieser hochfahrenden Frau ist dem jungen Mädchen ein Befehl. Klementine ist fähig, sich aus kindlichem Gehorsam zu opfern!“ fügte er in einer schmerzlichen Aufregung hinzu.
Der Onkel sah den Neffen mit forschenden Blicken an.
„Opfern?“ fragte er. „Unsere Heirath, mein Freund, ist keine Conventionsheirath, sie gründet sich auf eine gegenseitige Zuneigung und Hochachtung. Klementine liebt mich, obgleich ich kein Jüngling mehr bin. Ueberzeuge Dich!“
Der Junker zog den Brief hervor, von dem wir wissen, daß ihn Klementine auf Veranlassung der Großmutter geschrieben hatte.
„Lies!“ sagte er. „Du wirst dann nicht mehr an meiner glücklichen Zukunft zweifeln.“
Ernst las: „Sie wenden sich an mein Herz, Herr Baron, und fordern die Antwort desselben auf Ihren Antrag um meine Hand – ich nehme keinen Anstand, Ihnen zu bekennen, daß ich seit unserm ersten Begegnen eine aufrichtige Hochachtung vor Ihnen empfinde. Hochachtung ist die Basis der Liebe, und erblicken Sie, wie ich, in dieser Ansicht eine Bürgschaft für unser gegenseitiges Glück, so werden Sie in mir die Gattin finden, die Sie erwarten.“
Der junge Mann gab erschüttert den Brief zurück, er hatte genug gelesen, um die nun folgenden Höflichkeitsphrasen übergehen zu können. Der Junker, der keine Ahnung von Ernst’s Gemüthszustande hatte, entfernte sich, um die Arbeiten in seinem Hause zu besichtigen. Daß die alte Frau von Falk ihm Klementine’s Neigung verschwiegen, bedarf wohl kaum einer Erwähnung. Ernst, im tiefsten Herzen verletzt, gab Klementine auf, er beschloß, am Tage ihrer Verlobung abzureisen, und in dem Strudel des Lebens die verlorene Ruhe wieder zu gewinnen. Während der Onkel die Vorbereitungen zu dem Feste traf, beschäftigte sich der Neffe mit den Ausrüstungen zu der Reise, bei denen Fritz, der den geschenkten Mantel nicht vergessen konnte, sich sehr eifrig zeigte.
So kam der verhängnißvolle Tag heran. Alle Räume des großen Hauses waren prachtvoll decorirt, Herr Thaddäus hatte ein wahres Meisterstück geliefert. Nur das kleine Zimmer des verabschiedeten Offiziers hatte die Hand des Künstlers verschont, es war das alte geblieben, und befand sich in völliger Unordnung. Ein großer Reisekoffer stand in der Mitte desselben, und wartete auf die Träger, die ihn heimlich und still zur Eisenbahn schaffen sollten. Gegen zehn Uhr hatte Fritz den Fiacre zur Fahrt nach dem Bahnhof bestellt. Als Ernst in der Dämmerung von einem Freunde zurückkam, dem er Lebewohl gesagt, fuhren bereits die Equipagen mit den schön geschmückten Gästen vor. Eine Schaar von Livreebedienten empfing sie auf der Hausflur, an der Schwelle des Saales stand der vor Wonne glühende Junker. Ernst und Fritz saßen in dem dunkeln Zimmer, den Fiacre erwartend. Da ward plötzlich leise an die Thüre geklopft. Ernst bebte zusammen, mit schwankender Stimme forderte er zum Eintreten auf. Die Thür ward geöffnet und die Gestalt eines Mädchens erschien.
„Herr Ernst von Below?“ fragte eine zitternde Stimme.
„Doris!“ rief Fritz, indem er von dem Koffer aufsprang, den er sich zum Sitze gewählt hatte. „Was wollen Sie hier?“
Aber Doris beantwortete diese Frage nicht, sie trat rasch zu dem Sopha, wo sie Ernst erblickte.
„Ach, gnädiger Herr, dem Himmel sei Dank, daß Sie noch nicht abgereist sind!“ rief sie.
„Warum, mein Kind?“ fragte Ernst bestürzt.
„Ich hätte sonst diesen Brief nicht mehr abgeben können.“
„Von wem kommt er?“
„Ach, lesen Sie, lesen Sie, dann geben Sie mir Antwort!“
Fritz hatte schnell eine Kerze angezündet. Ernst, zitternd am ganzen Körper, riß das Billet auf, und als er die Schriftzüge Klementine’s erblickte, traten ihm die Thränen in die Augen. Durch den Schleier derselben las er folgende Zeilen: „Ernst! Wenn Ihnen mein Glück am Herzen liegt, wenn Ihre Liebe zu mir noch dieselbe ist, so reisen Sie nicht, seien Sie vielmehr ein Gast bei dem Feste, das man zu meinem Verderben veranstaltet hat. Es bereiten sich wichtige Dinge vor. Erblicke ich Sie nicht in dem Saale, so falle ich als ein Opfer der Vorurtheile. Sehe ich Sie, so ist noch Rettung möglich. Weitere Erklärungen werde ich mündlich geben. Bei unserer Liebe, verlassen Sie Ihre Klementine nicht!“
Der Zustand des jungen Mannes läßt sich nicht beschreiben. Aus dem Abgrunde völliger Muthlosigkeit war er plötzlich auf den Gipfel des höchsten Glücks gehoben. Die Gewißheit, daß Klementine ihn liebte, erfüllte ihn mit einer Seligkeit, die ihn Alles vergessen ließ. „Und von mir, von mir erwartet sie Rettung?“ fragte er sich. „Wer gab Ihnen den Brief, mein Kind?“
„Fräulein von Falk!“
„Klementine von Falk?“ fragte Fritz erstaunt. „Doris, wie kommen Sie zu ihr?“
„Das Fräulein ist meine Freundin! Ich war ihr bei der Balltoilette behülflich. Sie haben die Säle decorirt, ich habe die schönste Dame Berlins geschmückt, mein lieber Herr Fritz. Ja, man hat auch seine Bekanntschaften!“ fügte sie mit einer lieblichen Impertinenz hinzu. „Ach, wenn das arme Fräulein nur nicht so viel geweint hätte! Ihre Augen sind trübe, und ihr schönes Gesicht ist blaß wie eine Lilie. Und dabei wird sie von einer fürchterlichen Angst gefoltert, so daß man glauben möchte, sie ginge zum Richtplatze, anstatt auf einen Ball. Nun, es wird sie ein wenig beruhigen, daß der gnädige Herr noch nicht abgereist ist. Was soll ich dem Fräulein sagen?“
„Daß ich auf dem Balle sein und morgen erst reisen würde!“
Doris verneigte sich und entschlüpfte durch die Thür.
Geschäftig holte Fritz nun die Kleider aus dem Koffer und breitete sie auf den Möbeln aus. Es schlug zehn Uhr, als Ernst in einem einfachen schwarzen Anzuge dastand.
„Wir scheiden noch nicht, mein lieber Freund!“ sagte er zu Fritz. „Morgen sehen wir uns noch einmal wieder.“
[446] „Den Koffer kann ich wohl wieder in unser Magazin schaffen lassen?“ fragte der junge Tapezierer mit lächelndem Gesichte.
„Warum?“
„Weil ich glaube, Sie werden ihn nicht brauchen.“
„Gott gebe es!“
Mit klopfendem Herzen stieg Ernst die Treppe zu dem ersten Stocke hinunter. Geschäftige Diener flogen über den Corridor, und eine rauschende Musik erklang in dem Saale. Es waren dieselben Weisen, die er auf dem Balle des Kommerzienraths gehört hatte; aber wie anders erklangen sie jetzt in dem hoffnungsvollen Herzen wieder! Er wußte ja, daß ihn Klementine liebte, und dieser einzige Gedanke verschönte die mangelhafte Welt zu einem Paradiese, dieselbe Welt, aus der er sich vor einer halben Stunde noch verstoßen wähnte. Ihm fehlte der Muth, sofort in den Saal zu treten. Mit der Oertlichkeit genau bekannt, öffnete er ein Zimmer, das zwar am äußersten Ende des Corridors lag, aber mit dem großen Gesellschaftssaale in Verbindung stand. Eine Alabasterampel hing von dem Plafond herab und beleuchtete elegante Möbel, chinesisches Porzellan auf den Gesimsen, große Kupferstiche in theuern Rahmen an den mit dunkelrothen Seidentapeten bekleideten Wänden, und seltene exotische Gewächse in zierlichen Broncekübeln. Ein halb geöffneter Vorhang gestattete einen Blick in den Alkoven – eine kostbare Lagerstatt von weißer Seide schimmerte in dem ungewissen Halbdunkel. Ein großer weicher Teppich bedeckte den Boden, und in der Nähe des zierlichen Ofens, in dem leise ein Feuer knisterte, stand ein großer, eleganter Schirm von wundervoller Stickerei. Ernst befand sich in dem Brautgemache, von dem ihm Fritz erzählt hatte, daß es ein Meisterstück des Herrn Thaddäus sei. Reichthum hatte sich hier mit Kunst und Geschmack vereinigt, um einen wahren Feenaufenthalt zu erschaffen.
Ein Blick auf frühere Zeiten. – Bettlerheere und ihre Gewaltthaten im vorigen Jahrhundert. – Keine Bettelpolizei. – Bettlerorden. – Adelige Bettler. – Die Krüppelfuhre. – Die Kunst des recht fruchtbringenden Wohlthuns. – Die Theilnahme der Privaten an der Armenpflege. – Das Verschwinden des frühern Bettlerwesens in unserm Jahrhundert.
Wir haben in unserer ersten kulturgeschichtlichen Betrachtung vergleichende Blicke auf die „theuern Zeiten“ sonst und jetzt geworfen. Was liegt näher, als daß wir diese Vergleichung auf den Zustand des Armenwesens und auf die Art der Wohlthätigkeit in der frühern und der jetzigen Zeit ausdehnen? Die „zunehmende Bettelei“ ist auch so eine der herkömmlichen Anklagen, womit die Lobpreiser der Vergangenheit wider die Gegenwart zu Felde ziehen, und die „größere Lebendigkeit und Werkthätigkeit der christlichen Nächstenliebe“ eine der Lobesphrasen, mit denen sie jene erstere Zeit auf Kosten dieser letzteren zu erheben suchen. Und doch ist im Allgemeinen nichts unrichtiger, als diese Herabsetzung der Gegenwart und jene Anpreisung einer frühern, angeblich bessern Zeit. In wenigen Punkten möchten die Fortschritte der Civilisation so bedeutende und deutlich nachweisbare sein, als gerade in der Beschränkung und Verminderung des zügellosen Bettelwesens, in der Linderung der vorhandenen Armuth und in den Bemühungen für Beseitigung ihrer tieferliegenden Ursachen.
Richten wir unsere Blicke auf Deutschland, dessen Zustände uns ja doch am Meisten interessiren, so sehen wir dieses schon seit dem Ausgange des 13. Jahrhunderte, wo die ehemalige Größe seines Handels, der Reichthum seiner einst so blühenden Städte zu sinken begann, von einer bedenklich überhandnehmenden Verarmung und Bettelei heimgesucht. Noch viel schlimmer ward dies, als der dreißigjährige Krieg mit seinen schweren Drangsalen nicht blos die Fluren verwüstete, Städte und Dörfer zerstörte oder verödete, sondern auch die Banden der Sitte und des Gesetzes lockerte, ein wildes, unbändiges Soldatenregiment, harten Steuerdruck und in den meisten deutschen Ländern jene despotische Willkürherrschaft erzeugte und dadurch den alten kräftigen Bürgergeist und Gemeinsinn mehr und mehr ertödtete. Von jener Zeit an bis vor etwa fünfzig oder sechzig Jahren, wo man wieder mit größerem Eifer und besserem Erfolg, besonders auf dem Wege der Vereinigung der Privaten, das furchtbar angewachsene Uebel zu bekämpfen begann, zeigte sich die Verarmung, und mehr noch als diese, die leichtsinnige, aus Faulheit und Liederlichkeit entspringende Bettelei fast in allen deutschen Ländern in wahrhaft schreckenerregender Weise, in einer Ausdehnung, von der wir uns heute kaum eine Vorstellung machen können, in einer Gestalt, die uns, träte sie gegenwärtig vor unsere Blicke, nach unsern heutigen Begriffen, als der Anfang einer völligen Auflösung aller gesellschaftlichen Ordnung erscheinen müßte. Wer würde es glauben, wenn es nicht schwarz auf weiß in Schriften aus der damaligen Zeit geschrieben stände, daß noch in den achtziger Jahren vorigen Jahrhunderts Städte, die keineswegs Mangel an Erwerbsquellen hatten, und die inmitten einer weit mehr fruchtbaren als armen Gegend lagen, wie Halle, von Bettlerschaaren zu 400–500 auf einmal durchzogen wurden, so daß diese, um die gewöhnlichen Straßengänger hindurchzulassen, sich theilen mußten und in zwei langen Zügen rechts und links an den Häusern hin marschirten. Man kann denken, daß da von einer Verweigerung des Almosens nicht die Rede war, sondern daß die Bewohner einer solchergestalt heimgesuchten Ortschaft froh sein mußten, wenn sie nicht (was oft geschah), noch geschimpft oder auf andere Weise insultirt, mit Gewalt zur Herausgabe von Geld und Lebensmitteln gezwungen oder mit List ihrer Habe beraubt wurden. Denn, wie ebenfalls Zeitgenossen erzählen, „mit Bitten und Beten fingen diese Herumstreicher an; wenn das nicht half, folgten Scheltworte und Drohungen.“ In die Stube drangen sie ein und gingen nicht fort, bis man sie befriedigt hatte; den Hausbesitzern drohten sie ganz laut, ihnen den rothen Hahn aufs Dach zu setzen; die Abergläubischen (deren es leider damals noch sehr viele gab) erschreckten sie mit Flüchen, Verwünschungen, angedrohten Behexungen und dergleichen; die Leichtgläubigen lockten sie durch angebliche Wahrsagerkünste, mittels deren sie ihnen Geheimnisse der Zukunft offenbaren oder verborgene Schätze zeigen wollten, mit Quacksalbereien, durch die sie ihnen neben ihrem Geld auch das noch viel kostbarere Gut, ihre Gesundheit, raubten. Dann gab es wieder andere unter diesen Vagabunden, welche die Frömmigkeit und den Wohlthätigkeitssinn der Leute mißbrauchten, indem sie vorgaben, für allerhand milde und christliche Zwecke Geld zu sammeln, z. B. für die Loskaufung von Christen aus der muselmännischen Sklaverei, oder (in den katholischen Ländern) für die zum heiligen Grabe Wallfahrtenden.
Von einer wohlorganisirten Bettelpolizei war bis gegen das Ende des vorigen Jahrhunderts wenig zu spüren. Wie wäre eine solche auch möglich gewesen? Deutschland zerfiel damals in etwa dreihundert und, wenn man die kleinsten reichsritterschaftlichen Gebiete dazu rechnet, die gleichfalls so gut wie souverän waren, in fast zweitausend von einander getrennte, selbstständig verwaltete Länder und Ländchen. Eine gemeinsame Armenpolizei von Reichswegen gab es nur etwa auf dem Papiere, in der Wirklichkeit war sie ohnmächtig wie Alles, was vom Reiche ausging. Höchstens die einzelnen Reichskreise vereinigten sich bisweilen, wenn das Uebel gar zu arg wurde, zu gemeinsamen Maßregeln, denen aber auch gewöhnlich der rechte Nachdruck und Eifer fehlte. Die einzelnen Landesherren aber waren zufrieden, wenn sie jene Landplage der Bettelei und Vagabundirerei nur von ihren Gebieten fern zu halten und in die ihrer Nachbarn abzulenken vermochten; sie ließen daher nur, so gut es ging, das herumziehende Bettlergesindel von ihren Grenzen zurückweisen, oder aus ihren Ländern hinaus jagen und suchten durch grausame Strafen (wie Staupenschlag und Brandmarken), ja durch Androhung von Todesstrafe, die Wiederkehr der Vertriebenen zu verhüten. Allein eben jene Vielheit der Grenzen und der fast gänzliche Mangel eines Zusammenwirkens der benachbarten Regierungen zur gemeinsamen Abstellung des Bettelwesens machte es den aus der einen Gegend Vertriebenen leicht, in einer andern einen Schlupfwinkel zu finden; je länger aber eine solche [447] Masse heimathlosen, tagedieberischen und entsittlichten Gesindels auf diese Weise von Ort zu Ort, von Land zu Land hin- und hergeschoben und allenthalben gleichsam für vogelfrei erklärt wurde, desto roher, wüster, leichtsinniger und gewaltthätiger mußte sie natürlich werden.
In Baiern mußte man noch vor etwa siebenzig Jahren vier Regimenter Cavallerie aufbieten, um die über das ganze Land verstreuten fremden Bettler aufgreifen zu lassen, weil die gewöhnlichen Behörden, die Bettelvoigte u. s. w., sich als ganz unzureichend dafür erwiesen. In Schweden gab es einen förmlichen „Bettlerorden,“ dessen Mitglieder aus dem Betteln ein stehendes Geschäft machten und, obschon rüstige und gesunde Leute, doch vom Arbeiten nichts wissen wollten, weil, wie sie sagten, sie solches nicht gelernt hatten, und da sie beim Betteln sich besser standen, da ihnen dies, wie man ausrechnete, täglich etwa sechs Neugroschen im Durchschnitt einbrachte. In Leipzig wurden noch im Jahre 1803 fast 1200 Thaler öffentliche Almosen an fremde herumziehende Bettler – 8438 der Zahl nach – gegeben. Auch Personen der höhern oder sogenannten gebildeten Stände schämten sich nicht, von anderer Leute Wohlthätigkeit zu leben; selbst Adelige und Studirte gingen häufig „ansprechen,“ besonders bei Ihresgleichen. Es kam auch wohl vor, daß ein solcher adeliger Bettler zwar auf allen Edelhöfen umherlungerte und keine Gabe, die man ihm dort reichte, verschmähte, aber um Alles nicht einen Zehrpfennig von einem Menschen ohne Geburt angenommen hätte. Das gab dann ein doppeltes Zerrbild damaligen Zeitlebens! Den Edelhöfen in der Nähe der Landstraßen wurden in manchen Ländern, z. B. im Hannövrischen, durch ausdrückliche Regierungsverfügungen die verabschiedeten Soldaten (bekanntlich damals meist geworbene Leute und häufig Ausländer) förmlich zur Unterstützung durch Almosen zugewiesen. Im Uebrigen waren es die Landgeistlichen, besonders die protestantischen, welche am Schwersten unter der Plage des Bettelns zu leiden hatten. Was in den katholischen Ländern Kirchen oder Klöster aus ihren reichen Mitteln, oft nur zu freigebig und mit zu wenig sorgfältiger Auswahl thaten – ward in den protestantischen von den Geistlichen verlangt, und es war für diese schwer, sich solcher Zumuthungen an ihre „christliche Mildthätigkeit,“ auch wenn diese noch so unverschämt waren, zu erwehren. So ein unglücklicher Pfarrer mußte von seinem schmalen Einkommen, welches vielleicht in Allem kaum ein paar hundert Thaler betrug, nicht selten (so versichern glaubwürdige Gewährsleute aus der damaligen Zeit) 40–50 Thaler jährlich an Almosen ausgeben.
Aber that man denn gar nichts, um diesem furchtbaren Krebsschaden der Gesellschaft abzuhelfen? Wohl that man Manches, nur leider nicht auf die rechte Weise. Die Kunst des rechten, fruchtbringenden Wohlthuns will ebenso gut gelernt sein, wie jede andere Kunst. Damals verstand man diese Kunst noch viel zu wenig. Ein großes Hinderniß guter Armenpflege war schon der Mangel einer ordentlichen Heimathsgesetzgebung, der sich in jener Zeit allerwärts fühlbar machte. Weil kein bestimmter Ort verpflichtet war, einen Verarmten aufzunehmen und zu verpflegen, so glaubte ein solcher, seine diesfalsigen Ansprüche an jedem Orte geltend machen zu dürfen; auf der andern Seite versagte man oft auch den wirklich Unglücklichen und Hülfsbedürftigen die nothwendigste Unterstützung und gab sie damit dem unvermeidlichen Untergange preis. So war es in vielen Staaten Deutschlands lange Zeit allgemein hergebrachte Sitte, fremde Arme, welche unterwegs erkrankten, mit einer sogenannten „Krüppelfuhre“ auf dem Schub an den nächsten Ort zu schaffen, wo sich natürlich dasselbe Verfahren wiederholte, so daß ein solcher Unglücklicher oft Wochen lang bei der schlimmsten Witterung, auf den bodenlosen Wegen hin- und hertransportirt ward, bis er gewöhnlich unter Martern und Leiden seinen Geist aufgab. Erst etwa im letzten Dritttheil oder Viertheil des vorigen Jahrhunderts entstanden, wenigstens in den größern deutschen Staaten, die Anfänge einer geregelten Heimath- und Armengesetzgebung, und damit hörte denn auch jener barbarische Gebrauch allmälig auf. Indeß brauchte es noch lange Zeit, bevor eine wirklich erfolgreiche Behandlung des Armenwesens in Deutschland Wurzel schlug. Die Noth mußte erst aufs Höchste steigen (so namentlich durch die furchtbare Theuerung der Jahre 1771–72 und wieder durch den harten Winter von 1784), und andererseits mußte die Wissenschaft von den volkswirthschaftlichen Gesetzen sich erst weiter ausbreiten, und der lange unterdrückte Gemeingeist wieder einigermaßen aufleben, ehe an eine nur irgend gründliche Abhülfe des so tief gewurzelten Uebels zu denken war. Denn mit dem bloßen Geldgeben war es so wenig gethan, als mit dem bloßen Befehlen und Anordnen von oben. An dem Ersteren hatte es schon lange nicht gefehlt, ja es war vielleicht nur zu viel in dieser Richtung geschehen, aber, wie schon gesagt, in verkehrter Weise. „Die Summe,“ bemerkt ein Schriftsteller der damaligen Zeit, „welche öffentliche und Privatwohlthätigkeit der Armuth widmete, wäre mehr als hinreichend zu dieser Absicht gewesen, wenn nur nicht eine unrechte Vertheilung sie meistentheils blos als einen Lohn für Faulheit, Müßiggang, Unverschämtheit und Unehrlichkeit verwandelt hätte, wodurch neue Geschlechter von Nothleidenden entstanden, die an eine sittenlose, lasterhafte Lebensart gewöhnt und für diese erzogen waren.“
Fragen wir, durch welche Mittel es endlich gelang, jener furchtbaren Pest eines aller Schrecken und aller Gesetze spottenden Bettelwesens wenigstens so weit Herr zu werden, daß es, wie heutzutage in den meisten Gegenden Deutschlands, zumal Norddeutschlands in gewöhnlichen Zeiten nur als vereinzelte Erscheinung, nicht massenhaft auftritt, und bei thatkräftigem Eifer der Behörden, der Gemeinden und der Privaten recht wohl gänzlich unterdrückt werden kann, so tritt hauptsächlich Folgendes entgegen. Das Erste und Wichtigste war, daß man die Bettler, statt sich ihrer nur für den Augenblick entweder durch Almosengeben oder durch Fortjagen zu entledigen, zur Arbeit anhielt, und auf diese Weise nach und nach gänzlich ihren herumschweifenden, müßiggängerischen Lebens entwöhnte. Den noch nicht ganz verderbten, noch arbeitslustigen und nur aus Mangel an Erwerb bettelnden Armen suchte man solchen zu verschaffen, meist in öffentlichen Anstalten, wo auf Staatskosten allerlei Gewerbe betrieben wurden; die arbeitsscheuen und faulen sperrte man in Zwangsarbeitshäuser. Besonders in Preußen geschah Letzteres, und trug bald seine guten Früchte. Daneben erwies es sich als sehr wohlthätig, daß man die Armenpflege localisirte, d. h. Einrichtungen traf, damit jeder Ort die ihm zubehörigen Armen versorgte und diese nicht andern Orten zur Last fielen. Bekanntlich hat gerade in dieser Richtung die neuere Gesetzgebung über das Armen- und Heimathwesen eine ganz besondere Sorgfalt aufgewendet; die Anfänge dazu finden wir aber doch schon in mehren deutschen Staaten vor siebenzig, achtzig Jahren. Eine andere höchst wirksame Maßregel zur Verbesserung des Armenwesens war die sorgfältige Ueberwachung der einzelnen Armen, die genaue Prüfung ihrer größern oder geringern Hülfsbedürftigkeit, die fortwährende Controle ihres Verhaltens und die richtige Bemessung der jedesmal am Meisten nothwendigen und am Besten angebrachten Art von Unterstützung (ob in Geld, Nahrungsmitteln, Kleidung oder bloßer Arbeitsgelegenheit).
Diese Maßregel aber, ebenso wie die Einsammlung von freiwilligen Gaben für die Zwecke der Armenpflege, wäre schwerlich mit nur einigem Erfolge auszuführen gewesen, ohne die thätige Mitwirkung von Einzelnen und Vereinen, welche theils auf eigene Hand, theils im Anschluß an die Wirksamkeit der öffentlichen Behörden sich dieses wichtigen Geschäftes der Humanität annahmen. Die Anfänge einer solchen organisirten Theilnahme der Privaten an der öffentlichen Armenpflege (einer Einrichtung, welcher wir unzweifelhaft die erfreulichsten Fortschritte auf diesem Gebiete zu danken haben) reichen ebenfalls bis in das vorige Jahrhundert, zum Theil noch weiter zurück, wenn auch deren weitere Ausbildung und Vervollkommnung erst der neueren Zeit angehört. Eigenthümlich dagegen ist dieser Letzteren Bestreben, den ärmeren Klassen mehr indirect als direct die Hand zu ihrer Emporhülfe, zur Beseitigung oder Linderung ihrer Noth zu bieten, so viel möglich ihre eigene Thätigkeit und Betriebsamkeit dafür eintreten zu lassen, und dieser nur entweder die nöthige Leitung zu geben oder die ihr entgegenstehenden Hindernisse aus dem Wege zu räumen. Früher hielt man für nothwendig (und damals mochte es auch wohl nothwendig sein), den arbeitsfähigen Armen direct Arbeit und Verdienst zu gewähren – von Staats- oder Gemeindewegen –; jetzt beschränkt man sich (außerordentliche Zeiten der Noth abgerechnet) in der Regel darauf, denselben Arbeit nachzuweisen, und die in den letzten 10–20 Jahren errichteten Arbeitsnachweisungsanstalten haben sich als ein treffliches Mittel zur Linderung örtlicher Armuth und Erwerbslosigkeit erwiesen. In größerem Maßstabe geschieht Aehnliches wohl auch von Staatswegen durch Einführung neuer Industriezweige. [448] Auf diesem Wege hat man z. B. in Belgien die durch den Verfall ihrer alten Leinenindustrie dem Untergange nahe Bevölkerung Flanderns gerettet. – Wo man ferner in der früheren Zeit Magazine anlegte, um der ärmeren Klasse Lebensmittel zu wohlfeileren Preisen zu liefern, da leitet man jetzt diese Klassen selbst an, durch „Associationen zur billigern Beschaffung von Lebensmitteln“ oder durch „Sparanstalten“ (nach des verdienten Liedke Vorgang) denselben Zweck, aber zugleich noch einen anderen zu erreichen, nämlich: sparen zu lernen und sich zu gewöhnen, in der eignen Kraft und Umsicht und in der Vereinigung unter sich das sicherste Mittel der Unterstützung zu finden. Während man sonst blos an die Armen Nahrungsmittel vertheilte, hat man jetzt auch für die noch nicht gänzlich Mittellosen, aber doch Minderbemittelten öffentliche Speiseanstalten errichtet, um diesen eine wohlfeile und doch kräftige, gutbereitete Kost zu verschaffen. Nicht zu gedenken der Sparkassen, Alterskassen, Vorschußkassen und anderer ähnlicher Anstalten, welche bestimmt sind, den Dämon zu bannen, und welche in der That demselben so manches Opfer der Verarmung, das ohne sie ihm anheimgefallen sein würde, entreißen. Von diesen Einrichtungen (ebenfalls beinahe ausschließlich einer Errungenschaft des neuesten Kulturfortschritts) sprechen wir wohl ein ander Mal.
Die vorstehenden Betrachtungen über das Armenwesen der früheren und der jetzigen Zeit glauben wir getrost mit folgenden Behauptungen, als dem Endergebniß derselben, beschließen zu können: Das Bettelwesen, wie es in früheren Zeiten bestand, d. h. das Unwesen einer völlig heimathlosen, oft ihr ganzes Leben lang umherschweifenden, müßigen und arbeitscheuen Massenbevölkerung, ist – Dank unserer bessern Armenpolizei – fast gänzlich verschwunden. Die locale Bettelei ist, wenigstens in den meisten Gegenden Deutschlands, wenn nicht ganz beseitigt, doch wesentlich verringert. Die Zahl Derer, welche zu ihrem Lebensunterhalt fremde Unterstützung in Anspruch nehmen, hat, trotz der bedeutend gewachsenen Bevölkerung, im Ganzen eher ab- als zugenommen, und zwar hauptsächlich in Folge der höchst erfreulichen Thatsache, daß sowohl die Gelegenheit zu einem ehrenhaften Erwerb durch eigne Arbeit, als der Trieb nach solchem, häufiger als sonst, sich finden. Die Freude am Wohlthun und die Bereitwilligkeit des Gebens war zwar – man muß unsern Vorfahren diese Gerechtigkeit widerfahren lassen, – vordem ebenso groß, scheinbar sogar (wenn man nur auf die Summen sieht, die in der Form wirklicher Almosen vertheilt wurden) noch größer, als gegenwärtig; allein erst die neuere Zeit hat gelernt, auf die rechte Weise, d. h. so zu geben, daß dadurch das Uebel, dem man steuern will, wirklich vermindert, nicht etwa gar noch vermehrt wird; außerdem aber sind in unseren Tagen der Humanitätssinn und Gemeingeist noch auf vielen anderen Wegen, als dem der unmittelbaren Armenpflege, für Abhülfe der vorhandenen Noth, für Emporhebung und Unterstützung des ärmeren Theils der Gesellschaft mit wahrhaft erfinderischem Eifer geschäftig. Mit einem Worte: auch auf diesem wichtigen Gebiete der Kultur sind wir ganz unzweifelhaft vorwärts, nicht rückwärts gegangen und schreiten täglich noch weiter fort. [1]
Zu keinem Vorhaben wohl bedarf es ein größeres Maß nüchternen Verstandes und vorurtheilsloser Ueberlegung der einschlagenden Verhältnisse als zu dem der Auswanderung. Wenige Unternehmen sind von Anfang bis zu Ende so sehr den Manipulationen gewinnsüchtiger Spekulanten unterworfen, wenige werden trotz mannigfacher Aufklärungen und Warnungen in der Regel mit so kläglichem Ungeschick und so unverantwortlichem Leichtsinn angegriffen, wenige schließen so häufig mit schmerzlichster Enttäuschung. Nun ist es nicht unsere Absicht, im Folgenden von der Auswanderung überhaupt abzureden und etwa die ganze Litanei von Gründen herzubeten, welche von Wohlmeinenden aber Befangenen gegen diese Erscheinung im neuern Völkerleben bisher mit keinem andern Erfolge geltend gemacht worden ist, als dem, welchem der Wunderliche begegnen würde, der den Rheinstrom mit der flachen Hand aufhalten wollte. Es ist nicht blos die Noth und nicht blos das Mißvergnügen an den politischen Zuständen der alten Welt, welche das heutige Geschlecht treiben, seine Geschicke und seine Hoffnungen vom Boden des Vaterlandes zu lösen und drüben über’m Meere in ein anderes Feld zu verpflanzen; es ist zugleich einer jener geheimnißvollen Triebe, welche sich von Zeit zu Zeit im Leben der Menschheit geltend machen und, indem sie Theile derselben in andere Bahnen drängen, neue Perioden der Geschichte vorbereiten. Dafür spricht schon die Thatsache, daß der Hauptzug der Auswanderung, vielfältiger Empfehlungen anderer Länder ungeachtet, noch fortwährend nach Amerika und hier wieder vor Allem nach den Gegenden geht, welche das Sternenbanner der großen anglosächsischen Republik beschattet. Thöricht also, wir wiederholen es, ist, wer dem wehren, wer davon abmahnen will. Wohl aber kann die Warnung vor leichtfertiger Auffassung eines derartigen Vorhabens dem Einzelnen nicht oft genug wiederholt werden, und wohl soll die Presse unablässig darauf hinweisen, daß der Weg zu den Früchten der transatlantischen Freiheit ein beschwerlicher und gefährlicher ist, daß auf diesem Wege ein heller Kopf, ein scharfes Auge und eine rasche Hand weiter helfen als ein voller Beutel, und daß namentlich der Deutsche weise thut, wenn er alles rosenfarbene Phantasiren von den Annehmlichkeiten dieses Weges und alle seine nationale Gemüthlichkeit einstweilen in die Herzenstruhe verschließt, und sich dafür ein gutes Theil praktischen Sinn, möglichst viel Sachkenntniß und – die beste Waffe zum Schutze gegen den Schwindelgeist, der drüben mit dem Scheine von uneigennütziger Theilnahme Wucher treibt – einen großen Vorrath von Vorsicht oder wenn man will Mißtrauen anschafft.[2] Diese Regeln sollten das Abend- und Morgengebet jedes Auswanderers, ihre Befolgung sein stetes Dichten und Trachten sein, und zwar von dem Tage an, wo er seinen Entschluß zur Uebersiedelung faßt, bis zu der Zeit, wd er, hindurchgeschifft durch die Scylla und Charybdis der Reise, die Gründung eines neuen Herdes beginnen kann, an welchem er dann die verschlossene Gemüthlichkeit, die an sich ein schätzenswerthes Kleinod, den Mäklern und Emigrantenwirthen cis- und transatlantischer Hafenstädte gegenüber jedoch von Uebel ist, ohne Gefährdung seiner Interessen nach Herzenslust wieder pflegen mag.
Derartige Rathschläge aber sind, so allgemein gehalten, leichter ertheilt als befolgt. Sie haften nicht im Gedächtnisse und sie lassen ihre Tragweite nicht erkennen, wenn sie nicht durch Bilder aus dem Leben veranschaulicht sind, und so möge denn im Folgenden ein Gemälde aus eigner Erinnerung geschöpft dem Rathe und der Warnung zur Seite treten. Es ist zunächst der Auswanderer auf der See, den wir zum Gegenstande unserer Darstellung machen. Später findet sich wohl auch Gelegenheit, den Auswanderer in der neuen Heimath zu schildern, deutsche Handwerker in amerikanischen Werkstätten und deutsche Bauern in den Blockhütten des Hinterwaldes zu zeichnen.
Für den deutschen Auswanderer nach Amerika giebt es allen Erfahrungen zufolge nur zwei empfehlenswerthe Einschiffungspunkte und diese sind Hamburg und Bremen. Selbst der Baier und der Schwabe sollte diese den französischen, niederländischen und englischen Häfen vorziehen, da abgesehen von den vielfachen und wohlbegründeten Klagen, die über letztere laut geworden sind, in ersteren die Sprache, die Gesetze und die Verhältnisse, die hier [449] gelten, ihn wesentlich begünstigen. Er hat Muth und Vertrauen auf sich selbst nöthig, und schwer ist’s, die zu bewahren, wo der noch Heimathlose schon beim ersten Tritte in Verlegenheiten hineintappt. Hätten wir aber zwischen den beiden Hansestädten der Nordsee zu wählen, so könnten wir zweifelhaft sein. Dem der Verhältnisse Kundigen allerdings verschlägt es nichts, ob er auf einem Slomann’schen Schiffe die Elbe hinabfährt oder ob er auf einer Barke oder Brigg der bremer Kauffahrteiflotte seine Ueberfahrt bewerkstelligt. Als der sichrere Weg für den Unerfahrenen dagegen kann unbedenklich der über Bremen bezeichnet werden. Namentlich gilt dies für den weniger Bemittelten, der sich auch vor geringen Uebervortheilungen zu hüten hat, und den die hamburger Gesetzgebung nicht in dem Grade gegen die Praktiker und Kniffe der Logierwirthe schützt, wie sie sollte.
Kommt ein Trupp solcher unerfahrenen Emigranten, an seiner wunderlichen Tracht, seinen halb blöden, halb übermüthigen Geberden und seinem in der Regel ungeheuerlichen Gepäck leicht erkannt, im Hamburger Bahnhofe an, so stürzt sich sofort, einem Rudel hungriger Wölfe vergleichbar, ein Haufe von Mäklern und Gastwirthen auf sie, faßt sie am Arme, dringt ihnen dies oder jenes Haus mit lockendem Namen als Absteigequartier auf, schafft die, welche sich den Unvermeidlichen fügen, als gute Beute in eine Droschke, setzt sich auf den Bock und bringt die mit dem ersten Tritte auf den Boden der Handelsstadt zur Waare Gewordenen, ehe sie sich besinnen, wie ihnen geschehen, in ihren Emigrantenspeicher in Sicherheit. Hier werden die Eingefangenen gewöhnlich in einer Weise verköstigt und untergebracht, die dem dafür geforderten Preise nicht entspricht. Dann geht der gefällige Wirth, immer gut gelaunt und zuvorkommend mit den Gästen zum Einkauf der Reisegeräthschaften, die er, der Vermittler, jederzeit, der Käufer aber selten wohlfeil findet. Schließlich stellen sich gute Freunde des Hausherrn ein, um den Auswanderern Passagierscheine für dieses oder jenes Schiff anzubieten, wobei ebenfalls Erkleckliche an der Waare verdient wird. Merkt letztere, daß man ihr zu übel mitgespielt, so ist es gewöhnlich zu spät oder zu weitläufig, um Schadloshaltung zu erlangen. Wer denkt, wenn das Schiff die Anker zu lichten im Begriffe ist, an Advokaten und Gerichte! Wer an die Presse! Und so geschieht es, daß wir zwar häufig Anpreisungen solcher Auswandererschenken in den Blättern lesen, selten aber oder nie das Gegentheil. Die Leute sind eben gemeiniglich zu vergnügt, den ersten Schritt in ihre Zukunft hinter sich zu haben, als daß sie nicht geneigt sein sollten, über einen nicht allzu groben Griff in ihre Tasche ein Auge zuzudrücken.
In Bremen ist es wenigstens einigermaßen anders. Wiewohl natürlich das Streben, an den Abziehenden zu verdienen, hier nicht geringer ist, so ist doch durch eine Art Commission achtbarer Bürger dafür gesorgt, daß dieses Bestreben sich innerhalb gewisser Grenzen hält und daß Diejenigen, welche den Rath, der ihnen schon am Bahnhofe gedruckt ertheilt wird, nicht verschmähen, in einer für Wirth und Gast zufriedenstellenden Weise bis zur Abreise nach Bremerhaven, wo die eigentliche Einschiffung stattfindet, Unterkommen finden. Indeß ist auch hier eine fleißige Anwendung des Sprüchworts: „Traue, schaue, wem!“ nicht von Ueberfluß, und nicht selten erweist sich die Gefälligkeit, womit der oder jener gut gekleidete junge oder alte Herr dem guten dummen Bauerknaben ungefragter und unbekannter Weise unter die Arme greift, hinterher durchaus nicht als das, was in Grimm’s Wörterbuch unter dem Artikel „Gefälligkeit“ definirt wird.
Verlassen wir aber nun die Auswanderergasthöfe und ihr Gewimmel von süd- und norddeutschen Trachten, Mundarten, Manieren und Münzen und begeben wir uns mit dem Dampfboote (wenn irgend die Kasse nicht zu knapp bemessen ist, bei Leibe nicht mit den schneckenlangsamen, zum Ersticken und Erdrücken überfüllten schwimmenden Dunsthöhlen, auf denen die Rheder ihre Passagiere gratis flußabwärts schaffen lassen) die Weser hinunter nach Bremerhaven, wo das Auswandrerschiff die Europamüden erwartet, oder, wenn dieses noch nicht segelfertig ist, das große burgartig gebaute, den Anforderungen nach, die man für die geforderten Preise stellen darf, trefflich eingerichtete Emigrantenhaus einstweilen Unterkunft gewährt. Hier drängt sich Alles zusammen, was auf die Auswanderung Bezug hat. Hier eilen geschäftig Rheder und Mäkler, Brieftasche und Bleistift in der Hand hin und her. Hier suchen amerikanische Sendlinge Seelen für den Methodismus zu kapern. Hier füllen durch lange Schläuche Matrosen die Wasserfässer der Fahrzeuge, die mit ihren schwarzen Rümpfen, ihren Masten und Raaen, ihren Klüverbäumen und ihrem Tau- und Segelwerk unbeweglich und doch so voll ameisenhaft wimmelnde Bewegung an den Quais liegen. Hier schaffen Auswanderer ihre Siebensachen, ihre unförmlichen bunten Truhen, ihre Betten und Geräthe an Bord. Hier untersucht die zu diesem Zwecke bestellte Commission, die ohne Zweifel gewissenhaft, aber freilich nicht unfehlbar und noch weniger untäuschbar ist, die vom Rheder für die Passagiere gelieferten Lebensmittel, und sieht nach, ob das Pökelfleisch nicht durch zu viele Reisen über den Ocean zu viel Hautgout angenommen hat, ob die Butter genießbar ist und ob von Allem die gehörige Quantität, wie sie das Gesetz vorschreibt, besorgt wurde. Hier tummeln sich, angeheitert von zu eifrigem Abschiedtrinken in den Schenken des Städtchens, wo man beiläufig unter andern guten Dingen auch sehr wohlfeilen vaterländischen Madeira bekommt (der leider etwas nach Syrup und Kartoffelschnaps schmeckt) zukünftige Bürger und Bürgerinnen der Yankeerepublik, denen man eher alles Andere als Heimweh ansieht. Dort wieder bringen Familienväter die Strohsäcke und Decken, die sie für die Meerfahrt gekauft, während Frau und Kinder mit dem blechernen Speisenapfe, dem Waschbecken, den Trinkbechern, der langhalsigen, dickbäuchigen Wasserflasche, dem Geschirre, welches die Seekrankheit zur Nothwendigkeit macht, und dem lieben Rumfäßchen, womit sie sich über die Leiden derselben trösten oder die Gunst des allezeit durstigen Kochs erkaufen werden, klirrend und klappernd hinterhertraben. Dort endlich erscheint, nach armen Teufeln spürend, die einen Paß für überflüssig oder den Rock des Königs von Preußen für unkleidsam gehalten, mitunter aber auch nach gefährlicheren Gesellen forschend, umgeben von behelmten, uniformirten, säbelschleppenden Gensd’armen, hervorschauend aus dem Halsgeschmeide hoher würdevoller Vatermörder, unsere alte gute Freundin – die deutsche Polizei.
Lassen wir sie bei ihrer Jagd und wünschen wir ihr einen guten Fang, namentlich wo es sich um solche Vögel handelt, die in anderer Leute Schotenfeldern und Kirschbäumen ihr Wesen getrieben haben, und denen darum ein tüchtiger Käfig mit schmaler Kost, nicht aber die Freiheit Amerika’s gebührt. Lassen wir sie, die Matrosen haben den Anker aufgewunden, Capitain und Lootse sind an Bord, schon öffnet sich das Hafenthor, und wenn wir die Reise mitmachen wollen, ist’s hohe Zeit, sich ebenfalls auf’s Schiff zu verfügen. So – ein flotter Sprung – und holla, da sind wir auf dem Rücken des alten, gelassenen, mit seiner Menschen- und Güterfracht langsam dahingleitenden Meerungeheuers, dessen Bauch nun auf lange Wochen unsere Wohnung sein wird.
Wir schwimmen in die gelbgraue Weser hinein. Die Segel werden aufgehißt. Sie blähen sich und schwellen, raschen Laufes durchschneidet der Kiel die trübe Fluth, die letzten Häuser Bremerhavens verschwinden, allmälig verläuft sich auch das flacher und flacher werdende Ufer mit seinen Wiesen, seinen Rinderheerden und seinen fernen Kirchtürmen, der Lootse verläßt uns, der Capitain übernimmt das Commando und wir sind auf der Nordsee, aus der wir, wenn der Windgott den rechten Schlauch geöffnet läßt, an Helgolands rothen Felsen vorüber in achtundvierzig Stunden in den Canal, der Englands Kreideküsten von Frankreichs dunklem Gestade trennt, einlaufen werden, um, wenn Aeolus uns ferner wohlwill, in abermals achtundvierzig Stunden in den atlantischen Ocean – oder wie die Matrosen sagen, in die „spanische See,“ mit ihren Meilen langen dunkelblauen Wogen hinauszusegeln, wo bis zur Ankunft am Ziele kein Land uns wieder begegnet.
Bis hierher glaubten wir es noch nicht am Orte, die Frage auszuwerfen, was denn so eigentlich ein Auswandererschiff sei. Jetzt ist die Zeit dazu gekommen. Ein Engländer hat das Leben an Bord überhaupt als „eingekerkert sein und dabei Gelegenheit zum Ertrinken haben“ charakterisirt. Bei einem Auswandererschiffe trifft der erste Theil der Definition doppelt zu. Sehen wir uns um – die beistehende Zeichnung des Innern eines der größten Fahrzeuge dieser Art wird das, was unsere Federzeichnung nicht deutlich genug geben sollte, für das Verständniß nachholen. Im Wesentlichen sind alle Schiffe dieser Gattung sich gleich. Sie zerfallen, ihrem Rumpfe nach betrachtet, in drei Abtheilungen, welche durch Treppen mit einander verbunden sind und das Deck, das Zwischendeck und der Schiffsraum genannt werden. Auf dem Deck befindet sich hinter dem Bugspriet, an welchem die Gallion oder das Namensbild des Fahrzeuges prangt, und über dem, der Waffe des [450] Einhorns vergleichbar, der Klüverbaum in die See hinausragt, zuvörderst die Wohnung der Matrosen, die das Logis heißt. Hinter diesem stößt man auf die mächtige Winde, mit welcher die zu beiden Seiten des Vordertheils herabhängenden Anker gelichtet werden. Dahinter wieder erhebt sich mit seinen Raaen, Segeln, Tauen und Strickleitern der Fockmast, und hart daneben bereitet der Koch in der mit eisernen Kesseln versehenen Kombüse oder Küche, neben welcher in der Regel Ställe für Schweine und Geflügel angebracht sind, das Essen, den Thee und Kaffee für die Mannschaft und die Passagiere. Wofern das Schiff eine zweite Kajüte hat, stößt diese gewöhnlich an die Küche. Hinter ihr dann ragt der große oder Hauptmast empor, bei welchem sich auf den meisten Schiffen die Pumpen befinden, durch welche das in den untersten Raum hineinsickernde Seewasser entfernt wird. Alsdann gelangt man zu einer zweiten Winde, welche den Namen Gangspill führt. Hierauf kommt, wenn nicht wie auf dem „Guttenberg“ eine Fortsetzung der Räume für Kajütenpassagiere nöthig geworden
ist, die erste Kajüte, welche an dem sogenannten Besahnmast angebaut, gemeiniglich mit eleganten Möbeln, bequemen Divans und Mahagonitischen ausgestattet und auf dem Dache mit kleinen Fenstern oder Skylights versehen ist. Sie dient den wohlhabenden Passagieren und dem Kapitän, so wie dem ersten Steuermann zum Aufenthalt und gewährt den Vortheil einer guten Tafel (gut natürlich nur in Betracht der Umstände), so wie das hier allerdings nicht zu verachtende Vorrecht, den Spaziergang, den das mit einem Eisengeländer versehene Dach gewährt, abgesondert von den übrigen Bewohnern des Schiffes benutzen zu können. Hinter der ersten Kajüte, bei andern Fahrzeugen, wo der Stewart oder Proviantmeister ein eigenes Stübchen inne hat, auch über derselben, beschließt endlich das Häuschen, vor welchem, den Blick auf den Compaß gerichtet, der Steurer durch ein Rad den Gang des Kieles regulirt, die vielfach getheilten und gegliederten Räumlichkeiten des obern Decks.
Und nun hinab auf der Treppe, die auf unserer Zeichnung zwischen dem großen Maste und der zweiten Kajüte in den eigentlichen, von den Schiffsrippen umschlossenen Bauch des Fahrzeugs hinunterführt. Hinab durch die mit einer Art Schilderhäuschen überbauten Luke in das Zwischendeck, in den Raum, in welchem mehr als neun Zehntheile der jährlichen Auswanderung der ersehnten neuen Heimath im Westen zuschwimmen. Ein widerlicher Dunst, der sich selbst durch geschickt angebrachte Luftsegel und Abzugsröhren nicht völlig entfernen läßt, und der, wo diese Anstalten der Reinigung fehlen, zum abscheulichsten Brodem wird, qualmt uns entgegen. Ein Gewirr murmelnder, quiekender, singender und zankender Stimmen läßt sich vernehmen. Endlich, nachdem sich unser Auge an das hier allezeit herrschende Halbdunkel gewöhnt hat, welches, wenn stürmisches Wetter die Luken schließen heißt, sich in ägyptische Finsterniß verwandelt, erblicken wir vor uns einen 60 bis 80 Fuß langen, 20 bis 2[6] Fuß breiten und etwa 8 Fuß hohen Raum, der am obern und untern Ende durch Bretterverschläge von den Vorratskammern des Schiffes geschieden wird, und den man in seiner Totalität mit einem in den Keller getragenen Hausboden oder, wenn das angenehmer klingt, mit hausbodenartig eingerichteten Keller vergleichen kann. Ein Haufen übereinander geschichteter Koffer und Kisten nimmt die Mitte ein und scheidet das Ganze in zwei lange schmale Gänge. Neben diesen erheben sich, hüben rechts, drüben links unter den Schiffsrippen, von unbehobelten Brettern zusammengezimmert, in zwei Etagen die Kojen oder Schlafstätten der Passagiere, in denen letztere je vier und vier zusammenliegen – eine Vertheilung, welche für den Mann einen Raum von nicht mehr als etwa 6 Fuß Länge und 2 Fuß Breite läßt und darin nicht geringe Ähnlichkeit mit dem Verpacken von Heringen hat, aber durch ihre Unbequemlichkeit eine recht geeignete Vorbereitung auf ein Blockhüttenleben im Hinterwalde ist.
Der Enge dieser schwimmenden vorläufigen Heimath des Auswanderers entspricht ihre Einfachheit. Diese rohen Bretterverschläge, welche (man sehe die Abbildung an) fast auf’s Haar ungeheuren [451] Kommoden gleichen, aus denen man die Schubfächer herausgezogen hat, sind Alles, was dem Zwischendeckspassagiere geboten ist. Die Kojen sind Schlafkammer, Empfangszimmer, Speisesaal, Ankleidegemach und für den, der’s bedarf, Studirstube, Alles in Einem. Strohsäcke und Decken bilden die Flur. Die schwarzen Schiffsrippen und das Gebälk des Decks, woran blecherne Speisegeschirre einträglich neben Gefäßen mit unnennbarem Zwecke und Inhalte, Waschbecken als getreue Nachbarn neben Butterdosen, endlich Hutschachteln und wohlgeschmierte Stiefelpaare mit der phlegmatischen Duldsamkeit, welche Hutschachteln und Stiefeln eigen ist, neben Mettwürsten und Hosenbeinen, angeschnittenen Schinken und flatternden Rockschößen hängen, geben den Plafond ab. Die Kisten und Kasten unten auf der Gasse vor den Kojen werden als Tische und Stühle benutzt. Wer ein Freund von Musik ist, findet reichliche Gelegenheit, seinen Trieb zu befriedigen, wenn er dem Concert der unaufhörlich quäkenden Säuglingskehlen sein Ohr leihen und des Nachts den Ständchen lauschen will, welche die aus dem Schiffsraume zu Besuch kommenden Rattenchöre den Passagieren bringen. Am Besten aber ist für den Liebhaber von Gemälden gesorgt, und zwar namentlich dann, wenn er seine Neigung der niederländischen Schule zugewendet hat. Er kann in den Bretterrahmen der verschiedenen Kojen die Urbilder der Murillo’schen Betteljungen, im dämmernden Hintergrunde der Schlafstätten kostbare Jagdscenen, von den Fingern sorgsamer Mütter auf den Köpfen ihrer Kleinen aufgeführt, Breughel’sche Koboldgruppen, die einen mit ihrem Aussehen harmonirenden Spektakel machen, und kolossale Nudidäten bewundern, die durch ihr derbes Fleisch an Meister Rubens’ saftigen Pinsel erinnern. Vor der einen Koje sitzt auf ihrer buntblumigen Truhe eine alte Bäuerin und studirt mit der Brille auf der Nase den Magister Benjamin Schmolke gottseligen Angedenkens. Daneben spielen auf dem Buche liegend unter fortwährendem Gezänk etliche Judenbuben auf dem Deckel eines Hutes mit Würfeln, während in der Koje unter ihnen vier Andere sich angelegentlich mit der Karte, des Teufels Gebetbuch, beschäftigen. Aus einer vierten Schlafstelle bringt, durch das Schwanken des Schiffs plötzlich an seine Schuldigkeit gemahnt, ein wackerer Schuster oder Schneider der Seekrankheit sein Opfer mit solchem Geräusch und in so weiten Bogen dar, daß die ganze Nachbarschaft, sofern sie nicht mit gleichen Libationen zu thun hat, in lautes Beifalljauchzen ausbricht. Aus einer fünften Koje baumeln über dem zornrothen Antlitze einer Mutter, die das Hintertheil ihres Sprößlings bearbeitet, weil er das Mittagsessen der Familie verschüttet hat, an langen, dünnen Beinen ein paar gigantische Füße mit dickbesohlten nägelbeschlagenen Schuhen, einem hinterlistigen Bäuerlein angehörig, welches, auf dem Rücken hingestreckt, aus diesem Hinterhalte ein wohlgezieltes Bombardement mit Brocken von Brotzwieback unterhält. In einer sechsten Schlafschublade macht ein munterer Matrose einer drallen Schwäbin das Begehr seines Herzens im besten Plattdeutsch verständlich – ein Wunder, aber doch wahr! Zu einer siebenten – nein, hier im Finstern ist’s nicht geheuer mehr, und wir haben gerade genug gesehen, um die Natur der Gespenster, die hier hausen, und den Spuk, den sie treiben, errathen zu können.
Der Einfachheit der Wohnungen in diesen meerdurchfurchenden Emigrantenherbergen gleicht die Einfachheit der Beköstigung. Erbsen, Linsen, weiße Bohnen, grobe Graupen, Reissuppe, zuweilen ein Hering, schwarzer Zwieback, gepökeltes Rind- und Schweinefleisch, manchmal nicht von der besten Beschaffenheit, wenn auch immer reichlich, als Getränk eine schwarze Brühe, die man Kaffee, und eine grünliche, welche man Thee nennt, sowie etwas Bieressig bilden die Tafelfreuden des Zwischendecks. Sie könnten unverwöhnten Gaumen genügen, wenn die wackern Köche dieser Herbergen, die freilich hundert Hände und zehn Köpfe haben möchten, nicht bisweilen bei der Zubereitung der Speisen allzu wunderseltsamen Launen huldigten und mitunter – wir reden aus eigner Erfahrung – den Hafer, der für die Hühner bestimmt ist, unter die Erbsen, den Kautaback, der in ihre eignen Backentaschen gehört, unter den Reis mischten, anderer bisweilen in den Speisekesseln [452] schwimmender, zur Würze des Ackerfelds, aber nicht zur Würze menschlicher Nahrung tauglicher Dinge gar nicht zu gedenken.
Alle diese Mängel lassen sich mit mehr Humor erzählen als ertragen. Sie mögen sich vielleicht nicht ganz beseitigen, sie werden sich aber sicherlich mildern lassen. Auf alle Fälle wird ein tüchtiger Capitän es zu bewirken und nöthigenfalls zu erzwingen wissen, daß Zucht und Ordnung im Zwischendecke herrscht, daß die Bewohner desselben Anstand und Einsamkeit nicht über die Grenzen der Menschlichkeit aus den Augen setzen, und daß sie sich und ihre vorläufigen Wohnstätten möglichst rein halten. Leider jedoch trifft man auch auf deutschen Auswandererschiffen – obwohl nirgends in dem Grade, wie auf englischen – nicht selten das Gegentheil dieser Erfordernisse. Die Folgen liegen in grauenvollen Beispielen zu Tage. Die üble Luft, welche sich aus den Dünsten des im Schiffsraume stehenden faulen Wassers, verschütteten und nicht weggefegten Speiseresten, und aus den Ausdünstungen so vieler in enge Räume gepferchten Menschen entwickelt, ruft zumal dann, wenn stürmisches Wetter den Aufenthalt auf dem Deck verleidet, Krankheiten hervor, von denen besonders das Schiffsfieber, eine Art von Typhus, häufig entsetzliche Verheerungen anrichtet. Die große Unreinlichkeit aber, welche unter solchen vielfach zusammengewürfelten Menschen sich nur mit äußerster Strenge verbannen läßt, bedeckt die Schiffe mit Ungeziefer, denen bei der Enge der Verhältnisse auch der Reinliche nicht entgeht.
Mindestens ebenso wichtig jedoch als jene pia desideria ist die oft schon angeregte Frage, weshalb die Herren Rheder, die an ihrer Menschenfracht doch wahrlich genug verdienen, sich durchaus nicht herbeilassen mögen, ihren Schiffen zur Ueberwachung des Gesundheitszustandes der zwei- bis dreihundert Passagiere, welche darin verstaut sind, Aerzte beizugeben. Ihre Antwort würde, wenn sie aufrichtig zu sein den Muth hätten, einfach lauten: Wozu bedarf’s für Frachtgut eines Doctors? In Wahrheit aber ist es schmählicher, himmelschreiender Geiz, und die Presse, die dem Auswandererwesen schon manche Wohlthat zugewendet und manche seiner Leiden gemildert hat, sollte ohne Unterlaß auf Erfüllung dieser Pflicht dringen, so lange darauf dringen, bis es in Bremen und in Hamburg zum Gesetz erhoben würde, daß kein Auswandererschiff ohne Arzt den Hafen verlassen dürfe. Die Medizinkiste, welche jedem Schiffe beigegeben wird, ist – wir selbst haben auf einem bremer Schiffe eine solche verwalten müssen – lediglich Matrosenbedürfnissen angepaßt, selten in Ordnung, häufig sogar aus den Büchsen und Düten mit falschen Bezeichnungen versehen, und die Capitäne wissen in der Regel so wenig von der Kunst Aesculap’s, daß sie alle Krankheiten mit lothweise verabreichten Dosen von Ricinusöl oder Epsomsalz curiren. Welche Resultate damit erreicht werden, wenn eine ernste Krankheit ausbricht, mag man aus einem Beispiele abnehmen, daß auf dem Schiffe „Johann Hermann“ (Capitän Dieckmann) während der Ueberfahrt nach New-York, zu der es die Zeit vom 1. November 1853 bis zum 17. Januar 1854 brauchte, 41 Menschen starben, von denen ohne Zweifel viele hätten gerettet werden können, falls ein Arzt sich an Bord befunden hätte. Von einer Familie blieben vier Kinder übrig, die nebst ihrem Vermögen der deutschen Gesellschaft in New-York übergeben wurden. Für Erhaltung eines älternlosen Säuglings bot der Capitän fünf Dollars. Er starb jedoch ebenfalls vor der Ankunft des Hermann im Hafen.
Rechnet man zu allen diesen Mängeln und Mißständen noch die ungewohnte Lebensweise, die Langeweile bei Windstille, die Furcht vor Riffen, Sandbänken und Eisbergen, welche letztere im Sommer oft tief nach Süden herabtreiben, das furchtbare Schauspiel von Stürmen und Gewittern, so liefert das ein Facit, welches durchaus nicht wie eine Lustreise aussieht. Dennoch giebt es auch hier, wie allerwärts, einige Freuden und Unterhaltungen, zumal wenn der Capitän kein zu strenger Patron ist. Die Einen fischen, Andere tanzen auf dem Deck nach einer Ziehharmonika, wieder Andere erzählen sich Geschichten, bilden Singekränzchen, schneidern, schustern oder helfen den Matrosen, erkundigen sich am Compaß oder Steuer, in welcher Richtung und wie viel Knoten das Schiff segelt. Noch Andere studiren die Landkarte oder die Sprache ihres zukünftigen Vaterlandes, Andere beobachten die Erscheinungen des Himmels. Wolken, Morgen- und Abendroth, den Sturmbaum, der starken Wind verkündigt, oder die Gewitter, die namentlich in der Nähe des Golfstroms häufig mit schrecklicher Gewalt wüthen. Andere endlich betrachten das Leben der See und ihrer Thierwelt, bis denn – oft erst nach acht- und zehnwöchentlichem Harren, selten in der Hälfte dieser Zeit – das Gestade Amerika’s am Horizonte auftaucht, und der Lootse an Bord steigt, der die meermüden Wanderer in den Hafen von New-York oder Boston, Baltimore, New-Orleans oder Galveston führt.
Ein amerikanischer Cincinnatus. Im Jahre 1814 wußte man in Süd-Carolina nicht, wen man zum Gouverneur wählen sollte. Es traten wohl Candidaten auf, aber nicht solche, wie man sie liebte. Man besprach sich deshalb mehrere Tage miteinander und doch wußte man keinen einzigen, für das Amt passenden Mann zu finden. Ein junger Mann, Namens O’Neall, fragte in dieser Verlegenheit, warum man nicht den General David Williams wähle? Kaum war der Name Williams ausgesprochen, als auch die ganze Legislatur rief: „Dies ist unser Mann!“
Der Wahltag kam und der General Williams wurde mit einer bedeutenden Mehrheit gewählt. Ein Bote wurde mit einem Briefe an ihn abgeschickt, um ihm seine Erwählung mitzutheilen. Nach einem scharfen Ritt kam der Botschafter an des Generals Wohnung im Marlborough-Distrikt an und fragte, ob der General zu Hause sei. Man sagte ihm, daß er sich auf seiner Plantage befinde, worauf der Bote sich dorthin auf den Weg machte, um dem General sobald wie möglich den Brief zu überreichen. Auf dem halben Wege begegnete ihm ein schöner Mann, welcher einen alten Kittel trug und ein Maulthier vor sich her trieb.
„Befinde ich mich auf dem Wege zur Plantage des General Williams?“ fragte der Bote.
„Ja, mein Herr, Sie haben noch eine Meile bis dorthin.“
„Ist der General zu Hause?“
„Nein, mein Herr.“
„Wo ist er?“
„Ich bin der General Williams.“ Der Bote schien dies nicht glauben zu wollen und rief: „Täuschen Sie mich nicht. Ich habe einen wichtigen Brief für General Williams, wenn dies Ihr Name ist; hier ist der Brief.“
Herr Williams öffnete den Brief und fand zu seinem Erstaunen, daß er ohne sein Wissen und Wollen zum Gouverneur von Süd-Carolina gewählt worden war. Er nahm den Boten in sein Haus und schrieb einen, Brief, um die Annahme der Wahl anzuzeigen und die Zeit zu bestimmen, in welcher er nach Columbia kommen werde. Der Bote kehrte zurück.
An dem festgesetzten Tage kurz vor zwölf Uhr kam ein Mann in einem Kittel in die Stadt geritten; er band sein Pferd an einen Baum und ging in das Kapitol, wo er eine große Menschenmasse versammelt fand. Nur wenige kannten ihn persönlich. Er setzte sich auf einen Stuhl und als der Glockenschlag die zwölfte Stunde anzeigte, stand der General auf und hielt eine meisterhafte Rede und versetzte die ganze Versammlung durch seinen Vortrag in Enthusiasmus. Einige Tage später trat er seinen Posten als Gouverneur an und es ist nur eine Stimme, daß er ein ausgezeichneter Beamter war.
Gewalt der Einbildungskraft. Ein sehr drastisches Exempel von der Gewalt der Einbildungskraft erzählte ein Arzt, Dr. Noble, in seiner Vorlesung „über den dramatischen Einfluß von Ideen und Vorstellungen.“ Monsieur Boutibouse, ein französischer Soldat in Napoleon’s[WS 2] I. Armee, war in der Schlacht bei Wagram (1809) mit stark beschäftigt. Die Reihen neben ihm hatten sich gegen Abend fürchterlich gelichtet und lagen um ihn herum, todt, sterbend, zerschossen, armlos, ohne Beine, ohne Kopf, ohne Kinnladen, einäugig oder mit gar keinen Augen mehr, kurz in allen möglichen Verzerrungen und Verstümmelungen. Als er, schon nach Sonnenuntergang, eben seine Muskete wieder lud, sauste eine furchtbare Kanonenkugel gerade unter ihm hin. und nahm seine beiden Beine mit, so daß er einen Fuß tief einsank und rücklings hinstürzte. Beide Beine waren jedes um einen Fuß verkürzt. So lag er mit seinen Stummeln mäuschenstill, ohne es zu wagen, sich zu rühren, damit er den Blutverlust nicht befördere. Er fühlte keinen Schmerz, da die plötzlich zerrissenen Nerven und Muskeln, wie er sich es dachte, abgestumpft worden waren, und der Schmerz sich erst später einstellen werde. So lag er die halbe Nacht, ängstlich auf den Wundarzt wartend, der sich dann auch endlich einfand.
„Und was ist’s mit Ihnen, mein braver Kerl?“ frägt der Wundarzt.
„O, fassen Sie mich sacht an! Mir sind unten beide Beine von einer Kanonenkugel weggerissen, lieber Doctor!“
Der Doctor untersucht alle Gliedmaßen und findet jedes vollständig. Er giebt dem Manne einige kräftige Püffe und ruft lachend aus: „Auf, auf, Bursche, es ist noch Alles da.“
Monsieur Boutibouse erhebt sich, besieht seine Beine und springt entzückt auf.
„Ich fühlte damals eine Freude, ein Entzücken, das ich nie vergessen werde,“ erzählte er später. „Ich hatte keine Spur von Wunde an mir. In der That war ich von einer großen Kanonenkugel niedergeschossen und um einen Fuß verkürzt worden, wie ich hernach sah. Sie hatte den Boden unter meinen Füßen weggerissen, so daß ich in die so entstandene Höhlung sank, indem zugleich der fürchterliche Luftzug, den die Kugel im Durchsausen erzeugt, das Gefühl eines Minus um meine Unterbeine hervorgerufen haben mochte.“
Dr. Noble verbürgte die Wahrheit dieses Vorfalls.
- ↑ Wir verweisen auch hier wieder Diejenigen unserer Leser, die genauere Aufschlüsse oder eine weitere Bestätigung des oben Angeführten wünschen, auf das Buch: „Deutschlands politische, materielle und sociale Zustände im 18. Jahrhundert,“ von Biedermann.
- ↑ Dieses Frühjahr kamen sogar fünf Familien in Hamburg an, denen man in ihrer Heimath (Böhmen) vorgelogen, von Hamburg aus brauchten sie keinen Pfennig Geld mehr und könnten sich hinüber nach Amerika betteln.