Die Gartenlaube (1856)/Heft 10
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No. 10. | 1856. |
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Es ist ein schweres Amt, das Amt eines Criminalrichters; es ist schwer nach so manchen Seiten hin. Eine der gewöhnlichsten Klagen ist: der Criminalrichter habe es nur mit dem Auswurfe der Menschheit, nur mit der Schlechtigkeit der Gemeinheit der Niederträchtigkeit der Menschen zu thun. Aber darin liegt nicht die schwerste Seite seines Amtes. Ein Advokat in einer großen, reichen Stadt, dem Hauptorte einer großen, reichen Provinz, sagte mir eines Tages: „Sie sind dreißig Jahre lang Criminalrichter gewesen; ich bin seit funfzehn Jahren Advokat. Sie haben meist mit den untersten Ständen der Gesellschaft zu schaffen gehabt; ich hatte meine Geschäfte meist mit den vornehmsten und reichsten Leuten des Landes zu führen. Ich bin dennoch überzeugt, daß ich doppelt so viel Schlechtigkeit, Niederträchtigkeit und Gemeinheit der Menschen kennen gelernt habe, als Sie.“ Der Mann hatte Recht. Ich kam später nur auf sehr kurze Zeit in eine ähnliche Lage, wie die seinige; ich überzeugte mich, daß er Recht gehabt hatte. Es ist gewiß traurig, oft, recht oft – und das muß ja der Criminalrichter häufig – die Schlechtigkeit, die moralische Verkommenheit und Versunkenheit der Menschen zu sehen. Aber noch weit trauriger ist es, war es wenigstens immer für mich, tagtäglich sehen zu müssen, wie die Schwäche den Menschen unglücklich macht; – nicht ihn verdirbt, nicht ihn unempfänglich macht für das Gute, selbst für das Edle; im Gegentheil zwar sein Herz immer offen und warm erhält für alle Eindrücke, die das Gute, das Schöne, das Edle nur je auf das reinste und am zartesten organisirte Herz machen kann, aber dennoch ihn so tief, so völlig äußerlich wie innerlich unglücklich macht. Aeußerlich, indem der arme Verbrecher mit den herrlichsten Anlagen, mit den reichsten Ansprüchen an ein glückliches Leben entweder für sein ganzes Leben dem Elende und der Verachtung, oder gar dem schmachvollen Tode durch Henkershand sich überantwortet hat. Innerlich, indem er sich selbst sagen muß, daß er das äußerliche Unglück, das ihm wird, verdient hat, daß ihm, mit allen jenen Anlagen und Ansprüchen, durch das Elend und die Verachtung nur sein Recht ward. Nicht auch durch seinen Tod von Henkers Hand. Gerade der edlen, der bessere Mensch hat am meisten die Ueberzeugung, daß die Todesstrafe gegenwärtig keine gerechte Strafe mehr, daß sie nur noch eine Grausamkeit ist, wie Tortur und Hexenverfolgungen jetzt allgemein für Grausamkeit anerkannt werden. Daß er den Tod als Strafe verdient habe, das wird, das kann sich kein Verbrecher sagen, auch der aufrichtigste, der reuevollste nicht.
Und so hat der gebildete, der fühlende und denkende Criminalrichter schon längst die Ueberzeugung gewonnen, daß die Todesstrafe als eine der Gerechtigkeit entsprechende Strafe nicht mehr anerkannt werden kann. Und das trifft gewiß auch auf eine der schweren Seiten des Amtes des Criminalrichters
Noch vor wenigen Jahren lebte in Berlin der Stadtgerichtsrath B., ein alter Beamter mit mancherlei Eigenheiten und manchen Schwächen. Zu seinen Eigenheiten vielleicht gehörte eine unüberwindliche Scheu, für ein Todesurtheil zu stimmen; jedenfalls zu seinen Eigenheitem freilich auch zu seinen Schwächen, zählte man die Art und Weise, wie er sich, wenn es in dem Collegium sich um ein Todes-Urtheil handelte, seiner Pflicht des Abstimmens zu entziehen suchte. Mit „nein“ hätte er wohl nur selten abstimmen können; denn bei dem Stadtgerichte zu Berlin wurde damals namentlich in Criminalsachen mit einer solchen Gründlichkeit und Gewissenhaftigkeit gearbeitet, daß, wenn ein Referent sich für ein Todesurtheil aussprach, nach den Gesetzen schwerlich eine Einwendung dagegen zu heben war. Einzig und allein auf die Gesetze aber kam es an; die Stimme der Menschlichkeit, die Stimme einer andern Gerechtigkeit, als die der Gesetze, konnte, durfte sich dagegen nicht hören lassen· Hätte nun der Rath B. mit einem „nein“ stimmen wollen, so hätte er dafür seine Gründe und zwar gesetzliche Gründe angeben müssen, und das hätte er nicht gekonnt. Aus der Sitzung fortbleiben konnte er auch nicht, denn der Präsident des Stadtgerichts war ein eigener Mann, der, namentlich wenn es sich um wichtige Sachen handelte, seinen Collegen vorher keine Mittheilung von dem Tage der Verhandlung machte, sondern die Sache erst in der schon eröffneten Gerichtssitzung verlegte. Dem Stadtgerichtsrath B. blieb daher, wenn er an einem Todesurtheile sich nicht betheiligen wollte, nur übrig, mit guter Manier die Sitzung wieder zu verlassen. Das gelang ihm auch in der ersten Zeit. Der Präsident bemerkte aber bald die Absichtlichkeit solchen Entfernens, und nun gelang es ihm nicht mehr. Er suchte immer unter neuen Vorwänden zu entkommen; der Präsident wußte jedem neuen Vorwande zu begegnen. Zuletzt gelang ihm ein Manöver. Während die sämmtlichen Mitglieder des Gerichts mit der größten, gespanntesten Aufmerksamkeit dem Vortrage der Sache zuhörten, hatte der Rath B. auf einmal die Gelegenheit wahrgenommen, unbemerkt unter den großen und breiten, mit dem tief herabhängenden grünen Tuche bedeckten Sessionstisch zu schlüpfem Dort saß er still und unbeweglich. Sein Verschwinden wurde erst bemerkt, als nach Beendigung des Vortrags und der Debatte der Präsident jedes Mitglied einzeln abstimmen ließ.
[126] „Wo ist College B.?“ fragte der Präsident. Niemand wußte es; man glaubte, er müsse während der Hitze der allgemeinen Debatte das Zimmer verlassen haben. Glücklich hatte er sich dem Abstimmen entzogen. Er kroch unter dem grünen Tische hervor, als Alle fort waren, und freute sich königlich. Aber der Präsident ärgerte sich, und er schwor, das solle ihm nicht wieder passiren, und doch kam es ihm bei dem nächsten Todesurtheile wieder vor. Die Richter waren damals überall noch zu sehr Juristen, als daß sie gute Aufpasser hätten sein können. Beim dritten Male indeß sahen die wachsamen Augen des Präsidenten das plötzliche Verschwinden des Rathes. Er sagte nichts. Als er jedoch nach Beendigung der Debatte abstimmen ließ und die Reihe an den alten Rath kam, hob er ruhig die grüne Tischdecke auf und rief unter den Tisch:
„Herr College B., Ihr Votum!“
Der erschrockene Rath fuhr in die Höhe.
„Ach, ach, ich hatte meine Feder verloren,“ jammerte er in kläglicher Entschuldigung.
„Suchen Sie sie nachher. Ihr Votum!“
Das Todesurtheil wurde unter einem unaufhaltsamen Gelächter beschlossen.
„College B., Ihr Votum!“ das ist zu einem Sprüchwort geworden für jeden Rath, Assessor und Referendarius beim Stadtgerichte zu Berlin, und keiner kann sich dabei des Lachens erwehren.
Die Sache mag auch lächerlich gewesen sein, aber es ist eine traurige Geschichte, diese Anekdote. Traurig, daß Richtercollegien, selbst die ersten, die gewissenhaftesten, unter Lachen ein Todesurtheil beschließen können; noch trauriger, daß überhaupt Richtercollegien noch Todesurtheile beschließen müssen.
Und auch dies ist nur eine einzelne Seite der ganzen verkehrten und darum unglücklichen Stellung, in welcher der Criminalrichter sich befindet. In dieser steht er aber dem geschriebenen Gesetze gegenüber. Das wahre Recht ist das Recht des einzelnen Falles, nicht das Recht des Gesetzes; beide sind in einem ewigen, offenen Kampfe mit einander. Der Richter sucht vergeblich zu vermitteln, aber nur der fühlende und denkende, der andere hält sich nur an das Gesetz. Das Gesetz verbietet ihm sogar die Vermittelung: er soll seiner abstrakten Regel folgen, seiner todten Schablone, anstatt dem lebendigen Rechte des Falles. Daß ihm das vorgeschrieben ist, weiß auch der bessere Richter, und daß er es weiß, trägt nicht wenig dazu bei, ihm die Schwere seines Amtes recht fühlbar zu machen.
Doppelt schwer fühlt er es, wenn er sein Amt auszuüben hat einem jener unglücklichen Menschengeschöpfe gegenüber, die durch ihre Schwäche zu einem großen Verbrechen sich hinreißen ließen, durch das sie ihr ganzes Dasein zu einem verfehlten machten, ihr Lebensglück völlig und für immer vernichteten.
Kant sagt, man solle in den Collegien nicht nach der Majorität, sondern nach der Minorität die Beschlüsse fassen, da eben überall die Minderzahl der Menschen mit besonderen Gaben des Geistes versehen seien und diese ausgebildet hätten. Dieser Grund mag richtig sein, jene Folgerung daraus ist aber unrichtig. Die vis inertiae ersetzt auch in den Collegien Talent und Ausbildung: die ordinäre Menge folgt gern der Autorität der Ausgezeichneten. Aber etwas Anderes habe ich in meiner langjährigen richterlichen Laufbahn erfahren: die bei weitem größere Anzahl der Richter ist so von dem Geiste der Bureaukratie inficirt, daß ihnen klares Denken und richtiges Fühlen immer mehr und mehr abhanden gekommen und zuletzt ganz und gar unmöglich geworden ist. Solche Richter denke man sieh in jenem schweren Amte. Ihnen gegenüber denke man sich jene unglücklichen Geschöpfe, die nicht aus Schlechtigkeit, die nur aus Schwäche zu Verbrechern wurden. Die Strafgerechtigkeit wird unter ihren Händen zu einem Glücksspiele; einmal wird das wahre Recht getroffen, zehnmal fliegt die blinde entscheidende Kugel daran vorbei, und nur zu oft fehlt die weiße Kugel der Minerva.
Im März des Jahres 1835 wurde von dem Justizamte Heidekrug eine Frau an die Kreisjustiz-Commission zu Ragnit eingeliefert, deren Dirigent ich damals war. Es war eine große, wohlgebaute Person, mit einem im Ganzen ausdruckslosen, aber doch gutmüthigen und sanften, und nichts weniger als unangenehmen Gesichte. Sie war außerordentlich blaß; ihre großen, blauen, etwas matten Augen hatten einen ängstlichen Blick.
In dem Begleitschreiben, das der transportirende Gensd’arm übergab, stand, daß sie Mare (Maria) Müller heiße, dreiundzwanzig Jahre alt und unverheirathet sei, und ihr drei Wochen altes Kind am 11. desselben Monats lebendig vergraben habe.
Dies war ihr Verbrechen.
Und wie war dies gräßliche Verbrechen entstanden? Wie konnte das junge litthauische Mädchen mit dem sanften, gutmüthigen Gesichte zu einer so entsetzlichen Verbrecherin herabsinken?
Folge der Leser mir in eine armselige litthauische Hütte. Nicht weit von dem Dorfe Heidekrug, in dem landräthlichen Kreise gleichen Namens, liegt ein kleines litthauisches Dorf, Trokseden.- Das Dorf ist nur von litthauischen Bauern bewohnt, und die meisten dieser Bauern sind arm. Das Land ist dort unfruchtbares oder wenig ergiebiges Heideland, und die Bewohner sind dennoch für ihren Erwerb meist aus die Bebauung des Landes angewiesen.
Neben einem der Bauernhäuser dieses Dorfes befand sich, halb angebaut, eine kleine Hütte. Das Bauernhaus gehörte zu den ältesten und verfallensten des Dorfes. Die kleine Hütte bestand aus einem einzigen, ziemlich engen Raume, wie die sogenannten Flachspirten jener Gegend. Sie diente zum Aufbewahren von Haus- und Flachsvorräthen; im Sommer wurde Hanf und Flachs darin gebrochen. Am 18. Februar 1835 war sie die Wochenstube für Mare Müller geworden.
Mare Müller, oder Milleris, wie sie von den Litthauern genannt wurde, war nicht aus Preußisch-Litthauen gebürtig, sondern aus Szamaiten, und zwar aus dem, etwa eine halbe Meile von der preußischen Grenze entlegenen Städtchen Russisch-Neustadt oder Nowemiasto. Dort lebte nur noch ihre Mutter in großer Armuth, und Mare Müller hatte deshalb schon von früher Jugend an bei fremden Leuten als Magd dienen müssen. Seit fünf Jahren hatte sie Rußland verlassen und bei Bauern in dem an Rußland angrenzenden Kreise Heidekrug gedient. Seit etwa zwei Jahren diente sie in dem Dorfe Trokseden und zwar bei einer und derselben Herrschaft, einem Bauern, der zu den ärmsten des Dorfes zählte.
Mit ihr diente in demselben Hause ein Knecht, Namens Martin Jurrot.
Martin Jurrot war eine Waise aus einem Dorfe in der Gegend von Ruß am Memel- (eigentlich Ruß)- Strome und in gleichem Alter mit Mare Müller; auch sonst ein hübscher Bursch, wie sie ein hübsches Mädchen. Er war brav und gutmüthig wie sie, und er der einzige Knecht, sie die einzige Magd in dem Hause. Beide waren arm. Er hatte wie sie gar keine Verwandte und Angehörige in Preußen. In den fünf Jahren, die sie sich in Preußen aufhielt, war sie kein einziges Mal nach Rußland gekommen, hatte kein einziges Mal ihre Mutter sie besucht, und weitere Angehörige als ihre Mutter hatte sie auch nicht.
Es war unter den mitgetheilten Umständen kein Wunder, wenn zwischen Martin Jurrot und Mare Müller ein inniges Verhältniß entstand, und leider wurde es nur ein zu inniges.
Am 18. Februar 1835 genaß Mare Müller eines gesunden Mädchens.
Sie hatte ihrer Herrschaft immer treu und redlich gedient.
Es war in dem Hause noch keine bessere und unverdrossenere Arbeiterin gewesen. Martin Jurrot versprach, sie zu heirathen.
Ihre Dienstfrau war eine sehr mitleidige Frau. Mare Müller wurde daher nicht aus dem Hause gejagt, ihre Dienstfrau richtete vielmehr jene Flachspirte für sie ein, und bereitete dort aus Hanf und Flachs ein möglich weiches und warmes Lager für sie und ihr Kind. Auf ein Bette kann ein Dienstbote in jenen ärmeren Gegenden Litthauens keinen Anspruch machen, und an einen Ofen oder Feuerherd war in der engen, nur aus Holz zusammengefugten Hütte nicht zu denken.
Nur ihre Dienstfrau war mitleidig, ihr Dienstherr dagegen ein geiziger und hartherziger Mann. Er hatte sie ohne alle Barmherzigkeit aus dem Hause werfen wollen und nur den inständigsten Bitten seiner Frau hatte er augenblicklich nachgegeben, und auch nur unter Bedingungen. Martin Jurrot nämlich sollte die Mare heirathen, und Beide dann eine Zeit lang ohne Lohn bei ihm dienen. Dafür solle sie mit ihrem Kinde drei Wochen unentgeltlichen Aufenthalt im Hause haben.
Martin Jurrot mußte zu diesem Zwecke sofort nach der Entbindung Mare’s sich in seine Heimath begeben, um die zur Heirath erforderlichen Papiere herbeizuschaffen. Spätestens am 11. März, [127] dem Jahrmarktstage in Heidekrug, sollte er zurückkehren, und dann Alles so weit vorbereitet sein, daß die Verkündigung des Paares von der Kanzel in Werden, dem benachbarten Kirchdorfe, und später die Trauung erfolgen könne.
An das daraus entstehende Hinderniß, daß Mare Müller eine Ausländerin war, hatte man nicht gedacht, auch der Dorfschulze nicht, den man zu Rath gezogen hatte, und der doch für einen Mann galt, der sehr klug sei, weil er sehr klug sprechen konnte.
Martin Jurrot war in seine Heimath abgereiset und das Kind war am nächsten Sonntage in der Kirche zu Werden getauft worden. Die Dienstfrau Mare’s hatte Pathin gestanden. Das Kind gedieh und wurde mit jedem Tage sichtlich kräftiger. Es war ein hübsches Kind und die Mutter liebte es leidenschaftlich.
Mare Müller hatte sich von ihrer Entbindung nicht recht erholen können, sie hatte bis unmittelbar vor derselben die schwersten, anstrengendsten Arbeiten verrichtet und nach derselben keine Pflege gehabt. Der hartherzige Geiz des Hausherrn ließ ihr nur magere Kost zukommen, und die Armuth der mitleidigen Hausfrau gab es nur selten zu, der Kranken eine bessere, nahrhaftere Speise verstohlen verabreichen zu können. Desto mehr zehrte das kräftige Kind an der Brust der Mutter die schwachen Kräfte derselben auf. Dazu kam der strenge Winter des Jahres 1834 auf 1835, gegen dessen herbe Kälte die dünnen Holzwände der leicht gebauten Pirte, trotz der Verstopfung der Lücken mit Hanf und Werg, keinen hinreichenden Schutz gewähren konnten.
Mare Müller war von Tage zu Tage schwächer geworden, und arbeiten konnte sie gar nicht; sie konnte sich nur mühsam von ihrem Lager erheben.
So war der zehnte März herangekommen, und mit ihm seine Mittagszeit.
Mare Müller war in der Flachspirte mit ihrem Kinde. Sie lag auf ihrem Lager, das aus zusammengeschüttetem Stroh und Heu bestand; damit dieses mehr Wärme, waren zur Seite, zu den Füßen und nach dem Kopfende hin Bündel von Hanf und Flachs gelegt. Bedeckt war die Kranke mit einem alten, zerrissenen Schafpelze und neben ihr auf demselben Lager lag ihr Kind. Es war in alte zum Theil zerlumpte leinene Windeln eingewickelt und um dieselben eine gleichfalls alte, zerlumpte Marginee (litthauischer Frauenrock) gewunden. Es herrschte an dem Tage eine strenge Kälte; sie war auch in die Pirte gedrungen. Man sah bei jedem Athemzuge der Kranken deutlich ihren Athem in der kalten Luft; man konnte meinen, er friere sofort vor ihren Lippen zusammen; und es war doch ein heißer, glühender Athem, der aus der Brust der Kranken sich entwickelte. Um das Kind desto mehr gegen die Kälte zu schützen, hatte die Mutter es dicht an sich gelegt, und mit ihrem Arme umfangen.
Mare Müller lag angekleidet auf ihrem Lager; die Kälte, die in der Pirte herrschte, zwang sie dazu. Ihre Bekleidung war eine ärmliche. Man sah eine grau- und grüngestreifte, schon ziemlich abgetragene Marginee, ein Wamms von grobem grauen Zeuge, und darunter sogleich das Hemd von grober Leinwand. Ein Busentuch besaß sie nicht. Vielleicht hatte sie es zu dem Kopfverbande verwendet, mit welchem sie ihr Haupthaar verbergen mußte.
Frauen und gefallene Mädchen dürfen dieses in Litthauen nicht mehr sehen lassen. Ein Mädchenverführer heißt daher in der bilderreichen Sprache des Volkes ein „Kopfverbinder.“
Nicht einmal eine Schürze, dieses nothwendigste Putzstück der Litthauerin, besaß Mare Müller mehr. Für Wochenbett und Taufe des Kindes hatte sie Alles verwendet, was sie außer der allerentbehrlichsten Kleidung besaß.
Mare Müller war mit ihrem Kinde allein in der Pirte und das Kind schlief in ihrem Arm. Sie wachte; sie sah auf das schlafende Kind, mit schmerzlichem Nachdenken in dem abgemagerten, bleichen Gesichte.
Es war der letzte Tag der Frist, die ihr der Hausherr für ihr Bleiben im Hause gesetzt hatte, und noch war ihr Bräutigam nicht zurück; noch hatte sie in der ganzen Zeit seiner nun schon über vierzehn Tage dauernden Abwesenheit gar nichts von ihm vernommen. Hatten seine Bemühungen einen Erfolg gehabt, oder nicht? Er war noch minderjährig, er war erst dreiundzwanzig Jahre alt. Als Minderjähriger konnte er nicht heirathen ohne Einwilligung seines Vormundes und des vormundschaftlichen Gerichts, und das hatte der Pfarrer von Werden ihm auch bestimmt und deutlich erklärt und aus dem Allgemeinen Landrecht nachgewiesen. Um diese Einwilligung nun zu erhalten, war er in seine Heimath verreiset. Hatte er sie erhalten? Es mußte schon entschieden sein, wenn es noch von Nutzen sein sollte. Kam Martin Jurrot nicht heute oder spätestens bis morgen Mittag mit den Papieren zurück, so war es zu spät; ihr Dienstherr hatte geschworen, daß er sie und ihr Kind dann keine Minute länger in seinem Hause dulden werde.
Nur noch die kurze Frist von vier und zwanzig Stunden hatte sie vor sich, und noch war keine einzige Nachricht von Martin Jurrot da. Wohin sollte sie mit ihrem kranken Körper, mit dem hülflosen Kinde, wenn die Frist ohne Erfolg verstrich? Was sollte aus ihnen Beiden werden? Aus dem Hause ihrer Herrschaft geworfen, wußte sie keinen einzigen Zufluchtsort mehr. Ihre Mutter? Die alte Frau hatte ja selbst nichts, und sie war ja auch seit fünf Jahren nicht in ihrer Heimath gewesen und hatte auch in dieser ganzen Zeit keine Nachricht aus der Heimath erhalten. Sie wußte nicht einmal, ob ihre Mutter noch am Leben sei.
In den niederen, ärmeren Schichten der bürgerlichen Gesellschaft findet man Aehnliches oft. Die Kinder haben das elterliche Haus verlassen und nun hören Eltern, Kinder und Geschwister Jahre, Jahrzehnte, oft ihr ganzes Leben lang nichts weiter von einander, und dennoch leben sie oft nur wenige Meilen weit entfernt. Es ist wie mit den Vögeln, die ihr Nest verlassen haben. Noch wenige Tage füttern die Alten die Jungen und lehren sie fliegen und sich ihre Nahrung selbst suchen; dann bekümmern die Alten sich nicht mehr um die Jungen, und die Jungen nicht mehr um die Alten. Sie finden und kennen sich niemals wieder.
Doch ist ein Unterschied da. In den höheren, vornehmerem reicheren, den sogenannten gebildeten Klassen der Gesellschaft verkennt man ihn, und man spricht daher das Verdammungsurtheil der Gefühllosigkeit, des Stumpfsinnes oder der Rohheit über jenes niedrig stehende Volk aus, das Vater und Mutter, Tochter und Sohn, Bruder und Schwester vergessen kann. Vergessen? Jene Vögel vergessen, aber jene armen Menschen vergessen nicht; sie tragen die tiefe, innige Sehnsucht im Herzen, nur einmal einander wieder zu sehen, Eltern, Kinder, Geschwister, und wenn sie sich nicht sehen können, nur ein paar Worte Einer von dem Andern zu hören, wie es dem Kinde in dem fremden Lande ergeht, was die alten Eltern in der lieben Heimath machen, ob die Geschwister auch noch wohl an Einen denken; aber sie können nicht Geschriebenes lesen und nicht schreiben; sie haben oft nicht einmal so viel Geld, um sich einen Brief durch einen Dritten schreiben zu lassen und das Porto dafür zu bezahlen; zum Reisen fehlt es ihnen erst recht an Mitteln, und daß ein Bekannter von dem einen Orte zu dem anderen ginge und Grüße und Nachrichten hin und her brächte, das trifft sich so selten. So leben und sterben und verderben sie, ohne jemals etwas wieder von einander zuhören. Sie sind verdammt dazu, die Armen!
Mare Müller wurde in ihren traurigen Gedanken gestört.
Die Thür des Haupthauses, neben welchem die Pirte lag, wurde geöffnet, und gleich darauf wurde ein Gespräch zweier Personen laut.
„Was trägst Du da?“ fragte eine rauhe, harte Mannsstimme. Es war die Stimme des Hausherrn.
„Ich bringe der Mare ihr Mittagsbrot,“ antwortete eine Frauenstimme. Die Antwortende war die Hausfrau.
„Laß sehen,“ befahl der Mann.
Die Frau hatte ihm zeigen müssen, was sie trug, Gleich darauf rief der Mann mit polternder, zankender Stimme:
„Weib, Willst Du mich zum Bettler machen um der Betteldirne willen? Warmbier? Mit Zucker gekocht?“
„Nur mit Syrup,“ unterbrach entschuldigend die Frau.
„Gleichviel, Hafersuppe und Brot sind schon zu viel für die faule Person, die nun bereits seit drei Wochen nichts gethan hat.“
„Sie ist krank!“ entschuldigte wieder die Frau.
„Trag’ das Essen zurück.“
„Es ist doch nun einmal gekocht.“
„Zum Teufel, die Dirne soll nichts Besseres haben als ich.“
Mare Müller hörte einen Schlag, einen Fall, ein Klirren von Scherben. Sie richtete sich ängstlich weiter horchend auf.
Der Mann hatte der Frau den Napf mit der Biersuppe für die Kranke aus der Hand geschlagen, den Napf dadurch zerbrochen, und die Suppe floß auf die Erde.
Mare Müller war bleicher geworden; sie zitterte, sie weinte.
[128] Nach einer Weile trat die Hausfrau mit einem Napf Hafersuppe und einem Stück schwarzen Brotes in die Pirte; sie hatte gleichfalls geweint. Sie stellte Suppe und Brot. schweigend neben das Lager der Kranken und wollte sich wieder entfernen.
Mare Müller hielt sie zurück.
„Moterischka,“ sagte sie –
Moterischka (Mutterchen) sagen die litthauischen Dienstboten zu der litthauischen Hausfrau; den Hausherrn nennen sie Vaterchen.
„Moterischka, ist noch keine Nachricht vom Martin gekommen?“
„Nein, Mädchen; und morgen ist Jahrmarkt in Heidekrug,“ antwortete die Frau.
„Ich weiß es, Mutterchen.“
„Und der Gospadorus“ fuhr die Frau fort.
Gospadorus (Herr) nennt die litthauische Bauersfrau ihren Mann, wenn sie zu Dritten von ihm spricht. Sie sagt wohl zu ihm selbst so; in beiden Fällen nennt sie ihn auch manchmal Vaterchen
„Und der Gospadorus hat noch so eben auf seine Seligkeit geschworen, wenn nicht bis morgen Mittag, mit dem Glockenschlage zwölf, Deine Sache in Ordnung ist, so will er Dich mit dem Kinde vor die Thür werfen. Ich werde Dich nicht mehr beschützen können.“
Mare Müller weinte von neuem.
„Und mein Ohr vernimmt kein Wort vom Jurrot!“ sagte sie weinend.
„Kein Wort, Mädchen. Und mein Herz hat große Angst um ihn.“
„Welche Angst hätte Dein Herz?“
„Die jungen Burschen sind leichtsinnig. Wenn er Dich sitzen ließe mit dem Kinde!“
„Der Martin Jurrot hat keinen falschen Sinn.“
„Er hat Dir den Kopf verbunden.“
„Aber er wird sein Wort halten. Mutterchen, mache mir mein Herz nicht noch schwerer, als es ist.“
Die Frau antwortete nicht. Sie nahm die Klinke der Thür, um diese zu öffnen und die Pirte zu verlassen.
In demselben Augenblicke wurde die Thür von außen geöffnet.
Ein alter Mann, hager, lang, mit einem großen grauen Schnurrbart trat in die Pirte. Er war mit einem langen weiten Schafspelz bekleidet, auf dem Kopfe trug er eine Pelzmütze, die mit einem Rande von karmoisinrothem Tuche versehen war. Der rothe Rand der Mütze zeigte einen Beamten an. Diesen zeigten freilich auch seine kerzengerade steife Haltung, sein finsteres, würdevolles Gesicht, und ein großer Kantschu, den er in der Hand hielt.
Es war in der That der Berittschulz des Bezirks, eine Art von Executor des Landrathsamtes und zugleich von selbstständigem unterem Polizeibeamten. Dergleichen Beamten pflegen meist in hohem Grade von ihrer Würde eingenommen zu sein. Dieser war es doppelt, da er geborner Litthauer war, mithin gerade unter seinen Leuten seine amtliche Gewalt geltend machen konnte; er war es dreifach gegenüber ärmeren litthauischen Bauersleuten.
Er trat langsam und steif, mit strenger Amtsmiene in den engen Raum der Pirte.
„Guten Tag, Frau,“ sagte er kurz zu der Bäuerin.
Von der Kranken und ihrem Kinde nahm er keine Kenntniß.
„Diekui, Pons Wachtmeisteris (Dank, Herr Wachtmeister),“ erwiederte die Frau demüthig.
„Frau, ist eine Person, Namens Mare Müller noch bei Dir?“
„Sie ist es, Herr Wachtmeister. Du siehst sie hier neben Dir.“
Der Schulz sah sich auch jetzt nicht nach der Kranken um.
„Rufe Deinen Mann her,“ befahl er der Frau.
„Was willst Du von ihm, Herr?“
„Rufe ihn, sage ich Dir.“
Die Frau verließ ängstlich die Pirte.
Der Beamte wandte sich zu der Kranken, steifer, finsterer, strenger.
„Mare Müller heißt Du?“ fragte er.
Mare Müller konnte vor Beben ihres ganzen Körpers kaum antworten.
„Ich heiße so,“ sagte sie, nur halb hörbar.
„Du bist aus Szamaiten?“
„Aus Russisch-Neustadt.“
„Also eine russische Unterthanin. Wohl gar eine Deutsche, Deinem Namen nach?“
Er stellte diese Frage mit großer Verachtung.
Mare Müller gewann einige Sicherheit wieder, als sie mit Genugthuung antworten konnte:
„Ich bin keine Deutsche, Herr; ich bin szamaitische Litthauerin.“
Der Litthauer hat eine Verachtung für den Deutschen, die größer ist, als sein Haß gegen diesen.
Der Beamte schwieg. Er schien sich in ein wichtiges Nachdenken zu versenken.
Die Hausfrau kehrte zurück; ihr Mann war mit ihr, ein kleiner, kräftig gebauter Mann, wie die meisten Litthauer mit einem breiten, harten Gesichte.
Er zog vor dem Beamten unterwürfig seine Pelzmütze ab.
Der Schutz rührte an der seinigen eben so wenig, wie bisher.
„Wie lange,“ fragte er mit seiner strengsten Amtsmiene den Bauern, „ist diese russische Unterthanin in Deinen Diensten?“
„Seit zwei Jahren. Morgen zum heidekruger Jahrmarkt werden es gerade zwei Jahre.“
„Warum hast Du sie der Polizei nicht angemeldet?“
„Mußte das geschehen, Herr Wachtmeister?“
„Es mußte. Und wer einen russischen Unterthanen bei sich verheimlicht, der verfällt in schwere Strafe bis zu zweihundert Thalern.“
„Ich meine, Herr, das zählte nur für russisihe Ueberläufer und Deserteure.“
„Schweig. Das muß ich besser wissen. Das königliche Landrathsamt kann Dich in eine Strafe von zweihundert Thalern nehmen.“
Auch der Mann wurde ängstlich.
„Zweihundert Thaler! Sechshundert Gulden! Soviel beträgt mein ganzes Vermögen nicht.“
„So wirst Du für den Rest sitzen müssen.“
Die Angst des Bauern verwandelte sich in einen großen Zorn.
„Was?“ rief er. „Um der Dirne willen! Das hat man davon, wenn man solch Gesindel bei sich aufnimmt! Sie soll mir auf der Stelle fort.“
Die Frau suchte ihn zu besänftigen.
„Vaterchen,“ sagte sie, „das Mädchen war immer treu und redlich und fleißig.“
„Eine liederliche Person ist sie. Sie soll mir auf der Stelle fort. Dirne, iß Deine Suppe, die neben Dir steht, und dann fort mit Dir und Deinem Balg.“
„Du hast ihr Frist gegeben bis morgen,“ hielt ihm die Frau vor.
Der Schulz kam dem Bauern zu Hülfe.
„Schweig, Frau,“ sagte er. „Die Person muß fort. Noch heute muß sie zurück über die Grenze. Wird sie in Preußen betroffen, so müßt Ihr die Strafe zahlen.“
„Aber warum, Herr Wachtmeister?“
„Sie hat sich heimlich im Lande aufgehalten, hat gar ein Kind hier geboren.“
„Sie will sich ehrlich verheirathen, Herr Wachtmeister.“
Der Schulz entsetzte sich.
„Verheirathen? Hier in Preußen?“
„Ihr Bräutigam wird heute oder morgen zurückkehren.“
Hier verheirathen? Das muß ich besser wissen. Dazu gehört für die Ausländerin obrigkeitlicher Consens, und der müßte von Berlin und von Petersburg kommen. Und daran kann man doch bei solchem Gesindel nicht denken. Höre, Frau, und auch Du, Mann: die Person muß noch heute fort. Als sie in der Kirche zu Werden ihr Kind hat taufen lassen, ist es bekannt geworden, daß die russische Unterthanin heimlich hier im Lande sei. Das königliche Landrathsamt weiß es noch nicht, wird es aber erfahren, wenn in einigen Tagen der Pfarrer die Tauflisten des vorigen Monats einschickt. Ist dann die Person noch da, so ist es für Euch zu spät; Ihr müßt dann die Strafe zahlen, oder Du, Mann, mußt dafür sitzen. Darum bin ich gekommen, Euch zeitig zu warnen. Jetzt thut, was Ihr wollt. Su Diewo (mit Gott)!
Es wird Friede. Die „Unabhängigkeit der Türkei ist gesichert“ d. h. auf Deutsch: die Türkei ist gründlich ruinirt worden und geht nun, nie wieder beschützt, um so ungehinderter ihrem Schicksale entgegen. Der große Gewinn, der aus dem Kriege für Rußland erwächst, besteht darin, daß England und Frankreich den Willen und die Macht verloren haben, die Türkei jemals wieder zu beschützen. Solche Verluste können die Alliirten nicht zum zweiten Male tragen, solche Gefahren nicht zum zweiten Male wagen.
Unter der verlorenen Türkei verstehen wir zunächst die europäische, denn die asiatische ist noch voller Lebens- und Glaubenskraft. Daß dieser muhamedanische Glaube uns zum Theil unsinnig erscheint, schwächt nicht seine Kraft. Er ist das Lebensblut der Racen, des Klima’s, der socialen und sittlichen Anschauungsweise jener Gegenden und Menschen. Dort fließt noch altes Saracenenblut in den Adern des weiß- und blaugeschmückten, beturbanten Muselmanns Der europäische Türke besteht aus einer ganz andern Sorte von Menschen. Er hat seinen Glauben verloren und dafür keinen andern gewonnen, sondern nur Auswurf europäischer Civilisation. So ohne innere Anregung und Halt an der Außenwelt verkommt und verkümmert er auf seinen Beinen kauernd und starken Tabak dazu rauchend. „Kein europäischer Türke hat ein unverfallenes Haus über und reine Kleidung an sich,“ sagt ein deutscher Doctor, der die europäische und asiatische Türkei durchwanderte, „während die Muselmänner in Damaskus u. s. w. immer im schönsten blauen Kaftan und schneeweißen Turban aus ihren glänzenden Palästen heraustreten.“ Kurz die asiatische Türkei hat noch Leben, noch Herz und Kern. Nur sehr wenige Europäer sind bis jetzt persönlich bis in diesen Kern, das fanatisch bewachte Allerheiligste der großen muhamedanischen Welt eingedrungen. Wir haben jetzt in der That erst den ersten Bericht des ersten Europäers, der wirklich in diesem Allerheiligsten, Medina, war. Mittheilungen des Wesentlichsten daraus werden daher für jeden Leser Interesse haben.
Wer arabische Mährchen, Tausend und Eine Nacht und dergleichen gelesen, wird sich erinnern, wie viele Personen mit dem Titel „Haji“ auftreten. Vielleicht kennt er die Helden Haji Baba und Haji Saad. Was ist ein Haji? Ein Heiliger d. h. ein Muselmann, der die Wallfahrt nach Mecca und Medina gemacht und das Allerheiligste des muhamedanischen Glaubens, den Schrein des großen Propheten u. s. w. vor sich gesehen. Tausende, viele Tausende [130] reuiger, gläubiger, frommer Muselmänner haben sich durch tausendmeilige Wanderungen über Wüsten und Wildnisse hinweg den Titel Haji erworben, aber der ehemalige englisch-ostindische Lieutenant Richard Burton ist der erste Europäer und Ungläubige, der das Allerheiligste in Medina persönlich sah und der Erste, der genau und im Interesse der Wissenschaft, für die er reif’te, darüber Kunde gab.
Von der geographischen Gesellschaft in London beauftragt, führte er seine lebensgefährliche Mission in einer ganz neuen, originellen Weise durch. Kein Ungläubiger darf das eigentliche heilige Land der Muhamedaner betreten. Selbst Renegaten werden nur unter der argwöhnischsten Wachsamkeit zugelassen. So beschloß Burton, der Engländer, als geborner Muselmann sein Heil zu versuchen. Bald nach seiner Abreise von England steckte er sich in das Gemach und die Garderobe eines persischen Prinzen. Als solcher kam er in die Hände der egyptischen Polizei und Paßvisitatoren zu Alexandria, die ihn als persischen Prinzen sehr scharf bewachten. Durch Vermittelung des Consuls gelang es ihm, sich zum muhamedanischen Derwisch und Doctor zu machen und Erlaubniß zum Reisen in ganz Egypten zu erhalten. Er nannte sich Abdullah und reis’te zunächst nach Kairo, wo er mit einem merkwürdigen kleinen Manne, einem gebornen Russen, bekannt ward. Dieser, ganz Muselmann geworden und genau bekannt mit allen Verhältnissen, überredete ihn, seine Rolle abermals aufzugeben und sich zum Pathaner oder „Afghanen auf Reisen“ zu machen. Als solcher mußte er persissch, indisch und arabisch sprechen können, worin er sich auch bereits große Fertigkeiten erworben hatte.
Mit gläubigen Eltern, Sprachen und einer Profession, der eines Doctors, versehen, hielt sich „Abdullah“ nun für hinlänglich vorbereitet und sicher. Wie er sich in Kairo die Medicamente, ,Zaubersprüche und all den Hocuspocus, wie ihn das Volk dort haben will und er den wirklichen Arzt ausmacht, durch das eifrigste Studium erwarb, gehört nicht wesentlich zur Sache. Die große „Praxis“, in welche er kam, ward beinahe zum Hinderniß seiner Absichten. Er wies also viele Kranke ab und widmete sich eifrig dem Studium muhamedanischer Theologie, worin ihn der kleine Russe und ein besonderer Shaykh (Lehrer) bestens unterstützten. Er wählte die Shafei-Confession, als die freisinnigste und wegen ihrer Aehnlichkeit mit dem persischen Muhamedanismus oder „Shiah“, womit er schon ziemlich bekannt war. So studirte er Theologie und Volkssitten und curirte, was das Zeug hielt, bis er sich eines Tages mit einem derben Albanier so tüchtig betrunken hatte, daß Letzterer den großen Propheten lästerte und die braunen Gläubigen mit dem Stocke tractirte. Dadurch entstand ein fanatischer Volksauflauf, aus welchem sich unser Abdullah mit genauer Noth rettete, um sofort seine Pilgerfahrt anzutreten. Aber obgleich mit allen möglichen Kennzeichen und Eigenschaften des wahren Gläubigen versehen, so daß ihn der Frömmste und Strenggläubigste schwerlich entlarven konnte, fand er doch bald, daß er noch eine ganze Menge verdächtige Artikel wegwerfen mußtte. Messer, Scheeren, Trinkglas, Taschenpistol und selbst den christlichen Barbierpinsel mußte er wegwerfen, um statt des letzteren ein Stück, an dem einen Ende borstig gekautes Holz d. h. den gläubig-muhamedanischen Barbierpinsel, statt des Wasserglases ein Gefäß von Ziegenfell und statt anderer des Unglaubens und giaurischer Abkunft verdächtiger Gegenstände gläubige, einheimische anzuschaffen. Auch ein Buch mit weißem Papier und Bleistift warf er weg, weil ein vor ihm Reisender von Beduinen blos wegen eines solchen ermordet worden war. Eine grobe, persische Decke diente ihm·als Sopha, Stuhl, Tisch, Bett und Katheder, letzteres für Fälle medicinischer Predigten. In einer gläubig erbsengrün angestrichenen Kiste, mit der Eigenschaft, täglich zweimal vom Kameele zu fallen, ohne Schaden zu nehmen, barg er seine Apotheke. Ein wollenes Umschlagtuch gegen kaltes Wetter, ein Stück Leinwand zu einem Zelte und ein ungeheuer großer, hellgelber und kattuner Regenschirm vollendeten seine gläubige Ausstattung. Einige arabische Bücher nahm er nur zu dem Zweck mit, um vielleicht unter dem Scheine des Lesens und Studirens gelegentlich Notizen und Bemerkungen an deren weißen Stellen machen zu können. Zuletzt miethete er zwei Kameele, zu 3 Thlr. jedes, richtete sich auf denselben ein und schloß sich einer Karavane nach Suez (etwa 20 geographische Meilen von Kairo) an.
Auf der Reise durch diese öde Wüste traf er mehrere Personen aus Medina, die sich ihm anschlossen und auch auf dem Pilgerschiffe bis nach Yembo am rothen Meere bei ihm blieben. Yembo ist der Hafen Medina’s, wo immerwährend ankommende und abgehende Pilger im- und exportirt werden.
Am 18. Juli 1854 trat er in Begleitung von 12 andern Pilgern seine Landreise von Yembo nach Medina an, über eine brennende, phantastische Wüste von öden Hügeln, todten Ebenen und wüsten Thälern. Der Weg wand sich über Felsengebröckel, zwischen denen nicht einmal Kameelgras wachsen wollte. Ganze Tage und Nächte hindurch kein Halm, kein Vogel, kein Thier, nichts Lebendiges, Alles war todt gebrannt unter der erbarmungslos herabglühenden Sonne. Nur manchmal fand sich etwas Lebendiges ein, aber nur als fürchterliche Plage: stechende Insekten und Heuschrecken, die jede vegetabilische Spur in den Thälern bis auf die Wurzeln vertilgten. Die meisten Pilger schliefen während der Reise auf ihren Kameelen, denen nur immer Einer oder der Andere etwas vorspielte und sang.
Manchmal nach tagelanger Pilgerschaft durch brennenden Tod sah man eine Ortschaft liegen, stets verfallen und in Trümmern, Folge der alten Wahhabiten- und egyptischen Kriege, der „Heiligkeit“ des Landes und der türkischen Regierungsfaulheit. El Hejaz, das heilige Land, weit um die heiligen Städte, gehört auf ewige Zeiten den Nachkommen der alten Bewohner, welche von den Pilgern oder direct vom Raube leben und daher um so weniger an Bodencultur denken. Furcht vor den „Wüstenräubern“ fesselte die Reisenden nicht selten, da sie in dem Glauben leben, Rettung vor ihnen sei blos möglich, wenn man sich bei ihrem Herannahen nicht im Geringsten bewege und so den Schein öder Hügel und Berge annehme.
Nach der mühsamsten Reise über die noch nicht 30 deutsche Meilen lange Wüste zwischen Yembo und Medina, wozu man 8 Tage gebraucht, erreichte man endlich „das gesegnete Thal“ der arabischen Dichter, d. h. etwas weniger Wüste vor der heiligen Stadt selbst und an dessen Ende eine große, breite, schwarze Basalt- Treppe, die unmittelbar in die Stadt hinaufführt. Oben angelangt sahen sie Medina vor sich liegen. Aber Niemand wagte um sich zu blicken. Jeder kauerte sich nieder mit dem Gesicht den heiligen Boden berührend und betend. Mr. Burton oder Abdullah machte alle die Andachtsübungen so geschickt, daß er nicht den geringsten Verdacht erregte und hernach, hinter den Uebrigen reitend, sogar im Stande war, den Totalanblick der Stadt zu skizziren. Das Charakteristische der Stadt sind vier große Thürme und die golden blitzende Moschee, Masjid-el-Rabawi, –– unter welcher die irdischen Ueberreste Muhamed’s ruhen. Diese Moschee des großen Propheten war denn auch sein Hauptaugenmerk. Nachdem er sich gläubig gebadet, abgebrüht und sonstige vorbereitende Ceremonien durchgemacht, hüllte er sich in einen weißen baumwollenen Mantel und machte seinen „Zigarat“, seinen Besuch in dem Allerheiligsten. Der Tradition nach ist ein Gebet hier eben so viel werth, als tausend anderswo, so daß die Gläubigen in ihrem Glauben 1000 Procent Profit machen. Da nun jeder Pilger nach dem Zigarat vorschriftsmäßig jeden Tag, so lange er in Medina bleibt, fünf Mal beten muß und die Meisten 8–14 Tage, oft noch viel länger dort bleiben, um so viel als möglich solcher werthvollen Gebete zu erwerben, kehren sie auch alle mehr oder minder bereichert an solchem imaginären Kapital der Heiligkeit in ihre verschiedenen Wohnsitze, die bis in’s Innere Afrika’s, bis Timbuktu reichen, zurück. Man kann sich daher leicht denken, wie die Haji’s zugleich als große Kapitalisten der Frömmigkeit Verehrung finden. Außer der Propheten-Moschee hat blos noch die in Mecca, Masjid-el-Haram, die Eigenschaft, einem Gebete den Werth von tausend zu geben. „Der dritte heiligste Platz der Welt,“ Masjid-el-Aska — in Jerusalem, thut schon dies Wunder nicht mehr.
Mr. Burton fühlte sich schon beim Herantreten an die allerheiligste Moschee sehr enttäuscht. Der Weg ist dicht bis an das Gebäude selbst mit gewöhnlichen und gemeinen Bauten und Buden eingeengt. Man hatte von keiner Seite einen Gesamtüberblick. „Je mehr ich die Moschee ansah,“ sagte er, „desto mehr kam sie mir wie ein Museum untern Ranges, wie ein Raritäten- Laden vor, voller Ornamente und überfüllt mit ärmlichem Glanze.“
Wer dem Grabe des Propheten zum ersten Male nahe tritt, heißt ein Zaïr. Er darf blos in Begleitung eines Muzzawir oder privilegirten Führers kommen. Burton fand ihn in der Person seines Wirthes und Reisegefährten. Mit ihm durchwanderte er [131] die heiligen Plätze langsam und in officiell betender Haltung, die linke Hand unter dem Herzen festgedrückt und dieselbe mit der rechten bedeckend. Natürlich war’s ihm nicht um’s Beten zu thun, sondern so genau und so viel als möglich zu sehen und sich Situation und Lage jedes einzelnen Heiligthums zu merken. Dies gelang ihm auch so weit, daß er hinterher im Stande war, einen Grundriß des Haram (der eigentlichen Moschee) und die Situation der „Quelle des Propheten“, seines Rednerstuhls, seines Rawyah (Gartens), des Fensters, durch welches der Engel Gabriel hereingeflogen war, um dem Propheten himmlische Geheimnisse zu offenbaren, der „weinenden Säule“, der „Reue-Säule“, der „Flüchtlings-Säule“ und der „Säule Ayesha’s“ (Muhamed’s Frau) zu zeichnen.
Dem Allerheiligsten selbst, d. h. dem Sarge des Propheten, darf niemals Jemand nahe treten. Burton konnte also auch blos dessen Ansehen von Außen schildern. Dieses Allerheiligste liegt innerhalb des Gartens, belegt mit blumigen Tapeten, gedeckt mit grünen Ziegeln, bemalt mit seltsamen Arabesken und des Nachts erleuchtet mit Kandelabern von geschnittenem Glas, dem Werke eines londoner Glasschneiders. Am Tage sah das Ganze ärmlich und schmutzig aus, nur bei künstlicher Beleuchtung machte es den Eindruck einer wunderlichen, reichen Theaterdekoration.
Die Hujrah, Ayesha’s Zimmer und der Raum, in welchem der Prophet starb, bilden ein großes, unregelmäßiges Viereck im südöstlichen Winkel des Gebäudes, von allen Seiten durch eine breite Passage von der Moschee selbst geschieden. Innerhalb dieses Vierecks ist das Mausoleum von einem doppelten Eisengitter, mit einem ganz schwarz gefärbten Wege dazwischen, eingeschlossen. Innerhalb des innern Gitters hängt der Vorhang, der die Gräber Muhamed’s und der beiden ersten Khalifen, Abubekir und Omar, den Blicken Sterblicher verbirgt. Ein viertes leeres Grab ist für „Isa bin Maryam,“ d. h. den Sohn Maria’s, der hier nach Vollendung seiner zweiten Mission auf Erden seine letzte Ruhestätte finden soll. Das Grabmal Muhamed’s ist am Vorhange durch einen Stern und Rosenkranz von Perlen bezeichnet, „aus Diamanten geflochten,“ wie die Gläubigen sagen. Der Stern in der Mitte ist der „Juwel unter den Juwelen des Paradieses“. Nach Burton sieht er ganz so aus wie der Stöpsel zu einer gewöhnlichen Wasserflasche von Glas.
Von dem Grabe und dem Sarge des Propheten giebt es viele Lesearten. Der Sarg besteht aus einem schwarzen Marmorblock, den man sehen kann, wenn der Wind den Vorhang hebt; nach Andern liegt er tief in der Erde in einem Sarge von Ebenholz mit Silber beschlagen. Noch Andere ließen ihn mit sammt einem eisernen Sarge direkt in den Himmel fahren. Die Sache ist, daß Niemand etwas davon weiß. So oft der Vorhang erneuert werden muß, nimmt man die Nacht dazu und Gläubigste der Gläubigen, welche um keinen Preis der Welt ihre Augen dahin richten würden.
Das geistliche Haupt des Islam ließ während Burton’s Anwesenheit in Medina einen der fünf Thürme der Muhamed-Moschee ausbessern; doch ging die Arbeit sehr langsam vorwärts, da die nöthigen Gelder von Konstantinopel sehr oft ausblieben. Es hieß, der Bau werde während des Krieges wohl ganz unterbleiben.
Ein mit den heiligen Plätzen in Verbindung stehendes Institut enthält alle Arten von heiligen Beamten, deren Jeder so viel als möglich von den Pilgern zu schlucken versucht. Außer diesen „Agha’s“ belagern eine Masse Bettler beiderlei Geschlechts, lahme, blinde, mit Lumpen und Geschwüren und Schmutz bedeckte Gläubige die Zugänge, so daß Burton mehr als doppelt so viel brauchte, als er erwartet, um sich überall durchzukaufen.
Die Stadt des Propheten, Medinet-el-Rabi bei den Arabern, wofür wir Medina sagen, liegt auf einem großen Plateau Mittel- Arabiens in einer zwölf englische Meilen ringsum heiligen Gegend. Innerhalb derselben ist Alles geheiligt und keine „Immoralität“ erlaubt. Dieses heilige Land enthält noch eine Menge andere Heiligthümer, Moscheen, Quellen, aus denen der Prophet trank, Gärten, in welchen er wandelte, das Grab seines Onkels Hamzah in der Stadt Jebal Ohod, wo auch Aaron begraben liegt, und die Seelen der Gläubigen in geistiger Unterhaltung beisammen sitzen, 100,000 Heilige mit Gesichtern wie Vollmond bei el Bakia, die Auferstehung Muhamed’s erwartend, um sich ihm gleich zur Verfügung zu stellen. —— Alle diese Plätze besuchte Burton, stets mit dem rechten Fuße zuerst eintretend und fast immer in Bewegung mit der Hand aus der Tasche, um die Heiligen, welche auch Fleisch und Bein hatten, mit irdischen Gütern kleinen Gepräges zu erfreuen.
Medina ist eine hübsch gebaute Stadt mit etwa 16,000 Einwohnern. Die Dächer sind flach, größtentheils zweistöckig, die bessern in Gärten gelegen, von Springbrunnen und Dattelbäumen umgeben. Die Datteln von Medina gelten als die besten in der ganzen Welt. Das Interessanteste ist das seltsame Gemisch der Bevölkerung. Sie besteht aus zurückgebliebenen Pilgern aller muhamedanischen Racen, vom negerartigen Schwarz bis zu dem edeln, feinen, blassen Gesicht des „Dolche blickenden“ ächten Sarazenen. Sie säen nicht, sie ernten nicht, sie sammeln nichts in die Scheuren und Allah und sein Prophet ernähren sie doch. Sie bezahlen keine Steuern und thun nichts, als die frommen Fremden führen, bewirthen und ausbetteln. Einige handeln mit Datteln, Tabak, getrockneten Früchten, die ihnen von den Bäumen in würziger Süßigkeit zufallen. Von Datteln unterscheidet man im Handel und in der Art der Verpackung über sechzig Arten. Die besten, über zwei Zoll lang, werden in Zinnbüchsen bis in die fernsten Theile der muhamedanischen Welt als Geschenke an besonders Gläubige gesandt, die Datteln aus „Fatima’s Garten“ an den Sultan und die Häupter des Islam verschenkt. Datteln sind die Kartoffeln der ganzen Gegend, auch Apotheke. Man ißt sich in Datteln krank und kurirt sich mit Medicin, die aus Datteln bereitet wird. Aechte Homöopathen. Außerdem ißt man viel — zerlassene Butter, worin gebratenes Fleisch schwimmt. Sie haben’s wirklich so weit gebracht wie jener Schäferjunge, der gefragt, was er thun würde, wenn er König wäre, antwortete: „Ich tränke die braune Butter aus Bierkrügen.“
Mr. Burton hörte die Aeltesten des Islam zuweilen über den Krieg disputiren. Auf ihren Knieen kauernd und aus langen Pfeifen bedächtig zierliche Wolken blasend, vereinigten sie ihre Nachrichten und Meinungen dahin: „Der Czaar hat um Frieden gebeten und Tribut und Treue geboten. Aber der Sultan hat ausgerufen: „Nein, bei Allah! El Islam! Erst muß der Czaar zum Glauben des Propheten schwören! Dann wird er das Schicksal der Moskowiter bestimmen und hernach die Ungläubigen von Feringistan (d. h. des übrigen Europa) zur Fahne des Propheten schwören lassen.“ —-
Die weibliche Bevölkerung Medina’s beschäftigt sich mit Zanken und Putzen. Sie zanken ihre schwarzen Dienstboten aus, deren jede 80 bis 150 Thaler Lohn bekommt, und gehen in einem weißen, weiten Hemde mit langen Aermeln und sehr engen, anschließenden Tarwals (Beinkleidern) freier umher, als sonst in der Türkei. Außerdem färben sie die Sohlen ihrer nackten Füße und innern Handflächen sehr sorgfältig schwarz.
Das malerische Leben und Treiben der Stadt mit ankommenden und abgehenden Pilgrims-Caravanen ist äußerst interessant. Mit besonderer Aufregung wurde während Burton’s Anwesenheit die jährlich einmal von Damaskus ankommende Karavane erwartet, weil diese einen neuen Vorhang für das Grab des Propheten mitbrachte. Sie blieb über die Zeit aus, so daß man schon fürchtete, Wüstenräuber könnten sie ausgeplündert und ermordet und selbst den heiligen Vorhang nicht geschont haben. Sie war aber einmal über Nacht sicher angekommen. Und der glänzende, heiße Morgen strahlte auf eine ganze, über Nacht wie aus der Erde gezauberte neue Welt. Eine große Stadt von Zelten war zwischen den Häusern emporgewachsen, bunte, kostbare Zelte, wie Paläste mit Harem, Ställen und Küchen, mit goldenen Zinnen und kostbaren Shawlgehängen, mit Pavillons, mit Schlaf- und Besuchszimmern; weiße, graue, grüne Zelte als Privatwohnungen oder als Buden, aus denen Tabak-, Frucht- und Spezereihändler schrieen; dazwischen hervorragend große, weiße, syrische Dromedare mit braunen Beduinen an deren Höckern klebend, Arnauten, Türken und „Feuer blickende“ kurdische Reiter in malerischen Farben glänzend, persische Pilgrime in Ohnmacht fallend, umherwandelnde Scherbetverkäufer, fromme Haji’s, einander „rämpelnd,“ so daß bald hier, bald da Einer unter Kameelfüße oder über die Seile der Zelte purzelte, Kanonendonner von der Citadelle, Lustschützen, die ihre kleinen Gewehre zum Vergnügen in die Luft knallten, lautes Gekreisch von Weibern und Mädchen in deren dichtverschlossenen Sänften, aus denen sie doch ganz frei herauskollerten, wenn die Träger über Stricke und Pfähle der Zelte fielen; eine kühn daherreitende Gruppe arabischer Shaykhs, den Arzah oder Kriegstanz aufführend, schießend [132] im Tanze oder das Pulver in den Taschen des nächsten Nachbars auf einmal abbrennend, Schwerter schwingend und wahnsinnig dazu in Sprüngen laufend und sich drehend, so daß die hellfarbigen Lumpen lustig im Winde flattern, mit ihren ungeheuren Speeren stoßend und fuchtelnd, so daß die Straußfedern daran zum Theil abfliegen, oder sie hoch in die Luft werfend, ohne darnach zu fragen, wo und wie sie herunter fallen – und zwischen all diesem bunten Gewimmel und Getöse hier und da ein wankendes, zusammenknickendes, zerlumptes Menschenbild, leise betend und mit hohlen Augen umherblickend nach einem ruhigen Winkel, um darin – auf heiligem Boden – dem letzten und höchsten Ziele seiner Wünsche – gläubig und selig zu sterben. –
Wir sehen, der Muhamedanismus hat dort noch seinen Kultus, sein Volksleben, seinen Fanatismus, seine eifrige Orthodoxie, seine Heiligthümer, deren Entweihung durch das Betreten Ungläubiger sofort mit Tode bestraft wird. Auf die Vernunft und den Sinn der Sache – in unserm Sinne – kommt es nicht an, sondern auf die Kraft der Existenz, des Glaubens, der Breite, Tiefe und Energie dieser religiösen und socialen Gebilde. Von alledem hat Burton ausführlich und genau Zeugniß gegeben. Mitten in dem Jubel der Karavanen von Damaskus verließ er in Gesellschaft seiner Mitpilger Medina, um auch Mecca zu besuchen. Er erreichte es sicher und kam sicher wieder heraus, so daß wir seinem Berichte darüber entgegen sehen können.
Der muhamedanische Kultus hat klimatisch seine Lebenskraft in Arabien, auf und um Wüsten mit sternenfunkelnden Nächten und öder, erhabener Einsamkeit. In Europa wird er unter- und sein Gebiet übergehen. Die Alliirten werden wahrscheinlich die ihnen obliegende und zugetraute Absicht, dieses Gebiet der Freiheit zu retten, auf immer verscherzt und vereitelt haben.
Die Krankheit ist nervös geworden, pflegt man zu sagen, wenn ein fiebernder Patient phantasirt (irre redet) und überhaupt Störungen seiner Hirnthätigkeit (besonders des Bewußtseins und der willkürlichen Bewegungen) zeigt. Es kann nun aber eine große Menge der verschiedenartigsten Krankheiten in ihrem Verlaufe nervös werden, aber zum Nervenfieber werden sie deshalb durchaus nicht, denn das ist eine ganz bestimmte Krankheit, die von ihrem Anfange an Nervenfieber ist und sogar ohne nervöse Erscheinungen, bisweilen blos mit Verdauungsstörungen neben großer Abmattung (als gastrisches oder Schleimf1eber), vorkommt. In den meisten Fällen treten allerdings beim Nervenfieber wie bei vielen andern Krankheiten sogenannte nervöse Erscheinungen (wie: Kopfschmerz, Eingenommenheit des Kopfes, große Unruhe und Aufregbarkeit, Schlaflosigkeit, Sinnestäuschungen, Irrereden, Schlaftaumel bei offenen Augen, Krampfzustände, Zittern und Umsichgreifen, Sehnenhüpfen und Flockenlesen, Lallen, Schlafsucht und Betäubung mit schnarchendem oder rasselndem Athem, unwillkürliche Harn- und Stuhlentleerung etc.) ein und deshalb hat dieses Fieber auch den Namen des Nervenfiebers erhalten. Es wird dasselbe auch noch nervöses Schleim- oder Unterleibsfieber, gastrisch-nervöses Fieber, Typhus, genannt und in seinem Beginne sehr oft für ein katarrhalisches, gastrisches (Schleim-) oder rheumatisches Fieber gehalten.
Die Wissenschaft unterscheidet ein Unterleibs-Nervenfieber (typhus abdominalis, enterische Form des Typhus, Darmtyphus) und ein Ausschlags-Nervenfieber (exanthematische Form des Typhus, typhus exanthematicus); das erstere geht mit Erkrankung mehrerer Unterleibsorgane (besonders des Darmes, der Gekrösdrüsen und der Milz) einher, das letztere, welches sich durch sein rascheres Auftreten und Verlaufen vor dem ersteren auszeichnet, führt keine solche Darm- und Gekrösdrüsen-Affection wie das erstere mit sich, wohl aber einen Hautausschlag, der theils in zahlreichen rothen, masernähnlichen Fleckchen, theils in flohstichähnlichen bläulichrothen Pünktchen (Petechien) besteht. Der Ausschlagstyphus ist es, welcher vorzugsweise ansteckend und epidemisch werden kann, und zu ihm gehört der Garnisons-, Kriegs-, Lazareth-, Kerker-, Schiffs-, Auswanderer- und Hunger- (oberschlesischer) Typhus; auch wird er bisweilen als ansteckendes Nervenfieber und bösartiges Faulfieber bezeichnet. Der Unterleibstyphus scheint nur bisweilen, wenn viele Patienten beisammen liegen, ansteckend zu werden. Ob nun diese beiden Nervenfieber aus denselben Ursachen und aus derselben Entartung des Blutes entstehen, ob der Ansteckungsstoff (Contagium) des exanthematischen und Darmtyphus derselbe sei, ist noch unausgemacht; als Entartungen des Blutes (acute Blutkrankheiten) sieht man aber zur Zeit beide Krankheiten an, obschon die Art der Veränderung des Blutes dabei auch noch nicht gekannt ist. Ebenso sind die Ursachen, welche den Typhus hervorrufen können, nur und auch blos zum Theil Vermuthungssache und selbst mit nur einiger Sicherheit nicht anzugeben. Uebrigens ist der Typhus eine der am häufigsten vorkommenden Krankheiten, denn er kommt in allen Theilen der Welt (besonders aber in der gemäßigten Zone) und in allen Lebensaltern (am häufigsten aber bei robusten Subjekten in den Jünglings- und Mannesjahren) vor. Als Ursachen desselben werden hauptsächlich angegeben: schlechte, besonders durch thierische Ausdünstungs- und Zersetzungsstoffe verdorbene Luft, dürftige und unpassende Nahrung, niederdrückende Gemüthsstimmungen (Gram, Sorge, Noth, Furcht) und übermäßige Geistesanstrengungen, bedeutende Strapazen u. s. w. Merkwürdig ist, daß der Typhus solche Kranke, die vom Nervenfieber schon einmal befallen waren, sowie diejenigen, welche an einem chronischen Uebel (wie: Lungen- oder Herzfehler, Krebs, Geisteskrankheit) leiden, äußerst selten befällt; auch Schwangere, Wöchnerinnen und Stillende sind ziemlich sicher vor dem Typhus.
Die Krankheitserscheinungen beim Typhus zeigen eine so große Verschiedenheit in ihrer Art und ihrem Grade, daß es oft äußerst schwierig für den Arzt ist, diese Krankheit mit Sicherheit, zumal bei ihrem Entstehen, zu erkennen. Die constantesten Merkmale sind: anhaltendes und heftiges Fieber (bedeutende Vermehrung der Pulsschläge, bis auf 150 und darüber, besonders beim Aufrichten des Kranken, und gesteigerte Körperwärme, bis zu 34° R.), große Hinfälligkeit, Anschwellung der Milz (welche der Arzt nur durch Beklopfen der Milzgegend zu erkennen im Stande ist) und ein Hautausschlag, welcher sich aber bei den beiden Typhusarten verschieden zeigt. Bei dem Darmtyphus tritt nämlich der Ausschlag nur sehr sparsam und oft unentwickelt, gewöhnlich nur in der Herzgrube auf und zwar in Gestalt von lichtrothen, kleinen, hirse- bis hanfkorngroßen, kreisrunden, härtlichen Stipchen oder Knötchen (roseola papulata), die zerstreut herumstehen, etwa am 9. Tage der Krankheit erscheinen und gewöhnlich schon nach einigen Tagen wieder verschwinden. Dagegen stellt der Ausschlag beim exanthematischen Typhus, welcher meistens schon zwischen dem 3. und 5. Tage der Krankheit erscheint, zahlreiche lichtrothe, kleine, unregelmäßige und dicht gedrängt bei einander stehende, oft masernähnliche Flecke (roseola maculata) dar, die sich von der Magengrube aus ziemlich rasch über den ganzen Rumpf und sogar über den ganzen Körper ausbreiten. Was die oben angegebenen nervösen Symptome betrifft, so kommen dieselben beim Ausschlagsnervenfieber constanter und gewöhnlich in heftigerm Grade vor, als beim Darmtyphus, wo sie sogar ganz fehlen können. Sie hängen wahrscheinlich von einer feindlichen Einwirkung des entarteten Blutes auf die Hirnsubstanz ab, denn bis jetzt hat man noch keine solche krankhafte Veränderung des Gehirns aufgefunden, welche jene Störungen der Hirnthätigkeit erklären könnte. Als ganz unbeständige Erscheinungen beim Typhus sind anzusehen: herumziehende (gewöhnlich für rheumatische erklärte) Gliederschmerzen, katarrhalische Symptome (mit Nasenbluten) und Verdauungsstörungen (bei belegter trockner Zunge mit rothen Rändern und rother Spitze); nur beim Unterleibsnervenfieber, wo sich im Darmkanal in der Regel Geschwüre bilden, sind Durchfälle oder Verstopfung bedeutungsvolle und wohl zu berücksichtigende Erscheinungen. – Der Verlauf des Typhus dauert ungefähr 3 bis 6 Wochen, doch häufig auch darüber, äußerst selten darunter. Ueber den glücklichen oder unglücklichen Ausgang dieser Krankheit läßt sich niemals etwas Bestimmtes sagen, denn auch bei den [133] anscheinend mildesten Fällen können oft ganz unerwartet oder allmälig, selbst in der schon eingetretenen Wiedergenesung, gefährliche und tödtliche Zufälle eintreten. Kurz, man kann sich bei dieser Krankheit immer nur dann erst seines Lebens wieder recht freuen, wenn man dieselbe eine Weile im Rücken und sich seines früheren Wohlseins (Stärke, Schwere, Aussehens) zu erfreuen hat. Die Genesung erfolgt stets langsam unter Beruhigung des Pulses, Reinigung der Zunge, Wiederkehr des Schlafes, des Appetites und normalen Stuhles, Wiederzunahme des Fleisches und Körpergewichtes, häufig mit Ausgehen der Haare.
Die Vorbauung bei herrschendem Typhus besteht zur Zeit, wo die Wissenschaft noch so wenig von der Entstehung und dem Wesen dieser Krankheit weiß und kein sicheres Schutzmittel dagegen angeben kann, hauptsächlich: in Herstellung und Erhaltung einer guten Luft (gehörigem Luftwechsel, besonders in den Schlaf- und Krankenzimmern); äußerster Reinlichkeit, sowohl der einzelnen Personen als auch der Wohnungen; baldiger Beseitigung aller Zersetzungsprodukte (fauliger, übelriechender Stoffe); Vermeidung von Ueberfüllung der Wohnungen mit gesunden und noch mehr mit kranken Personen; in Sorge für gute, leicht verdauliche Kost, reines Trinkwasser, gesunde Wohnung und gehörige Kleidung; in Vermeidung aller Excesse (also Führung einer geregelten Lebensweise in jeder Hinsicht) und in Beruhigung des Gemüths (Heiterkeit und Furchtlosigkeit). Von den sogen. desinficirenden Räucherungen sind die mit Kaffee (wobei erhitzter grüner Kaffee gestoßen und als grobes körniges Pulver auf glühende Kohlen gestreut wird) denen mit Chlor, Essig, Wachholder u. s. w. vorzuziehen. Das sicherste Präservativmittel ist aber jedenfalls, baldmöglichst sich aus der Gegend zu entfernen, wo der Typhus herrscht, und nach einem typhusfreien Orte überzusiedeln. —
Die Behandlung typhöser Kranken braucht fast nur eine diätetische zu sein; die allermeisten Fälle von Typhus kommen auch ohne ärztliches Zuthun (und deshalb auch bei homöopathischer Behandlung) zur Heilung, ja sie verlaufen, sich selbst überlassen, stets weit besser, als unter den Händen mittelsüchtiger allopathischer Heilkünstler, da stark eingreifende Arzneien nirgends so schadenbringend sind, als gerade in dieser Krankheit, welche für den Arzt noch so viel Räthselhaftes hat und gegen welche ein besonderes, spezifisches Verfahren zur Zeit nicht gefunden ist. Dagegen üben auf den günstigen Verlauf derselben augenscheinlich einen wesentlichen Einfluß: frische und reine Luft, Reinlichkeit und öfterer Wechsel der Bett- und Leibwäsche, Abwaschungen des Körpers, Ruhe des Körpers, der Sinne, des Geistes und Gemüthes, gelind nährende und leicht verdauliche Speisen und Getränke. Damit soll nun aber nicht etwa gesagt sein, daß der Arzt beim Typhus stets entbehrlich sein und nicht in einzelnen Fällen bei gewissen Umständen (besonders bei Erstickungs- und Schwächezuständen) heilbringend, sogar lebensrettend wirken könne. Dies kann aber nur der allopathische, nie der homöopathische Arzt mit seinen Nichts-Arzneien. Aber mit einem Abschneiden der Krankheit durch energische Mittel, sowie mit Anwenden von Arzneien, die schon manchmal gute Dienste beim Typhus geleistet haben sollen, dürfte mir, wenn ich am Typhus litt, kein Arzt kommen. Auf die Gefahr hin, für Dr. Sangrado II. gehalten zu werden, empfehle ich jedoch zum Abkürzen, wenn auch nicht zum Coupiren des Typhus, wenn derselbe sich bei seinem ersten Erscheinen durch Fieber, große Hinfälligkeit und Kopfschmerz vermuthen läßt, ein ganz unschädliches Mittel, welches ich mehrere Male mit gutem Erfolge, wie ich nämlich glaube (also nicht gewiß weiß), selbst an Medicinern angewendet habe und welches, wenn es nichts hilft, sicherlich nicht schadet. Es ist dieses Mittel „heißes Wasser“, welches blos einige (2 bis 3) Tage lang, aber in sehr großer Menge bei leichter Bedeckung und Bekleidung des Körpers (damit es keinen übermäßigen Schweiß hervorrufe) getrunken werden muß und das unreine Blut, die HH. Aerzte mögen mir diesen unwissenschaftlichen Ausdruck verzeihen, auswaschen oder ausschwemmen soll. Uebrigens dürfte es bei der Behandlung des Typhus, einer in ihrem Verlaufe wohl nicht aufzuhaltenden und den erkrankten Organismus äußerst erschöpfenden Krankheit, hauptsächlich darauf ankommen, den Kranken gehörig zu kräftigen, damit er den Kampf mit der Krankheit siegreich bestehen könne, wobei natürlich auch noch nebenbei Alles abzuhalten und zu vermeiden ist, was das Uebel unterhalten oder steigern kann. Sicherlich sind schon viele Typhuskranke nur deßhalb zu Grunde gegangen, weil sie auf eine zu karge Diät gesetzt wurden und weil man glaubte, daß sie erst dann kräftige Nahrung bekommen müßten, wenn sie Appetit danach bekämen.
Unter den diätetischen Heilmitteln des Typhus steht reine, mäßig warme Luft und gute Nahrung obenan. Um stets reine Luft im Krankenzimmer, was so geräumig, luftig und trocken als möglich sein muß, zu haben, ist Alles sofort aus demselben zu entfernen, was die Luft verunreinigen könnte (Excremente, Urin, schmutzige Wäsche u. dgl.), und öftere Lüftung des Zimmers vorzunehmen. Hierbei ist aber ja darauf zu achten, daß die Luft nicht zu kalt werde, weil diese sonst sehr leicht Lungenaffectionen gefährlicher Art erzeugen kann. Sprengen mit Essig, Aufhängen von wollenen, in Essig getauchten Tüchern, Kaffeeräucherungen (und, wenn’s möglich wäre, Ozonentwickelung) sind neben dem häufigen Luftwechsel auch noch empfehlenswerth. Für Reconvalescenten vom Typhus ist der Aufenthalt in gesunder Landluft sehr stärkend. —-— Die Nahrung sei flüssig, kräftig und schmackhaft; sie bestehe aus guter Fleischbrühe, weichem Eie (stets auch das Eiweiß, nicht etwa blos das Dotter), Milch (anfangs verdünnt, oder Buttermilch und Molken) und mehligen Stoffen in Suppenform. Niemals erhalte der Patient eine größere Menge Nahrungsstoffe auf einmal, immer nur wenige, aber öfterer. Nicht genug kann in der Reconvalescenz vor Excessen im Essen und vor schwer verdaulichen, blähenden, erhitzenden und reizenden Speisen und Getränken gewarnt werden, weil hier schon öfters eine starke Ueberfüllung des Magens mit Speisen und eine Durchlöcherung des geschwürigen Darmes durch Speisereste plötzlichen Tod herbeigeführt haben. Als Getränk dient das Wasser (mit etwas Säuere) am besten, oder Brod- und Eiertrank. — Reinlichkeit ist ebenfalls ein bedeutendes Unterstützungsmittel der Kur; sie beziehe sich auf die Leib- und Bettwäsche, sowie auf die Haut des Kranken. Man wechsele deshalb öfterer jene Wäsche, die nur mäßig gewärmt zu sein braucht, und mache kühle (nicht kalte) Abwaschungen mittels Essig und Wasser (zu gleichen Theilen). Diese Waschungen, welche allenfalls auch nur an den Gliedmaaßen anzustellen sind, zeigen sich besonders dann von großem Vortheile, wenn die Haut sehr heiß und trocken ist; man wiederholt sie, sobald die nach dem Waschen feuchter und kühler gewordene Haut wieder heiß und trocken wird. Um das Aufliegen zu verhüten, müssen die Rückenparthieen des Körpers sehr rein gehalten und öfters kühl gewaschen werden; sowie auch das Betttuch straff über eine Matratze zu spannen oder ein Luft- oder Wasserkissen von weichem, vulcanisirtem Kautschuk als Unterlage zu benutzen ist. Wunde, aufgelegene Stellen können gar nicht rein genug gehalten werden; man tupfe sie deshalb öfters ab und belege sie mit einem mit frischem Talge bestrichenen feinen Leinwandläppchen. In der Reconvalescenz sind warme Bäder von großem Nutzen und beschleunigen die vollständige Wiedergenesung. — Auf die Lage des Kranken habe man insofern acht, als man dieselbe öfterer aus der Rücken- in die Seitenlage wechseln lassen muß, damit nicht so leicht gefährliche Blutsenkungen in den Lungen zu Stande kommen. Auch kann das dabei stattfindende Aufrütteln des Patienten aus seinem Taumel nur vortheilhaft sein. Niemals verliere man beim Typhus ebensowenig die Hoffnung auf Genesung, wie die Furcht vor Gefahr, um niemals die nöthige Vorsicht zu versäumen.
Eine lange Zeit voller Kriegsleben und Kriegslust liegt wieder hinter mir, nachdem ich mein letztes Briefpaquet dem Schiff in Kamiesch anvertraute, um es sicher nach la belle France zu befördern. La belle France, welche Erinnerungen der Jugendzeit weckt doch stets dieser Name in mir, und welche Gefühle werden dabei wach, die ich längst schon vergessen glaubte. Zehn Jahre [134] ist es her, seit ich unsere schöne Seine nicht mehr sah, zehn Jahre, seit mir die gute Schwester den letzten Wein von unserem eigenen Rebhügel kredenzte und auf eine glückliche Wiederkehr als Colonel mit mir anstieß. Und eben so lange ist es her, als wir damals aus dem Hafen von Toulon ausfuhren, um nach Algerien, unserm neuen Bestimmungsort uns zu begeben.
Ich sehe diesen Morgen noch so vor mir, als wenn derselbe erst gestern gewesen! Wie glänzten die weißen Mauern des Arsenals von Toulon in dem hellen Scheine der aufgehenden Sonne, und der Pulverdampf aus den Geschützen, mit denen unsere Fregatte, die seitdem auch schon den Untergang in den Wellen gefunden hat, ihren Abschiedsgruß donnerte, kräuselte sich in so leichten, bläulich weißen Ringeln über die klare Meeresfläche hin, wie der geübteste Raucher im besten Kaffeehause von Algier solche nicht regelmäßiger aus seinem Tschibuke zu blasen versteht. Und wie nun die Geschütze donnerten, und die mächtigen Schaufelräder sich zu drehen anfingen, und der Küstenlootse auf dem Radkasten seine Befehle zum Wenden des Schiffes durch sein Sprachrohr brüllte, da riefen wir, die wir in einer Gruppe auf dem Verdeck standen, aus lauter Brust unser „vive la France, vive la patrie,“ und unser Louis B. fing mit seinem Basse an zu singen:
Par la voix du canon d´alarme
La France appelle ses enfants,
C’est ma mère etc. etc.
und jubelnd brüllten wir, so gut es gehen wollte, mit, und suchten die Trauer des Abschiedes vom Vaterlande unter Lachen und Singen zu verbergen. Unserer eilf Kameraden waren wir, damals lauter junge, kräftige Brigadiers und Sergeantmajors, die wir uns hatten freiwillig zu den Zuaven und Chasseurs d’Afrique versetzen lassen, weil es uns langweilte, stets auf den Kasernenhöfen von Frankreich Parademärsche zu üben, und für Louis Philipp, dem Könige der Banquiers, Patrouillen zu machen. Von allen diesen eilf guten Kameraden, die wir damals so frisch und munter den Hafen von Toulon verließen, und sämmtlich den festen Wunsch hegten, nur mit den Obersten-Epaulettes wieder dahin zurückzukommen, sind, so viel ich weiß, nur noch drei am Leben. Einer ertrank beim Baden in der Seybouse, unweit Constantine, ein anderer starb an der Cholera, sechs aber fielen unter den Waffen für den Ruhm und die Ehre der französischen Armee, wie es unsere verfluchte Pflicht auch ist. Drei davon sind hier in der Krim schon darauf gegangen, wobei ich besonders den Louis B. tief bedauere, der als Capitain der Zuaven bei Inkerman zusammen gehauen ward, zwei wurden uns bei den Kämpfen in Algerien getödtet, und erinnere ich mich noch, welche Rachbegierde uns Alle erfüllte, als wir den von den Hajuten schmählichst verstümmelten Körper des armen J., der wenige Tage vorher Sous-Lieutenant geworden war, entdeckten. Bei den Beinen hatten ihn diese braunen Schufte an einen Orangebaum aufgehängt, ihm den Unterleib aufgeschnitten, die Augen ausgestochen und die Finger als Cigarren in den Mund gesteckt, so daß der Arme gewiß furchtbare Todesqualen hatte ausstehen müssen. Nun wir rächten ihn denn auch gehörig und von den Hajuten, die in den nächsten Tagen uns Chasseurs d’Afrique in die Hände fielen, erhielt sicherlich keiner Pardon, sondern wir hauten das Gezücht zusammen, als wenn es Ratten wären. Und jetzt gar der lustige George G., der stets behauptet hatte, er würde noch einmal als Marschall von Frankreich sterben, mußte in diesem verwünschten Juni-Aufstand 1848 in Paris, wohin ihn der General Cavaignac mitgenommen hatte, auf so elende Weise von so einem kleinen Pariser Gassenjungen getödtet werden. Wer weiß, ob der Bursche, der damals meinen Freund erschoß, sich jetzt nicht unter diesen Zuaven befindet, die so eben vor meiner Zeltthür herumlungern und sich trotz Regen und Wind die Zeit, bis die Reihe zum Brotfassen an sie kommt, nach gewohnter Weise mit den lärmendsten Spielen vertreiben. Jetzt würde vielleicht derselbe Bursche, der damals einen der bravsten Officiere, die das französische Portepée trugen, so ruhig niederschoß, als sei derselbe eben nur ein Sperling, sich keinen Augenblick bedenken, mitten in den dicksten Haufen der Russen hineinzuspringen und sein Leben tausendmal zu wagen, blos um etwa einen verwundeten Offizier, der ihn sonst weiter gar nicht sonderlich kümmert, zu retten. Es ist ein eigenes Volk diese pariser Straßenjungen, muthig wie die Löwen und stets guter Laune, aus denen man ganz vortreffliche Soldaten machen kann, wenn man es versteht sie unter recht scharfer Zucht zu halten und ihren Ehrgeiz zu erwecken. Die Zuaven nehmen dieselben gern, und mein guter Alphons hatte gewiß stets mehrere Dutzende von diesen pariser Taugenichtsen, die er aber recht scharf zu halten wußte, in seiner Kompagnie. Wir bei den Chasseurs d’Afrique haben im Allgemeinen mit Recht ein großes Vorurtheil gegen sie, und nehmen dieselben nur höchst ungern auf. Die Kerle sind so windbeutelig und flatterhaft, und achten nicht genug auf ihre Pferde, um gute Kavalleristen zu sein. Und gar nun wenn Mädels in der Nähe sind, oder es Gelegenheit giebt, tüchtig Wein zu trinken oder irgendwie einen Unfug anzustiften, da könnte man bei Jedem dieser Pariser nur einen eigenen Brigadier hinstellen, der aufpaßte, daß er sein Pferd gut wartete.
Doch wohin komme ich denn diesmal mit meiner Schreiberei! Da will ich Euch etwas von unserm Leben in der Krim erzählen und gerathe auf Erinnerungen, wie ich zum letzten Mal vor zehn Jahren von dem schönen Frankreich Abschied nahm und nun gar auf diese Pariser Gamains und ob man aus denselben gute Chasseurs d’Afrique heranzubilden vermöge, was Euch doch am Ende verzweifelt wenig interessiren kann. Aber auf was verfällt ein Mensch nicht, wenn er mit gequetschtem Fuß, so daß er nur mühsam am Stocke herumgehen, oder sich nicht in den Sattel schwingen kann, allein in einer elenden Baracke sitzt, während alle Kameraden im Dienst fort sind. Es ist mir wahrlich vor ein paar Tagen verflucht schlecht gegangen und ich bin jetzt doch endlich unserm Doktor in die Hände gefallen, der meinen linken Fuß umpflastert hat, als wäre derselbe ein Wickelkind irgend einer ehrsamen Bürgersfrau in Tours, die ihren Gatten nach einem Dutzend von Jahren mit dem ersten zarten Sprößling ihrer ehelichen Liebe beglückte. Und wahrlich, sündhafte Quantitäten von Cognac, denn anderer Spiritus war nicht zu haben, sind dazu verwandt worden, meinen Fuß täglich einigemal damit einzureiben. Mein alter Pierre, der diesen Liebesdienst der Einreibung mir erweisen mußte, brummte nicht wenig in seinen schon grauen Bart und meinte ein und das andere Mal, es sei eine Schande, daß man solch’ edle Flüssigkeit wie dieser echte Cognac (er war auch verdammt theuer und in Bordeaux kostet die Flasche nicht ein Viertheil so viel wie hier in Kamiesch) dazu verwende, um ein Bein von außen einzureiben, statt von innen heraus den Magen damit zu erwärmen. Hätte der dicke Dr. H. mit seiner goldenen Brille auf der Nase nicht so verdammt scharf dabei aufgepaßt, ich glaube wirklich, mein alter Grognard wäre der Versuchung nicht widerstanden, ein geschicktes Taschenspieler-Meisterstück zu versuchen, die Flaschen zu verwechseln und mir die gequetschte Stelle anstatt mit Cognac, mit Wasser aus der Tschernaja einzureiben. Nun wer weiß ob das Mittel nicht eben so gut genützt hätte? Doch mag dies nun der Cognac, den ich auch übrigens von innen tüchtig gebrauchte, oder irgend etwas anderes gethan haben, mein Fuß ist glücklicher Weise wieder ziemlich gesund, und morgen oder doch wenigstens übermorgen hoffe ich mich in den Sattel meines Ibrahim, der unterdeß auch schon ganz ungeduldig geworden ist, schwingen zu können, um meinen Dienst bei den äußersten Vorposten, wo augenblicklich meine Schwadron liegt, wieder anzutreten. Da wird es denn hoffentlich auch nicht an Abwechslung fehlen, und wir werden uns so recht nach Herzenslust mit diesen Russen herumhauen können.
Um Euch aber zu erzählen, wie ich denn zu meinem arg gequetschten Fuß kam, so geschah die ganze Sache eigentlich nur aus Uebermuth. Es waren nämlich einige Eskadrons englischer Husaren aus Ostindien zu uns gekommen, tüchtige Kerle, die mir weit besser gefielen, wie dies sonst mit der übrigen englischen Kavallerie, mit der wir hier zusammengetroffen sind, der Fall war. Man sah es den Leuten an, daß sie ein langjähriges Kriegsleben in Ostindien durchgemacht hatten, und dabei ganz andere Feldsoldaten geworden waren wie diese vornehmen englischen Gardekavalleristen, so prächtig dieselben sonst auch aussehen mögen und so muthig sie sich bei Balaklava im vorigen Herbst geschlagen haben, was man ihnen nicht abstreiten kann, obgleich es mich eigentlich ärgert, daß ich ihnen solch Lob nachrühmen muß. Denn die Offiziere sind sonst verzweifelt hölzerne und hochmüthige Herren, die sich viel auf ihre vornehmen Namen und vollen Geldbeutel einzubilden scheinen, und zu denen wir Offiziere der Chasseurs d’Afrique daher nicht sonderlich paßten, wenn wir auch äußerlich ganz [135] artig mit einander waren. Desto bessere Kameradschaft hatten wir aber bald mit diesen aus Ostindien gekommenen Husarenoffizieren gemacht, und auch unsere Leute verkehrten gern mit der Mannschaft dieses Regiments, unter der sich viele altgediente Veteranen befanden, die theilweise schon an 15–20 Jahre unausgesetzt im Felde gestanden hatten. Allzuviel verständigen konnten sich freilich unsere meisten Chasseurs nicht mit diesen englischen Husaren, und das gegenseitige Zutrinken aus den mit Rum gefüllten Feldflaschen mußte häufig die sonstige Unterhaltung ersetzen. Merkwürdig bleibt es aber doch, daß wir mit diesen Ostindiern jetzt hier in der Krim zusammen kommen. So war ich mit einem Kapitain häufig auf Feldwache, der hatte vor einem Jahre noch in den schönsten Theilen von Ostindien sich mit den Maratten oder wie dies braune Gesindel dort heißen mag, herumgeschlagen und ich mich ganz hinten in Algerien mit den maurischen Stämmen aus dem Innern von Afrika, und jetzt fechten wir hier zusammen in der Krim und hauten lustig auf diese flachsköpfigen Russen, die Gott weiß woher anmarschirt gekommen waren. Und wer weiß ob wir nicht im nächsten Jahr da oben in der Ostsee sind, und mit den Schweden zusammen auf diese Russen oder Preußen dreinhauen. Nun, uns soll es recht sein, wohin der Kaiser befiehlt, marschiren wir, und je länger der Krieg dauert und je mehr Feinde es giebt, desto besser ist es, denn desto schneller geht das Avancement.
Aber seht, ich will Euch erzählen, wie ich meine Quetschung erhielt, und komme da wieder auf allerlei Abwege.
Mit drei von diesen Husaren-Offizieren, und vier oder fünf von uns französischen Offizieren von den Zuaven und Chasseurs d’Afrique, dann noch zwei Sardiniern, prächtigen Kerlen, die man mit wahrem Vergnügen Kameraden nennen kann, hatten wir ein großes Bankett zusammen veranstaltet. Hoch, sehr hoch ging es dabei her, denn wir feierten den Sieg bei der Tractirbrücke,wo wir alle zusammen recht tüchtig im Feuer gewesen waren, und die russischen Kugeln uns so dicht um die Ohren summten, wie in Algerien oft die Mosquitos.
In Kamiesch hat sich jetzt ein Haufen von Kaufleuten aus allen möglichen Nationen angesiedelt, aber lauter verworfenes Gesindel, was Einen prellt, ärger noch wie es die Malteser in Algier bei einem Neuling nur versuchen können, von denen man aber sonst ganz gute Sachen erhält. Wein haben die Kerle, der nicht schlecht ist, und ihr Cognac ist erste Qualität, freilich sündhaft theuer. Bei einem tüchtigen Trinkgelage kann oft in einer einzigen Nacht eine halbe Monatsgage darauf gehen, und auf Kreditgeben lassen sich natürlich die Kaufleute nicht ein, sondern Alles muß baar in blanken Napoleon’s bei ihnen bezahlt werden.
Wer wollte hier aber auch sparen und nicht gern eine lustige Nacht mit frohen Kameraden durchjubeln, so lange er nur noch ein Fünffrankenstück in der Tasche hat! Weiß man doch nie, ob es nicht das letzte Glas ist, was man an seine Lippen setzt, geht es doch oft vom Zechtisch sogleich in das russische Kanonenfeuer und wird das Anstoßen der Gläser nur zu häufig von dem Dröhnen der Geschütze so übertäubt, daß man sein eigenes Wort nicht dabei verstehen kann. Wie viele, viele brave Kameraden, mit denen ich hier noch so manche lustige Nacht durchtrunken habe, setzen jetzt das Glas nicht mehr an ihre Lippen, sondern fielen für den Ruhm und die Ehre unserer französischen Armee.
Abends waren wir denn wie gesagt recht lustig und fidel und wußten vor Uebermuth kaum, was wir beginnen sollten. Unser Kapitain Alphons ist nicht umsonst zwei Jahre Ordonnanz-Offizier beim Herzog von Aumale gewesen, und hatte uns einen Champagnerpunsch zusammengebraut, wie er auf dieser Welt nicht besser gefunden werden kann. Wenn man nun so zwei Tage auf den äußersten Feldwachen gewesen, kaum aus dem Sattel dabei gekommen ist, und nichts wie schaales, abgestorbenes Wasser zum Trinken und harten Schiffszwieback zum Essen gehabt hat, dann spürt man einen Durst in sich, als könnte man das ganze schwarze Meer auf einen Zug austrinken, vorausgesetzt, daß dasselbe aus Punsch bestände.
So tranken und sangen, schwatzten und lachten wir an diesem Abend so lustig zusammen, wie man auf dieser Welt nur sein kann. Hat das Wetter in der Krim einmal Lust schön zu sein, dann ist es auch wirklich gut, und so war diese Nacht denn so milde und klar, und dabei wieder so erfrischend und belebend, wie sie es an der a1gerischen Meeresküste nicht besser sein kann. Welcher Unterschied zwischen den Schneestürmen des letzten Winters und diesen lauen August-Nächten! Wir hatten unsern Zechtisch draußen im Freien, an der Seite einer Ruine von irgend einem tartarischen Bauwerk aufgeschlagen, und einige Zuaven von der Compagnie des Alphons waren mit ihrer, in solchen Dingen vielfach erprobten Geschicklichkeit bemüht gewesen, uns aus einer alten Tonne einen erträglichen Tisch und aus Mauersteinen dieser Ruine, zwar etwas harte, aber dafür desto fester stehende Sitze herzustellen.
Wie wir so eben im besten Trinken waren, und der große Feldkessel, den wir zur Punschbowle gebrauchten, schon die Hälfte seines Inhaltes in unsere Kehlen hatte abgeben müssen — diese Engländer verstehen das Trinken ganz famos, und man hat alle Mühe es ihnen hierin gleichzuthun, um so auch auf diesem Felde die französische Ehre zu retten,— fing plötzlich eine unserer Batterien, die zunächst dem Malakoffthurm gegenüber lag, eine gewaltige Kanonade an, die alsbald von den Russen ebenso heftig erwiedert wurde. Es war wirklich, als hätten unsere Artilleristen an dem heutigen Abend ihre so schon tüchtig brummenden Positionsgeschütze mit doppelter Ladung verstärkt, so gewaltig krachten dieselben. Die Gläser klirrten und tanzten förmlich auf den Tischen, wenn so eine Salve aus dieser Batterie, die vielleicht an 3000 Schritt von uns entfernt sein mochte, krachte, und ein Glas, leider noch dazu fast ganz mit Punsch gefüllt, fiel sogar um. „Der Commandant der Batterie will, daß wir unsere Gläser sogleich austrinken sollen, darum läßt er heute Nacht seine Brummer so stark aufspielen,“ lachte Alphons, unser Zuaven-Kapitain, der den Wirth machte, und füllte das umgestoßene Glas auf’s Neue. So etwas ließen wir uns nicht zwei Mal sagen und hatten unsere Gläser denn auch im Augenblick so leer getrunken, daß wir sie umgestürzt auf den Tisch stellen konnten, wo sie dann freilich fester standen. Auf das Schießen achteten wir sonst weiter nicht, denn wenn man wie wir Franzosen, nun schon acht Monate vor Sebastopol gestanden hat, dann wird man auch der stärksten Kanonade so gewöhnt, daß man ganz ruhig dabei schlafen kann, mag es auch rings um einen her noch so donnern und krachen. Nur das Fliegen der feurigen Bomben, mit denen die Russen von ihren Werken uns bisweilen regalirten, verschaffte uns Vergnügen, und wir hatten bei unserm Zechgelage ein Feuerwerk so großartig, wie es selbst die guten Pariser am Napoleonstage nicht bekommen können. Namentlich unsere sardinischen Kameraden, denen solch gewaltiges Bombardement noch neu war, zeigten mit ihrer italienischen Lebendigkeit so recht ihre ganze Freude über dies Schauspiel Sie lachten und klatschten in die Hände, wenn so eine gewaltige Bombe mit langem, hellem Feuerschweif durch den dunkeln Himmel angesaust kam, und jubelten einmal über das andere, über den prächtigen Gedanken ihres Königs, daß er sardinische Truppen hierher nach der Krim geschickt hätte, damit sie sich an der Seite der Franzosen neue Lorbeeren erkämpfen könnten.
Wie wir aber im besten Trinken sind und den alten braven Kommandant F. von unserer Batterie einmal über das andere hoch leben lassen, daß er uns eine gar so gewaltige Tafelmusik zu unserm Bankett aufspielt, kommt plötzlich ein Adjutant vom General Bosquet in vollem Galopp seines Pferdes angejagt.
„Kamerad, was bringst Du?“ ruft ihm Alphons zu und kredenzt dem Reiter sein volles Punschglas.
Les Zouaves aux armes, war die Antwort des Adjutanten, der dabei schnell uns zurief, daß man einen etwaigen Ausfall der Russen gegen unsere äußersten Trancheen erwartete, und deshalb die Wache derselben um zwei Kompagnien Zuaven verstärken wolle; „zu den Waffen“, das ist ein Kommando, was diese Zuaven gewaltig gern hören, und so faul die Kerle oft auch sind, wenn sie zu Paraden ausrücken sollen, so lassen sie sich den Ruf aux armes gewiß nicht zwei Mal sagen. Uebrigens befahl der Adjutant noch, daß die Hornisten nicht Allarm blasen sollten, damit man den Lärmen davon nicht etwa im russischen Lager hören könne, sondern sich Alles möglichst schnell und still sammeln und dann im Eilschritt an den ihnen durch viele Wachen schon hinlänglich bekannten Plan marschiren möchte.
Mit Recht bewundert man die großartige Pracht der tropischen Urwälder mit ihren blüthenbedeckten Riesenbäumen, um die sich Lianen wie Blumenguirlanden winden, während farbenprangende Orchideen wie schwebende Blumenbeete von den Westen herniederschweben, bunte Vögel in den breitblättrigen Baumkronen sich tummeln und metallisch schillernde Kolibris um die hellen Blüthen schwirren; diesen von Lebensfülle strotzenden und von Farbenpracht strahlenden Urwäldern gegenüber stellt man die Sahara mit ihrer einförmigen Oede und der erschreckenden Erhabenheit ihrer lautlosen Einsamkeit, die nur erstickende Sandstürme und trügerische Luftspiegelungen kennt. Wenn man aber die Natur in ihrer grauenhaften Großheit und furchtbarsten Erhabenheit schauen will, dann muß man sich an die Enden der Welt und des Lebens versehen, muß die schauerlichen Wasser- und Eiseinöden des Südpolarmeers mit seinen berstenden Gletschern, tobenden Vulkanen, heulenden Stürmen und schwimmenden Eisbergen betrachten. In jenen Wüsteneien grenzen Leben und Tod aneinander, ringen die Elemente in ungefesselter Wuth mit einander um die Herrschaft, daß die Erde unter dem Rasen der Schneestürme und Vulkane in ihren Angeln zu beben scheint.
Die Südhälfte unseres Erdkörpers bedeckt ein ungeheures Meer, in welches die Südspitzen der Festländer wie Landzungen hineinragen. In’s Endlose dehnen sich die weißen Kämme der rollenden Wogen aus, unabsehbar heben sich brausende Wasserberge hinter Wasserbergen, fahren Stürme heulend über die Kammlinien der schäumenden Fluthen wie über die Saiten einer Riesenharfe und entlocken ihnen grause Melodieen, die das Menschenherz erstarren machen. Um das Unheimliche dieser Meereseinsamkeit zu steigern, sind südlich vom 60. Grad nur sparsam einige öde Inselklippen über das Polarmeer zerstreut, und die Südspitzen Amerika’s, welche am weitesten gegen den Südpolarkreis vorragen, wie von Stürmen zerzaust und zerrissen. Auf jenen Inseln ist alles Pflanzenleben erstorben, da sprießt kein Beerenkraut, nickt kein Halm am Strande, klebt kein Moos, keine Flechte an den feuchten Felswänden, die schroff aus dem Meere mit ihren schwarzen Wänden emporsteigen, als die emporgetriebenen Zacken unterseeischer Glutherde, welche in der Winterkälte jener Gegenden um so leichter erstarrten. Ein Wall schimmernder Gletscher umlagert diese Klippen, blendende Firnfelder dehnen sich über die Hänge aus, und uralte, fast ewige Gletschermassen thürmen sich auf ihrem Scheitel zu Bergen von 4–10,000 Fuß empor. Hinter diesen schroffen Eisufern von 200–-1000 Fuß Höhe heben sich zuweilen Eisberge neben Eisbergen empor bis in’s Unabsehbare, und schimmern endlose Schneefelder, auf denen sich die tieferen Stellen wie leichte Schatten abzeichnen. Doch sieh, aus jenem Kegel steigen schwarze Rauchwolken und wälzen sich unbeholfen über die Schneefelder hin. Jetzt steigt eine glutrothe Flamme aus dem 11,600 Fuß hohen Erebus, der etwa 12 Grad vom Südpol entfernt ist. Ein greller Schein fällt auf die Gletscher und Eisfelder umihn her, ringsum funkelt es von rothen, blauen und gelben Lichtern, als ob sich die Eiskrystalle in Lichtstrahlen auflösen wollten, ein bunter Farbenschimmer schwebt um die Eiswelt, mengt Schatten und Licht, Eiszacken und Gletscherschlünde, Fels und Meer zu einem phantastischen Farbenspiel, bis die Vulkanwand unter furchtbarem Krachen springt, die Gletscher bersten und donnernd in’s Meer schießen, Firnfelder schmelzen, aus allen Schluchten siedende Bäche hervorbrausen, und der Glutbach der Lawa in wilder Pracht die Bergwand niederrinnt.
Welche Feder vermöchte die großartigen Scenen zu schildern, welche ein vulkanischer Ausbruch in der Gletscherwelt hervorbringt. Die Erde bebt, Lavinen stürmen von den Berghängen, Firnfelder poltern in tiefe Schlünde, Gletscher krachen und bersten, reißen sich los von der Felswand, ihr phantastischer Bau stürzt zusammen, und die klirrenden Trümmer schießen chaotisch hinab in’s schäumende Meer, welches im Zorn seine Wellen hoch empor schleudert an den Felswänden, wie wenn es den Vulkan löschen wollte.
Doch nicht immer vermag das Meer zu toben oder sich nur frei zu bewegen, denn den größten Theil des Jahres hindurch liegt es gefesselt unter schwerer Eisdecke, da es in den langen grimmigen Monaten des Polarwinters an manchen Stellen mehrere hundert Fuß tief friert. Dann verschwinden die Wallfische, die oft 24 Fuß langen Seehunde und die Seevögel, die an den [137] öden Küsten in den kurzen Sommermonaten Januar, Februar und März zu rasten pflegen, dann ruht tiefste Einsamkeit und schauerliches Schweigen über den endlosen Eisfeldern. Das Reich des Todes breitet sich aus, sobald die lebendige Meereswelle zu grauer Eisdecke erstarrt. Zugleich hüllt aber auch die sechs Monate lange Polarnacht die Eisfelder in düsteres Dunkel und mehrt die Schrecken der Einöde. Da kann man mit dem nordischen Dichter sagen:
Rings dehnt sich aus das grause Nichts,
Sonst Ewigkeit geheißen,
Kein Freudenstrahl des Sonnenlichts
Mag diese Nacht zerreißen.
Hier ist nicht Zeit, hier ist nicht Raum,
Kein Wesen, keine Dinge –
Als ob im dunklen Fiebertraum
Das Nichts die Welt verschlinge.
Kein Menschenauge hat diese Todeswelt des Südpolarmeeres gesehen, kein Ohr gelauscht, wenn von Zeit zu Zeit entfesselte Polarstürme hereinbrechen, wochenlang Schneestürme über die Eisfelder brausen, heulend an den Ecken der Gletscher sich brechen und haushohe Schneemassen auf den Ebenen aufhäufen. Haben sich aber diese Stürme ausgetobt, dann funkeln in reinstem Silberglanze die Sterne vom dunkelblauen Himmel herab und gießt der Mond seinen geisterhaften Schimmer über die Schneewüsten, daß sie schimmern und leuchten in wunderbarem Glanze, daß die Spitzen und Kanten der Gletscher blitzen und funkeln von tausend lichten Strahlen, und ein zauberhafter Schimmer sich ausbreitet über den Flächen, wie wenn die Auferstehung anbräche und der Saum der Unendlichkeit die Erde berührte. Die Phantasie ist kaum fähig, sich die großartige Erhabenheit einer mondhellen Nacht in diesen öden, schweigsamen Eiswildnissen vorzustellen, deren schauerliche Stille nur zuweilen vom gellenden Knall der Eissprünge unterbrochen wird, deren Echo sich tief hinein in die Eisgebirge verirrt. Da erwachen ringsum laute Stimmen, aus allen Eisklüften hallt es, tief in den Labyrinthen der Eisberge scheint es lebendig zu werden; bestürzt würde der Mensch lauschen, wenn er diese wesenlosen Stimmen ringsum vernähme, nach deren Absterben die bleiche Eiswelt wieder in Todesschweigen versinkt.
Die seltsamen Lichtwunder der Polarwelt gehen bis in’s Mährchenhafte, wenn am Horizont des Poles die zuckenden Südpolarlichter in ihrer bunten Farbenpracht empor steigen. Rothe, grüne, gelbe und weiße Flammen züngeln durcheinander, zucken hoch auf wie die Lohe eines ungeheueren Brandes, schießen in blendenden Strahlen weit über den Himmel hin, erblassen, wachsen dann wieder an zu feuriger Glut, weben und schweben durcheinander wie das Zauberspiel einer Laterna magica und streuen ihren Farbenschimmer über die stummen Eisfelder. Sieh, da brechen aus den Krystallen bunte Strahlen hervor, hüpfen an den Eiszacken auf und nieder, fliegen über die Schneefelder, um an einer Bergspitze aufzublitzen und in der in Schimmer verduftenden Ferne zu verschwinden. Da treten die phantastischen Gestalten der Eisberge in seltsamer Beleuchtung bald schärfer, bald matter hervor; hier schillert eine halb eingestürzte Pyramide, dort leuchtet eine vereiste Burgruine mit zerfallenen Mauern und dachlosem Thurme; hier breitet sich eine zerstörte Stadt aus; von der man noch einzelne Häuser und Thürme zu erkennen meint, während dort eine einsame Säule die Stätte bezeichnet, wo ein Tempel sich erhob. Sieh, ist hier nicht ein Palast mit zierlichen Erkern an den Ecken und Bogenfenstern zu Eis verzaubert und von Venedig an den Pol versetzt? Schimmert dort nicht ein erstarrter Wasserfall, ein im Aufsteigen eingeschlafener Springbrunnen neben dem Stumpf einer Tanne? Werden arabische Mährchen hier Wirklichkeit und befindet man sich hier in einer verzauberten Welt? – Seefahrer haben nur die letzten Reste dieser phantastischen Eisgebilde gesehen und sind doch auf das Tiefste ergriffen gewesen von den Wundern der polarischen Eiswelt.
Wenn endlich nach dem langen Winter der kurze Sommer kommt, dessen Wärme aber selbst in den heißesten Tagen nicht über 10 Grad R. steigt, dann entfaltet sich eine neue Welt schauerlicher Phantastik. Das Meer ist des langen Zwanges überdrüssig, seine Wellen werden unruhig, drängen mit Riesenkraft aufwärts und sprengen endlich in wilden Stürmen die ungeheuere Eisdecke. Nun brechen wilde Revolutionen herein, die Zeiten der Titanenkämpfe scheinen zurückgekehrt; Tage lang donnert und dröhnt es, als ob die Welt zusammenbräche, von berstenden Eisschollen und niederstürzenden Lawinen und Gletscherbergen, von gegeneinander rennenden Eisinseln, heulenden Stürmen und brausenden Wogen, und dazwischen fegen Schneewetter, Hagelschläge und Regengüsse über die chaotisch durch einander taumelnden Eisberge oder stehen dichte Nebel über der zusammenstürzenden Wunderwelt und hüllen sie in [138] unheimliche Dämmerung, durch welche die dahin ziehenden Eisblöcke und zersplitterten Gletscher wie Gespenster vorüber schleichen.
Das matte Grau der schnee- und regenbelasteten Wolken verhüllt die Sonne Tage lang, daß nur ein kaltes, ernstes Dämmerlicht sich über das empörte Meer ergießt, auf dessen dunkeln Wogen Eisberge auf- und abschwanken, indem an ihrem glatten Fuß eine wilde Brandung rauscht. Dazwischen schwimmen unabsehbar Eisfelder, deren meilenlange Schollen sich unbeholfen vorwärts bewegen, bis sie gegen einander stoßen und unter furchtbarem Krachen bersten. Hochauf schäumt das Meer und schnellt ein mächtiges Schollenstück empor, das mit dröhnendem Schlag auf die siegreiche Scholle niederstürzt, welche, von der Last getroffen, rauschend untertaucht und zertrümmert in weiter Strecke erst wieder erscheint. Nachdem die großen Schollen nach und nach zerbrochen und zerstückelt sind, aber immer noch Eismassen bilden, welche durch einen herzhaften Stoß ein Schiff zerquetschen können , folgen sie als Treibeis der Meeresströmung nach den Meeren Afrika’s und Amerika’s. Das Polarmeer selbst ist den Sommer über mit Treibeis bedeckt, zwischen dessen Schollen sich breitere Straßen offenen Wassers hinzuziehen pflegen, denen der kühne Polarsegler als den einzig gangbaren Fahrstraßen folgt und dabei immer Gefahr läuft, im Sturm oder in finsterer Nacht in das Treibeis zu gerathen, welches seine Schiffsplanken abstößt oder auch von ihnen eingeschlossen zu werden, da es nicht selten plötzlich wieder zu einem stehenden Eisfelde gefriert.
Die Schrecken der Polarfahrer sind indeß weniger die treibenden Eisschollen, als vielmehr die schwimmenden Eisberge, welche das Meer oft so weit bedecken, als das Auge reicht, und welche entweder ganze Gletscher oder Trümmer derselben sind. In jenen Gegenden fällt den größten Theil des Jahres hindurch nur Schnee, der sich daher zu ungeheuren Massen aufthürmt und durch seine Schwere zu glasartiger Festigkeit zusammenpresst, und in körniges Eis umbildet. Kommen nun im Sommer kalte Regengüsse, Schlossen und Hagel, so zehren die Regen an den Eismassen, durchfurchen deren Hänge im Herabfließen, bis die kleinen plätschernden Regen- und Thaubächlein urplötzlich gefrieren und in langen blinkenden Eiszacken, schwebenden Wasserfällen oder wie silberne Tropfsteingebilde von phantastischer Gestalt an den Eisbergen herabhängen. Hier bilden sie einen Säulengang, dort eine Höhle mit seltsamen Reliefbildern, und an andern Stellen schweben sie wie zerrissene Guirlanden herab. Jahrhunderte hindurch häufen sich diese Eis- und Schneemassen auf, mit denen Schichten gefrornen Regenwassers und ungeschmolzenen Hagels wechseln. Je höher aber der Schneeberg sich aufthürmt, um so gewaltiger drückt seine Wucht auf die untern Schneelagen, die dadurch zu festen Eismassen gepreßt werden. Denn die Gletscher bestehen nicht aus gefrornem Wasser, sondern aus gepreßten und von durchsickernden Regen oder Nebeln angefeuchteten Schneefeldern.
Aus diesem Grunde kann man es sich erklären, daß zahlreiche Eisberge aus dem Innern der Inseln des Südpolarmeeres aufragen, aus denen nur an den wenigen Stellen der schwarze Felsen wild und unheimlich an’s Tageslicht hervortritt, wo die Felswand so schroff aufsteigt, daß keine Schneeflocke an ihnen haften kann. Die Schneestürme treiben die ungeheuren Schneemassen des Polarwinters bald an dieser, bald an jener Felsenklippe auf, so daß die Oberfläche der Eis- und Felseninseln großer Veränderung unterworfen ist; am meisten ist dies jedoch an den Steilküsten der Fall. Denn hier bilden sich kolossale Schneehänge, ungeheure Schneeschirme und weit auf das Meereis hinausragende Schneezungen, die sehr bald in Gletscher übergehen, da das Meereis im Sommer nicht in allen Buchten aufgeht. Daher sind die Küsten meistens theils mit Eisbergen umsäumt, die oft seltsame Gestalten angenommen haben, da Stürme hier und da überhängende Eisstücken abrissen, Regenwasser tiefe Schluchten aushöhlten und die Erschütterung der Luft beim Krachen des Meereises Risse und Spalten in die starren Eismassen brachte. Meistens haben sie die Gestalt zerklüfteter, vorgelagerter Berge, und haben von den nagenden Nebeln, die im Sommer an ihnen hängen, eine weißgraue Farbe erhalten. Am Meeresufer selbst sinken sie schnell als senkrechte Wände mehrere hundert Fuß tief unter das Wasser hinab und ruhen entweder auf dem Meeresgrunde oder lassen sich vom Wasser tragen.
Wo nun solche Gletscher, die 100–1200 Fuß hoch zu sein pflegen, entweder bedeutend überhängen oder mit ihrem Fuße theilweise auf dem Meereise ruhen, kommen häufig Gletscherstürze vor, denn entweder verliert der Gletscher das Uebergewicht, wenn er lange genug Feuchtigkeit aus den Nebeln gesogen hat, oder die steigenden Meereswellen rütteln und schütteln Tag und Nacht so an dem Eisberg, daß er sich unter furchtbarem Krachen ganz oder theilweise losreißt, und in das Meer hinabschießt, so daß die Wellen thurmhoch empor schlagen. Taumelnd schwimmt er weiter, stößt an einen benachbarten Gletscher mit solcher Macht, daß auch dieser zersplittert und in die Tiefe stürzt, oder er begegnet einem andern schwimmenden Eisberge, und dann fahren beide Gletscher gegen einander, daß die Splitter oft 1000 Fuß weit fliegen.
Wenn die Gletscher des südlichen Eismeeres im Allgemeinen alle Eigenschaften der Gebirgs- und Nordpolargletscher theilen, so ist ihnen doch die wall- und bankartige Gletscherbildung eigenthümlich. Selbst in gemäßigten Breiten begegnet der Schiffer oft schwimmenden Eisstücken von tafelförmiger Oberfläche, welche ein geschichtetes Aussehen haben, 120–180 Fuß hoch sind und nicht selten den Umfang von einer Viertelstunde erreichen. Gewöhnlich sind sie sehr morsch und rings um sie schwimmen losgebrochene Eisstücken. Sie stammen von jenem berühmten Eiswall (Eisbank), welcher die kühnen Südpolarfahrer stets zur Umkehr zwang, und der im Winter bei wechselnder Temperatur von meilenlangen Spalten zerrissen wird, so daß im Frühjahr jene losgesprengten Massen vom Meere fortgeführt werden. Er liegt auf der Ostseite des vermutheten Südpolarlandes, und zieht sich als schroffe 150 bis 200 Fuß hohe Wand nach Osten hinaus, umgeben von schwimmenden Eisstücken. Tage lang segelten die muthigen Polfahrer den Eiswall entlang, konnten aber dessen Ende nicht erreichen.
Oede und leblos sind die ungeheuren Räume des Südpolarmeers, welches so von mikroskopischen Algen (Diatomeen) angefüllt ist, daß es ihnen seine braune Farbe verdankt: um so ungehemmter und großartiger wirken hier die physikalischen Naturgewalten, indem Eis und Fels einen endlosen Vernichtungskampf führen. Der Naturforscher findet daher in diesen öden Gegenden manchen Aufschluß über die Geschichte der Erde selbst, die hier in Gletschern, Steinblöcken, Meerschlamm, Steinkohlenlagern, Lava und Bimssteinen aufgeschrieben ist. Werfen wir daher auch einen Blick in diese bunte Chronik der Erde!
Nur an wenigen Inseln konnte man wegen des Treibeises und der Gletscherklippen landen, doch weiß man von Neu-Südshetland, daß es große Steinkohlenlager enthält. Welche Umwandlungen sind hier also vorgegangen, daß ewiges Eis auf jenen Inseln lastet, auf denen vor undenklichen Zeiten ein tropischer Urwald wucherte, dessen Palmen ihre Laubkronen in sanftem Windzuge wiegten, neben denen riesige Farrn und baumhohe Bärlappe ihren gereiften Schaft mit den weitreichenden Zweigen und den fein gefiederten Blättern rauschen ließen! Müssen wir uns nicht Zeiten vorstellen, in denen es auf der ganzen Erde nur ein feuchtwarmes Tropenklima gab, wo Schneeflocken unbekannte Dinge waren, und tropische Gewitterstürme da tobten, wo jetzt von den kühlen Sommerlüften Gletscher krachen und Schneefelder kaum zu thauen anfangen? Die Vulkane, deren man mehrere hat Flammen ausstoßen sehen, so wie die zahlreichen vulkanischen Gesteine, welche an allen kahlen Stellen sichtbar werden, bezeugen die ungeheuren Revolutionen, die vor Zeiten in diesen verlassenen Wildnissen getobt, Inseln versenkt und emporgehoben, Berge zertrümmert und lange Höhenketten aufgethürmt haben. Obschon kein Menschenauge jene Vulkane länger als im Vorüberfahren beobachtet hat, so darf man doch vermuthen, daß die großen Veränderungen, welche die wenigen Südpolarfahrer fanden, den Vulkanen zuzuschreiben sind. Denn wenn diese Vulkane anfangen zu toben, die Felsen bis in ihre Wurzeln erbeben machen und schütteln, dann bersten die Gletscher, fahren in Trümmern auseinander, weite Schnee- und Firnfelder werden von der Hitze der Lava in reißende Wasserströme verwandelt. Wieder eisbedeckte Buchten kochen und dampfen von tausend heißen Wassern, die von den Bergen in rauchenden Wasserfällen niederstürzen. Dann wiederholen sich jene schauerlich großartigen Scenen, wie sie Island öfter sah, wenn Feuer mit Eis, heiße Lava mit Schnee und brennende Lavaströme in rother Glut zischend in’s Meer hinabsteigen.
Wie die Gletscher der Alpen tragen auch die der Südpolarinseln Steinblöcke, Geröll und Schutt hinab in’s Meer, sobald die Lage der Gletscher der Art ist, daß die losgebrochenen Steinblöcke der [139] Felswände auf den Gletscher fallen. Da die Gletscher außerdem alljährlich von dem Binnenlande nach den Küsten zu wachsen, indem die vordern Enden im Sommer von Stürmen und Wellen abgebrochen werden und der stehengebliebene Gletscher seine Schnee- und Eisfelder vorwärts schiebt, so wird auch der Felsenboden von ungeheuren Eismassen gefurcht, Unebenheiten abgestoßen und gewaltige Schuttmassen in’s Meer geschoben. Werden die schwimmenden Gletscher von den Wellen fortgeführt, so drücken sie mit so großer Last, daß sie mehrere Tausend Fuß tief in’s Meer hinabreichen, die Klippen des Meeresboden zertrümmern, den Schlamm zerreiben und aufrühren und dadurch große Veränderungen des Bodens verursachen. Zwar ist das Südpolarmeer an vielen Stellen 12,000 Fuß tief, aber es giebt auch seichtere Stellen, wo die Eisberge aufliegen, und da das Meerwasser in einer Tiefe von etwa 4000 Fuß eine gleichmäßige Temperatur von 4° C. hat, so zehren die Meerwasser am Fuß tiefgehender Gletscher, so daß sie unten so viel abschmelzen, als sie oben neue Schneemassen aufhäufen, weshalb der Eiswall seine gradlinige, gleichmäßige Höhe behält. So unsichtbar und unscheinbar diese Veränderungen auch sein mögen, so müssen sie doch in Jahrtausenden von gewaltigen Folgen sein, da Roß an einigen Stellen den fein geriebenen Schlamm mehrere Fuß tief fand.
Rechnet man hierzu noch die unaufhörlichen Strömungen des kalten Wassers nach dem Aequator zu, welche das Treibeis bis zum 47.°, ja bis zum 36.° treiben, wogegen in der Tiefe warme Wasserströme vom Aequator her bis zu den Polen vordringen und dadurch jene großen, wunderbaren Strömungen im Meere verursachen; berücksichtigt man endlich, daß die kalte Polarluft auf dieselbe Weise mit der leichteren der heißen und gemäßigten Zone wechselt und eine dauernde Luftströmung veranlaßt, und daß in der Nähe der Pole die Mittelpunkte der magnetischen Kreise liegen, welche in seltsam geschwungenen Linien mit ihren geheimnißvollen Kräften die Erde umkreisen, so ahnt man die Bedeutung der starken, eisbedeckten Polarzone für das Gesammtleben der Erde, für Wind- und Witterungswechsel, für Fruchtbarkeit und Bewohnbarkeit gewisser Gegenden, und öffnet sich eine erhabene Perspektive auf die urgewaltigen Weltgesetze, wie auf die unberechenbare Bedeutung von Elementen, die man für todt und theilnahmlos zu halten gewohnt ist. Da wo die Grenze des Lebens zu sein scheint, liegt der Ursprung des Lebens, wo nur Verwüstung und Zerstörung zu wohnen scheint, entwickelt sich ein großartiges Elementarleben, unter Gletschern und Firnfeldern liegen die Geheimnisse des Magnetismus als der belebenden Kraft, welche den aufsteigenden Gebirgen ihre Bahn vorschrieb, so daß sie den magnetischen Linien folgte, liegt die Geburtsstätte und die ersten Bedingungen des Pflanzen- und Thierlebens verborgen: denn nur der Kampf der Gegensätze gebiert das Leben in der Natur, wie in der Geschichte der Völker.
Die Inseln Cerralbo und Espiritu Santo sind zu jeder Zeit in dem Meerbusen von Californien durch ihre Perlenmuschelbänke und die große Anzahl jener Schildkröten berühmt gewesen, die das Schildkrot liefern. Ferry theilt über diese Perlenfischerei, die Art ihrer Ausübung und die furchtbaren Gefahren, die durch die in jenen Gewässern heimischen Haifische mit dieser Industrie verbunden sind, die interessantesten Einzelheiten mit. Alljährlich lassen Pächter diese Perlenmuschellager in den Monaten Juni und Juli ausbeuten, und dieselben Förmlichkeiten wie bei der Auffindung eines Goldlagers finden bei der Entdeckung solcher Bänder statt, zu deren Ausbeutung die Regierung die Erlaubniß zu geben hat. Die Eigenthümer der Perlenmuschelbänke erhalten ihre Buzos (Taucher) von den Indianerstämmen an der Küste Californiens und Sonoras, die durch einen gewissen Antheil von dem Ertrage der Fischerei abgefunden werden. Bei der Leichtigkeit, eine Perle von großem Werthe zu unterschlagen, werden sie unablässig streng beaufsichtigt und dieses Amt liegt dem Capataz ob, in der Regel Männer, deren moralische oder körperliche Kraft den Tauchern Achtung oder Furcht abnöthigt. Die Taucher werden außer ihren Familien noch von Zauberinnen der verschiedenen Stämme begleitet, denen der Aberglaube der Indianer die Macht zuspricht, den gefährlichsten Feind der Taucher, den Haifisch, unschädlich zu machen. Da die Zeit der Perlenfischerei auch die des Schildkrötenfangs ist, der zahlreiche Flottillen nach Cerralbo und Espiritu Santo lockt, so sammelt sich hier auf diesen sonst öden Inseln eine nomadische Bevölkerung von einigen hundert Köpfen. Die Böte, welche für die Fischerei eingerichtet sind, enthalten Ruderer und Taucher. Die letzteren stürzen sich abwechselnd in das Wasser, und ein Strick mit einem großen Steine beschwert, erleichtert ihnen das Tauchen, während das andere, im Boote befestigte Ende ihr Emporkommen unterstützt, wenn ihre Schwere durch die Last der Muscheln verdoppelt ist, die sie in einer Tiefe von 10–12 Klaftern von den Felsen losgebrochen haben. Ein Netz ist zur Aufnahme der Muscheln bestimmt, das sie wie eine Schürze vor sich tragen. Man sieht den Taucher oft drei bis vier Minuten unter dem Wasser bleiben, worauf sie ermattet emporkommen, was sie indeß nicht hindert, an einem Morgen vierzig bis fünfzig Mal zu tauchen.
Jeden Abend schüttet man die Muscheln, die von den Felsen gebrochen worden sind, am Ufer auf und läßt sie durch die Fäulniß öffnen, die die Sonne bald entwickelt. Ist sie vollständig, so schreitet man zum Waschen, das wie die Goldwäscherei in großen hölzernen Trögen geschieht. Man wühlt gierig in der abscheulichen fauligen Masse umher, die giftige Dünste verbreitet, und die Suchenden erheben ein Jubelgeschrei, sobald sie eine an Größe und Schönheit ausgezeichnete Perle finden.
Die besten Taucher sind die Hiaquis, Indianer, welche an den Ufern des gleichnamigen Flusses bei Guyamas heimisch sind. Obgleich die Haifische sich in großer Anzahl an diesen Muschelbänken einfinden, tauchen die Hiaquis doch in dieser furchtbaren Nachbarschaft mit einer Kühnheit, die haarsträubend ist, namentlich, wenn man die einzige Waffe kennt, die sie zu ihrem Schutze bei sich führen. Es ist dies ein Holzstück, dessen beide Enden zugespitzt und im Feuer gehärtet sind. Diese plumpe Waffe, die sie im Gürtel ihrer kurzen ledernen Beinkleider tragen, heißt Estaca. Bekanntlich muß sich der Haifisch wegen der Form seines Unterkiefers umdrehen, wenn er eine Beute fassen will, und diesen Augenblick benutzen die Taucher, um den Pfahl in den Rachen ihres Feindes zu stoßen, der dann die Kinnladen nicht wieder schließen kann. Eine einzige Art der Haifische, die Tintorera, trotzt dem Muthe der Hiaquis, und diese allein fürchten sie.
Unter den Mexikanern, die sich dort an der Perlenfischerei betheiligen, zeichnete sich vor Jahren besonders einer an Tollkühnheit und meisterhafter Geschicklichkeit vor allen anderen aus. Kein Sturm, kein Haifisch, selbst kein Tintorera, der schrecklichste Hüter jener Perlen, vermochte ihn vom Tauchen abzuhalten und seine öfteren mit Haifischen bestandenen Kämpfe hatten ihm in den Augen jener nomadenhaften Bevölkerung den Nimbus der Unverletzlichkeit verliehen. Oft hatte man solche Ungeheuer ihn umkreisen oder verfolgen sehen, die Zuschauer hatten mit lautem Geschrei den Unglücklichen zu warnen und das Ungethüm zugleich dadurch zu verscheuchen gesucht, ohne daß er selbst die Größe der Gefahr anerkannt hatte; oft war der kühne Taucher wie ein Pfeil aus dem Wasser emporgeschossen und hatte sich an dem Seil in’s Boot geschwungen und fast in demselben Augenblicke war dasselbe von den Zähnen seines Verfolgers wie ein Faden zerbissen worden. Einen Kampf mit einem Tintorera, den der junge Mexikaner ebenso siegreich bestand, erzählte derselbe selbst.
In einer Gewitternacht war ein Taucher einem solchen Tintorera zum Opfer gefallen. Das Ungethüm hatte dadurch die Ehre der Korporation der Taucher verletzt und ich, einer ihrer Capataz, beschloß als Augenzeuge des Unglücks augenblicklich dieselbe zu rächen. Der Hai hatte einmal Menschenfleisch gekostet und nichts reizt die Gefräßigkeit der Tintorera’s so sehr als eine Gewitternacht. Es verbreitet sich da ein klebriger Stoff über ihre ganze Haut und macht sie leuchten wie Feuer. An diesem Leuchten erkennt man sie, sie sehen nicht scharf und ein gewandter Schwimmer hat den Vorzug des Gesichts vor diesen Ungeheuern voraus. Dazu rechne man, daß sie uns nicht anders fassen können, als indem sie sich auf den Rücken legen, und man wird finden daß ein entschlossener Mann und tüchtiger Schwimmer einige Aussicht hat, sie zu besiegen. – Ich tauchte nicht sehr tief, um den Athem nicht zu verlieren und auch um über und unter mich sehen zu können. Die Wogen donnerten über mir wie der Donner am Himmel, feurige Spitzen trieben umher wie der Staub im Sturmwinde, aber unter mir war Alles ruhig. Plötzlich bemerkte ich einen Feuerstreifen, der sich mehr und mehr vergrößerte. Es war der Tintorera, mit dem ich mich in gleicher Tiefe befand, aber er stieg allmälig höher. Mir fing der Athem an auszugehen und ich wollte dem Hai den Vortheil nicht lassen, über mir zu sein, da er sich in diesem Falle nicht umzudrehen brauchte, um mich zu fassen. Ich berechnete, um meine Wendung auszuführen, nur die Zeit, die er zum Umdrehen brauchte. Der Hai schwamm so schnell auf mich zu, daß ich einen Augenblick so nahe an ihm war, um in dem Phosphorglanze seines Körpers die Haut zu erkennen, welche seine Augen halb bedeckt, und seine bräunlichen Flossen an meinem Körper zu fühlen. Noch hingen Fleichstücken an seinem Rachen. Der Hai warf mir einen matten Blick zu, sein Kopf befand sich jetzt in gleicher Höhe mit mir. Ich athmete hastig ein, hob mich über den Hai empor und drehte mich um; es war die höchste Zeit. Der silberglänzende Bauch des Tintorera blitzte einen Augenblick und zugleich öffnete er den Rachen, der von furchtbaren dicht aneinander stehenden Zähnen starrte. Ich stieß jetzt mein Messer in seinen Leib und riß, so weit mein Arm reichen konnte, eine tiefe blutige Furche. Der Hai machte einen furchtbaren Satz und schlug zweimal mit dem Schwanze auf das Wasser, doch ich wurde davon nicht getroffen. Nur mußte ich mich eine Minute schütteln, denn es blendete mich ein Regen blutigen Schaums, der mir in das Gesicht spritzte. Als ich auftauchte, sah ich meinen Feind todt auf dem Wasser schwimmen. [140] Der chinesische Yam. Der in Nr. 48 des vorigen Jahrgangs abgedruckte Artikel: „Die Nachfolgerin des kranken Mannes Kartoffel“ hat eine Menge Anfragen hervorgerufen, die zu beantworten wir erst jetzt im Stande sind.
Der Yam ist in China und Japan einheimisch. Es giebt daselbst verschiedene Sorten, die aber alle wild wachsen, woher auch der Name Jamo imo, Bergknolle stammt. Die Landleute suchen sie dort im Walde auf und begünstigen ihre Verbreitung, indem sie die Wurzeln hier und da in Löcher, die sie graben, einpflanzen. Der Yam enthält 18,30 Procent Stärkemehl und widersteht einer Kälte von 16° F. Auf der pariser Ausstellung war die Yamwurzel – im Jahre 1850 von dem französischen Consul Montigny in Shanghai in Frankreich eingeführt – schon ziemlich reich vertreten. Eine ihrer walzenförmigen mehligen Wurzeln, deren getrockneter Durchschnitt etwa wie feiner Piqué aussieht, war 3 Fuß lang und wog 3 Pfund. Die Wurzel geht senkrecht in die Erde, kann aber durch einen darunter gelegten Stein gezwungen werden, sich wagerecht zu entwickeln. Die Wurzel dauert mehrere Jahre in der Erde aus und treibt kleine Knollen, welche zur Fortpflanzung tüchtig sind. Außer durch die Knollen kann die Vermehrung auch durch Stecklinge geschehen. Ein großer Vorzug dieser Frucht vor der Kartoffel besteht darin, daß sie ein Jahr lang im Keller liegen kann, ohne zu treiben. Die schneeweiße Wurzelmasse ist mit einer milchigen Flüssigkeit gefüllt und auch im rohen Zustand genießbar. Gekocht ist sie sehr zart, ohne sichtbare Fasern und Gewebe und kann durch leichten Druck in einen Teig verwandelt werden, welcher an Nahrungsstoff reicher als die Kartoffel ist.
Außer in Frankreich hat man in den beiden letzten Jahren auch in Deutschland, namentlich in Schlesien, Böhmen und am Rhein Anbauversuche mit dem Yam angestellt, und alle diese Versuche haben zu Gunsten dieser neuen Frucht gesprochen. Ihre Anzucht kann daher unbedenklich empfohlen werden, selbst auch neben der Kartoffel, da der Yam zarter, wohlschmeckender und nahrungsreicher als die Kartoffel ist, und da es doch auch erwünscht sein muß, eine zweckmäßige Abwechslung mit den Knollenfrüchten zu befolgen. Jeder, der ein Gärtchen hat, kann ein Beet Yam anbauen. Saamenknollen kann man sich verschreiben von den Handelsgärtnern Mohnhaupt in Breslau und Haake in Erfurt oder von der Saamenhandlung J. Booth in Hamburg.
Für diejenigen, welche gesonnen sind, mit dem Yam Anbauversuche anzustellen, theilen wir noch Einiges darauf Bezügliches mit. Der Yam verlangt einen gut gedeihlichen und gut bearbeiteten, nicht schweren Boden. Geschieht die Fortpflanzung durch die Knollen, so werden diese wie die Kartoffeln in 2 Fuß von einander entfernte Reihen 1/2 F. tief und in den Reihen 18 Zoll von einander entfernt ausgelegt, was im April geschieht. Während des Wachsthums wird die Pflanzung eben so bearbeitet, wie eine Kartoffelpflanzung. Im September sind die Knollen reif und können geerntet werden. Man kann den Yam aber auch fortpflanzen, wenn man die kleinsten Wurzeln bei der Ernte aussucht und in Gruben legt, um sie vor dem Frost zu schützen. Im Frühjahr nimmt man sie heraus und pflanzt sie in gut zubereiteten Boden ziemlich nahe an einander in Furchen. Sie keimen bald und bilden liegende Stengel, aus denen man, sobald sie 6 Fuß lang sind, Stecklinge macht, welche man dann pflanzt. Bei feuchtem Wetter schlagen sie bald Wurzeln; bei Trockenheit müssen sie so lange begossen werden, bis sich Wurzeln bilden. Nach 15–20 Tagen von der Bewurzelung an erscheinen Nebentriebe, die man von Zeit zu Zeit sorgfältig entfernen muß, wenn die Wurzeln die gehörige Größe erlangen sollen.“
Die Abbildung rechts ist ein Blüthenzweig, die Figur links die eßbare Wurzel des chinesischen Yams.
Aus der Fremdenlegion. Man schreibt uns aus Shorncliffe vom 28. Februar: Vorige Woche gab’s hier viel Scandal. Zunächst hatten die Policemänner am Freitag vor acht Tagen gegen Abend einen Jäger der 10. Compagnie, der in die eine halbe Stunde entfernte Stadt Folkestone ein paar Schuhe im Auftrag seines Sergeanten in der Hand trug um sie zu verkaufen, arretirt. Da der Mann offenbar unschuldig war und die beregten Effekten Andern nicht entwendet hatte, so rotteten sich mehrere Jäger, - namentlich von der 9. Compagnie, wovon gerade viele in der Stadt zum Besuch waren, zusammen, und verlangten dringend dessen Freilassung. Da dieselbe nicht gutwillig erfolgte, so wurde sie schließlich erzwungen, wobei es Hiebe setzte. Am andern Tage früh wurde ein Sergeant der 9. Compagnie, G–l., der mit beim Scandal betheiligt gewesen sein sollte, und der bei seinen Leuten sehr beliebt war, arretirt und an’s Civilgericht nach Folkestone abgegeben. Deshalb hauptsächlich erneuerte sich der Auflauf am andern Tage und zwar in der Art, daß der erwähnte Sergeant nicht nur aus dem Gefängnisse befreit, sondern daß auch das Pflaster aufgerissen, Mehreres demolirt und die Fenster, namentlich am Civilgerichtshaus sämmtlich gänzlich zerschmettert wurden. Andern Tages wurde der Sergeant wieder arretirt und auf die Lagerwache abgeführt, entkam aber, auf die Retirade gehend, glücklich von da. Heute nun ist der Posten, der ihn dahin begleitet und ihn hat entspringen lassen, zu einem Jahre einsamen Gefängnisses mit schwerer Arbeit verurtheilt worden.
Gleich nach dem Crawall in Folkestone revoltirte die 1. Compagnie des 2. Jägercorps (das 1. steht mit dem 1. Infanterie-Regiment in Kertsch, das 2. Inf.-Regim. in Sinope, das 3. Inf.-Regim. in Gallipoli, das 4. und 6. Inf.-Regim. wird hier, das 5. in Helgoland gebildet und sollen die Rüstungen einstweilen immer vorwärts gehen; so kamen gestern von Frankreich herüber 17 Mann von einem Werber geführt, für 6 Regimenter bestimmt, von denen, zugleich mit Einigen, die als untüchtig zurückgewiesen, nicht ein Einziger geschworen, da sie nach vorher bei Legionären eingezogener Erkundigung das Eingehen in die englischen Bedingungen nicht annehmbar und genehm fanden). Dabei kam es so weit, daß selbst der Kapitain der Compagnie, Kropff, der in Schleswig-Holstein und Brasilien gedient, thatsächlich insultirt wurde. Auch dem Feldwebel vergalt man seine seitherige mütterliche Pflege mit Inbrunst. In Folge dessen wurden 18 Mann der betheiligt Gewesenen bis gestern in Arrest gehalten, mehrmals während dem verhört, später aber gänzlich freigegeben, ohne weitere Strafe. Sie sollen mehrfach gegründete Beschwerden vorgebracht haben. Der Compagniechef hat hierauf seine Entlassung eingereicht.
Die Auffälligkeiten der Leute kommen namentlich mit daher, weil sie mit der Gage nach ihrer Meinung gründlich getäuscht sind. Statt den versprochenen Schilling täglichen Solds (12 Pence, soviel wie 13 Schilling hamburger Courant) bekommen sie öfters nur 4, 3, 2, ja selbst nur 1 Pence. Da wird für empfangene Monturstücken abgezogen, für Reinigung der Bettwäsche, für Barackenschaden, für Menage etc. etc., so daß die Leute zuletzt sich aus sich selbst heraus bezahlt machen müssen. Doch ich gedenke ja Ihnen Ausführlicheres hierüber später mitzutheilen.
„Aus der Fremde“ Nr. 10 enthält:
Ein Damenritt an’s todte Meer. - Briefe aus der Mormonenstadt III. Zur Charakteristik der Secte und ihrer Führer. - Eine Geschichte der Belagerung von Kars. - Der Adel in der Wüste. Von dem General Daumas. - Aus allen Reichen: Der Reisende Mitchell, - Longfellow. - Eine Charakteristik der Amerikaner.