Die Gartenlaube (1855)/Heft 11
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No. 11. | 1855. |
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Was ist das Herz? – es ist ein Blumengarten,
Worinnen Rosenlauben blüh’n
Wo Engel still die schönen Blüthen warten,
Und Frühlingswolken durch den Himmel zieh’n;
Wo unser Vater weilt mit seinem Frieden –
O wäre Jedem solch ein Herz beschieden.
Was ist das Herz? – es ist ein Gotteshaus,
Worin ein Altar aufgerichtet stehet,
Und wo, entfloh’n dem wüsten Weltgebraus,
Die Seele still zu beten gehet.
Es ist dies Herz ein Ort zu Gottes Ruhm,
O Vater schütze stets dies stille Heiligthum.
Was ist das Herz? – es ist ein Winterfeld,
Weithin von Schnee und hartem Eis bedecket,
Ach eine ganze schöne, doch erstarrte Welt,
Die nimmer ja ein Erdenfrühling wecket;
Nur von dem Himmel muß ein Frühling sprechen,
Soll dieses Eis in diesem Herzen brechen.
Was ist das Herz? – es ist die todte Wüste
Mit keinem Thale, keinen goldnen Höh’n,
Ach eine endlos öde Küste,
Und nirgend ist ein grünes Blatt zu seh’n;
Es ist das kranke Herz nicht, nein das arme,
O bitten wir, daß Gott sich sein erbarme.
Was ist das Herz? – es ist die dunkle Höhle,
Wo Schlangen ringeln, die mit gift’gem Zahn
Der ruchlos flüchtenden gequälten Seele
Sich fort und fort und unaufhaltsam nah’n;
Es ist das Herz in seinen höchsten Nöthen,
O möchte Gott ihm diese Schlangen tödten.
Doch Sterbliche, euch Allen ist gegeben,
In jedes Willen hat es Gott gestellt,
Zu schaffen sich nach freier Wahl das Leben,
Ob dunkel, ob von Gott erhellt –
Ja, Jeder baut sich selbst des Herzens Zelle,
Ein Paradies der Eine, der Andre eine Hölle.
F. Stolle.
Zu B. am Rheine lebte vor einigen Jahren eine Majorin von Gl…n mit ihrer Tochter, einer jungen Dame von ausgezeichneter Schönheit und vielem Geist. Die Mutter, die ihren Gatten früh verloren und schon von Natur energischen und resoluten Wesens war, hatte diese Eigenschaften in ihrer langen Wittwenschaft noch weiter auszubilden mehr als hinreichend Gelegenheit gefunden. Die Erziehung der Tochter, das Verwalten eines bedeutenden Vermögens, einige Erbschaftsprozesse und die Jahre lange Beaufsichtigung und Leitung weitläuftiger Besitzungen erforderten, wie sich von selbst versteht, nicht nur eine große Umsicht, Wachsamkeit und Weltklugheit, sondern auch geradezu Muth, Entschlossenheit und Thatkraft, Dinge, die alle noch in gesteigertem Grade nöthig wurden, als die Tochter zur Jungfrau herangewachsen, nun doch in die Welt und unter Leute gebracht werden mußte, um wo möglich eine sogenannte angemessene und gute Parthie zu machen.
Von dieser Zeit ab waren nun nicht nur die Güter aus der Entfernung in gehöriger Obacht zu behalten, die Gelder gut zu verwerthen und an glücklichen Spekulationen zu betheiligen, sondern es kam nun auch noch die Nothwendigkeit dazu, ein dem Rang und Ansehen der Familie entsprechendes Haus zu machen, Gesellschaften zu geben, Bewerber um die Hand der Tochter zu ermuthigen oder abzuweisen, und die Letztere selbst dabei so gut im Auge und am Lenkseil zu behalten, daß eine zu mißbilligende oder den Verhältnissen nicht zusagende Wahl ihres Herzens unmöglich wurde.
Unter solchen Umständen hatte die Majorin von Gl…n nun schon in Berlin, Dresden, Wien und andern Orten gelebt, alle diese Plätze aber, wie es hieß, wieder aufgegeben, weil sie befürchtete, im Innern ihrer Tochter Spuren einer Neigung entdeckt zu haben, die sie überzeugt gewesen schien, nicht billigen zu dürfen.
[142] In B… aber hatte sie sich nun für länger niedergelassen, wie hier und da behauptet wurde, zunächst und besonders darum, weil darin ein junger Assessor, Graf Eduard von B…, der Sohn eines Ministers und ein junger Mann von voraussichtlich bedeutender Zukunft wohnte, den sie, wie man ihr abgemerkt zu haben glaubte, vor allen andern Freiern zumeist und am Liebsten ihrer Tochter zum Gatten gegeben hätte.
Dieser Graf Eduard von B…, der in der That ein schöner, talentvoller, für die Zukunft viel versprechender Mann war, hatte die Majorin von Gl…n und ihre Tochter in Wiesbaden kennen gelernt und gleich von Anfang an der Letzteren eine ganz besondere Aufmerksamkeit geschenkt, ohne indeß sich von dieser in seinen Bewerbungen besonders ermuthigt zu sehen.
Clotilde, so hieß die Tochter der Majorin von Gl....n mit Vornamen, hatte unter der Erziehung und Sorge ihrer Mutter mehr als billig und zu wünschen war, von dem Wesen und Charakter derselben angenommen. Alles, was Gefühl, zarte Empfindung, kurz gewissermaßen die Poesie, der höchste Reiz des weiblichen Herzens ist, entbehrte sie, dagegen zeigten sich Verstand, Willenskraft und alle jene glänzenden Fähigkeiten des Geistes, welche heut zu Tage so gesucht und beliebt in den gesellschaftlichen Kreisen sind, in einem hohen Grade bei ihr ausgebildet. Sie war bewandert in der Geschichte, eingeweiht in die Naturwissenschaften und überhaupt so obenhin gelehrt, daß sie nicht leicht durch irgend eine Materie in Verlegenheit gesetzt werden konnte. Sie las politische Schriften mit einem offenen Verständniß, und Bücher über Erdkunde, Astronomie und andere Disciplinen der praktischen und realen Kenntnisse mit so viel Ausdauer und gutem Nutzen, daß sie sich überall in Gespräche über dergleichen Gegenstände einlassen konnte, ohne sich im Geringsten dadurch etwas zu vergeben. Bezeichnend für sie dürfte sein, daß der „Cosmos“ von v. Humboldt ihr zu poetisirend geschrieben schien, wie sie denn auch gern und nicht ohne eine gewisse Ostentation eine entschiedene Abneigung gegen die schönen Künste überhaupt und gegen die Poesie in’s Besondere an den Tag zu legen beliebte.
Graf Eduard von B…, der von dem Allen grade das Gegentheil war, selbst ein wenig malte, große Virtuosität in der Musik besaß, und auch wohl gelegentlich dichtete, konnte ihr deswegen natürlich nicht eben groß imponiren. War er auch schon daneben ein guter Reiter, ein geübter Fechter, Schwimmer und kurz eine ganz ritterliche Erscheinung im modernen Sinne der Welt, so compromittirte ihn doch in Clotilden’s Augen sein Umgang mit allen jenen Künstlern, Dichtern und genialen Leuten, die sie Phantasten zu benennen und oft viel zur Zielscheibe ihres Witzes zu machen beliebte. Auch ihn selbst verschonte sie nicht, und wo sich nur irgend eine Gelegenheit ergab, gegen seine „sentimentalen Neigungen“, seine „romantischen Capricen“ und gegen alles Das zu Felde zu liegen, was sie die unmännliche Empfindelei der Herzen, den Krebsschaden der Zeit, die Verhinderung großer Thaten und Begebenheiten nannte, da that sie es so bitter, grausam und höhnisch, daß Niemand in der Welt zu dem Glauben kommen mochte: es würde je aus ihr und dem so Getadelten ein Paar werden können.
Und dennoch war das im Werk und zwar ganz ernstlich. Die Majorin von Gl…n, die um Alles gern einen Schwiegersohn wünschte, der zu lenken und leiten, mit einem Wort zu beherrschen ging, hielt ihrer Tochter die glänzenden Aussichten Graf Eduards, seinen Rang, seine Fügsamkeit, Milde und Hingebung so vielfach und in so bestechender Weise vor, daß sich diese zuletzt, wenn auch nicht ohne einiges Nasenrümpfen, dazu entschloß, ihn sich als offiziellen Freier gefallen zu lassen.
Was nun Graf Eduard selbst betrifft, so übernahm dieser, trotz der Verschiedenheit, die zwischen ihm und Clotilde herrschte, die ihm zugewiesene Rolle mit allem nur möglichen Eifer und Nachdruck, einmal, weil es von seiner eigenen Familie gewünscht ward, dann aber auch nur aus diesem Grunde, zu seiner Ehre sei es gesagt, zumeist weil er, sonderbar genug, ungeachtet er die Härte und Schroffheit im Charakter und Wesen der jungen Dame sehr wohl erkannte, und obschon er sich zeitweise und bei vielen nicht unwesentlichen Gelegenheiten sehr davon abgestoßen fühlte, dennoch einen keineswegs unbedeutenden Grad von Neigung für sie empfand.
Diese Neigung war so aufrichtig und fest in ihm, daß er, wie in der Welt so auch im Hause der Majorin von Gl...n selbst, nur Auge und Aufmerksamkeit für Clotilde habend, in dem letzteren eine andere, freilich untergeordnete, aber dennoch eigenthümlich hervorragende Erscheinung nicht beachtete, die doch sonst von Jedermann und selbst von den eifrigsten Verehrern Clotilden’s wahrgenommen wurde.
Ganz B…, und darunter besonders die Studenten und Elegants, sprachen von der schönen und reizenden Gesellschafterin der Majorin von Gl…n, einem jungen Mädchen aus Düsseldorf, deren Vater, ein ehedem begüterter Kaufmann, kurz nach achtzehnhundert und achtundvierzig aus Verzweiflung über einen unabwendbaren Bankerott sich das Leben genommen und eine zahlreiche Familie in peinlicher Lage und mißlichen Verhältnissen zurückgelassen hatte. Daß es unter solchen Umständen natürlich war, daß die älteste und die einzige der erwachsenen Töchter, Natalie mit Namen, um der Mutter nicht zur Last zu fallen, in Eile sich nach einer ihrer Erziehung und Bildung nur einigermaßen zusagenden oder mindestens nicht ganz widersprechenden Stellung umsah, wird man begreiflich finden, ebenso sehr wie in Folge dessen die Beeiferung, mit der sie den um jene Zeit vacant gewordenen Platz einer Gesellschafterin im Hause der Majorin von Gl…n annahm.
Natalie Bl…, über die wir etwas eingehender sprechen müssen, weil sie nicht nur eine hervortretende, sondern geradezu eine Hauptrolle in unserer Erzählung abzugeben haben wird, Natalie Bl… war nicht nur in ihrem Schicksal, sondern auch ihrer ganzen geistigen und körperlichen Beschaffenheit nach ein ganz contrastirendes Seitenstück zu Clotilde von Gl…n.
Clotilde mit ihrem festen, herrischen, überall dreist zufassenden Wesen, war hoch, schlank, vielleicht ein ganz klein wenig zu mager, dabei von braunem, nicht allzu üppigen Haar, dunklen, glänzenden, provozirenden Augen, distinguirten Zügen und einer stolzen, durch eine stets ausgezeichnete und etwas „gewagte Toilette“, wie der Salonausdruck heißt, imposant gemachten Haltung. Neben einer Perlenreihe der schönsten Zähne störten nur ein wenig seltsam, vielleicht von dem eigensinnigen Gebrauch kalten Wassers gehärtete, nicht eben schön und keinesweges zart geformte Hände.
Natalie, die etwa zwei Finger breit größer als Clotilde sein mochte, erschien gewöhnlich noch kleiner als diese, einmal, weil sie meist ein wenig in sich zusammengesunken ging, dann aber auch, weil ihre Formen feiner, voller und gerundeter, durch einen äußerst einfachen und unscheinbaren Anzug nicht nur nicht gehoben, sondern man möchte sagen, geradezu beeinträchtigt wurden. Ihre Zähne waren zwar eben so weiß und blendend, wie die Clotilden’s, aber nicht so klein und regelmäßig. Dagegen hatte sie eine so weiße, edel und schön geschnittene Hand, daß die ihrer jungen Herrin durchaus den Vergleich damit nicht aushalten konnte. Ihr Haar war blond und von einer bezaubernden Fülle; ihr Auge groß und blau, von einer herzgewinnenden Milde und Innigkeit des Blicks.
Wenn man Natalie so geschildert im Geist sich vergegenwärtigen mag, so wird man kaum noch nöthig haben, sich sagen zu lassen, daß diesem Aeußeren entsprechend ihr Inneres, Herz, Gemüth und Seele von hingebenster Wärme, zartester Weiblichkeit und aufopfernster Unterordnung waren. Von Jugend auf gewöhnt, Achtsamkeit und Pflege für jüngere Geschwister zu haben, sich fremdem Willen zu fügen, eigenen Wünschen und Verlangen in Rücksicht auf die von Anderen zu entsagen, Leidende und Kranke zu pflegen, war sie ganz und gar zum Typus jener Frauengestalten geworden, die man so vorzugsweise und gern als Deutsche bezeichnet.
War Natalie nun dadurch sowohl, wie durch ihre äußere Erscheinung von Clotilde verschieden, so nahm diese Verschiedenheit noch zu, wenn man das beachtete, was ihre Neigungen und Lieblingsbeschäftigungen ausmachte, und wo sie nun vollends mit ihrer Gebieterin in Zwiespalt stand. Die Gesellschafterin liebte die Musik mit einer Art von Schwärmerei, spielte den Flügel mit einer berauschenden Fertigkeit und sang mit einer Stimme, die ohne Zweifel auch in der Oeffentlichkeit und vor den strengsten Kunstrichtern ihr Glück gemacht haben würde. Schöne Gedichte und Romane las sie gern, politische oder wissenschaftliche Abhandlungen dagegen, wie sie Clotilde mit Leichtigkeit in sich aufnahm und verarbeitete, vermochte sie nur unvollkommen zu fassen und nur zu geringem Vortheil für sich und die Ausbildung ihres Geistes zu verwenden.
Die Tage, die sie in dem Hause der Majorin von Gl...n verlebte, waren, wie man sich vorzustellen im Stande sein wird, [143] nicht eben die glücklichsten für sie. Zwar wurde sie äußerst anständig und rücksichtsvoll behandelt, genoß den freien Umgang aller Leute, die das von Gl…n’sche Haus frequentirten, besuchte Theater, manchmal sogar Bälle und Gesellschaften, zu denen sie aus Artigkeit für ihre Damen, so wie aus Lust an ihren Talenten und sittigem, feinem Benehmen eingeladen ward, und kurz: es fehlte ihr äußerlich eigentlich nichts, aber dafür hatte sie innerlich einen desto größeren und schmerzlicheren Druck zu empfinden.
Clotilde, die gar keine Stimme besaß, den Gesang verachtete und die Musik verpönte, hatte ihr das Spielen auf dem Piano wie das Singen im Hause geradezu untersagt.
„Sie können es ja auswärts thun,“ hatte die Majorin bei Gelegenheit dieses Verbotes bemerkt. „Wenn wir in Gesellschaft und in Soireen sind, da erwerben Sie sich noch obenein ein Verdienst um denjenigen Theil der Versammlung, der weil er eines ernsten Gespräches unfähig oder keine Whistparthie findet, von Herzen vergnügt und dankbar ist, eine leichte Unterhaltung und Zerstreuung für seine Sinne zu erhalten.“
Daß die Musik weichen und empfindsamen Gemüthern ein stilles Bedürfniß der Seelenentlastung, ein Trost, eine Erhebung, kurz ein geweihter, von der Einsamkeit erst recht geheiligter Genuß sein könne, davon hatte die Majorin so wenig wie ihre Tochter einen Begriff. Daß die Aufsätze über irgend eine politische Frage der Gegenwart, einen Gegenstand der strengen Wissenschaft, welche Natalie oft ihren Gebieterinnen vorlesen mußte, für diese eine ertödtende Qual, eine wahre Marter waren, davon vermochten oder beliebten sie wenigstens sich ebenso wenig eine Vorstellung zu machen. Sie fragten nichts darnach, daß der Lesenden alle nöthigen Vorkenntnisse zum Verstehen dieser Dinge fehlten, und daß sie nicht im Stande war, sich dieselben ohne eine freundliche Anleitung, der sie sich gewiß gern unterworfen hätte, von selbst anzueignen.
Ja, man schien sich sogar etwas darauf zu Gute zu thun, daß man Jemanden hatte, der mit gefälligem, von geistiger Intelligenz zeugendem Organe Dinge vortrug, die ihm unbekannt waren, und über welche man sich vor seinen Augen wie über unverstandene Geheimnisse unterhalten konnte.
Nur zu oft leider findet man auch in geistig hochgestellten und vornehmen Kreisen etwas von jener Grausamkeit und Suffisance, die sonst nur dem Dünkel und der Roheit eigen, hier aus einer Art Lässigkeit und Nonchalance entsteht, und um so empörender und verletzender wirken, um so weniger sie als absichtlich gelten können. Die Art, wie die Majorin von Gl…n und ihre Tochter bei diesen Lectüren die Vorlesende außer Acht ließen, war ohne Zweifel keine vorgenommene oder offen bezweckte, sondern eben eine ganz von selbst dadurch entstehende, daß Natalie nicht mitzureden vermochte, allein eben deswegen für diese eine um so kränkendere und schmerzlichere, als sie von Clotilden’s Spottlust und abweisender Härte abgeschreckt, nicht wagte, mit irgend einer Bitte um Erläuterung hervorzutreten.
Graf Eduard von B…, der diesen Vorlesungen oftmals beiwohnte und aus einem taktvollen Herzen heraus die Unerquicklichkeit von Natalien’s Lage wohl erkannte, pflegte bei solchen Gelegenheiten gewöhnlich lachend zu erklären, daß er leider wenig von allen diesen Dingen gelernt und sie deswegen nur mangelhaft verstehend, um Auseinandersetzung der Hauptpunkte bitten müsse.
Obgleich er Natalie bei solchen und ähnlichen Anlässen äußerlich eben keine besondere Aufmerksamkeit schenkte und sie wirklich auch, wie wir schon gesagt, für dieselbe nicht besaß, so fühlte diese doch, daß sie, wie es allerdings auch der Fall war, nur ihr zu Liebe von ihm herbeigeführt waren. Und wie dem französischen Sprüchwort gemäß, noblesse obligé, ein gewisser Adel der Seele, eine feine unwillkürlich und zart aus dem Herzen steigende Aufmerksamkeit, gewissermaßen der Duft der Galanterie, am Meisten danken und verpflichtet macht, so fühlte auch Natalie gerade um dieser uneigennützigen, und man könnte sagen, unbewußten Artigkeit wegen die tiefste und innigste Verehrung für Graf Eduard, eine Verehrung, die in der übereinstimmenden Liebe zu Musik, Gesang und der schönen Literatur, die sie allerdings nicht all zu oft von dem Grafen sich offen dargelegt sehen, aber doch vielfach fast instinktmäßig in ihm ahnen konnte, noch einen bedeutenden Zuwachs erhielt.
Dieser Zuwachs der Verehrung ward in ihr durch nichts, sogar auch dadurch nicht gestört, daß sie im Laufe der Zeit über eine Leidenschaft des Grafen in Kenntniß gesetzt wurde, die der eigenen Familie desselben, wie auch Clotilde und ihrer Mutter große Bedenken über ihn einflößten.
Graf Eduard B… nämlich liebte das Spiel und vermochte leider der ihm am Rhein so oft und gefährlich nahtretenden Versuchung nicht immer sieghaft zu widerstehen. Schon mehrmals durch namhafte Verluste in große Verlegenheit gebracht, gewarnt von Freunden, bedroht von der Entrüstung seiner Familie und den Vorwürfen der Majorin und ihrer Tochter, fiel er dennoch dann und wann der umstrickenden Passion immer wieder zum Opfer.
Sein Vater, der schon viele seiner Spielschulden zu decken genöthigt worden war, hatte, nachdem er eben noch eine sehr beträchtliche und nicht ohne Schwierigkeiten von ihm zu bestreitende, eingezahlt, in einem sehr ausführlichen und ernstgehaltenen Briefe erklärt, nun auch fernerhin nichts mehr dieser Art für ihn thun zu wollen und zu können.
„Wenn Du nur irgend vernünftig sein und meine Lage bedenken willst,“ hieß es darin unter Anderem, „so wirst Du von selbst einsehen, lieber Sohn, daß Deiner thörichten Spiellust noch fernerhin auch nur den geringsten Vorschub zu leisten, eine pure Versündigung an dem Geschick Deiner Geschwister, namentlich Deiner Schwestern wäre. Beinahe schon ein Viertel unseres Vermögens hat Deine unglückselige Wuth das Glück der Karten und des Rouletts zu versuchen, dahin gerafft. Dir noch einen Heller mehr zur Fröhnung dieses Lasters in Aussicht stellen, hieße dem Ruine unserer Aller Thür und Thor öffnen. Darum noch einmal und so wahr Gott mein Zeuge ist, zum letzten Male, die heilige Versicherung, Eduard, daß ich nie und unter keine Umständen noch einmal eine Spielschuld für Dich decken werde. Ich will lieber die Schmach und den jammervollen Schmerz, Dich als verzweifelten Selbstmörder enden zu sehen, auf mich laden, als die Schuld übernehmen, eine große blühende Familie durch unzeitige Nachsicht mit dem verbrecherischen Leichtsinn eines Sohnes an den Bettelstab gebracht und auf Generationen hinaus elend und abhängig von Wind und Wetter in der Welt gemacht zu haben. Der Chef und das Haupt eines Hauses, der oder das nicht wie ein König im Kleinen, die Sicherheit und Zukunft der Seinen mit einer allwaltenden Gerechtigkeit im Herzen trägt, verdient nicht je nur einen Augenblick das Glück empfunden zu haben, im Schooße der Seinen zu weilen. Aeltern, deren Angedenken von den Kindern nicht gesegnet ist, und welche nicht nach Kräften Sorge dafür trugen, ihr Loos zu einem glücklichen und so in sich freien werden zu lassen, daß sie sich edel und gut unter den Stürmen ihrer Zeit zu entwickeln und eine ihnen zusagende Laufbahn ungehindert verfolgen können, diese sind allein als die den Staat wirklich untergrabenden, subversiven Bürger desselben anzusehen. Kein Revolutionär ist so schlimm, als es ein schlechter Familienvater ist. Und darum und aus diesem Grunde, mein Sohn, erkenne und würdige, wenn ich sage: nur dies Mal und dann nie wieder, stehe ich für die Schulden ein, die Du im Spiele machtest.“
Nach dem Lesen dieser Zeilen war Graf Eduard so erschüttert, daß er nicht nur sich, sondern auch den Seinen sowohl, wie der Majorin und ihrer Tochter die unverbrüchlich sein sollende Versicherung gab, nie wieder an den Rouletttisch treten oder eine Karte berühren zu wollen.
Erfreut von diesem Gelöbniß und auf die kindliche Liebe seines Herzens und auf den Ernst seiner Neigung zu Clotilden bauend, ward kurze Zeit darnach seine Verlobung mit dieser öffentlich angezeigt und begangen.
Es schien, daß die Braut durch den eben mitgetheilten Brief ihres künftigen Schwiegervaters, von der Würdigkeit der Familie, in die sie treten sollte, überzeugt, anfing, sich etwas näher und inniger an ihren Verlobten anzuschließen, während dieser wiederum sich ernster und gemessener gemacht, nun mehr auch eher Ton und Gelegenheit fand, sich in ihre Ideenkreise und ihr ganzes Wesen einzuleben.
Auf diese Weise verfloß denn ruhig und angenehm ein halbes Jahr, das nach allen Seiten hin anregend und genußreich, das Verhältniß der Verlobten so gesichert zu haben schien, daß man bereits an die Festsetzung des Vermählungstages zu denken und Pläne zu machen begann, wie und wo das künftige Leben einzurichten sein möchte, als plötzlich eines schönen Tages Freunde von Graf Eduard aus der Residenz auf einem Ausfluge nach dem [144] Taunus begriffen, lustig lärmend bei ihm einsprachen und ihn dringend einluden, mit von der Parthie zu sein.
Anfangs nicht recht dazu aufgelegt, gab er schließlich doch ihren Wünschen nach, weil er wohl glaubte, vor der Uebernahme ernster Verpflichtungen und eines eigenen Hausstandes sich noch einmal sein Junggesellenleben und seine Burschenfreiheit recht zu Nutze machen zu dürfen. Nachdem er also die Majorin von Gl…n und Clotilde von seinem Vorhaben unterrichtet und zu seiner Freude gesehen hatte, daß den Damen eine kurze Abwesenheit von seiner Seite der Ausstattungsbeschaffung und andern häuslichen Rücksichten wegen ganz erwünscht und zu Gefallen war, machte er sich, nach leicht erwirktem Urlaub von seinem Präsidenten, mit seinen Genossen vergnügt auf den Weg, welcher meist in einer ansehnlichen Cavalcade zu Pferde zurückgelegt wurde.
Nachdem man eine Zeit lang die Gebirgsgegend kreuz und quer durchstreift und sich zur Genüge an den schönen Höhenpunkten und den herrlichen Fernsichten erfreut hatte, zog man denn natürlich auch zu den Badeorten, die gerade in den Tagen dieses romantischen Wanderzuges sehr belebt und mit den elegantesten Gästen gefüllt waren. Nachdem man auch hier in erweitertem Kreise kleine Ausflüge, allerlei Parthien, Gesellschaften und Bälle mitgemacht, fingen zur Abwechselung einzelne aus der Genossenschaft an sich an den Spieltisch zu begeben. Graf Eduard, von diesen, die seine Spiellust kannten, aufgefordert, sein Glück mit ihnen zusammen zu versuchen, schlug zu ihrer Verwunderung dies Anerbieten aus und blieb dem verhängnißvollen Saale zu seiner eigenen, nicht geringen Freude, standhaft fern.
Unglücklicher Weise aber ward am Abend vor dem Auseinandergehen des vergnügten Reiseclubbs ein solennes Festmahl gegeben, in dessen Verlauf diejenigen jungen Leute, die seither gespielt und ziemlich Glück gehabt hatten, um wie sie sagten, nicht aus dem Zuge und der Schußlinie Fortunas zu kommen, anfingen, eine sogenannte „freundschaftliche Bank“ aufzulegen. Da es nun hieß, daß das Ganze nur eine halbe Stunde währen und hohe Sätze nicht angenommen werden sollten, so wurde beschlossen, daß Niemand unbetheiligt am Spiele bleiben sollte.
Graf Eduard protestirte nun zwar dagegen und setzte zu Anfang, als er sich einhellig überstimmt und wider Willen zum Pointiren genöthigt sah, um die Sache lächerlich zu machen, ganz kleine unbedeutende Geldstücke, aber unversehens und nur zu bald von dem Eifer der alten Spiellust überkommen, begann er heftiger und bedeutender aufzusetzen.
Kaum war eine Stunde vergangen, so hatte er alle guten Vorsätze und jede Mäßigung, seine Freunde aber ganz und gar jene Freundschaftlichkeit vergessen, unter deren Aegide die Bank eröffnet worden war. Weit davon entfernt, das Spiel bald wieder eingehen zu lassen, begann man vielmehr es immer wilder und leidenschaftlicher nicht allein weiter, sondern auch höher zu treiben. Die ansehnlichsten Summen in Gold, Silber und Papier rollten oder glitten herüber und hinüber. Aber bald schon reichte das, was vorhanden war, nicht aus. Man schrieb Zahlen auf Zettel und Karten, die mehr als um das Fünf- und Sechsfache die Geldvorräthe überstiegen, die man bei sich führte. Am Tollsten und Unbesonnensten wirthschaftete Graf Eduard, der durchaus einmal zu denen zu gehören schien, welche im Spiel Unglück zu haben bestimmt sind. Eine Karte nach der andern verlor, und je mehr er verlor, desto mehr setzte er, um damit die Chance des Wiederzurückgewinnens zu haben. Allein vergebens. Nur das Wenigste und Geringste rettete er, das Meiste blieb unwiederbringlich in der Kasse der Bankhaltenden, wo es, nachdem er einen mit Zahlen beschriebenen Zettel nach dem andern ausgegeben, zuletzt so anschwoll, daß er sich selbst nicht mehr den ganzen Umfang seines Verlustes zu vergegenwärtigen im Stande war.
Als man endlich die Sitzung aufhob und die beschriebenen Zettel zum Einlösen sammelte, fand sich, daß Graf Eduard gegen zweitausend Thaler verloren hatte, eine Summe, über die er, wie er wohl wußte, im Moment nicht zu verfügen vermochte, welche er aber dennoch auf Ehrenwort versprach, in spätestens acht Tagen eingeliefert zu haben.
Mißmuthig und verstimmt ging hiermit die Gesellschaft auseinander, die sich durch die letzten Stunden ihres Zusammenseins die angenehmen Eindrücke und die freundschaftlichen Empfindungen, die sich dadurch in ihr erzeugt, so vollständig zerstört und vernichtet hatte, daß jeder nur rasch und ärgerlich vom Andern loszukommen und des Abschieds ledig zu sein suchte.
Als Graf Eduard in B. wieder angekommen war, ließ er es seine erste Sorge sein, die Spielschuld zusammen zu treiben. Ein paar hundert Thaler, die er liegen hatte, mit dem vereinigt, was aus einigen unnöthigen Schmucksachen gelöst wurde, machten ungefähr tausend Thaler voll. Nun fehlte aber beinahe noch die Hälfte, und diese herbei zu schaffen, schien ihm mehr und mehr eine Unmöglichkeit zu werden. Freunde, die er in’s Vertrauen zog, zuckten die Achseln und entschuldigten sich damit: selbst in Verlegenheit zu sein, bei offenkundigen Wucherern dagegen scheute er sich anzufragen, um seinen Leichtsinn nicht gleich wieder an die große Glocke zu hängen. Auch wußte er ja, daß er von seinem Vater Geld zur Ausstattung in dieser Zeit erhalten würde, und demzufolge also nur Aufschub bedurfte. Allein, wie eben den bekommen? Er wußte sich nicht zu helfen, und entschloß sich aus diesem Grunde zuletzt ganz offen mit Clotilde über diese Angelegenheit zu sprechen.
Noch an demselben Tage, an dem er diesen Vorsatz gefaßt hatte, machte es sich, daß er mit seiner Braut nach Tische allein im Zimmer blieb. Nachdem er nun die Sache so geschickt und zart wie möglich eingeleitet, kam er denn schließlich mit der Darstellung seiner Verlegenheit und der Bitte hervor unter irgend einem Vorwande, sich das Geld von der Majorin aushändigen zu lassen und ihm dann zur Abzahlung seiner Ehrenschuld überantworten zu wollen.
Clotilde, die sein Geständniß und Ersuchen mit ziemlichem Widerwillen und einer nur sehr erzwungenen Zurückhaltung mit angehört hatte, brach nun, da er geendigt, mit heftigen Vorwürfen über seinen Leichtsinn und das Schwanken seiner Vorsätze gegen ihn los, zum Schluß ihm kurz und bündig erklärend, daß die Mutter nur eben so viel Geld, als im Moment zur neuen Einrichtung und einer möglichen Uebersiedelung nach einem andern Orte hin gebraucht werde, flüssig gemacht habe und deswegen auf keinen Fall sich zu einer Extraausgabe dürfte verstehen wollen und können.
„Ihr Deinen Leichtsinn und die Verlegenheit offenbaren, in die Du Dich dadurch gebracht,“ sagte sie endlich mit dem sichtlichen Bemühen von dem Gegenstande abzulenken, „hieße nur Dir und mir die heftigsten Vorwürfe von ihrer Seite zuziehen und doch keine Hülfe erlangen. Lassen wir also die Mutter aus dem Spiele, und sieh zu, Dich auf andere Art zu arrangiren.“
„Nun gut,“ sagte Eduard, „höre denn einen andern Vorschlag, einen Vorschlag, der allerdings etwas gewagt aussieht, aber Dir nicht zu gefährlich vorkommen wird, wenn ich Dir erkläre, daß ich alle Mittel rasch und gleich zu der mir nöthigen Summe zu gelangen, erschöpft habe und nun keinen anderen Ausweg mehr weiß, das von mir gegebene Ehrenwort einzulösen.“
„Das klingt ja ganz verzweifelt und feierlich!“ schaltete Clotilde ein.
„Und so ist es auch,“ entgegnete Eduard gemessen, nach einem augenblicklichen Schweigen folgendermaßen fortfahrend: „Du weißt, wo Deine Mutter ihre Gelder und Werthpapiere hat. Suche Dir den Schlüssel dazu zu verschaffen und nimm ohne ihr Wissen tausend Thaler davon.“
„Willst du mich zur Diebin machen?“ fuhr Clotilde entrüstet auf, indem sie Miene machte sich zu entfernen.
„Höre mich ganz aus,“ sprach Eduard, sie zurückhaltend mit unbeirrter, bittend klingender Stimme: „Ich sagte Dir ja schon, daß die Sache schlimmer aussieht, als sie ist. An Stelle des weggenommenen Geldes legst Du einen Zettel, auf welchen Du etwa Folgendes schreiben magst: „Zürne nicht, liebe Mutter, wenn Du einen Theil der hier niedergelegten Summe vermissest; ich habe ihn für Eduard gebraucht, der sich in augenblicklicher Verlegenheit befindet und ihn in den nächsten Tagen ersetzt haben wird.““ – Kommt Deine Mutter zu dem Schranke und entdeckt sie die Entwendung, so wird sie zart genug sein, davon nicht weiter Notiz zu nehmen. Vielleicht oder vielmehr wahrscheinlich aber wird sie indeß gar nicht zu dem Gelde sehen, und da ich in einigen Tagen, wo ich Geld von zu Hause bekomme, das Fehlende ersetzt haben werde, so bleibt und muß die Sache ein Geheimniß zwischen uns Beiden bleiben.
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Nicht die Kriegswissenschaft, sondern sie selbst, die Wissenschaft überhaupt, die moderne Göttin des Friedens und der Freiheit für alle Menschen meinen wir.
Die jetzige Wissenschaft giebt dem jetzigen Kriege Formen, Gestalten und Wendungen, welche die Führer weder zu benutzen, noch zu würdigen wissen. Es sind lauter Erfindungen und Verbesserungen, von denen man sich in den Schlachten bei Leipzig und Waterloo noch nichts träumen ließ. Wo waren im letzten Kriege die Zündnadelgewehre, die gereifelten Büchsen, die ovalen und spitzen Kugeln, die Revolvers, die Kriegsdampfschiffe, die Eisenbahnen, die elektrischen Telegraphen, die Lancaster- und Dampfkanonen?
Die 600 Könige, welche England beherrschen, verachteten während ihres langen Friedens alle Wissenschaft, insofern sie Miene machte, sich in ihre sieben Kriegsministerien einzudrängen, während ihre Friedenspolitik stets daran arbeitete, den Weltfrieden immer unmöglicher zu machen. Nachdem sie nun binnen wenig Monaten über 120 Millionen Thaler und mehr als 25,000 Soldaten in’s Wasser, in den Schmutz, unter die Erde geworfen, nachdem sie Europa’s Kultur auf’s Tiefste erschüttert und ihr eigenes gehumbugtes Volk durch kindisches Ungeschick und greisenhafte Hinfälligkeit aufgerüttelt, hat man endlich angefangen, sich vergessener und verhöhnter Erfindungen zu erinnern, so daß sie jetzt plötzlich der Wissenschaft und Kunst allein zumuthen, sie zu retten und Sebastopol zu nehmen.
Die große Kanonengießerei von Nasmyth schmiedet jetzt Tag und Nacht furchtbare Feuerschlünde, da die gegossenen sich vor der Wissenschaft als schwächer erwiesen haben. In Low Moor, Newcastle u. s. w. arbeiten Tausende an Construction neuer Eisenkanonenboote neuester Mathematik mit geschmiedeten Eisenwänden von 4 Zoll Dicke, jedes für 12 monströse Lancasterkanonen.[1] Man hat eine ganze doppelte Eisenbahn mit allem Zubehör nach der Krim abgesandt. Man zieht elektrische Telegraphen von London bis nach dem Kriegsschauplatze. Man schickt Photographen zu Schiffe vor die russischen Festungen, um im Fluge deren Bilder zu fixiren. Man läßt an allen möglichen Orten neue, wissenschaftliche Zerstörungsinstrumente gießen, schmieden, bauen und bilden, sogar Dampfwurfgeschosse.
Hierbei wollen wir etwas verweilen. Zuerst arbeitet die Anstalt von Nasmyth an einem fabelhaften Ungeheuer, genannt schwimmender Dampfmörser: (steam floating mortar). Er wird den unterm Wasser unsichtbaren Theil dicker, undurchdringlicher Dampfboote von Schmiedeeisen bilden. Das Boot naht sich, ohne sich um den Kugelregen zu bekümmern, langsam dem feindlichen Schiffe und entzündet beim ersten Zusammenstoße das Pulver in dem Mörser, der sofort dem feindlichen Schiffe sechs Fuß unterm Wasser eine Platz-Bombe in die Eingeweide schicken würde, gegen welche es keine Pille als Gegengift giebt. Nasmyth, der Erfinder behauptet, daß der so applicirten Bombe die dicksten Eisen- und Eichenwände nicht widerstehen könnten, und so eine einzige Pille dem mächtigsten Kriegsschiffe mit einem Schlage das Lebenslicht ausblasen würde. Dieses Ungeheuer ist noch im Werden, aber die Dampf-Flinte von Jacob Perkins schon ein Mann in den besten, nämlich von just 30 Jahren. Jacob Perkins zeigte seine Dampfflinte [146] den aristokratischen Salons von England zuerst 1824. Da er aber nicht „von Geburt“ war, dankte man ihm für das hübsche Schauspiel und schickte ihn wieder in seine Werkstatt. Zwei Jahre später ließ sich der große Wellington herab, das Ding auch mal schießen zu sehen. Perkins machte ihm das Vergnügen, in noch nicht einer Minute 60 Kugeln 35 Yards weit durch eine Eisenplatte von 1/4 Zoll Dicke, dann 60 Kugeln durch 11 harte, je einen Zoll weit hinter einander aufgestellte Holzbretter zu schießen und endlich eine gerade Linie von mehreren hundert Löchern in ein anderes Brett zu machen. Der große Herzog dankte für das interessante Schauspiel und ließ die Armee in rothen Röcken, entsetzlichen Bärenmützen und mit dem alten Feuerschloßgewehre in dem Rufe, daß sie Waterloo allein gewonnen und alle Welt besiegen würden. Perkins ward in den Winkel geworfen, machte aber für die französische Regierung mehrere Dampf-Batterien, welche 60 Kugeln von je 5 Pfund in der Minute schossen. Was aus diesen Batterien geworden, ist nicht bekannt. Vor Sebastopol scheinen sie nicht mit zu arbeiten.
Perkins, der Sohn, vervollkommnete die Dampfflinte fortwährend und ließ sie dann in der Adelaide-Gallerie zu London öfter arbeiten. Wir geben im beifolgenden Bilde eine Vorstellung von ihr. Das Merkwürdige dabei ist zunächst die größere Wurfkraft des Dampfes gegen die des explodirenden Pulvers, obgleich ersterer nur einen Druck von 40 Atmosphären ausübt, das Pulver aber von 500 bis 1000. Perkins erklärte dies scheinbare Wunder durch die größere Ausdehnungskraft des Dampfes, so daß er auf die Kugel ungeschwächt wirke, bis sie den Lauf verlassen habe, während die plötzlich aus dem Pulver entwickelte Luft nur im ersten Entstehen den bedeutenden Druck ausübe, aber mit jedem Zoll Entfernung der Kugel in geometrischen Proportionen abnehme. Die Dampfflinte ist eine Dampfmaschine, wie jede andere, nur mit entsprechender Construction. Der Dampf wird unterm Fußgestelle entwickelt, das die ganze Maschine trägt und auf ein Paar Rädern von einem starken Manne gezogen werden kann. Ein Paar Ventile, mit der rechten und linken Hand bewegt, öffnen und schließen den Dampf, der die Kugeln treibt, so daß es von der Uebung des Mannes abhängt, die die Ventile regiert, wie schnell diese Bewegungen und Entladungen auf einander folgen; doch sind 60 Schüsse in der Minute schon nach ein Paar Stunden Uebung keine Kunst mehr. Die Vollkommenheit der Maschine besteht besonders darin, daß Explosionen oder nur Beschädigung des Feuerbehälters und Dampfkessels ganz unmöglich geworden sind. Construction und Einrichtung dieser innern Vorzüge gehören der Fachwissenschaft an, die wir hier ausschließen. Der Lauf oben kann während des Schießens horizontal gedreht werden, so daß ein ordentlicher Dampfschütze eine große Front von Soldaten in schnurgerader Linie, 60 per Minute, wegblasen könnte, ohne einen Mann dazwischen stehen zu lassen. Wenn der Lauf einmal gerichtet ist, bleibt er in der Linie, so daß man jeden Mann genau an derselben Stelle treffen würde. Zehn solche Apparate könnten in einer Stunde 36,000 Mann tödten, vielleicht auch mehr in gehöriger Nähe, von wo manche Kugel zwei Mann durchlöchern würde.
Daß man solche Dampfmaschinen verdicken und verstärken, also Dampfkanonen machen kann und will, läßt sich leicht denken, nachdem man sich einmal entschlossen hat, derartige Flinten construiren und nach der Krim bringen zu lassen, um so den Mangel an Mannschaft und Fremdenlegionen möglichst zu ersetzen. Wir bemerken nur noch, daß ein Querdurchschnitt des Haupttheiles der Dampfschießmaschine auf unserer Abbildung klar macht, wie die Kugeln aus dem obern Cylinder herunter in den Lauf fallen, von wo sie von dem Kampfkolben herausgeschleudert werden.
So viel von dem Dampfe als Kriegsmanne für unsere christlichen Brüder. – Wie kömmt’s, daß Schönbein’s Schießbaumwolle, die 1846 alle Welt entflammte, die viermal stärker und viel schneller explodirend ist als Schießpulver, abgesehen von unendlich größerer Wohlfeilheit, Sicherheit des Fabricirens und mancher Vortheile für Flinten und Kanonen, noch nicht unter die Soldaten gegangen? Nun, es sind wohl nützlichere und wichtigere Erfindungen länger vernachlässigt, verhöhnt, verfolgt und begraben worden, ehe man wieder daran dachte oder sie zum zweiten Male in’s Leben rief. Man sagt, die Russen hätten bereits bedeutend in Schießbaumwolle gemacht von Sebastopol aus. Außerdem läßt jetzt die österreichische Regierung 160 Kanonen für Schießbaumwolle gießen. Die Engländer, welche am Tiefsten in der Baumwolle und Tinte dazu sitzen, dachten erst an die Schießbaumwolle wieder, als ihnen nicht nur das Pulver, sondern die ganze Eroberung Sebastopols zu Wasser geworden war. Nun fangen sie auch an, die sanfte Baumwolle in Schwefelsäure zu tauchen, um wo möglich ihre Aristokratie noch zu retten.
Nachdem die Engländer nun auch für 18 Millionen Pfund Sterling und 25,000 Leben die Erfahrung erkauft haben, daß man nicht von dem Fleische leben kann, welches man in der Hand hat, sondern es auch einen Weg aus der Hand zum Munde geben muß, d. h. von Balaklava nach dem Lager, nahmen sie plötzlich eine doppelte Eisenbahn auf den Rücken und trugen sie direkt nach der Krim. Das ist eine der originellsten Kriegs-Expeditionen, über die wir ein Wort sagen müssen. Die großen Schienen- und Maschinengießereien von Peto und Brassey, welche ganz England mit einem dichten Labyrinthe von Doppeleisenbahnen überstrickt haben, bekamen auf einmal Auftrag, für die Regierung über Hals und Kopf eine Krim-Eisenbahn zu machen. Sie übernahmen den Auftrag mit dem Versprechen, ihn ohne Profit, aus Vaterlandliebe auszuführen, und riefen in den Zeitungen Maurer, Zimmerleute, Tischler, Schmiede, Maschinisten u. s. w. auf, sich für hohen Lohn bei ihnen einzufinden. Die Hauptarbeiter wurden auf sechs Monate fest mit 10 bis 20 Thaler wöchentlich engagirt. So wurde die doppelte Krim-Eisenbahn hier in etwa drei Wochen fertig und braucht nun blos noch 3000 englische Meilen weit verschifft und dort durch Moräste und über Felsen gelegt zu werden. Die ersten Eisenbahn-Schiffe gingen am 21. December von London, Liverpool, Hull und Sunderland ab, die andern folgten kurze Zeit darauf, im Ganzen zehn Schiffe mit allen Materialien und Mannschaften, die zu 15 englischen Meilen Eisenbahn gehören: 500 Mann des Eisenbahn-Regiments, 36,000 Centner Schienen, 6000 eiserne Querbalken, 60,000 Centner Maschinen, 600 Fuder Bauholz, Krahne, Wagen, Karren, Aexte, Spitzhacken, Sägemaschinen, Schmieden, Zimmermanns-Werkzeuge, Barren, mehrere tausend Yards dicken Eisendraht, Häuser und Buden, Vorräthe für den Magen, ölgetränkte Oberkleider, Kohlen, Oefen, Küchen, Backöfen, Aerzte, Bratpfannen, Krankenwärterinnen, Medicin, Geistliche, Schulmeister und am Ende wohl auch noch guten Rath. Die Sache ist aber, daß die auf 20,000 Leichen ohne Profit gebaute Eisenbahn von einem Fünfzigstel der in Unverstand und Aristokratie Hingeopferten für ein Hundertstel des jetzigen Preises hätte von bloßem Holz gleich im Anfange gebaut werden können, so daß die jetzige englische Krim-Armee, von der nur noch 10,000 Mann halb auf den Beinen sind, 20,000 Mann stärker auf derselben sich Lebensmittel holen könnte, statt sie zur Unterlage zu verwenden. Schrecklich sind die neuen, kriegerischen Zerstörungs-Instrumente, aber Lämmer gegen Einbildung, Privilegium, „Geburt“ und ererbten und durch höhere Erziehung ausgebildeten Unverstand. –
Die Krim-Eisenbahn wird durch stehende Maschinen ihre Lasten an Drähten ziehen, so daß es zuletzt wie am Schnürchen gehen mag, in einer Zeit, wo die Wagen vielleicht auch ohne Eisenbahn ganz gut fortkämen; denn die englische Regierung hat’s im Ganzen so weise angefangen mit ihren sieben Kriegsministerien und ihrer „Erbweisheit“, daß sie mit den Vorbereitungen zum Winter so ziemlich fertig sein wird, wenn der letzte Nachtfrost unter der Frühlingssonne geschmolzen ist. Kossuth, der jetzt in der „Sonntags-Times“ jeden Sonntag die giftigsten Geschosse gegen die englische Regierung schleudert (wie es alle andern Zeitungen auch thun, nur nicht so effectvoll) rechnete ihr neulich vor, daß der ganze ungarische Krieg, in einem Lande ohne Geld, ohne Maschinen, ohne Fabriken, in drei Monaten für mehr als 150,000 Mann mit allem Zubehör fix und fertig gewesen und kaum ein Drittel der einzigen jetzigen, englischen Expedition gekostet habe.[2]
Und wie betheiligte sich bisher die Electricität am Kriege? Sehr oft durch falsche Colophoniums-Theaterblitze, sogar schon einmal durch völlige, totale Eroberung Sebastopols zu Gunsten einiger Geldkönige, welche dies vorher so bestellt hatten. Als sie ihr Geld aus diesem glücklichen Ereigniß gezogen, stellten sie Sebastopol wieder fix und fertig hin und sogar fester als vorher. Die Electricität beschäftigte sich dann sehr lange damit, alle Tage zu melden, daß außer Cholera und zunehmender Sterblichkeit im englischen Lager nicht vorgefallen wäre und über den „vier Punkten“ [147] immer noch die vier Haken von Fragzeichen obzuschweben fortführen. Doch war es immer schon ein Verdienst, daß die falschen und richtigen Nachrichten in etwa ein Viertel der Zeit, die 1815 noch nöthig gewesen wäre, ankamen. Aber die Electricität soll nur aus directer Quelle schöpfen und von London bis auf den Kriegsschauplatz selbst ihre Drähte ziehen. Bis jetzt geht der elektrische Telegraphenstrom von London und Dower unter dem Meere hin nach Calais und Ostende bis zu den südöstlichen Grenzen Oesterreichs, und wurde neuerdings bis nach Bucharest im Herzen der Wallachei ausgedehnt. Hier fand man schon einen Draht bis Varna und zu den Mündungen der Donau. Und in den ersten Tagen des Februar wurde in London beschlossen, von da aus bis Galatz und Ibraila, und von dem Sulina-Munde der Donau unter dem Meere hin bis gerade gegenüber, zum Cap Chersones auf der Krim fortzufahren. Dieser Plan ist großartig und wird wahrscheinlich ausgeführt, wenn der Friede den Drähten keine edlere Aufgabe stellt, als Schlachtenberichte und Todtenlisten durch Europa zu zucken; wahrscheinlich, da die Erbweisheit der Aristokratie direkt nichts damit zu thun hat. Uebrigens ist schon ein fahrender elektrischer Telegraph auf der Krim thätig, so eine Art „fliegender Buchhändler“ mit stets den neuesten Nachrichten. Die elektrische Telegraphen-Compagnie Londons schickte während des Novembers zwei elektrische Telegraphen-Wagen mit zwölf Pferden in’s englische Lager, vermittelst welcher man überall, selbst mit Schiffen innerhalb einer Entfernung von zwölf englischen Meilen elektrotelegraphische Verbindungen improvisiren kann. Jeder Wagen enthält vollständige elektrische Batterien mit der nöthigen Menge aufgerollten Drahtes. Um zwischen zwei Orten telegraphische Correspondenz herzustellen, läßt man den Draht durch Pferde von einem Ende bis zum andern ziehen, und die Sache ist sofort im Gange. Dieser wandernde Telegraph hat bereits wichtige Dienste geleistet, und die entferntesten Posten, zwischen denen Flüsse, Berge und Moräste lagen, bei Tag und Nacht in enger Verbindung erhalten, so daß sie ohne Verzug im Einklange zu handeln im Stande waren. So ungeheure Vortheile bietet die Wissenschaft, und so endlos und unentwirrbar und dick war der Unverstand und die Liederlichkeit der erbweisen Leiter der Politik und des Krieges, daß sie etwa fünf Mal so viel von ihrer eigenen Helden-Armee todt machten, als alle russischen Kugeln, Bayonnette und Säbel zusammen.
Noch feuert man keine Kanone mit Elektricität ab, aber diese Wissenschaft ist schon unterwegs zur Praxis. Vielleicht macht man noch vollständige Blitze des Himmels und läßt sie auf den Feind einschlagen. Wenigstens ist bereits ein viel kolossaleres Werk der Elektricität im Werden. Man erinnert sich, daß Fürst Menschikoff im Eingange zum Hafen von Sebastopol mehrere Kriegsschiffe versenken ließ, um ihn so gegen den Feind zu sperren. Diese Schiffe soll der Blitz aus dem Meeresgrunde in die Luft sprengen. Vor einigen Wochen gingen zu diesem Zwecke dreizehn ungeheuere Eisen-Cylinder, jeder mit tausend Pfund Pulver gefüllt, von England ab. Sie sollen zu den versenkten Schiffen versenkt und dort unten vermittelst elektrischer Batterien entzündet werden. Die Sache selbst würde unstreitig gelingen, wenn sie die Russen nicht zu verhindern wüßten. Man hat in England für Hafen- und Dock-Bauten schon größere Sprengungen mit Elektricität unter Wasser vorgenommen.
Eine noch neuere, als die elektrische Telegraphie, besteht aus Buchstaben, zusammengesetzt aus lebendigen Soldaten, ihren Gewehren, Mützen und Taschentüchern (in Ermangelung der sonst üblichen kleinen Fahnen). Sie bewährte sich besonders bei der ersten Landung auf der Krim und ist das Hauptgeheimniß ihrer meisterhaften Ausführung.
Gute Fernröhre, die jetzt jeder commandirende Offizier hat, machen diese Buchstaben und Sachzeichen bei hellem Himmel auf eine deutsche Meile weit und selbst weiter leserlich. Wir bemerken hier noch, daß zwischen den verschiedenen Schiffen mitten auf dem Meere jetzt von allen seefahrenden Nationen eine vollständige Zeichensprache vermittelst Fahnen und ihrer Stellungen, Farben und Formen gesprochen und verstanden wird, so daß sich Schiffe in meilenweiter Entfernung mitten im Laufe ganze Geschichten erzählen können. Außerdem giebt es eine besondere Zeichensprache vermittelst Kugeln an dem Hauptmaste oben in Kriegshäfen, und dann noch eine andere telegraphische Correspondenz zwischen Kriegs- und Kauffahrteischiffen vermittelst einer Combination von Flaggen und Kugeln. So weit, bis zur deutlichen, kosmopolitischen, gebildeten Sprache hat man das alte rohe Signalwesen ausgebildet. Im Alterthume beschränkte man sich lange auf Feuersignale.
„Erhebet ein Feuerzeichen in Bethhaccerem,“ sagt Jeremias, „denn Böses nahet vom Norden und große Verwüstung.“
Troja’s Fall wurde durch eine Reihe von Feuersignalen nach Griechenland hinüber telegraphiert, wie es Aeschylus in seinem „Agamemnon“ so ergreifend schildert. Polybius beschreibt in späterer Zeit eine etwas vollkommene Art von Telegraphie zwischen Schiffen, die aber sehr complicirt und unsicher war. Der geheimnißvollen Arme, welche bis zur Anstellung des Blitzes als Briefträger und Telegraphist auf den Dächern der Telegraphen-Bureaux langsam und unbeholfen Grimassen schnitten, wird sich wohl noch Jeder erinnern. Erst im Jahre 1798 wurde in England eine ordentliche Marine-Telegraphensprache von 400 Sätzen und Zeichen eingeführt. Man hat es jetzt bis zu etwa 2000 gebracht, die ich aber nicht verstehe. Wer die militärische Telegraphensprache studiren will, wo der Soldat den Grundstrich, seine Flinte, Haarstriche und Taschentuch und Mütze die Haken daran bilden, kann sich an den Erfinder selbst wenden, den französischen Capitain de Reynold Chauvancy, dessen betreffendes Werk sowohl in’s Englische als in’s Deutsche übersetzt worden ist.
Wie weit die Wissenschaft im Kriege noch gehen wird, ist noch gar nicht abzusehen. Der Engländer Malson, Erfinder eines elektrischen Lichtes, welches das der Mittagssonne übertrifft (ich habe Proben davon gesehen), hat vorgeschlagen, Sebastopol damit in der Nacht von Luftballons aus zu erleuchten und zu besehen, um die schwachen Stellen und alle Geheimnisse haarklein zu studiren. Vielleicht findet sich auch mit der Zeit Einer, der da sagen kann, wie man’s machen muß, es zu nehmen, wenn die Erbweisheit zuletzt doch nicht noch vorziehen sollte, es stehen zu lassen.
Um noch eine solide Wissenschaft zu erwähnen, welche allen Denen bedeutend zu Gute gekommen ist, die nicht zu weit davon weg waren auf der Krim, so ist das frisch eingemachte Fleisch, die frisch eingemachten Früchte u. s. w. (nicht in Salz und Essig, sondern blos in luftdichten Verschluß gegen unersättlichen Sauerstoff und sonstige Appetit fühlende Luftarten) ein Segen, den nur Die würdigen können, welche Monate und Jahre lang zur See oder in Wässern und Wildnissen waren. Jetzt conservirt man alles Vergängliche, selbst die zartesten Früchte und Milch blos durch luftdichten Verschluß, so daß man nicht mehr sagen kann: Alles Gleich vergeht wie Heu. Manche verstehen sogar die Kunst, schon Gewesenes und Verwes’tes hübsch frisch zu halten.
Zündnadelgewehre, gereifelte Büchsen, Lancaster-, Dampf- und elektrische Kanonen, Spitzkugeln, ovale Kugeln, Schmiedeeisenkanonen, Schmiedeeisenkanonen-Boote mit Dampf-Bomben-Mörsern, Schießbaumwollenkanonen, elektrische und lebende Telegraphen, Kriegseisenbahnen, fahrende Telegraphen, elektrische unterseeische Explosionen, die Sonne bei Nacht in Luftballons mit Dampfkanonen vielleicht, kurzum Wissenschaft im Kriege, wodurch sich zwei feindliche Heere, jedes 300,000 Mann stark, binnen drei bis vier Stunden bis auf den letzten Mann aufzehren können, wie die bekannten wüthenden Löwen in der Wüste, die sich gegenseitig so weit auffraßen, daß man von beiden nur noch die Schwänze auf dem Kampfplatze fand (nur mit dem Unterschiede, daß hier die Häupter übrig bleiben würden).
So weit kann’s die Wissenschaft im Kriege bringen. Nein, jedenfalls noch weiter, denn wenn es erst sicher ist, daß, wie bei schlechten Schachspielern, am Ende nur König und Königin und ein vereinsamter, halb närrischer Springer übrig bleiben, spielt man entweder gar nicht mehr Kriegsschach, oder die Schachfiguren laufen auf beiden Seiten davon oder fallen sich in die Arme und sagen: großer christlicher Gott, wir sind ja alle Brüder, die sich noch dazu im Leben zum ersten Male sehen und sich gegenseitig nichts zu Leide gethan haben können. Also trinken wir lieber etwas Feuchtes mit einander und rauchen eine Friedenspfeife.
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Wir wissen aus einem frühern Artikel der Gartenlaube, daß im Thone ein helles, geschmeidiges und Vieles versprechendes Metall wohnt, welches man neuerdings schon in ganzen Barren zur Prüfung vorlegte; ja man kann mit Recht darum behaupten, daß im Thone, in der Lehmgrube ein Silber gegraben werde. – Aber
wenn je industriöse Köpfe die schmutzige Thongrube auch in anderer, uneigentlicher Bedeutung zu einer wahren Goldgrube gemacht
haben, so gilt dies wohl in keinem Falle mehr von einem deutschen Boden, als von dem Krugbäckerlande, von jenem kleinen Ländchen, wo Tausende von Händen beschäftigt sind, aus der rohen, klebrigen Scholle Gold zu formen.
Es war im Frühlinge verwichenen Jahres, als das mainzer Dampfschiff mich endlich in Bonn an’s Land setzte, von wo ich zu Fuß den Rheingau zu durchwandern gedachte. Mein Weg führte mich auf dem rechten Ufer gar bald in die herrliche Gegend Montabaurs und somit auf nassauer Boden. Als ich über die Vorberge des Westerwaldes an der westlichen Seite desselben hinabgestiegen war, sah ich mich im Ensgergaue, einer Landschaft, die beim genaueren Betrachten einer gewaltigen Ameisencolonie gleicht. Da wühlen und stechen fleißige Hände in dem Boden herum, der weithin der ergiebigste Töpferboden ist. Die Flugtrappformation, die, mit Basalt abwechselnd, im sogenannten hohen Westerwalde vorherrschend ist, hat sich hier, in den Abhängen nach dem Ensgergaue, mit Thonschieferschichten bekleidet. Wo dieser mit Sand und Humus gemengt war, gab er, wie zumeist, wohl einen schweren und fetten, doch ergiebigen Boden. Doch ist die Dammerde häufig durch die mächtigsten Lager von Thonen unterbrochen.
Gerade im engeren Thale setzt sich ein 20–30 Fuß mächtiges Lager auf mehrere Meilen Weite fort. In zehn großen Gruben hat man bis jetzt den unterirdischen Schätzen einen Abfluß verschafft; da stechen und graben, tragen und karren die „Gräber“ zu den Werkhäusern, wo wiederum „Dreher, Former und Kaster“ die Verwandlungen mit den Thonschollen vornehmen. In dem liegenden Ofen wird dann das Steingut gebacken, wie der Nassauer spricht (wir sagen gebrannt), und eben deshalb heißt die ganze, etwas abgesonderte Gegend das Krugbäckerland oder Kannenbeckerviertel. Die Krugbäcker bildeten schon seit alten Zeiten eine gar stattliche Zunft im Lande; in kleinen Städten von kaum einigen Tausenden Einwohnern sitzen ihrer oft 20–25 neben einander; doch ist auch seit dem 1. Juli 1819 die Zunftverfassung aufgehoben und an deren Stelle Gewerbefreiheit getreten. – Weit und breit aber gehen die Waaren.
Fern auf Ungarns Haiden raucht der Czicos oder der Kaneß seinen Knaster aus einem netten Thonpfeifchen. Italien, Frankreich und die Niederlande sind für die irdenen Pfeifen der beste Markt, und oft verdankt der im Schatten eines Palastes ruhende Lazzaroni Neapels ebenso gut wie der keuchende Lastträger in Haag und Rotterdam die Glückseligkeit, die ihm eben sein Pfeifchen giebt, zum großen Theile unseren guten, nassauer Krugbäckern. Ja die große Thonwaarenfabrik von Vingender in Höhr schickte, wie mir ein Factor erzählte, schon seit einigen Jahren Sendungen ihrer Fabrikate bis in’s Yankeeland. Viele Waaren gehen auch trotz der hohen Zölle bis nach Rußland, und zwar nicht blos Pfeifen, sondern auch vorzüglich Blumennäpfe, Fensterterrinen für Schlingpflanzen und steinere Krüge. Seitdem Oesterreich freilich den neuen Zolltarif annahm, hat sich die Einfuhr dorthin um Etwas verringert.
Hast Du ein Mal, lieber Leser, eine selterser Wasserflasche, oder wie’s in Nassau heißt, einen Wasserkrug genauer angeschaut? Gewiß hat Dir die etwas plumpe Form der dickwändigen, schwachglasirten Flasche nicht gefallen; vielleicht meinst Du auch, daß der Thon bei dir zu Lande feiner und nicht so schmutzig grau vorkomme. Aber gerade mit diesem Thone ist der Thonwaarenfabrikation in hiesiger Gegend der rechte Zug gekommen und die Nachbarschaft der Mineralquellen sichert derselben auch die Erhaltung. Nassau hat bekanntlich gegen 140 Mineralquellen, worunter die berühmtesten zu Ober- und Niederselters, Sauerthal, Sauerbornsthal, Schlangenbad, Aßmannshausen, Braubach, Lorch, Burgschwalbach, Marienfels, Nied, Montabaur, Obershausen und Probbach sind.
Wie viele Krüge Selterserwasser mögen nur schon in die Welt verschickt worden sein, seitdem man 1525 schon die Hauptquelle zu Niederselters unweit Limburg entdeckte! Der Hauptkataster einer baumbacher Fabrik versicherte mir, daß diese Quellen und diese Thonlager mehr werth seien und mehr einbrächten als aller Johannisberger, Rüdesheimer und Aßmannshäuser. Ich glaube dem ehrlichen Gesichte recht gern, wenn ich sah, wie gut sich die Leute vom Gesteine zu nähren wußten. In Wahrheit gehen nach statistischen Nachrichten jährlich allein 1,500,000 Krüge mit Selterswasser, etwa 80,000 Gulden an Werth, in’s Ausland. Vom Fachinger Wasser führt man 500,000 Krüge zu 24,000 Gulden Werths aus. Da heißt’s nun freilich, Krüge schaffen, und der außerordentlichste Verkehr darf schon deshalb auf den Taunusstraßen nicht wundern. Die Taunuseisenbahn und die benachbarten Flüsse tragen neuerdings auch zur Verkehrserleichterung das Ihrige bei; eine neue Eisenbahn, längs der Lahn hin, ist projectirt.
Allerdings brauchen nicht alle Quellen die Flaschen in gleicher Menge; einige fast gar nicht, weil sie nicht getrunken werden. Doch kommen auch hier oft noch Probesendungen vor. Und wie viele Krüge erfüllen ihre Bestimmung schon innerhalb der Landesgränzen, seitdem Doctor Gloxinus aus Worms, ehrenwerthen Andenkens, kurz nach dem dreißigjährigen Kriege die hiesigen Bäder in Ruf brachte, einrichtete und zuerst in’s Schlangenbad einlud. – Mit diesen Wässern kommen die meisten nassauer Kannen (Flaschen) nach Frankreich und Deutschland. Das Wasser trinken die Gesunden und die Kranken, die Einen aus Delikatesse, die Andern aus Nothdurft und die Flaschen? – Die Flaschen verbraucht unsere Hausmutter, wenn sie das Bier auf Flaschen füllt und gerade diese starken, plumpen Flaschen mit Vorliebe. Warum? Sie hat denselben Grund, den auch die Versender der Mineralwässer haben, denn diese nehmen nicht blos der Nähe wegen diesen Thon. Wie könnte es sonst auch kommen, daß in fernen Badeörtern diese Flaschen gesucht würden, und sogar große Schiffsladungen des Rohmaterials in’s Ausland gehen? Die Lahn hinunter werden alle Jahre ungefähr eine Million Centner Thonschollen verfahren und seit 1842, wo es 919,125 Centner, und 1845, wo es 975,460 Centner waren, hat sich der Vertrieb immer mehr gesteigert. Viele Centner hinwiederum werden auf der Axe befördert. Nein, der Grund liegt nicht in der Nähe und somit Billigkeit des Materials, sondern in seinen qualitativen Eigenschaften.
Das gemeine Steingut zu diesen Mineralwasser- und Bierflaschen, Milchäschen, Fensterterrinen etc. besteht nämlich aus einem feinen, sehr zähen oder laimigen Thone, welcher Säuren, wenig Eisen und Salze, keinen Kalk, aber ziemliche Beigaben Sand enthält. Insgemein aber enthält der Thon Kalkerde (8–10 %) Bittererde, Kali, Natron, Eisenoxyd, Phosphor- und Schwefelsäure, sowie Chlor, Humus und stickstoffhaltige organische Reste. Gerade diese laimige Consistenz ist’s, welche den eingeschlossenen Wässern und Bieren den Geist erhält und der penetranten Kohlensäure am Meisten widersteht. Unsere guten Hausfrauen haben darum ganz Recht, wenn sie sich ihre Meinung, daß solche Flaschen das beste Bier liefern, nicht streitig machen lassen. Ueberdies verträgt auch diese Flasche aus demselben Grunde, abgesehen von ihrer Stärke, mehr Mißhandlungen, als manche andere eben so starke, aber sprödere.
Der Pfeifenthon, der bei Weitem feiner sein muß, ist ein eisen- und kalkfreier Thon, der im Hofe und in den Werkstuben durch Schlemmen, Einsumpfen, Schneiden und Treten („Walchern“) sorgfältig vorbereitet wird. Er darf keine Körner oder Steinchen enthalten. Der „Roller“ formt sich auf der glatten Tischplatte eine dünne, am Kopfende stärkere Walze, läßt sie kurze Zeit abtrocknen, durchsticht sie der Länge nach mit dem „Weiserdrahte“, legt sie darauf in die geölte, aus zwei Hälften bestehende messingene Form, so daß das dicke Walzenende in den Kopf zu liegen kommt und preßt nun diese zwei Hälften der Form mit der Schraubenpresse fest aufeinander. Die Höhlung des Pfeifenkopfs ist mit einem eisernen, ebenfalls geölten Kegel eingedrückt worden, nachdem man den Draht aus der Röhre etwas zurückgezogen hat. Besondere Aufmerksamkeit schenkt man der Mündung der Röhre in den Kopf. Dann nimmt man die Pfeifen am Drahte aus der Form, schabt die vorstehenden „Nähte“ ab, schneidet die Mündung eben und polirt sie halb trocken mit einem Achate. Nun [149] trocknen die Pfeifen auf dem „Dürrbratte.“ Haben sich Roller und Kaster gut zusammen eingearbeitet, so können sie wohl täglich 800 Stück fertigen.
Sind die Pfeifen dann gebrannt (theils in Kästen, welche mit gestoßener und gebrannter Pfeifenerde gefüllt werden, theils nach französischer Manier in Kapseln), so werden sie noch mit einer Art Lack, aus weißem Wachs, Tragant, Seife und Wasser bestehend bestrichen und mit Flanelllappen abgerieben. Dann erst ist die Pfennig- oder Dreierpfeife fertig und würdig, aus so vielen fleißigen Händen in die Hand des Proletariers zu wandern. Die nassauer Pfeifen haben aber schon die englischen, welche doch die ersten waren, zurückgedrängt, trotzdem, daß John Bull es erzwingen wollte und den Thon noch vor einigen Jahren über Cöln und Bonn aus der hiesigen Gegend bezog.
Die eigentlichen „Häfner“, welche nur gemeines Geschirr verfertigen, giebt es auch in ziemlicher Anzahl hier, und es wird gar viel mit Thonschlägel und Töpferscheibe gearbeitet. Aber gar viele Waaren, wie Figuren, Zierkacheln etc. werden in Formen aus Metall oder aus Gyps, wohl auch von Birnbaumholz abgedrückt und es ist überraschend, wie nette und kunstreiche Gebilde der Krugbäcker schaffen kann. Die gemeine Glasur besteht aus Bleiglanz (5/8) und geschlemmtem Lehm (3/8), die feinweiße aber aus Sand, welcher auf der Glasurmühle fein gemahlen worden ist. Die farbigen Glasuren, so wie die farbigen Zeichnungen erlangt man meist durch metallische Zusätze, grün z. B. durch Kupferasche, braun durch Hammerschlag, dunkelgelb durch Schwefelantimon, blau durch Zaffer (Saflor, d. h. hier geröstetes Kobalterz, mit Quarzpulver vermischt), weiß durch Zinnoxyd. Diese Farben werden theils vor, theils und besser nach dem Glasiren aufgetragen und dann die betreffenden Gefäße nochmals gebrannt. – Auch glättet man Speise- und Trankgeschirre oft mit calcinirtem kohlensauern Natron, dem feiner Sand und Kreidepulver beigemischt ist; auch Flußspathpulver hat dabei eine zweckmäßigere Anwendung gefunden als früher, wo man es genoß, und man hat den Vortheil, eine bleifreie, bessere Glasur zu bekommen. Die Oefen sind länglich viereckig und nur flach gewölbt und sind in den inneren Raum oder „Ständer“, wo die zu brennenden Gefäße stehen, und in den äußeren Raum, oder die „Feuerkammer“ abgetheilt. Die Einsetzöffnung wird zugemauert, die Geschirre müssen glühen und erst nach dem Erkalten nimmt man sie heraus. Die Mineralflaschen werden meist während ihres Tage langen Brennens durch hineingestreutes, verdampfendes Salz oder feingepulverte Schlacken glasirt.
Interessant ist ein Stündchen Aufenthalt in der Fabrik des Herrn Knödchen in Baumbach. Hier bäckt man alle Jahre ganze Schaaren von „Biertöpfchen,“ welche vorzüglich in’s gesegnete Bierland Baiern, ebenfalls zahlreich aber nach Sachsen, Thüringen, und trotz der almeroder Fabrikation, nach Hessen gehen. Welche Heerschaaren von Töpfchen! Mir fiel dabei, indem ich an die Bocksaisons dachte, das Wort meines alten Lehrers ein: „In Bechern und Kannen ertrinken mehr Leute, als in allen Meeren.“ – Aber nicht blos Krügel bäckt der Mann; nein, auch Kannen, Eimer, Fässer sogar; Fässer für Sauerkraut, Butter, Fleisch, Wein und Wasser; nicht der Klempner schlägt ihm mehr seine Dachrinnen, und nicht mehr Meister Brunnengräber bohrt ihm seine Wasserröhren aus, nein, er bäckt sie sich und Anderen. – Wunderbar, wie schnell ein Handelsartikel oft breit greift! Knödchen’s Fässer gehen stark nach dem Süden, nach Italien, und die Leute danken es dem deutschen Töpfer, daß sich ihre Waare in dem Fasse frisch und lange hält. Schmeckt’s doch auch weit besser aus dem „steinernen Geschirre,“ als aus dem Lederschlauche oder dem hölzernen Zuber, und wäre man Etwas eitel, so könnte man dem Kaiser Tsching-f-ang oder dem Böotier Tychus (den angeblichen Erfindern der Schlauchbereitung) den Triumph streitig machen. Diese Geschirre, so wie die nassauer Pfeifen haben darum aber auch, was nicht minder sagen will, in der großen Welthalle zu London ihre Anerkennung gefunden.
Der Großhandel mit diesen Waaren ist jetzt, wo Straßen und Eisenbahnen die Verbindungen directer machen, nicht mehr einzig und allein über die benachbarten Großstädte im Gange; jedoch führen ihn Frankfurt, Mainz, Koblenz und Köln noch zum großen Theile.
Aber solch’ ein Kulturbildchen im deutschen Vaterlande bleibt nicht immer versteckt. Da ist der große, adelnde industrielle Geist der Gegenwart herangetreten, der mit der Nützlichkeit auch die Schönheit vereinbaren will und hat gezeigt, daß bei aller Dauerhaftigkeit des Stoffes und bei aller Wohlfeilheit desselben, „die plumpe Massigkeit nicht jenen Gefäßen wesentlich innewohne.“ Die Regierung hat diesen Tadel vernommen und beherzigt; sie hat Gewerbschulen errichtet; sie nimmt lediglich Rücksichten auf diese Fabrikation; sie sorgt für gute Formenschneider, und es ist nicht zu leugnen, die Erfolge sind sichtlich, der gute Geschmack zeigt sich in den Zierrathen der Oefen, sowie in ganz neuen, freieren Figuren. Saubere Kunstsachen gehen aus der einfachen Töpferwerkstätte hervor; die Kunst ersteigt aus dem formlosen Thon- und Lehmklumpfen. Für wenige Kreuzer oder Dreier kann man nürnberger Künstlerbecher, Büsten der Großen unserer Nation, Jagdstücke, Blumen, ja Nachbildungen des kölner Domes als Trinkkrüge bekommen. Ja, der Humor bildete den wandernden Töpfer mit seinen Töpfen und Kannen und rohen Thonschollen schon selbst ab, wie er, gleich dem Tyroler oder dem Schwarzwälder oder dem Erzgebirger in’s weite Land hinauszieht, um in dem Auslande die Erzeugnisse seines lieben Westerwaldes feil zu bieten; und dabei ist dem friedlichen Völklein dieser Goldmacher in einem Winkel des deutschen Vaterlandes ein froher Muth und ein rechter Stolz auf ihre Heimath angeboren, auf ihr liebes „Krugbäckerland.“ –
Vor wenigen Tagen schrieben die preußischen Zeitungen: „Der Geheime Ober-Regierungsrath Jacobi hat seine Entlassung aus dem Staatsdienste nachgesucht.“ Das Auge von vielen tausend Lesern schlüpfte gleichgültig über diesen Passus fort und Mancher sagte sich wohl zum Troste: Einen mehr oder weniger. Auch wir waren nicht ganz ohne diese Beruhigung, und doch! – es drängte sich uns eine Reihe von Erinnerungen auf, die sich an die funfzigjährige Wirksamkeit dieses Mannes anknüpfen. Jacobi ist der unermüdliche Reformator des Gefängnißwesens in Preußen gewesen; er hat auf einem Felde viel geschaffen, wo Alles zu schaffen war, er hat den Geist der Humanität in die düsterste Zelle eingeführt.
Sonst und Jetzt – sie stehen sich wie Nacht und Tag gegenüber. In der Ferne liegen die Zeiten, wo das Genie eines Dambach jene Zinkkasten vor den Fenstern erfand, die den armen Gefangenen kaum eine Hand breit Himmelsbläue übrig ließen; auch jene fingerdicken mattgeschliffenen Scheiben sind nicht mehr, die dem Auge nur ein trostloses, entnervendes Dämmerlicht zuführten, über welche die Bilder der nächstliegenden Außenwelt nur wie fahle, graue Spalten der camera obscura huschten; bald wird man nicht mehr daran glauben wollen, daß das Laster einst in miserable, stumpfige, stinkende, schmutzige Zellen zusammen gepfercht war, wo eine gemeinsame Prostitution der Seelen sich in den ekelhaftesten Ausbrüchen der Rohheit Luft machte. Es ist das Alles anders geworden, Licht, Luft, Reinlichkeit und Ordnung sind die Cardinalpunkte des modernen Gefängnißwesens. Es ist in der materiellen Lage der Gefangenen durchweg eine Verbesserung eingetreten; wie weit auch über diese Aeußerlichkeit hinaus die humane Sorge des Staates sich erstreckt, was er mit der Behandlung des Gefangenen bezweckt, und was er erreicht, das sind Fragen, an denen sich das Hirn manches Weltweisen erschöpft hat.
Es war an einem schönen Sommertage des vorigen Jahres; ich wollte die türkische und alle anderen brennenden Fragen der Welt vergessen, und vertraute mich wohlgemuth dem geschäftigen Boten der Zukunft, dem Dampf und seiner schnaubenden, pfeilgeschwinden Masse an. Mein Sinn stand diesmal nach Rübezahl’s Märchenwelt, nach dem Riesengebirge, nach seinen schneeigen Gipfeln [150] und lieblichen Thälern, und rasch flog das Flachland vor des ehemaligen heiligen, römischen Reiches Streusandbüchse an meinen durstigen Blicken vorüber. Endlich lag Schlesien vor mir – zwar nur ein Schattenbild jener blühenden Provinz, die Friedrich als ein kostbares Kleinod in’s Diadem der Hohenzollern reihte, und doch schön in dem üppigen Glanze des Sommers, denkwürdig durch Wahlstätten, auf denen das Geschick manches Jahrhunderts ausgekämpft wurde, von Strömen durchschnitten, von Bergen umkränzt, lebendig und rührig in dem modernen Geiste der Industrie, traulich in der poetischen Stille der Natur, die nur von dem Rauschen der Tanne und dem Sturz des Gießbachs unterbrochen wird. Nur wenige Meilen noch, und ich sollte die Berge betreten; nur wenige Stunden Aufenhalts noch in der zweiten Haupt- und Residenzstadt Preußens. Breslau war nie mein Lieblingsort gewesen, und ich schlenderte fast widerwillig, nur des Zeitvertreibes halber vom Bahnhofe aus der Stadt zu; allenfalls knüpfte sich mein Ideengang an die beiden schmackhaften Extreme, ein Glas guten, alten Ungarnweines und eine Portion trefflichen, russischen Caviars, der eines Racenkampfes würdiger wäre, als die diplomatischen Schachzüge zwischen Nesselrode und cher Aberdeen. Doch mein Herz sehnte sich, einmal für kurze Zeit der Menschengesellschaft Valet zu sagen, Luft und Licht zu empfangen wie der vegetirende Baum, sich zu recken wie die schlummernden Riesen des Gebirges und wie die spritzende Woge des Bergquelles in lauter Lust und Uebermuth zu schäumen. Schon also stand ich an der Schwelle, die mich aus einer halbverlebten Gesellschaft in die Frische des Naturlebens führen sollte – da bannte mich ein hohes, steinernes Fragezeichen, was weiß ich’s – ein Palast der Gerechtigkeit oder des Elends – genug, mein Fuß sträubte sich vorüber zu gehen an den Mysterien unseres Geschlechtes, und mein Dämon zwang mich, von der Gesellschaft, der ich eine kurze Frist des Vergessens abstehlen wollte, das düstere Nachtstück in Augenschein zu nehmen.
Nur wenige hundert Schritte von dem niederschlesisch-märkischen Bahnhofe liegen zwei Casernen. Die eine, allen denen bekannt, die Breslau vor Jahren einmal besuchten, dient einem Cavallerieregiment; die andere ist kürzlich erbaut, groß und räumig genug, um mehr als tausend Menschen zu umfassen, die in einem schweigsamen, traurigen Exercitium wehr- und waffenlos unter den strengen Fahnen der beleidigten Gerechtigkeit dienen. Heiter genug ist der Ton des colossalen Gebäudes, das einen Raum von beinahe sieben Morgen drückt, das Stadtgericht mit seinen Thürmen, in denen der Schuldgefangene schmachtet, bildet eine imposante Front gegen die Straßen hin, die sich vor seinem Portale kreuzen. Dahinter liegt die Halle des Elends in einem hohen steinernen Achteck, von dem vier gekreuzte Flügel auslaufen, um nach den vier Weltgegenden die Seufzer des Unglücklichen zu verbreiten. Es war mir unmöglich, an den geheimnißvollen Mauern vorüber zu gehen: in den Schriftzügen der zerklüfteten Felsen wollte ich lesen; hier haftete mein Auge an einer finstern, schauerlichen Kluft der menschlichen Gesellschaft.
Es war Abend, als mir der Eintritt gestattet wurde. Die letzten Sonnenstrahlen spielten um die hohen, luftigen Fenster des westlichen Flügels und ein ausreichendes Tageslicht strömte noch durch die Rotunda der mächtigen Kuppel, die sich über der Centralhalle des Gebäudes wölbt. Lautlose Stille herrschte überall; nur mein eigener Schritt dröhnte auf dem marmornen Fußboden des untern Raumes; ich war nicht gewöhnt an den kaum hörbaren Gang des Aufsehers, der unbemerkt sein wachsames Auge in jede Zelle richten kann. Ich war in eine Art von Erdgeschoß getreten, das mit erfinderischer Oekonomie ausgebaut war; auch der kleinste Winkel war benutzt. Den Corridor entlang führte der Weg mich in die räumige Centrale, und jetzt erst gewann ich einen Blick in die Großartigkeit und Eleganz des Baues. Eine achteckige Halle erhebt sich durch vier Stockwerke und schließt mit Kuppel und Rotunda. In der Mitte des marmorgetäfelten Fußbodens arbeitet eine Dampfpumpe – aber auch ihre Bewegung ist lautlos und schweigsam, wie Alles umher. Von Stock zu Stock laufen eiserne Gallerien und Treppen in die Runde; vom ersten Stock übersieht man die von der Halle auslaufenden Flügel, wenigstens drei davon – denn der vierte, in welchem[WS 1] sich nur Weiber befinden, ist mit einer Mauer gegen die Halle abgeschlossen. Auch die Flügel sind vom ersten Stock bis zur Dachwölbung licht; an den einzelnen Geschossen winden sich Treppen zu schwebenden Gallerien empor. So ist auch der gegen die Halle abgeschlossene, für die Weiber bestimmte Flügel eingerichtet. Nur im Norden, wo Bureaus und Geschäftszimmer, dann weiter oben Lazarethe und Zellen liegen, ist der Flügel geschoßweise überdacht.
Nicht lange sollte ich auf ein Lebenszeichen der Bewohner dieser Anstalt warten. Die Glocke rief – und in Zügen marschirten die Gefangenen von den Flügeln her nach den Gallerien der Halle. Nur die Weiber fehlten und die Untersuchungsgefangenen. Vor mir schaarten sich in einem Halbkreise, der gegen Norden offen blieb, sectionsweise unter Führung ihrer Aufseher, und nach Stockwerken gesondert, hier die Gefängnißsträflinge in grauen Zwillichjacken und Beinkleidern, dort aber die Züchtlinge in Braun gekleidet. Der Director, die Inspectoren der Anstalt traten vor den Eingang des nördlichen Flügels, ein Gefangener sprach das Abendgebet und dann scholl aus vielen hundert Kehlen ein Choral, der mir wie ein Grabesgesang in’s Herz dröhnte. Ich habe die Gefangenen in emsiger Thätigkeit arbeiten sehen, und es lag nichts Erschütterndes in dem feierlichen Ernst der Situation, als ich aber von ihrem Sängerchor, das leidlich eingeübt war, Lieder vortragen hörte, bebte das innerste Mark meiner Seele. Liegt es darin, daß der Gesang an das menschliche Gefühl erinnert, daß in der Weichheit des Tenors und in der Tiefe der Baßstimme immer doch ein Menschenherz zittert, auf das eine Last des Elends gewälzt ist? Zu mir sprach aus den Klängen eine unnennbare Trauer, und es waren ja der Sänger, der Elenden so viele!
Der letzte Klang verhallte, der letzte Sonnenblick verglühte. Wie schön war nicht der Abend draußen nach der Schwüle des Sommertages! Wie lustig wogte auf Straßen und Promenaden, in Gärten und auf öffentlichen Plätzen ein heiteres Völkchen durcheinander. Wie gleichgültig gingen sie an diesem kummervollen Hause vorüber! Auf das Commandowort machten seine Bewohner Kehrt; Jeder suchte schweigend seine einsame Zelle und in wenigen Minuten lag vor jeder Thür ein aufgerolltes Bündel; es war die Bekleidung und das Fußwerk des Gefangenen, der hinter Schloß und Riegel den Schlaf in seiner Hängematte suchte.
Auch in dem Weiberflügel war Abendgebet und Gesang; sie standen vor den Zellen und auf den Gallerien; auch hier fehlten die Untersuchungsgefangenen; nur Sträflinge und Züchtlinge standen in grauer und brauner Kleidung umher. Wieder dieselbe militärische Ordnung; ein Wink der Aufseherinnen, die schwarze Kleidung und blaue Bänder um die weißen Halskragen trugen, leitete jede Bewegung der Gefangenen. Um wie viel trauriger war dieser Anblick noch! Nie kann der Mann so tief sinken als das Weib! Das Gesicht des Verbrechers trägt immer noch ein bestimmtes, festes Gepräge; der Typus dieser Weiber war meist eine halt- und charakterlose Verworfenheit, körperliche und geistige Verwahrlosung, stupide Frechheit und die tief eingeschnittene Charakteristik des äußersten Elends. Sollte man es glauben, daß milde Behandlung und Ordnung in diesem Flügel unverträglich sind?! Mit Beschämung muß ich niederschreiben, man ging damit um, die Prügelstrafe für die Weiber einzuführen, und dieser Gedanke ist – horribile dictu – in einer milden, weichen Seele entstanden. Verzweifelnd möchte man ausrufen: „gibt es wirklich keine Herrschaft der Vernunft mehr über diese entarteten Geschöpfe? Muß der brutale Schrecken regieren, der körperliche Schmerz, die unauslöschliche Demüthigung, die Profanation des letzten, edlen Fünkchens im Menschen?“ Doch nein, es liegt ein innerer Widerspruch in unserm Strafsystem; es handelt sich nicht um Erziehung zur Freiheit, sondern um Ordnung unter den Zwang, und hier, wo die Ordnung das absolute Prinzip bilden muß, mögen auch Charaktere gebrochen werden! Vielleicht ist an dem Weibe, das in dem häßlichen Geifer der Leidenschaft keiner Stimme Gehör gibt, keine Schaam mehr kennt, keine Ordnung respektirt, nichts mehr zu verderben; aber die sittliche Genossenschaft, die der Staat repräsentirt, schwächt ihre eigene Würde, wenn sie an der Stelle der Vernunft das Regiment des körperlichen Schmerzes proclamirt und die Entehrung unter ihre Erziehungsmittel rechnet.
Nahezu zwei Jahre bestand damals die Anstalt; ihr eigenthümlicher Charakter ist auf die Art ihrer Entstehung zurückzuführen. In einem ehemaligen Minoritenkloster, dem es an Raum, Luft und Licht mangelte, waren die Gefangenen in Breslau untergebracht. Es war dies das alte Inquisitorium, wenn ich nicht irre, unter Verwaltung des Magistrats, unter Aufsicht des Stadtgerichts. Die Räume waren überfüllt, bei dem Mangel an ausreichender [151] Bewegung und bei der vegetabilischen Kost hatte sich der gefürchtete Gast der Gefängnisse, der Skorbut, eingestellt und Hunderte ergriffen. Das Bedürfniß eines neuen Gebäudes war unabweislich; es wurde in großem Maßstabe gebaut, nach und nach durch Verwendung der innern Räumlichkeiten erweitert und unter die Leitung des Ministeriums des Innern gestellt. So dient es gleichzeitig zur Unterbringung von Untersuchungsgefangenen, Gefängnißstrafe Verbüßenden, Züchtlingen und Corrigenden, und hat in dem alten Minoritenkloster, dessen Räume sauber und luftig umgebaut sind, eine Filialanstalt, die dauernd nur mit 500 männlichen Züchtlingen belegt ist. Die beiden unter der Direktion vereinigten Anstalten zählten im Sommer über 1600 Köpfe!
Werfen wir einen Blick in das tägliche Leben und Treiben der Anstalt. Wenn die Luft der Freiheit durch die weiten, palastartigen Räume wehte, wenn der Proletarier seine Höhle mit diesen Zellen, die Unsauberkeit in seiner äußern Umgebung mit dieser minutiösen Ordnung und Reinlichkeit vertauschen könnte, wenn in den Werkstätten ein fröhliches Geplauder mit der Emsigkeit des Schaffens Stich hielte, dann wäre die Vorfrage des großen, socialen Schiboleths gelöst und die Paragraphen des Strafrechts blieben nur die Chimären einer bösen Vergangenheit. Aber die Menschengesellschaft bewegt sich hier in einem ewigen Cirkelschluß. Sie erkennt ein sociales Bedürfniß erst bei dem Verbrecher an, nachdem es die Ursache seines Verbrechens geworden ist, sie umgeht die große, sociale Frage, um eine Lösung außerhalb der Gesellschaft zu suchen. Es ist in hohem Grade erfreulich, wenn dem Elende wenigstens in der äußeren Pflege ein erträgliches Loos bereitet wird; die Eleganz und Sauberkeit in der Bauart des Hauses, in der Einrichtung der Zellen macht einen sichtlich guten Eindruck auf die Gefangenen und der Abstich ist bemerkbar, wenn man die weit stumpferen Gesichtszüge der Bewohner der alten Anstalt betrachtet, welche zwar reinlich und luftig ist, aber weit hinter dem äußern Habitus dieses Hauses zurückbleibt. Und doch ist es nicht anders, als wenn man einen kranken Baum aus seinem verkümmerten Erdreich in einen eleganten Topf versetzt, ihn in ein wohl eingerichtetes Treibhaus bringt, eine bestimmte Zeit dort bewahrt, um ihn eben so krank, wo nicht elender in dasselbe verdorbene Terrain zu bringen. Wer sollte nicht mit inniger Befriedigung schauen, wenn die humane Absicht die Zelle des Elenden zu schmücken sucht! Wer wollte nicht trauern, daß auch diese Behandlung nichts ist, als eine grausame Spielerei! Den Menschen, das Kind der Umstände, wollen wir bessern und der erste Artikel unseres socialen Glaubensbekenntnisses ist Achselzucken; die Zustände sind unverbesserlich.
Dank sei dem Himmel, die Isolirzellen Pensylvaniens verschwinden allmälig von deutschem Boden! Was dem nüchternen Calcül eines transatlantischen Kopfes wie ein lehrreiches Exempel imponiren mag, vereis’t den wärmeren Hauch des deutschen Gemüthes zum Tode des Wahnsinns oder der Erstarrung. Abstumpfen und verthieren, heißt nicht erziehen! Wir sind uns nicht klar, ob humane oder ökonomische Bedenken dieser methodischen Grausamkeit den Rest gegeben haben, ehe sie noch die Prüfungszeit überstanden hat. Beide Bedenken aber haben eine tiefe, ethische Seite, und der Schaden, der dem Staate durch eine unergiebige Beschäftigung in den Isolirzellen erwächst, verschwindet vor der Gefährlichkeit des Experimentes, einen Menschen Jahre lang mit einer Beschäftigung zu quälen, die ihn durch die Pforte des Widerwillens und der Noth bald wieder aus der Freiheit in dieselbe Zelle führen müßte.
Wer schaudert nicht bei dem Gedanken, lebendig begraben zu werden, und doch ist diese Qual auf Tage zu berechnen. Man sollte nicht sagen dürfen, daß der Hungertod barmherziger sei, als der Mensch, der in seinem Besserungsfanatismus die qualvollen Augenblicke eines langsam Absterbenden durch Speise und Trank verlängert, um dem Herzen mit ewigen Nadelstichen zu entziehen, was man ihm in dem kargsten Maße gegeben hat. Es ist keine Erziehung zur Arbeit, dieser einzigen und ersten sozialen Bürgschaft, wenn man dem Elenden eine Hand voll Federn zum Reißen, oder Kuhhaare zum Krempeln giebt, es ist keine Erziehung zur Sittlichkeit, wenn man ihn von jeder Gemeinsamkeit abschneidet, den Klang der Sprache ihn entzieht, ihn von dem Anblick eines Menschenantlitzes entwöhnt; es ist keine Erziehung zur Freiheit, wenn man Leib und Seele in das furchtbare, eiserne Joch des Zwanges steckt, unter dem der eine schwielig werden und auch die andere verhärten muß. Wohl sprach der Weise des Alterthums richtig: ein Mensch, der die Gesellschaft entbehren kann, müßte ein Gott oder ein Thier sein! Was glaubt Ihr Anhänger des pensylvanischen Systems zu erziehen?! Doch mich gelüstet es nicht, Eure verlegene Antwort zu hören. –
Die Zellen sind leer; die Tagesarbeit hat begonnen. Die Hängematte ist von den Wänden abgenestelt und liegt sauber zusammengerollt an ihrer bestimmten Stelle. Auf dem geölten [152] Fußboden ist kein Stäubchen, an den Wänden kein Fleck zu entdecken, das Geschirr auf dem Sims strahlt spiegelblank, in der Tischlade liegt ein sauberes Beutelchen mit dem Putzzeuge, Tisch und Stuhl sind weiß wie Schnee, die Fenster blitzen im hellen Tageslicht, der Bewohner der Zelle kann sich Luft nach Belieben zuströmen lassen, aber Licht und Luft empfängt er durch das Kreuz der eisernen Spangen, und so sieht er das Himmelsblau in dem engen düstern Rahmen seines Elends. Hier erwartet er den Morgen, hier sieht er die Sonne untergehen. Ach! sie muß wohl oft ihren Bogen über dem Horizont beschreiben, ehe sie ihm den Tag der Freiheit verkündet, sei es, daß sie seinen letzten Seufzer nicht erhört hat, und mit ruhigem Lichte auf die geschlossenen, starren Augenlider scheint. Schweigend macht sich hier in dieser lastenden Stille wohl manche Seele auf die Wanderung; kein Auge hängt an dem letzten Zittern der Lippe, kein Auge der Liebe prägt sich die bleiernen Züge des Elends ein. Der gefangene Schreiner in der Werkstatt fügt ein dürftiges Gehäuse zusammen; was weiß er, wen es aufnehmen soll? Und wenn es ein Vater oder ein Kind, wenn es ein Bruder oder eine Schwester wäre, die Zungen sind gefesselt, das Auge darf nicht rechts, nicht links dem verführerischen Licht folgen, es sind Alle Ziffern und Buchstaben, Littera A, B, C, D, und als Taufnamen das Einmaleins in arabischen und römischen Ziffern.
Der Gefangene hat seine Zelle geordnet, seine Morgensuppe und Ration Brot verzehrt, das Geschirr wieder gesäubert und verläßt auf die Minute seine Zelle, um sich nach dem Arbeitsraum zu begeben. Hat er keine Profession erlernt, die in der Anstalt betrieben wird, so muß er dort anfangen, oder spinnen und spulen. Da sind Werkstätten für Tischler und Drechsler, für Schuhmacher und Schneider, da wird Leinewand, Kattun, Baumwolle, Zwillich oder Roßhaar gewebt, da werden Rouleaux gemalt und besonders viel Posamentirarbeiten gefertigt. In der alten Anstalt ist eine nicht unbedeutende Cigarrenfabrik, ein lithographisches Atelier, eine Druckerei und Buchbinderei; am Meisten aber sausen die Webstühle dort oder schnurren die Spulräder. Die Weiber nähen, stricken, spinnen; in der Küche fungiren Köche, andere häusliche Arbeiten werden im Erdgeschoß des Weiberflügels besorgt. In den Bureaux arbeiten Gefangene, andere wieder versehen den Dienst als Calefactoren.
Zur Mittagszeit und in der Vesperstunde wird wieder gespeist; die Suppe ist neben dem Brot die einzige Kost. Nur vier Mal im Jahre wird Fleisch gereicht. Untersuchungsgefangene und Gefängnißstrafe Verbüßende jedoch dürfen sich selbst verpflegen. Des Abends wird keine Nahrung verabreicht. Mit dem Schlage der unerbittlichen Glocke muß er zeitig sein Lager aufsuchen.
Welche Geschäftigkeit, welche Ordnung in dieser Rührigkeit! Kein Wort stiehlt dem Arbeitstage eine Secunde ab. Der Gefangene muß schweigend sein Pensum leisten; nur was er mehr schafft, ist der Antheil für seine Rechnung; er erhält aus seinen Ersparnissen, wenn er sich gut führt, kleine Genüsse, etwa Schnupftaback und dergleichen. Das Pensum gehört der Anstalt, die es so gut als möglich zu verwerthen sucht. Einzelne Arbeitszweige sind Fabrikanten in Entreprise gegeben, andere werden auf Bestellung, noch andere rein für die Anstalt betrieben. Wer sein Pensum nicht leistet, verliert die warme Kost; wer sich wiederholte Trägheit zu Schulden kommen läßt, wird in ein Disciplinargefängniß oder eine dunkle Zelle bei gewöhnlicher Kost oder bei Wasser und Brot eingesperrt; wer sich als unverbesserlich faul erweist, verfällt dann zuletzt wohl der körperlichen Züchtigung, die aber in diesem Falle schwerlich die geringste Wirkung haben dürfte. Mag sie als Schreckmittel dienen, um den Gefangenen von einer widerspenstigen Durchbrechung der Hausordnung abzuhalten; aber ein Reiz zur Arbeit ist sie nicht, es sei denn, der Wärter ginge wie im Bagno mit geschwungener Peitsche hinter dem Gefangenen.
Sonderbarer Gebrauch des Rattengiftes.
Insofern man allgemein Ratten mit Arsenik vergiftet, nennt der Bauer dieses Metall mit Recht mit dem familiären Namen Rattengift. Einen weitern Gebrauch kennt er in der Regel nicht. Wie wird er sich daher wundern, wenn er hört, daß man in England und anderswo Pferde damit stärkt und füttert und in Oesterreich, Ungarn u. s. w. dasselbe Rattengift mit Erfolg von unzähligen Menschen als Schönheitsmittel genossen wird. Wir würden es selbst kaum glauben, wenn nicht der berühmte englische Chemiker „des gemeinen Lebens“, Johnston (auch in deutschen Uebersetzungen berühmt, obgleich er im Wesentlichen alle seine Weisheit von den deutschen Naturforschern Liebig und Schleiden gestohlen hat) und Dr. Tschudi die Sache aus eigener Erfahrung berichteten. Letzterer sagt: „Fast alle Bewohner von Nieder-Oesterreich, besonders an der ungarischen Grenze, huldigen der Gewohnheit, Arsenik zu essen. Sie kaufen es unter dem Namen „Hedri“ von herumreisenden Hausirern, die sich es von den Arbeitern in Glashütten und Bergwerken (wo viele arsenikhaltige Erze gegraben werden) zu verschaffen wissen. Dieses Gift, in sehr mäßigen und allmälig steigenden Dosen regelmäßig genossen, giebt eine gesunde, frische Hautfarbe und mit der Zeit eine behagliche Fülle des Fleisches. Mancher, der zu schnell schön oder dick werden will, nimmt auch zu viel und vergiftet sich, wie viele Geistliche bezeugen können, denen die Sterbenden in der letzten Stunde ihre Sünden beichten. Ein anderer Vortheil entspringt den Arsenik essenden Berg-Jägern in Steiermark und Tyrol dadurch, daß es Leichtigkeit und Kraft in den Gliedern giebt und den Athem erleichtert, wie auch die mit Arsenik behandelten Pferde beweisen. (Noch größer und zauberhaft ist dieselbe Kraft aus den Coka-Blättern, welche die Indier kauen oder als Thee trinken.) Mit einem erbsengroßen Stückchen Arsenik im Munde verfolgt der Gemsenjäger Tage lang das Wild über Abgründe bis in die luftdünnsten Höhen, ohne Beschwerde zu fühlen. Man fängt mit einem erbsengroßen Stückchen an und fährt fort, bis Mancher an einem Tage so viel verzehrt, als 1000 Ratten nicht vertragen würden. Ich kenne einen Bauer, der 40 Jahre lang Arsenik gegessen und sich der vollkommensten Gesundheit erfreut. Wer einmal angefangen, darf aber nicht wieder aufhören, ohne sich durch das im Körper steckende zu vergiften.“ Es ist wie die Freundschaft mit dem Teufel, der die ganze Hand nimmt, wenn man ihm einen Finger gegeben, dann den Kopf und endlich den ganzen Kerl. Wer über Beseligungsmittel, welche die Menschheit millionencentnerweise außer Bier, Wein und Branntwein genießt (Taback, Opium, Betelnuß, Coka-Blätter, Hanfrosinen u. s. w.) etwas Näheres und Gescheidtes erfahren will, findet in dem zweiten Theile von Johnston’s „Chemie des gemeinen Lebens“ reiche Beute.
Pottichimanie. Diese seltsame Manie oder Leidenschaft, welche jetzt unter dem schönen Geschlechte aller Nationen wüthet, ist französischen Ursprungs und besteht darin, wie Viele bereits theoretisch oder gar praktisch wissen werden, daß man Bilder ausschneidet und – doch, wir müssen diese neue schöne Leidenschaft und Kunst gründlicher vornehmen. Um ein guter Pottichimaneur oder vielmehr eine perfecte Pottichimanice zu werden, braucht man Vasen von Glas, Bilderbogen, womöglich colorirte, Ausschneide-Talent, aufgelöstes Gummi arabicum, präparirte Oelfarbe, Terpentingeist und Pinsel. Hat man Alles beisammen, schneidet man sorgfältig die Bilder aus, die etwa geeignet erscheinen, als Ornamente an einer Vase ein gutes oder witziges Ensemble zu bilden, bestreicht dann die rechte, colorirte Seite genau mit Gummi arabicum und drückt sie fest und sorgfältig an die innere Wand der sorgfältig gereinigten Vase, bis man glaubt, eine gute, runde Ausschmückung erzielt zu haben. Auf das genaue Bestreichen der Bilder mit Gummi und sorgfältiges Andrücken, so daß keine Luftblasen oder Falten dazwischen bleiben, kommt Vieles an. Die Art der Zusammenstellung und Wahl der Bilder je nach den Formen der Vasen bleibt Geschmacks- und ästhetische Schönheitssache, wozu im höhern Sinne natürlich auch Kenntniß der verschiedenen Vasenformen und ihrer Ornamentirung gehört, so daß man chinesische, japanesische, etruskische, assyrische, griechische, römische u. s. w. Vasen nachbilden kann. Sind die angeklebten Figuren inwendig trocken, bestreicht man deren Rückseiten sorgfältig mit Gummi arabicum, ohne das Glas zu berühren, und dann mit Firniß oder Lack. Ist diese Arbeit trocken, reinigt man die Vase wieder genau, gießt die Oelfarbe hinein, welche als Farbe der Vase am Besten paßt, und schwenkt sie so lange um, bis jeder Theil gedeckt ist, läßt das Uebrige ausfließen und deckt das Ganze, wenn es getrocknet ist, mit einem Firniß. Das ist im Allgemeinen die Technik der Pottichimanie, der neuesten nobeln Passion unter den Schönheiten civilisirter Völker. Zwar läßt sich damit viel Zeit verbringen, auch etwas Kunstgeschmack entwickeln, im Ganzen aber ist’s ein Dilettantismus, der den Sinn für schöne Ornamente im Hause eher zu verflachen und zu verderben, als zu bilden im Stande sein mag.
Wir haben pottichimanisirte Gläser gesehen, wobei wir unwillkürlich an die Ausdehnung des Sprüchworts dachten: Narrenhände beschmieren Tisch und Bänke!
- ↑ Vergl. Gartenl. Nr. 49 von 1854.
- ↑ Beiläufig, daß Kossuth für jeden Artikel 50 Pfund Sterling (über 300 Thaler) Honorar bekömmt, und damit umgeht, selbst eine Zeitung in London herauszugeben.
Anmerkungen (Wikisource)
- ↑ Vorlage: welchen