Die Gartenlaube (1856)/Heft 9

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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ferdinand Stolle
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Entstehungsdatum: 1856
Erscheinungsdatum: 1856
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[113]

No. 9. 1856.
Die Gartenlaube.
Illustrirtes Familienblatt. – Verantwortl. Redakteur Ferdinand Stolle.
Wöchentlich 1½ bis 2 Bogen. Durch alle Buchhandlungen und Postämter vierteljährlich für 15 Ngr. zu beziehen.


Napoleon´s Hüte.

Während meines Aufenthaltes in Paris lernte ich den jungen Maler Anatol St. kennen, dessen Kreidezeichnungen auch bei uns Deutschen sehr geschätzt werden. Anatol stand, wie ich, im fünfundzwanzigsten Lebensjahre, er war ein Mann von Geist und Gemüth und dabei die Offenheit und der Frohsinn selbst. Ehe ich recht wußte, wie es gekommen, waren wir Freunde geworden, und wir trafen uns täglich zu gemeinschaftlichen Spaziergängen.

„Begleiten Sie mich!“ sagte er eines Tages, nachdem wir in einem Café Billard gespielt hatten.

„Wohin?“

„Zu einem Hutmacher. Meine Kopfbedeckung ist so schlecht, daß ich einer neuen bedarf, zumal da ich in vierzehn Tagen eine Reise zu machen gezwungen bin. Wie wäre es,“ fügte er lebhaft hinzu, „wenn Sie mich auch auf der Reise begleiteten? Sie werden meinen Onkel kennen lernen, einen alten vortrefflichen Mann, dem ich jährlich einen Besuch in seinem einsamen Dorfe abstatte.“

„Ich werde den freundlichen Vorschlag in Erwägung ziehen.“

„Erwägen?“ fragte Anatol mit einem vielsagenden Lächeln. „Sie sind mein Gast, nur so lange als wir uns auf der Reise befinden, ersparen Sie sich die Ausgaben in Paris. Eine Ausflucht lasse ich nicht gelten – reisen Sie mit mir!“

Es war nicht möglich auszuweichen, und ich gab gern meine Zustimmung, da ich während meines Aufenthaltes in Paris, der sich nur noch bis zum Herbste ausdehnen sollte, den Umgang mit dem liebgewordenen Freunde so wenig als möglich entbehren wollte.

Wir standen vor dem glänzenden Laden eines Hutmachers.

„Der Munificenz des genannten Onkels verdanke ich, daß ich für dieses Jahr meinen Calabreser aus dem besten Magazine von Paris kaufen kann,“ sagte Anatol, indem er die hinter den großen Spiegelscheiben aufgestellten Hüte musterte. „Ah, dort ist meine Façon, folgen Sie mir!“

Mein Freund öffnete die Thür, und wir traten in ein prachtvolles Magazin. Einige Tausend Hüte von allen Farben und Formen standen und hingen in musterhafter Ordnung rings umher. Drei Diener waren bereits mit Käufern in Unterhandlungen begriffen. Ein alter Mann, der an einem Pulte mit Schreiben beschäftigt war, sah uns eintreten; er zog an einer Klingelschnur, und gleich darauf erschien ein junges Mädchen, um uns zu bedienen. Anatol vergaß fast, sein Verlangen auszusprechen. Wie erstarrt sah er die Verkäuferin an, die, ich muß es bekennen, von so seltener Schönheit war, daß sie einen jungen Mann wohl außer Fassung bringen konnte, und vorzüglich wenn er ein französischer Maler ist. Ihre einfache und geschmackvolle Toilette zeichnete die elegantesten Körperformen ab. Das zarte Gesicht hatte etwas madonnenartiges in Schnitt und Ausdruck. Das blonde Haar bildete einen wellenförmigen Scheitel und spielte in kurzen, schweren Locken in den schneeweißen Nacken herab. Sie schien die Wirkung ihres Anblicks nicht zu bemerken, in einer freundlich bescheidenen Weise, die mit der der gewöhnlichen pariser Verkäuferinnen nichts gemein hatte, fragte sie nach dem Wunsche des Käufers. Anatol faßte sich, und bat, ihm Calabreserhüte vorzulegen. Bald lagen die Geforderten in allen Farben auf dem glänzenden Ladentische. Die Wahl unter den geschmackvollen Fabrikaten war in der That schwer.

„Mademoiselle wird die Güte haben und entscheiden,“ sagte Anatol, indem er einen braunen Hut auf seinen schwarzen Lockenkopf setzte.

„Ich würde zu einer hellern Farbe rathen,“ antwortete sie mit einem entzückenden Lächeln.

Sie überreichte einige weiße und graue Hüte mit dem Bemerken, daß ein frisches Gesicht und dunkeles Haar solche Farben erfordere. Anatol prüfte einen weißen Hut und trat vor einen großen Spiegel. Der Maler sah wirklich verführerisch aus. Ich warf einen Blick auf das Mädchen – erröthend trat es von dem Spiegel zurück, aus dem Anatol ihm entgegenlächelte. Der Käufer zahlte ohne zu dingen den geforderten Preis, der kaum die Hälfte von dem betrug, den wir erwartet hatten. Das Geschäft war zu Ende; aber um einen Vorwand zur Wiederkehr zu haben, ließ Anatol seinen alten Hut zurück. Das junge Mädchen überreichte ihm eine Marke mit einer Nummer.

„Es bedarf nur des Vorzeigens derselben,“ fügte sie mit einer Verbeugung hinzu, „und Sie erhalten Ihr Eigenthum zurück.“

Wir grüßten und verließen das Magazin.

„Bei meiner Ehre,“ rief Anatol begeistert, „jenes Mädchen erinnert mich an die christlichen Engel des Chiotto! Wer hätte eine so seltene Schönheit in einem Hutmagazine erwartet!“

Ich erinnerte ihn an den billigen Preis.

„Ach,“ rief er aus, „mir scheint, der Hut kommt mir dennoch sehr theuer zu stehen, denn die liebenswürdige Verkäuferin wird alle meine Gedanken in Anspruch nehmen. Ich wiederhole es, sie ist ein Engel!“

Während des nun folgenden Spazierganges war das Mädchen fast ausschließlich der Gegenstand unsers Gesprächs, und mir blieb kein Zweifel darüber, daß der arme Anatol sich bis über die Ohren verliebt hatte. Als ich ihn am folgenden Tage gegen Mittag in seiner Wohnung besuchte, hatte er eine Skizze in Kreide vollendet – er zeigte mir einen Engelskopf, der dem schönen Mädchen von gestern täuschend ähnlich sah.

[114] „Die Liebe hat Sie zu einem Chiotto gemacht!“ rief ich verwundert aus.

„Vielleicht auch zu einem Werther!“ gab er lächelnd zur Antwort.

Unser erster Weg war der nach dem Hutmagazin. Auf dem blauen Schilde über der Thür stand in Goldbuchstaben der Name Henri Bourdaloue. Wir traten ein, und statt der Schönen empfing uns heute ein Diener. Anatol gab die Marke ab, und empfing dafür seinen alten Hut. Wir hatten keine Hoffnung, das Mädchen zu sehen. In dem Augenblicke, als wir uns entfernen wollten, fuhr ein Fiaker vor die Thür. Eine Dame in Hut und Shawl stieg aus – es war unsere Verkäuferin. Ein flüchtiges Roth erschien auf ihren Wangen, als sie den Maler erblickte, der grüßend seinen Hut zog. Sie dankte in sichtlicher Verwirrung und verschwand in dem Innern des Magazins.

„Gehen wir!“ flüsterte ich meinem Freunde zu, denn ich sah das Lächeln der Diener.

Wie einen Träumenden zog ich ihn auf die Straße hinaus. Wir benutzten den Fiaker zur Fahrt in die Restauration, wo wir unser Mittagsessen einzunehmen pflegten. Wir tranken heute mehr Wein als sonst, aber Anatol erlangte seine muntere Laune nicht wieder. Mußte ich mir auch bekennen, daß das Mädchen wirklich von ausgezeichneter Schönheit war und daß ihre Erscheinung, als sie Hut und Shawl trug, mich, den ruhigen Deutschen, entzückt hatte, so mußte ich mich dennoch über die völlige Umwandlung meines Freundes wundern. Der Engelskopf schien seine Leidenschaft zu nähren, denn in den folgenden drei Tagen sann er nur auf Mittel, eine Anknüpfung mit dem Gegenstande seiner Liebe zu treffen. Aber alle waren unanwendbar, wenn wir uns dem Gespötte der Diener nicht aussetzen wollten. Mehr als einmal gingen wir täglich an dem Magazine vorüber – aber leider sahen wir nur die lächelnden Gesichter der Commis hinter den Fensterscheiben, denen das Benehmen meines armen Freundes aufgefallen war. Es mochte wohl nicht das erste Mal sein, daß ein Verehrer der Schönen Annäherungen gesucht hatte.

„Ich weiß ein Mittel,“ sagte ich am vierten Tage unserer vergeblichen Bemühungen.

„Nun?“ fragte Anatol hastig.

„Sie treten morgen die Reise zu Ihrem Onkel an, und ich begleite Sie. Das Wetter ist schön, die Abwechselungen auf der Reise werden Sie zerstreuen, und ich wette, Sie lächeln über das Abenteuer, wenn wir zurückgekehrt sein werden.“

„Wetten Sie nicht, mein Freund!“ antwortete Anatol mit einem schmerzlichen Lächeln. „Aber wie es auch kommen möge – Ihr Vorschlag ist vernünftig, ich nehme ihn an, und morgen reisen wir.“

Wir trafen unsere Vorbereitungen, und am nächsten Morgen früh sechs Uhr bestiegen wir eine Diligence. Der große, bequeme Wagen war nur von fünf Personen besetzt, unter denen uns ein Mann im hohen Greisenalter auffiel. Sein durchfurchtes Gesicht war ernst, fast streng, und in seinem ganzen Wesen lag etwas Feierliches. Trotz seines hohen Alters waren alle seine Bewegungen energisch und seine feinen Kleider gewählt und auffallend sauber. Sein schneeweißes, noch ziemlich dichtes Haar war kurz gesehnitten, ebenso sein starker Schnurrbart. Man hätte ihn für einen pensionirten Major, für einen alten Chef der Finanzen oder für einen ci-devant-Consul von Batavia halten mögen. Der Kopf des Greises war schön, und Anatol flüsterte mir zu, daß er diesen Abend eine Skizze davon anfertigen wolle.

„Ich wette,“ fügte er hinzu, „daß unser Reisegefährte, der jetzt so still in seiner Ecke sitzt, einst eine bedeutende Rolle in der Welt gespielt hat.“

Es schien, als ob mein Freund sich seinen Liebesgedanken entreißen wollte, denn er suchte mit dem interessanten Fremden ein Gespräch anzuknüpfen. Dieser aber knöpfte ernst seinen olivenbraunen Ueberrock bis dicht an das Kinn zu und legte seinen Kopf in das Polster des Wagens. Mir schien, als ob der dicht verschlossene Rock das Symbol seiner Klugheit sei, denn ich fand, daß er bei der Unterhaltung nicht minder verschlossen war. So geschickt Anatol seine Fragen auch stellte, der Greis antwortete so kurz und vorsichtig, daß wir über seinen Wohnort und über den Zweck seiner Reise nicht den geringsten Schluß bilden konnten. Aus dem Gespräche, das bald wieder steckte, errieth ich nur, daß der Greis früher große Reisen durch Europa gemacht hatte, und aus diesem Grunde hielt ich ihn für einen Diplomaten.

Die Unterhaltung bewegte sich um Politik, ein Thema, das sehr nahe lag, da sich bereits die ersten Symptome der Revolution von 1848 zeigten. Jeder sprach seine Meinung aus, und Anatol, der für den großen Napoleon schwärmte, war der Ansicht, daß bei einem Wechsel der Dynastie für die Napoleoniden einige Chancen vorhanden seien. Da belebte sich das contemplative Gesicht des Greises, und wie elektrisirt rief er aus: „das ist die einzige mögliche, richtige und wünschenswerthe Lösung der unheilvollen Wirren !“

Dann fügte er einige Worte von militärischem Ruhme, der den Franzosen über Alles theuer sein müsse, hinzu.

Ohne Zweifel war unser Mann ein hochgestellter Offizier, der unter seinem zugeknöpften Rocke sicher einige Ordenszeichen zu verbergen suchte. Ich war so kühn, die Frage an ihn zu richten:

„Haben Sie lange gedient, mein Herr?“

„Ich bin allerdings mehr als einmal der großen Armee gefolgt,“ antwortete er, „aber nie als Militär.“

Schon gewann die Ansicht sich in mir festzustellen, daß er ein Steuerbeamter oder sonst eine Finanzperson in einem der eroberten Länder gewesen sei, als leider ein Reisegefährte durch seine Frage auch diese Ansicht wieder umwarf. Er fragte nämlich den Unbekannten, ob er bei der Armee den großen Kaiser in der Nähe gesehen habe.

„Meine Reisen hatten nur den einen Zweck, mich dem Kaiser zu nähern!“ war die Antwort.

Das klang sehr stolz; aber in welcher Eigenschaft näherte er sich dem Kaiser? Nun ward ich von einer Vermuthung zu der andern gebracht. Aus einigen Worten über die schlechten Handelsaussichten schloß ich, daß mir ein Negociant gegenüber sitze; dann wieder aus der Art und Weise, in der er von dem kaiserlichen Hofe sprach, er sei Kammerherr gewesen. Endlich verlor ich mich in Conjecturen, wovon eine die andere wieder aufhob.

In dem Städtchen Fougères forderte man uns die Pässe ab. Der Unbekannte zeigte dem Gensd’armen sein geöffnetes Papier. Da ich an der Seite des Wagens saß, wo der Sicherheitsmann stand, warf ich begierig einen Blick hinein – ich las den Namen Bourdaloue, denselben Namen, der über dem verhängnißvollen Hutmagazine stand. Ich verbarg Anatol diese Entdeckung, um ihn nicht an seine unnahbare Schöne zu erinnern. Wußte ich auch nicht, ob der Greis zu dem Besitzer des Magazins in irgend einer Beziehung stand, so hatte er dennoch an Interesse gewonnen. Wir fuhren weiter. Anatol, der bisher die Seele des Gesprächs gewesen, hing sinnend den Kopf auf die Brust herab; er dachte ohne Zweifel an seine Schöne. Mein Mitleiden ward wach, und ich nahm mir vor, auf der nächsten Station den Alten ohne Umstände zu fragen, ob ihm die Firma Bourdaloue in Paris bekannt sei. Bei dieser Gelegenheit hoffte ich Näheres über das Mädchen zu erfahren. Ich überlegte nun, wie ich meinen Plan am geschicktesten ausführte. Nach einer Stunde kamen wir in Antrain an. Zwei Passagiere verließen uns, und ein neuer stieg ein. Dieser war ein alter jovialer Offizier in der Armeeuniform. Kaum hatte er sich gesetzt, als er ausrief:

„Ah, Papa Henri, Sie finde ich hier? Das ist vortrefflich! Nun sollen Sie mir nicht wieder entkommen, bevor ich nicht das feste Versprechen von Ihnen habe, daß Sie mir einen Ihrer kostbaren Hüte abtreten wollen. Der älteste und am meisten gebrauchte ist mir der liebste. Ich muß wahrlich Gewalt anwenden, da Sie sich weigern, Geld für Ihre Reliquien zu fordern.“

Anatol sah mich mit großen Augen an. Von einem Hute war bereits gesprochen worden, wenn er nur noch den Namen Bourdaloue hörte, den ich bereits gelesen hatte –! Ich verwünschte den Zufall, der, wie es den Anschein hatte, den armen Anatol an das Abenteuer erinnern sollte, das er in den Zerstreuungen der Reise vergessen wollte.

Papa Henri blieb ernst wie zuvor.

„Kapitain,“ gab er entschieden zur Antwort, „Alles was ich besitze, steht zu Ihren Diensten; nur meine Hüte nicht, denn sie bilden ein Museum, das die französische Nation in kurzer Zeit sehr hoch schätzen wird. Die Reliquien bleiben beisammen, und wenn ich keinen würdigen Erben hinterlasse, der Ehrfurcht vor den Heiligthümern hat, so vermache ich sie meiner Vaterstadt Nantes.“

Anatol nahm seinen Hut ab, betrachtete ihn und flüsterte mir mit einem Seufzer zu:

[115] „Dieser Calabreser wird wohl auch eine Reliquie für mich werden!“

Der freundliche und redselige Kapitain, der unsern fragenden Blick bemerkte, glaubte sich zu verpflichten, wenn er uns Aufklärung gab.

„Der Hut,“ sagte er, „den ich von meinem alten Freunde fordere, ist ein Hut, den der große Napoleon getragen hat. In der Eigenschaft als kaiserlicher Hutmacher war es ihm möglich, ein Dutzend zu sammeln, und nun will er auch nicht einen davon abtreten.“

Bei dem Worte Hutmacher sah mich Anatol an. Wir mußten unsere Bemerkungen unterdrücken, da Papa Henri antwortete:

„Kapitain, Sie übertreiben die Zahl meiner Hüte und vermindern den historischen Werth meiner Sammlung. Ich besitze nur acht Hüte Sr. Majestät, und diese hat nicht etwa der Zufall vereinigt; sie sind von ihm zu verschiedenen Epochen getragen. In meinem Hause bewahre ich sie auf mit allen Zubehörungen, und wer sie in ihrer chronologischen Ordnung betrachtet, hat das ganze Leben des großen Napoleon vor Augen.“

„Wahrlich,“ rief Anatol, „das ist interessant!“

„Jeder Freund des großen Kaisers sollte diese Sammlung sehen,“ fügte der Kapitain hinzu „Papa Henri wird es gewiß nicht verweigern – –“

„O durchaus nicht!“ rief der alte Hutmacher. „Ich halte es vielmehr für Pflicht, diesen erhebenden Anblick dem ganzen Volke zu gewähren, damit es sich, bei der jetzigen Erschlaffung, durch die lebhafte Erinnerung an die Heldenzeit und die Tage des Ruhms ermanne!“

Anatol, ein enragirter Bonapartist, stimmte begeistert bei, und sprach den Wunsch aus, die unschätzbaren Reliquien zu sehen.

„Begleiten Sie mich,“ sagte freundlich Papa Henri, „und Ihr Wunsch ist erfüllt.“

„Wo wohnen Sie, mein Herr?“

„In Saint Malo, das wir diesen Abend erreichen. Seit einem Jahre habe ich den freundlichen Ort zu meinem Wohnsitze erwählt, um von den politischen Dingen in Paris weder etwas zu hören noch zu sehen. Diesen Sommer noch werde ich Abbildungen von meinen Kabinetsstücken erscheinen lassen.“

„Ich bin Maler, mein Herr,“ sagte Anatol; „kann ich Ihnen bei diesem nationalen Werke nützlich sein – –“

„Danke, danke! Für dieses Unternehmen ist bereits ein Künstler gewonnen. Mein Nachbar und Freund, der würdige Abbé Loustalot, erwartet den Besuch seines Neffen, der einer der besten Zeichner von Paris ist. Da Sie Maler sind, kennen Sie ihn vielleicht.“

„Meinen Sie Anatol St.?“ fragte ich.

„Denselben. Er hat sich für nächste Woche dem Onkel angekündigt. Sie begreifen wohl,“ sagte der alte Hutmacher stolz, „daß man ein solches Werk nur einem Künstler anvertrauen kann.“

Ich konnte mich nicht enthalten auszurufen: „Mein Herr, Anatol St., den Sie erwarten, sitzt Ihnen gegenüber!“

„Wie?“

„Ihnen zu dienen,“ antwortete der Maler, sich verneigend.

Ich habe meine Reise um einige Tage früher angetreten, da ich dem guten Onkel, der mich wie seinen eigenen Sohn liebt, eine Ueberraschung bereiten will. Wie geht es ihm? Als sein Nachbar müssen Sie es wissen.“

Als wir gegen Abend St. Malo erreichten, war das Unternehmen verabredet, und Papa Henri lud uns ein, den nächsten Morgen bei ihm zu frühstücken. Auch der Kapitain erhielt eine Einladung. Unser Empfang bei dem Abbè, einem würdigen alten Manne, war der herzlichste. Schon während des Abendessens brachte er das Gespräch auf seinen Nachbar und das merkwürdige Museum desselben. Anatol erzählte nun das Zusammentreffen in der Diligence. Am nächsten Morgen elf Uhr führte uns der Abbè zu Papa Henri. Der Kapitain, in voller Uniform, hatte sich bereits eingestellt. Der kaiserliche Hutmacher bewohnte ein reizendes Haus. Er empfing uns wie alte Bekannte. Nach den ersten Begrüßungen führte er uns in einen kleinen Saal, der mit einigen werthvollen Stahlstichen, Schlachten der großen Armee darstellend, geschmückt war. In der Mitte dieses Saales erblickten wir auf einem mit grünem Tuche beschlagenen Tische acht kleine dreieckige Hüte unter Glasglocken. Alle waren mehr oder minder getragen und beschädigt. Hinter einem jeden sah man einen kleinen in grellen Farben gemalten Prospekt. Papa Henri begann ernst und würdig folgende Erklärung:

Seit dem Jahre 1793 hatte ich die Ehre, Hutmacher Sr. Majestät zu sein, die damals noch Escadron-Chef unter dem Namen Buonaparte war. Acht Tage zuvor, ehe er als Artillerie- Commandant zur Belagerung von Toulon abging, forderte er von mir einen vorschriftsmäßigen Hut. Man war damals nicht allzu streng, und ich hatte die Idee, die Hüte der republikanischen Offiziere, die zu breit waren, ein wenig zu erhöhen. Der erste Hut in dieser Form hatte den Beifall des Commandanten, er nahm ihn – auf Kredit – und eilte auf seinen Posten. Zwei Monate später kehrte mein junger Kundmann mit Ruhm und Lorbeeren bedeckt zurück, er war Brigadegeneral geworden. Sein Hut war arg zugerichtet, eine Kartätschenkugel hatte die rechte Ecke zerrissen. Ich mußte ihm einen neuen geben. Da seine Form gefallen, behielt ich den alten – hier ist er. Er steht vor einem Hintergrunde, der die Gegend von Toulon darstellt.

Die Belagerung von Toulon und bald darauf die Affaire des Vendémiaire hatten den neuen General zu großem Ansehen gebracht. Um die Republik und die republikanischen Moden war es geschehen. Das Direktorium begann die Aera seiner Thorheiten und Verschwendungen, und entsendete den General Bonaparte, um in Italien die Feinde Frankreichs zu bekämpfen. Im Interesse meines ruhmgekrönten Abkäufers wich ich von der unedeln Mode von 1793 ab. Schon bei Montenotte, Lobi und Arcole war der Hut viel besser; und als der General en Chef, der Ueberwinder Italiens, der Pacificateur Europa’s sich nach Egypten einschiffte, bedeckte sein herrliches Haupt ein wahrhaft charakteristischer Hut. Hier steht er, betrachten Sie ihn, meine Herren, und Sie werden mir beipflichten müssen. Die vordere umgeschlagene Parthie erhebt sich kühn und bedeckt völlig die Form; der hintere Theil erhebt sich noch höher. Sie sehen hier drei Viertheile des zweiten Hutes. Die Umgebung stellt einen Theil der Befestigungswerke des eroberten Mantua und die Pyramiden von Djezzar dar.

Fünf Monate später, bei der Rückkehr aus Egypten, bedurfte der Held meiner Dienste von Neuem. Um das räuberische und unwissende Direktorium zu verjagen; um eine Versammlung von Schwätzern zu verjagen, die Frankreich zu Grunde richteten, und um einen ersten Consul einzusetzen, mußte der General mit einer neuen und passenden Kopfbedeckung geschmückt werden. Man ließ mich rufen. Als ich das Maaß nahm, bemerkte ich mit Erstaunen, wie außerordentlich, wie enorm sich das Haupt meines ruhmreichen Kunden entwickelt hatte; wie die Lage der Dinge, so hatten sich seine Organe der Intelligenz vergrößert. Der Hut des ersten Consuls hatte zwei Spitzen mehr, als der des Commandanten von Toulon. Vergleichen Sie, meine Herren, hier ist der Hut des Consulats!

[116] “Der nun folgende Hut ist der des Anfangs des Kaiserreichs. Napoleon trug ihn bei Austerlitz. Er ist von zwei Kugeln durchlöchert. Wie Sie sehen, ruht er auf Lorbeeren, und die Sonne, die sich erhebt, um eine Welt zu erleuchten, umstrahlt ihn mit einer glühenden Glorie.

“Hier, meine Herren, ist der höchste Glanzpunkt des Kaiserreichs: betrachten Sie den Hut von Ehlau, von Eßlingen, von Wagram und der Moskwa! Ich wage keck die Behauptung, daß seine Form vollkommen geworden ist. Bemerken Sie, wie fest er steht, wie kräftig der Vordertheil sich abrundet und wie kühn der Hintertheil sich erhebt! Die Rundung ist einfach, schön und energisch. Das ist ein wahrhaftes Symbol der Kraft und Allmacht! Kein anderes Haupt als das Napoleon’s konnte einen solchen Schmuck tragen!

“Der Hut erlitt nun keine Veränderung mehr, wohl aber sein Glück. Hier ist der Hut von Moskau. Die heilige Stadt brennt, und der Hut, zum Schutze gegen die Kälte eingerichtet, hat weiter keine bedeutungsvolle Form. Mein Neffe, Lieutenant in der jungen Garde, hat ihn aus dem Schnee aufgerafft und treulich meinen Händen überliefert. Moskau ist die erste Stufe, die zum Verfalle führt.

„Diesen Hut, meine Herren, habe ich mir aus dem Elysèe- Bourbon selbst genommen, nach der Rückkehr von Waterloo. Zerrissen und zerdrückt, wie er ist, bietet er ein wahres, rührendes Bild. Ich ziehe ihn dem Hute von Wagram, selbst dem von Austerlitz vor. Ich habe ihn auf eine öde Fläche gelegt. Der kaiserliche Adler ist durch den Blitz niedergeschmettert, und ein leuchtender Stern durchbricht einen düstern Himmel.

„Endlich, meine Herren, betrachten Sie den Hut von St. Helena. Marchand hat ihn einige Zeit vor dem 4. Mai auf einem Felsen gefunden, wohin ihn der Zufall geworfen hatte. So treu als möglich habe ich die Gegend wiedergeben lassen. In der Ferne sieht man das Meer, das den großen Napoleon gefangen hält. Eine schwarze Fahne flattert auf dem starren Felsen von St. Helena, um den beiden Welten anzukündigen, daß der größte Mann des Jahrhunderts aufgehört hat zu leben.“

Papa Henri schwieg, und trocknete sich die feuchten Augen.

Hatte ich Anfangs bei diesem emphatischen Berichte eine leise Lachlust nicht unterdrücken können, so gewann ich doch nach und nach dafür einiges Interesse, und als der greise Redner geendet hatte, waren wir Alle bewegt. Gerührt reichte ich dem würdigen Alten die Hand. Der Kapitain erklärte, daß er es für eine Sünde hielte, dieser historisch wichtigen Sammlung auch nur einen Gegenstand zu nehmen.

„Noch heute gehe ich an die Arbeit!“ rief Anatol begeistert. „Man soll erfahren, daß der würdige Sammler sich ein eben so großes Verdienst um die Welt erworben hat, als die Geschichtsschreiber!“

Der Greis umarmte den jungen Mann.

„Und nun, meine Freunde, folgen Sie mir zu einem kleinen Frühstück. Wir wollen das Andenken an die Heldenzeit bei einem Glase Wein feiern.“

Wir betraten einen geschmackvoll eingerichteten Saal des Erdgeschosses. In der Mitte desselben stand ein reich besetzter Tisch.

„Meine Enkelin!“ sagte Vater Bourdaloue, indem er uns eine junge Dame vorstellte. „Sie ist vor einigen Tagen von Paris angekommen, um meine kleine Wirthschaft zu führen. Georgette versteht es, ein dèjeuner à la fourchette einzurichten. Sie hat heute ihre erste Probe abgelegt.“

Eine neue, größere Ueberraschung stand uns bevor. Georgette war keine Andere, als die reizende Verkäuferin aus dem pariser Hutmagazine. Ich unternehme es nicht, die freudige Bestürzung des wackern Anatol zu schildern, der sich so plötzlich in die Nähe der Geliebten gebracht sah. Aber auch Georgette erröthete, und in sichtlicher Befangenheit versah sie die Obliegenheiten der Hausfrau. Wir saßen zwei Stunden bei Tische. Beim Scheiden wiederholte Anatol sein Versprechen, das Werk noch heute zu beginnen. Daß er Wort gehalten, bedarf wohl keiner Erwähnung. Am folgenden Morgen, während Anatol in dem Museum des Herrn Bourdaloue arbeitete, machte ich mit dem Abbé Loustalot einen Spaziergang. Er wollte mich über seinen Neffen ausforschen, dessen Befangenheit Georgette gegenüber er bemerkt hatte. Ich glaubte dem Freunde einen Dienst zu leisten, und erzählte das Abenteuer in dem Hutladen, wie überhaupt Alles, was auf Anatol’s Liebe Bezug hatte. Der alte Mann lächelte und drückte mir mit einer Miene die Hand, als ob er sagen wollte: das ist mir lieb. Vier Tage blieb ich in Saint Malo. Ich nahm es dem Freunde nicht übel, daß er den größten Theil der Zeit in dem Museum zubrachte. Am Morgen meiner Abreise gab er mir eine Kopie der Hüte Napoleon’s.

„Wie steht es?“ fragte ich. „Werden Sie Ihren Hut als eine Reliquie einer entschwundenen schönen Zeit aufbewahren müssen ?“

„Aufbewahren – ja; aber vielleicht als einen Heirathsprocurator.“

Er schloß mich in seine Arme und küßte mich. Erfreut über sein Glück reis’te ich nach Paris zurück. Sechs Wochen später sandte er mir eine von seiner Hand gezeichnete Verlobungskarte und eine Lithographie der Napoleonshüte, dieselbe, nach der vorstehende Zeichnungen gefertigt sind. Im September reiste ich nach St. Malo, um Anatol’s und Georgette’s Hochzeitsgast zu sein. Der Calabreser lag unter einer Glasglocke in dem Museum. Er war dem glücklichen Maler der kostbarste in der ganzen Sammlung.



[117]
Land und Leute.
Nr. 3. Die Halloren in Halle a. d. Saale.

Vogelsteller. Braut. Hallore im Festschmuck. Wasserstecher oder Fischer. Salzträger.


Wenn man vom Bahnhofe aus durch das leipziger Thor in Halle den Windungen der langen leipziger Straße hinab auf den geräumigen Markt folgt, über denselben hinweg geht, so daß man den einzeln stehenden „rothen Thurm“ mit dem lockenköpfigen Roland an der Ecke und dem vergoldeten Knopf auf der fast 300 Fuß hohen Spitze auf der rechten Seite behält, und den kleinen Platz entlang geht, der sich zwischen der Marienkirche und den Predigerhäusern hinzieht, so kommt man an eine Mauerbrüstung, von welcher man hinab in eine Vertiefung sieht, welche „die Halle“ oder „das Thal“ heißt. Dicht rechts vor der Mauer hebt ein alterthümliches Gebäude seinen Giebel, den zwei zierliche Erker zieren, aus dem „Thal“ herauf und hält dem Beschauer das preußische Wappen mit der [118] Unterschrift „Königl. Thalamt“ entgegen. Ueber den schwarzen, schmutzigen Boden der Halle führen nur schmale gepflasterte Wege; ohne Ordnung ist hier und da ein Häuschen hingestellt, und schwerer Kohlenrauch wälzt sich, je nach der Richtung des Windes, wie graue Nebelwolken über die schwarzen Dächer, an den rothen Backsteinwänden und dem kohlschwarzen Boden hin. Steigt man die Treppe hinab, welche von der Brüstung ins „Thal“ führt, so betritt man einen Stadttheil, der in die Zeiten der Entstehung der Städte zurückversetzt. Denn ringsum liegen eine Menge schmutzig gelb oder grün angestrichener Häuschen mit zwei bis drei niedrigen Stockwerken, niedrigen Hausthüren, dunklen ungedielten Hausfluren und engen Höfen. Die Häuser liegen in allen Richtungen durcheinander, bilden eine Menge Gassen, „Schlupfen“ und „Säcke,“ daß an einzelnen Stellen eine beleibte Person nicht hindurch kann und selbst der Eingeborne Mühe hat, sich durch dieses Labyrinth der Gassen hindurch zu finden. Dies ist das uralte Halle und war lange Zeit hindurch ausschließlich von Halloren bewohnt.

Abseits von diesen hölzernen Häusern ziehen sich die Halle entlang von Osten nach Westen zwei lange Gebäude, von denen das südliche zwei hohe Schornsteine trägt, aus denen Tag und Nacht schwarze Rauchwolken emporwirbeln, während aus zwei niedrigen Schornsteinen der Dampf entweicht, denn in ihnen befinden sich „die Kothen.“ (Dieselbe Bestimmung hat das gegenüberliegende Gebäude, neben dessen Ostende das Thalamt liegt.) Unter dem vorspringenden Schieferdache der Kothen stehen oder sitzen auf hölzernen Bänken Männer mit eigenthümlicher Kleidung. Den runden Kopf mit den kurz geschorenen schwarzen Haaren bedeckt eine napfartige Kappe aus geflochtenem Stroh, die etwa 1½ Zoll hoch ist und sich nach oben ein wenig verengt. Die Jacke von buntem Kattun, seltner ein kurzer Rock, legt sich bequem um den Oberleib, die Weste, welche von oben bis unten dicht mit kugelartigen, zinnernen oder silbernen Knöpfen besetzt ist, reicht bis hinein in die Beinkleider von schwarzer Leinwand, die dicht unterm Knie festgebunden sind, so daß die wollenen Strümpfe zugleich festgehalten werden, und leichte Lederpantoffeln endlich bedecken die Füße.

Jene Männer mit der hohen breiten Stirn über den dunkelbraunen Augen, mit der an das griechische Profil erinnernden starken Nase, der stark entwickelten Unterkinnlade und dem brünetten Teint sind Halloren und gehören einem Volksstamme an, über dessen Einreihung in die europäischen Racen die Meinungen noch verschieden sind. Gewöhnlich hält man die Halloren für Nachkömmlinge der vor Karl dem Großen hier ansässigen Wenden; wenn man indessen die technischen Ausdrücke der Salzbereitung und den Namen „Hallore“ sprachlich zu erklären sucht, so giebt die keltische Sprache die genügendste Auskunft, da in jener Sprache z. B. Hallur so viel als Salzbereiter heißt, und die Ausdrücke „Halle, Saale, Thal“ u. s. w. auf einen keltischen Stamm zurückführen, welcher Salz bedeutet. Demgemäß müßte man die Halloren für eine uralte keltisihe Kolonie halten, die sich Jahrtausende inselartig in der germanischen Bevölkerung erhalten hat.

Dies ist um so wahrscheinlicher, als sich die Halloren zu einer bis in’s Kleinste geordneten Korporation abgeschlossen haben, nur unter sich zu heirathen pflegen und noch gegenwärtig viele Reste mittelalterlicher Lehnsverfassung besitzen, obschon gerade in neuester Zeit die Eigenthümlichkeiten zu verschwinden anfangen. Die Frauen haben bereits die uralten Trachten, den faltenreichen Rock, die pelzgefütterten, knopfreichen Spenzer und das kurze Faltenmäntelchen abgelegt, und die Männer haben auch nur die lange geblümte Weste ohne Kragen und mit silbernen Kugelknöpfen, das schmale weiße Halstuch ohne Knoten, die kurzen Manchesterhosen und bis an’s Knie reichenden blank gewichsten Stiefeln behalten, an denen man sie erkennt. Nur bei gewissen Gelegenheiten erscheinen sie in ihrer alterthümlichen Tracht. Denn die Halloren haben außer den Vorrechten des Schwimmunterrichts, des Angelns, des Lerchenstreichens und Vogelfangs, der Sauerkrautbereitung und der Sooleier, auch das, die Leichen nach dem Kirchhofe zu tragen. Wer die Seinigen anständig will begraben lassen, miethet dazu Halloren. Dann erscheinen sie in schwarzem pelzgefütterten Rock ohne Kragen und mit Faltenschößen, mit dem dreieckigen Hute, kurzen Sammethosen, schwarzen Strümpfen, Schnallenschuhen und schwarzem Faltenmantel, der oben eng und unten weit ist und einen niedrigen Kragen hat. Diese Kleider und das Leichentuch sind Eigenthum „der Brüderschaft“, wie sie ihre Korporation nennen, und auch der Ertrag ihrer monatlichen Beiträge fließt in die „Lade“, wie ihre Kasse heißt. Mit großer Gewandtheit wissen sie die Bahre mit dem Sarge zu handhaben und in dem wiegenden Trippelschritt, der nur langsam weiter kommt, wie es bei uns die Sitte verlangt, die vorgeschriebenen Straßen entlang zu tragen, indem die beiden Führer des Zuges, mit einer Citrone in der Hand, bedächtig voranschreiten, die übrigen Halloren neben oder hinter den Trägern gehen, um sie von Zeit zu Zeit abzulösen.

Die Halloren verdienen aber nicht blos ihres eigenthümlichen Aeußern wegen Interesse, sondern auch wegen ihrer uralten korporativen Verfassung, die bisweilen an Kommunismus streift und Elemente enthält, wie sie in den Theorien der Socialisten nicht selten aufgestellt sind. Die Soole oder „das Thalgut“ quillt aus vier Brunnen, die mit einem eichenen Bohlenverschlag ausgefüttert und etwa 30 Fuß tief sind. Die mannigfache Arbeit vom „Schöpfen“ der Soole bis zu deren Verladung auf den Frachtwagen ist bis in’s Kleinste getheilt und zwar so, daß die Arbeiterabtheilungen kleinere Korporationen bilden und staffelförmig vom untersten Dienst bis zum Meister steigen, welche das „Versieden“ zu besorgen haben, und „Salzwirker“ heißen, während die untern Abtheilungen früher nur „Bornknechte“ genannt wurden. Zwar sind auch hier Aenderungen eingetreten, da die Soole jetzt durch eine Dampfmaschine gehoben wird und die 112 alten Kothen, welche einzeln über die Halle zerstreut lagen, zu zwei großen Gebäuden vereinigt sind, aber dennoch ist die „Thalordnung“ aus dem Jahre 1482 noch in Geltung.

Die Soole war ursprünglich nur Eigenthum der Bürger der Stadt, doch mußten seit 841 kraft einer Schenkung Otto’s I. Zehnten an den Erzbischof von Magdeburg gegeben werden. Die Halloren waren nur die Salzwirker, die Kothen selbst gehörten verschiedenen Besitzern, den Pfännern oder Pfannherren oder Salzjunkern, welche, da der Ertrag ein reichlicher war, die Patrizier oder Stadtjunker im mittelalterlichen Halle bildeten. Wie in allen Städten des deutschen Mittelalters, so brachen auch in Halle oft blutige Streitigkeiten zwischen den Pfännern und Innungen aus, so daß sich die Erzbischöfe endlich einmischten, Halle durch List eroberten, die Moritzburg als Zwingburg erbauten, die Kothen an sich nahmen, einen Theil als Eigenthum behielten und das Uebrige als Lehen an die Pfänner zurückgaben. Als Magdeburg an Preußen kam, wurden jene erzbischöflichen Kothen königliches Eigenthum, zugleich aber ward die Belehnung als Form beibehalten, so daß die Halloren bis heute jene Korporationsrechte behalten haben, deren wir hernach ausführlicher gedenken werden.

Die vier Salzquellen oder Brunnen oder Borne geben nicht eine gleiche Quantität Soole, weshalb das Salzsieden nicht eine gleichmäßige Arbeit ist, deren Ordnung um so verwickelter wird, weil die Soolenbesitzer oder Pfänner nur nach einer gewissen Reihenfolge ihr Thalgut in die Kothen zum Versieden bringen dürfen, da Kothenbesitzer die Feuerstellen und Siedeapparate haben, aber keine Soole, die Pfänner dagegen Soole, aber keine Siedehäuser. Die Gemäße der Soolmenge haben eigenthümliche Benennungen; das größte Maaß heißt Stuhl, welcher vier Quart enthält, von denen jedes wieder vierzehn Pfannen hat, die Pfanne wieder fünf Zober und der Zober acht Eimer oder zwölf gewöhnliche Kannen. In den Pfannen, d. h. viereckigen, flachen eisernen Gefäßen, wird die Soole gesotten, indem durch starkes Feuer unter ihnen das Wasser verdunstet und das Salz in Krystallen niederschlägt.

Die Soole aus den Quellen bis in die Pfannen zu schaffen, war die Arbeit der Bornknechte, die wieder verschiedene Abtheilungen bildeten, die sich in „Schichten“ theilten, da sie sich nach gewissen Stunden ablös’ten. Die Haspler drehten die Winde, an denen die Eimer hinab und herauf im Salzbrunnen gingen, und die Radtreter hatten dabei das Rad an dem Ziehbrunnen zu treten, während die Stürzer den heraufgewundenen Schöpfeimer faßten und die Soole in den Trog oder Kahn schütteten, aus welchem die 2½ Centner schweren Zober gefüllt wurden, welche die Träger auf der Schulter behend nach den Kothen trugen, nachdem der Zapfer am Kahn den Zapfen zum Auslaufen der Soole in den Zober aufgestoßen und wieder eingesteckt hatte. Damit der Träger einen sichern Gang hatte, mußte der Stegeschaufler den Bretterweg in gutem Stande erhalten, der Rufer aber in den Kothen die Zahl der eingetragenen Zober anmelden und der Spulzieher die Gossen in Ordnung halten, in denen die Unreinigkeiten aus den Kothen in die nahe Saale flossen. Jetzt wird die Soole durch eine Dampfmaschine mitten in der Halle gehoben und in die Kothen geleitet.

[119] In den Kothen beginnt nun die Arbeit der Sogger oder Salzwirker, die eine ungeheure Hitze auszuhalten haben, weshalb sie halb nackt gehen, da sie nur eine enganliegende schwarze Leinwandweste ohne Aermel und Leinwandhosen tragen, die bis an’s Knie reichen. Da stehen die Kohlenschütter und Schürer mit langen Eisenstangen vor dem gewaltigen langen Feuerherd, da tragen die Einen Braunkohlen zu, Andere beaufsichtigen die Versiedung, scharren die Salzkrystalle zusammen, scheiden das schwarze Salz, welches zur Viehfütterung dient, von dem reinen, und schaffen es auf die Dörrstuben (Trockenkammern), in denen eine Temperatur herrscht, daß einem der Athem vergeht. Die Stopfer endlich füllen das Salz beim Verkauf in Säcke oder Tonnen und die Lader verwahren die Säcke auf dem Wagen, auf dem sie abgeholt werden. Da vor Zeiten diese Arbeiter statt des Lohnes einen bestimmten Antheil Soole erhielten, die sie auf ihre Rechnung versotten, so hießen sie Gerenntner. Gegenwärtig erhalten sie indeß einen bestimmten Lohn in baarem Gelde. Wer in die Brüderschaft eintreten will, wird zuerst gelegentlicher Stellvertreter und heißt Riemen- oder Zipfelläufer; dann wird er „Unterläufer“, indem er von einem Gerenntner für immer als Stellvertreter gedungen wird, und nun erst kann er in die „Brüderschaft“ eintreten, indem er nach und nach die verschiedenen Arbeiterklassen durchmacht.

Als Beamte über diesen Arbeitern standen die Unterbornmeister oder Gabenherren, welche darauf zu sehen haben, daß die vorgeschriebene Quantität Soole in die Pfannen geschüttet wird, und die Oigker, welche sie hierbei unterstützen und ein Auge auf die Siedeordnung haben, woher ihr Name stammen soll. Ueber ihnen standen die Bornmeister, der Bornschreiber, der Beutelherr, der den „Thalverschlag“ (Salzrechnung) führt und der Salzgraf, welcher das Ganze zu leiten und in gesetzlicher Ordnung zu erhalten hat. Er ist zugleich mit den Uebrigen die Gerichtsbehörde und nennt sein Bureau das Thalamt, und seine Polizei den Thalvoigt.

Der Salzgraf vertritt des Königs Stelle, hat bei gewissen Gelegenheiten „Frieden zu wirken“ und mit dem Thalgut zu belehnen, was früher auch unter großer Feierlichkeit geschah. Die Lehnsbücher bestehen aus Blättern von Lindenholz, die mit Wachs überzogen und von einem Ahornrahmen eingefaßt sind. Von ihnen giebt es drei Exemplare; das eine liegt auf dem Thalamt, das andere auf dem Rathhause, und das dritte im Thurme der Marienkirche. War ein Lehen erledigt, so versammelten sich die Thalbeamten beim Magistrat auf dem Rathhause, nahmen dem neu eintretenden Pfänner den Lehnseid ab, trugen seinen Namen in die Lehnsbücher ein und begleiteten in Prozession das Kirchenexemplar an den heiligen Ort zurück.

Die Thalordnung schreibt nicht nur die Ordnung der Arbeit bis auf die Handgriffe und Stellungen dabei vor, sondern verlangt auch sittlichen Lebenswandel, Religiosität und Treue gegen den Lehnsherrn. In der That stehen auch die Halloren in dem wohlverdienten Rufe der Ehrlichkeit und Rechtschaffenheit, da sie unter sich keinen Mann von schlechtem Wandel dulden und ein Vergehen unter ihnen wohl kaum im Jahrhundert einmal vorkommt. Eine treue Anhänglichkeit an das Königshaus haben sie von alten Zeiten her bewahrt und dieser Patriotismus ist mit Recht ihr Stolz. Es wurde nicht nur alltäglich vor Beginn der Schichtarbeit von der großen hölzernen Tafel vom Rufer oder einem Andern das vorgeschriebene Gebet vorgelesen, sondern am Tage vor Weihnachten und zu Pfingsten erscheint der Salzgraf feierlich mit seinen Beamten vor der versammelten Brüderschaft, um Frieden zu wirken, indem er die Versammelten zu einem rechtschaffenen Wandel ermahnt, das Raufen, Zanken, Unverträglichkeit u. s. w. verbietet, ein zufriedenes, ehrsames Familienleben einschärft, vorgefallene Unordnungen rügt und zur Besserung auffordert.

Die Thalordnung verlangt ferner, daß die Halloren bei Wasser- und Feuersnoth Hülfe leisten sollen, und da die meisten Halloren gute Schwimmer und Taucher, dabei von edler Nächstenliebe erfüllt sind, so sieht man sie bei ausbrechendem Feuer gewiß zuerst am Platze und beim Löschen am gefährlichsten Orte. Behend klettern sie über Dächer, steigen auf hohe Giebel, und sind unermüdlich im Helfen. Nicht minder bereit sind sie, ihr Leben zu wagen, wenn Jemand in’s Wasser gestürzt ist, so daß sie auch in dieser Hinsicht sich ein ehrenvolles Vertrauen erworben haben.

Da die Halloren bei ihrer Arbeitsordnung freie Stunden und Tage und trotz ihrer schweren Arbeit im Allgemeinen nur ein schmales Einkommen haben, so sind ihnen nicht nur besondere Beschäftigungen als Privilegien verliehen, sondern sie haben auch unter sich Vorkehrungen getroffen, um sich auch für Nothfall zu schützen. Von ihren Gerennten wird ein Theil als Kranken-, Wittwen- und Pensionsfond zurückgelegt und außerdem fließt ein Theil ihrer außerordentlichen Beiträge in die Lade der Brüderschaft, von welcher dann gewisse gemeinsame Ausgaben bestritten werden. Wenn der Hallore seinen freien Tag hat, dann nimmt er das große Vogelnetz, geht hinaus auf’s Feld, schlägt es dort auf, indem er die beiden Flügel desselben am Boden ausbreitet und mit lose angebundenen Vögeln besetzt, sich selbst aber in einiger Entfernung niedersetzt. So wie Staare und Lerchen dicht über das Netz hinfliegen oder sich niedersetzen, zieht der Hallore an der Zugleine, im Nu fliegen die beiden Netzflügel in die Höhe, klappen zusammen und halten den flatternden Vogel gefangen. Jüngere Leute sammeln sich des Abends im Spätsommer zum „Lerchenstreichen“ vor den Thoren, wo sie lange dünne Stangen stehen haben, mit denen sie stundenweit auf’s Feld wandern. Denn zwischen je zwei Stangen spannen sie ein großes Netz aus, tragen es über dem Boden hin, um in ihnen die aus dem Schlaf aufgescheuchten Feldsänger zu fangen, die als „Leipziger Lerchen“ wohl bekannt sind. Noch Andere angeln oder fangen im Wald Stieglitze, Finken, Drosseln u. s. w., obschon das Vogelfangen jetzt weniger betrieben wird als früher.

Die Halloren erfreuen sich endlich noch besonderer Vorrechte und Feste, die aus alten Zeiten stammen. Alljährlich senden sie zu Neujahr eine Deputation von drei Halloren an den König, indem sie ihm zum Neujahr in einem Gedicht gratuliren, und ihm dabei, wenn er bei Tische sitzt, eine Wurst, Sooleier in eine Salzpyramide gefüllt überreichen, wie sie ihm auch die ersten Lerchen als Lehensgabe darbringen. Der Eine überreicht die Gratulation, der Zweite die Geschenke und der Dritte schwenkt dabei die Fahne, was aber abgekommen ist. Zum Dank werden sie im Schlosse gespeis’t. Dafür haben sie aber auch den Vorzug, daß sie jedem König nach der Thronbesteigung in feierlichem Aufzuge besonders huldigen, zu welchem Zwecke ihnen der König ein Pferd, um den Salzbrunnen nach alter Sitte zu umreiten und eine Fahne schenken muß, und daß sie alle zwei Jahre einen festlichen Aufzug und Pfingstbier halten. Da geht es denn recht festlich zu, denn sie erscheinen bei diesen Gelegenheiten in ihrem bunten Staate, mit einer Reihe Fahnen und eigenthümlicher Trommelmusik. Ein solcher Aufzug ist für Halle ein besonderes Fest, denn eine uralte, fast verschollene Vergangenheit erscheint wieder lebendig in ihrer Herrlichkeit und ihrem frischen Volksleben.

Lange schon haben die Halloren gespart, um die Kosten des Pfingstbieres zu erübrigen, zu denen das Thalamt durch den Beutelherrn (Rendanten) einen guten Beitrag zuschießt, und die Anzüge des Hauptmanns und Fahnenträgers gemustert, welche als Gemeingut in einem besondern Lokal aufbewahrt werden, wie denn auch die Silberknöpfe und kostbaren Brautkränze in der Familie von Geschlecht auf Geschlecht erben. Ist der Morgen des dritten Pfingsttages angebrochen, so wirbelt im Thale die volltönende Trommel und ruft die ganze Brüderschaft, auf dem Sammelplatze zu erscheinen. Da kommen sie denn in uraltem Schmuck, in pelzgefütterten Röcken, deren Tuch roth, grün, hellblau, schwarz aussieht, wie denn auch auf den Dreimastern bei den Obermeistern bunte Federn schwanken, während bei Andern der Hut oben mit rothen Federn eingefaßt ist. Wie blitzen da die Silberknöpfe an den seidenen Westen und die Silberschnallen an Schuhen und Kniehosen, und wie sauber schimmern die weißen Schuhe, blauen Schärpen, blauen Kniebänder und Federn der Fahnenträger und Vorsteher! Bald sind Alle beisammen und ziehen nach dem Thale, wo die Fahne geschwenkt wird, wobei der Fahnenträger seine·Gewandtheit und Kraft zeigt, und die Trommler in langen Wirbeln, im Abnehmen und Anschwellen des Tones große Geschicklichkeit beweisen. Hierauf bringt man die Bruderlade, worin die Kostbarkeiten der Brüderschaft aufbewahrt werden, aus der Moritzkirche in das Wirthshaus, wo das Pfingstbier abgehalten wird. Nun wird der Salzgraf mit seinen Beamten abgeholt, damit er unter der Maie auf dem Hofe des Pfingstbierhauses Frieden wirke und die vier gewählten Vorsteher der Bruderschaft bestätige, sowie auch die zwölf Scheidemeister, welche Streitigkeiten entscheiden. Diese vier Vorsteher führen dem Salzgrafen und Bornschreiber die beiden Kranzjungfern [120] zu, welche mit sehr faltenreichen, hellblauseidenen Röcken, einem blauseidenen Mieder bekleidet sind. Eine vier Ellen lange schwere Silberkette dient dem Mieder zum Zuschnüren, eine andere gleiche Kette hängt in Quasten und Büscheln als Schmuck hier und da am Mieder; während eine goldene Kette sich um den Hals schlingt und ein breiter Silbergürtel als Leibbinde die Taille umfaßt. Auf dem Kopfe schimmert eine vergoldete Krone aus Gewürznägelein und ist durch zwei silberne Ketten auf dem Kopfe festgehalten. Dieser Schmuck, der für jede Kranzjungfer über 100 Thlr. beträgt, befindet sich theils im Besitz der Brüderschaft, theils einzelner Hallorenfamilien, welche ihn zum Feste leihen, mit denen jene einen eigenthümlichen Tanz machen, nachdem sie von den Frauen der Vorsteher mit Blumenkränzen beschenkt sind. Nach dem Tanze geht der Salzgraf mit dem Bornschreiber und den Vorstehern in’s Festlokal, um ein wenig zu essen, während um die Maie der Tanz beginnt, der sich aber bald in den Gasthof zurückzieht, wo der Jubel, das Tanzen und Trinken zwei Tage währt. Vorher wird aber der Salzgraf von den Vorstehern nach Hause geleitet, wohin bereits sein Ehrengeschenk, Kuchen, ein Kranz aus Würznelken und ein Glas Bier von den Frauen geschickt ist.

Nicht minder malerisch ist der Aufzug bei der Huldigung, wie wir ihn 1842 sahen. In buntem Zuge mit klingender Musik, Trommelwirbel, wehenden Fahnen, von denen einige nur noch einige Seidenfetzen haben, bewaffnet und in hellfarbigen Kleidern bewegte sieh der Zug durch die engen Straßen über den Markt nach dem Salzbrunnen im Thale. Voran schritt der Bruderbote, welchem ein Musikcorps, der Hauptmann mit vier Vorstehern und zwei Deputirten, ein Trommelschläger und ein Offizier von dem Ausschuß folgten. Dann erschien auf dem geschenkten Roß der älteste Hallore, vor dem der Schildträger herging, wogegen zwei Schildknappen und acht Schwertträger mit ritterlichen Flammbergen hinter ihm herschritten. Nun kamen welche mit Untergewehr, Fahnen, Trommler, Musik und Offiziere in kriegerischer Haltung, denen sich die andern Halloren in bunten Röcken und die jüngeren Halloren mit Flinte und Säbel anschlossen, bis der letzte Offizier den Zug schloß. Unten aber am Salzbrunnen hielt der Reiter die hergebrachte Huldigungsrede: „Im Namen Gottes und aus Gottes Gnaden Sr. königl. Majestät von Preußen, Friedrich Wilhelm IV., unserm allergnädigsten Landesvater, huldigt die sämmtliche Salzwirkerbruderschaft und zeiget an, daß Se. königl. Majestät über unsern Salzbrunnen im Thale Herr sei; die sämmtliche Salzwirkerbruderschaft dankt Sr. königl. Majestät ganz unterthänigst für das ertheilte große Gnadengeschenk an Pferd und Fahne, und wünscht, daß Se. königl. Majestät und unsere vielgeliebte Landesmutter durch Gottes Gnade bei Gesundheit und langem Leben erhalten werde. Vivat, Vivat! Lebe lange, großer König, sei beglückt! So lange die Soolbrunnen fließen, so lange stehe Dein Thron und Haus; kommt ihr Brüder all zusammen, ruft mit mir ein Vivat aus! Es lebe unser vielgeliebter König und sein ganzes Haus!“

Die Poesie des Hallorenthums ist jetzt sehr im Abnehmen. Früher redete der Hallore Jedermann mit „Du“ oder „Schwager“ an und hielt er sich besonders gern zu den Studenten, denen er in Nöthen, bei Schlägereien und Trinkgelagen, getreulich beistand und sich daher von jedem Fuchs ein Willkommen ausbat; früher sagte er in seinem breiten Dialekt:

Hann mer hüte Water un Holt,
Hann mer morne Silber un Gold.

Früher sangen die Hallorenfrauen zum Rumpeltopfsumzug an Weihnachten alte Lieder, und war der Hallore bemittelt. Jetzt sind die Meisten arm; ihre Korporation fängt an sich zu lösen, da aus und in dieselbe geheirathet wird; die Verwaltung der Salinen, besonders der königlichen jenseits der Saale, wohin vom Thale aus durch lange Röhren ein gewisses Quantum Soole muß geliefert werden, sucht die Bearbeitung der Soole einträglicher zu machen, führt Maschinen und andere Neuerungen ein, nimmt auch Nichthalloren als Tagelöhner an, und drückt das Salzsieden in die Alltagsprosa einer Maschinenarbeit herab.




Die Geschichte der Erde.

Geschichte der Erde? wird vielleicht mancher unsrer Leser staunend fragen, indem er den Titel unsers Aufsatzes erblickt. Kann man auch eine Geschichte der Erde schreiben? Wo sind die Geschichtsbücher, in denen die Schicksale unsres Erdballs verzeichnet stehen? – Sogleich, antwortet die heutige Wissenschaft auf diese Fragen, werde ich Dir, mein lieber Ungläubiger, diese Bücher zeigen, welche zwar nicht auf Papier, auch nicht auf Pergament, aber um so dauernder und unverwüstlicher auf Stein und Felsen, auf Berge und Thäler geschrieben stehen. Diese Bücher erzählen uns bis in’s Einzelnste herab, was seit Millionen und aber Millionen Jahren auf dem kleinen Sterne geschehen ist, den wir jetzt im unermeßlichen Weltall bewohnen, und dieses nicht selten genauer und zuverlässiger, als uns die Geschichte der Menschen bekannt ist, welche vielleicht nur wenige Jahrhunderte vor uns gelebt haben. Ein solches Resultat ist allerdings staunenswerth, und beweist·hinlänglich für die Größe des menschlichen Geistes und für die Größe des Jahrhunderts, in welchem wir leben. Die Geschichte der Erde ist eine neue Wissenschaft und vielleicht eines der herrlichsten und großartigsten Wissensgebiete, welche der menschliche Geist umfaßt. Wer hätte es noch vor hundert Jahren für möglich halten können, daß man heute im Stande sein würde, eine Geschichte der Erde zu schreiben! Daß man Kenntnisse und Aufschlüsse der sichersten Art über Dinge gewinnen würde, die für immer mit dem Schleier eines undurchdringlichen Geheimnisses bedeckt schienen!

Was sind die sechstausend Jahre, welche die Menschen- und Völkergeschichte umfaßt, im Vergleich zu den endlosen Zeitspannen, von denen die Geschichte der Erde zu reden hat! Diese merkwürdige, Geist und Phantasie erhebende Wissenschaft führt uns in Zeiten und Regionen ein, da noch nichts von dem vorhanden war, was uns heute umgiebt und da der Mensch, diese Krone der Schöpfung, noch lange nicht zum Dasein erwacht war. Was kann Wissenswürdigeres gedacht werden, als eine solche Kenntniß, welche der Formen von Zeit und Raum beinahe zu spotten und uns über unsere irdische Mangelhaftigkeit und Beschränktheit zu erheben scheint? Und sollte man es für möglich halten dürfen, daß heutzutage noch gebildete Menschen existiren, welche von der Geschichte der Erde so viel wie Nichts wissen! Welche nicht wissen, wie alt die Erde und aus was sie entstanden ist! Welche nicht wissen, daß da, wo sie heute vielleicht zwischen Schnee und Eis ihren Weg suchen, einst prachtvolle Palmenwälder standen, in denen ungeheure Elephantenheerden und Riesenhirsche weideten! Welche endlich vielleicht keine Ahnung davon haben, daß sie selbst nur auf die dünnen Schaalen eines ungeheuren, nie verlöschenden, aus tausend Schloten emporrauchenden Feuerherdes ihre gebrechliche Existenz aufgebaut haben!

Genug hiervon! Wer auch nur die dürftigsten Andeutungen über dieses Thema vernommen hat und nicht ein ganzer Philister an Kopf und Herz ist, wird von der Begierde ergriffen werden, die Grundzüge dieser jüngern und interessanten Wissenschaft kennen zu lernen, und sich über Dinge zu unterrichten, deren Kenntniß beinahe aus einer überirdischen Welt zu stammen scheint. Dabei wird er sich überzeugen, daß diese Kenntniß, so erhaben und imponirend sie auch auf den ersten Anblick erscheint, doch nur auf den einfachsten und natürlichsten Wegen gewonnen wurde. Der hauptsächlichste und vornehmste dieser Wege besteht in der Kenntniß der sog. Versteinerungen, von denen ohne Zweifel jeder unserer Leser schon gehört oder gelesen hat.

Die Versteinerungen sind in Stein verwandelte Ueberreste oder Abdrücke organischer Wesen, welche einst die Erde bewohnt haben und nun aus dem Schooße derselben, in dem sie vergraben liegen, hervorgeholt werden, um unwiderlegliches Zeugniß für das einstmalige Dasein organischer Welten abzulegen. Es mag eigenthümlich und bezeichnend für das Wesen des menschlichen Geistes erscheinen, daß es so langer Zeit bedurfte, bis man daran dachte, diese merkwürdigen Naturfunde als das zu erkennen, was sie wirklich sind, d. h. als die wirklichen Reste großartiger untergegangener Pflanzen- und Thierschöpfungen. Bis vor nicht allzu langer Zeit hielt man die Versteinerungen, deren Dasein natürlich nicht [121] lange verborgen bleiben konnte, für nichts weiter, als für sogen. Naturspiele, und dachte, die Natur habe sich darin gefallen, in dem Schooß der Erde und der Felsen gewissermaßen Zerrbilder der lebenden Wesen niederzulegen. So lange dieser Glaube herrschte, konnte natürlich von einer wissenschaftlichen Erkenntniß der Erdentwicklung nicht die Rede sein.

Selbst jetzt noch kommt es dem Laien, der diese merkwürdigen und zahllosen Reste und Zeugen untergegangener Welten nicht aus eigener Anschauung kennen gelernt hat, wunderbar, ja mitunter unbegreiflich vor, wie man so weitgreifende Schlüsse in Bezug auf die Geschichte der Erde aus ihnen hat ziehen können. Gewiß aber schwinden diese Zweifel Demjenigen, der auch nur einmal Gelegenheit hatte, sich mit eigenen Augen von dem massenhaften Dasein jener untrüglichen Dokumente der Erdgeschichte zu überzeugen. Mit der Erkenntniß der Versteinerungen als solcher hat die Naturforschung einen ihrer riesenhaftesten Fortschritte gemacht, einen Fortschritt, dem nur die allerbedeutendsten Phasen der wissenschaftlichen Entwicklung des Menschengeschlechtes an die Seite gesetzt werden können. Die Versteinerungen sind für den Naturforscher das Nämliche, was Münzen, Geräthe, Statuen u. dergl. für den Geschichts- und Alterthumsforscher sind, und beide ziehen aus diesen Resten die gleichen, für jedes ihrer Wissensgebiete untrüglichen Schlüsse. Daher hat man auch mit vollem Rechte die Versteinerungen die Denkmünzen der Erde genannt. Derjenige muß kein Herz für Großes haben, der diese ehrwürdigen, uralten Zeugen verlorener Welten ohne innere Bewegung oder doch ohne ein Gefühl des lebhaftesten Interesses anzusehen im Stande ist!

Die Geschichte der Erde, obgleich unmessbare Zeiträume umfassend, ist doch in ihren Hauptzügen eine einfache und nicht schwer zu enträthselnde, sobald die Grundbedingungen bekannt sind, durch welche sie erzeugt und geleitet wird. Diese Grundbedingungen ruhen in zwei gewaltigen Naturkräften, deren Aeußerungen wir tagtäglich unter unsern Augen im Kleinen zu beobachten Gelegenheit haben —— den Kräften des Feuers und des Wassers. Seitdem die Erde als Einzelwesen besteht, kämpfen diese beiden furchtbaren Gewalten um ihren Besitz und ihre Herrschaft, und ihre ganze Geschichte ist nichts weiter, als die Erzählung der einzelnen Ereignisse dieses unaufhörlichen Streites: In diesem Kampfe ist das Wasser das immerwährend zerstörende und niederlegende, das Feuer das immerwährend schaffende und aufbauende Prinzip. Besäße das Wasser die alleinige Herrschaft der Erde, es würde zuverlässig nach und nach alle Unebenheiten der Erdoberfläche vernichten und ausgleichen und dieselbe überall in ein ungeheures, zehntausend Fuß tiefes Meer verwandeln.

Keine noch so hohen Berge oder noch so festen Felsen würden im Stande sein, seiner vernichtenden, innerhalb ungeheurer Zeiträume wirkenden Gewalt einen dauernden Widerstand entgegenzusetzen. Aber was das Wasser zerstört und zu Boden legt, richtet das Feuer mit leichter Mühe und um so höher und mächtiger wieder auf. Immerwährend quellen aus dem flüssigen glühenden Erdinnern Berge, Inseln und Länder auf, welche das Wasser in seine bestimmten Grenzen zurückweisen. Dieser glühende Erdboden oder das s. g. Centralfeuer verdankt seine Entstehung der allerfrühesten Bildungsperiode der Erde. Wie alle Weltkörper verdichtete sich dieselbe zu ihrer jetzigen Gestalt und Größe aus einer ungeheuren Nebel- und Dunstmasse und erzeugte bei dieser Verdichtung einen solchen Grad von Wärme, welcher alle ihre Bestandtheile in eine feuerflüssige Masse zu verwandeln im Stande war. Heute noch kennen wir keinen Bestandtheil der Erdrinde, der nicht auch auf künstliche Weise und durch Menschenhände vermittelst hoher Hitzgrade in einen flüssigen Zustand gebracht werden könnte. Nachdem sich die oberste Decke jener Glutkugel durch Ausstrahlung in den kalten Weltraum erkältet hatte und so zu einer festen Rinde um den flüssigen Kern geworden war, schlug sich die umgebende Wasserdunstmasse theilweise als Wasser auf derselben nieder, und mit diesem Moment beginnt jener ewige Kampf zwischen den Mächten der Ober- und denen der Unterwelt um den Besitz der beide von einander trennenden Erdrinde. Indem sich die erste Erstarrungskruste in Folge eines allgemeinen Gesetzes, dem alle erkältenden Körper folgen, fortwährend über ihrem flüssigen Inhalt zusammenzieht, der außer Stande ist, diesem Drucke nachzugehen, kann es nicht anders sein, als daß zahlreiche Spalten, Risse, Zerklüftungen in derselben entstehen, durch welche jener Inhalt theils zu Tage tritt, theils die über ihm gelegenen Erd- und Gesteinsschichten zerreißt, verändert, empor- und durcheinanderwirft, überfluthet u. s. w. Währenddessen ist das Wasser unaufhörlich beschäftigt, alle jene durch die Bewegung des Erdinnern entstandenen Hervorragungen und Erhabenheiten sogleich wieder aufzulösen, abzuflachen und die aufgelösten Theile an tiefer gelegenen Stellen wieder zu Boden fallen zu lassen. Auf diese Weise entstehen die s.g. Erdschichten, deren wir eine große Anzahl über einanderliegender kennen und welche sich alle innerhalb ungeheurer Zeiträume aus dem Wasser abgesetzt haben. Ihre Ruhe wurde und wird fortwährend gestört durch die unaufhörliche Reaktion des Erdinnern gegen seine Oberfläche, welche wir soeben beschrieben haben; sie werden emporgehoben, durch- und übereinandergestürzt, bei Seite gedrängt u. s. w. Auf diese Weise entstehen Berge und Thäler, Seeen und Meere, Inseln und Continente. Was Jahrtausende unter den Wogen des Meeres begraben lag, wird morgen als majestätischer Bergrücken zu den Wolken emporgehoben, und ehemalige Länder und Berge versinken für immer in eine Tiefe, in welche kein sterbliches Auge dringt.

Diese Erhärtungskruste der Erde, an welcher fortwährend so mächtige Kräfte zerstören und aufbauen und welche dem menschlichen Geschlechte als alleiniger Aufenthaltsort angewiesen ist, ist natürlich im ewigen Lauf der Zeiten durch Abkühlung und andere Umstände immer dichter und mächtiger geworden — eine Mächtigkeit, welche indessen im Vergleich zu der Dicke der Erde selbst immer noch so gering ist, daß man dieses Verhältniß mit dem Größen-Verhältniß verglichen hat, welches die Schaale einer Citrone zu deren Innerem darbietet. Mit einem Gefühl von Schauder erkennen wir demnach, daß Alles, was lebt, auf dem dünnen Mantel eines ungeheuren, nie verlöschenden Feuerherdes wandelt, und daß die alte Redensart „Fest wie der Erde Grund“ vor dem Auge der Wissenschaft heute zu einer Illusion geworden ist. Die Vulkane, die Erdbeben und die heißen Quellen dienen uns heute noch als untrügliche Zeugen und Beweise für das Dasein des Centralfeuers, welches zwar noch kein Menschenauge gesehen, aber der Menschengeist mit vollkommner Sicherheit erschlossen hat. Mit Unrecht fühlen wir uns aus langjähriger Gewohnheit sicher und ohne Furcht auf dieser zerbrechlichen Erdschaale. Die Erdbeben, welche unzweifelhaft ihren Ursprung aus dem tiefen und beweglichen Erdinnern nahmen und sich nicht selten über ein Zehntel oder ein Dreizehntel der ganzen Erdoberfläche auf einmal erstrecken, können ganze Städte in einem Nu versinken machen oder durch das Meer hinwegspülen lassen. Nicht selten öffnen sich mit Einemmale während solcher Erdbeben die Weichen des ungeheuren Glutballs in großer Ausdehnung und lassen Spalten entstehen, welche Feuer, Asche und glühende Massen ausspeien — so auf Guadeloupe im Jahre 1843, wo auf einmal 6000 Menschen durch ein solches Ereigniß umkamen.

Viele, welche mit den Thatsachen und Resultaten der geologischen Wissenschaften nur theilweise oder oberflächlich vertraut sind, können sich nicht von der falschen Vorstellung los machen, das Werk der Erdgestaltung sei für alle Zeiten vollendet, und wir stünden heute an dem letzten Abschnitt jener gewaltigen Erdrevolutionen, deren Erzeugnisse jetzt nur noch wie Denkmäler des Vergangenen vor unsern Augen lägen. Diese Ansicht ist eine ganz irrige. Die Erdoberfläche befindet sich in einer ewigen und andauernden Wandlung und ist in jeder Minute eine andere. Das ganze Werk der Erdgestaltung, die ganze Geschichte der Erde sind nichts mehr und nichts weniger, als die Wirkung und das Resultat derselben Naturkräfte und derselben Naturereignisse, welche noch heute und immerwährend unter unsern Augen an der Erdoberfläche thätig sind. Dieses Resultat scheint uns auf den ersten Anblick nur darum außer Verhältniß zu seinen Ursachen zu stehen, weil wir nicht sogleich an die Unermeßlichkeit jener Zeiträume denken, welche die Erde bedurft hat, um nach und nach bis auf ihre heutige Entwicklungsstufe zu gelangen. Diese Zeiträume sind fast endlos zu nennen, und die geologischen Wissenschaften lassen nicht den geringsten Zweifel darüber, daß während derselben niemals andere Kräfte an dem Bau der Erdrinde gewirkt haben, als heute noch an demselben wirken. Nur darüber besteht ein noch andauernder wissenschaftlicher Streit, ob anzunehmen sei, daß jene endgestaltenden Kräfte in vorweltlicher Zeit im Verhältniß zu heute stärker wirkende gewesen seien, oder ob nach dem Vorgange des berühmten englischen Geologen Lyell nicht einmal eine solche Vorstellungsweise zu gestatten, sondern anzunehmen sei, daß jene [122] Kräfte niemals in anderer Weise oder auch nur mit größerer Machtentfaltung an dem Bau der Erdrinde gewirkt hätten, als sie noch heute an demselben wirken. Der Raum verbietet uns, auf das Nähere dieser interessanten und wichtigen Frage hier weiter einzugehen. Wer sie genauer kennen lernen will, wer überhaupt wissen will, auf welche Weise sich die Erde und die sie bevölkernde organische Welt durch ungeheuere Zeiträume hindurch nach und nach und stufenweise zu ihrer heutigen Gestalt und Vollkommenheit entwickelt haben, der muß sich in der zahlreichen und vortrefflichen Literatur über diesen Gegenstand einen Lehrer und Wegweiser suchen. Dieses ist um so leichter, als die Wissenschaft von den Entwicklungsverhältnissen der Erde in ähnlicher Weise wie die Astronomie eine solche ist, welche in ihren hauptsächlichsten Umrissen und Resultaten von jedem Gebildeten leicht begriffen werden kann. Unter den populären Bearbeitungen der Erdgeschichte, welche in den letzten Jahren in Deutschland erschienen sind, wüßten wir keine, welche wir mit besserem Gewissen unsern Lesern empfehlen könnten, als die Schrift von Roßmäßler: Geschichte der Erde, eine Darstellung für gebildete Leser und Leserinnen, Frankfurt, bei Meidinger, 1856. Roßmäßler, bekanntlich einer unserer beliebtesten und angesehensten Schriftsteller im Gebiete populärer Naturwissenschaft, hat mit diesem seinem neuesten Werk abermals ein Zeugniß für seine vorzügliche Befähigung in Behandlung dieser schwierigsten Art wissenschaftlicher Darstellung abgelegt. Niemand wird das Buch ohne ein Gefühl von innerer Befriedigung und zugleich von Bewunderung für die Forschungskraft des menschlichen Geistes aus der Hand legen. Wer in seinem Innern noch Zweifel darüber hegt, ob auch Alles, was uns die Geologen über die Vergangenheit und die Gegenwart unserer Erde versichern, auf unumstößlicher Gewißheit beruhe, wird diese Zweifel vor der klaren und überzeugenden Sprache dieses Buches und vor den darin ausgeführten sprechenden Thatsachen und Beweisen schwinden sehen. Der gewissenhafte Verfasser hält sich in seiner Darstellung nur an Thatsachen und vermeidet mit Recht jede Art unbegründeter Hypothese oder Schöpfungsgrübelei. Zahlreiche vorzügliche Abbildungen des auch sonst schön ausgestatteten Buches kommen überall dem Verständniß, welches ohne dieselben nur ein halbes sein würde, auf’s Glücklichste zu Hülfe und lassen den Leser hinter seinem Pulte ohne Mühe eine Reise durch alle Phasen und Wunder der Geschichte der Urwelt machen.

Was wir übrigens als einen ganz besondern und eigenthümlichen Vorzug dieses Buches, der dasselbe vor allen ähnlichen auszeichnet, hervorheben müssen, das ist die Anordnung seines Inhaltes in der Weise, daß die Darstellung nicht mit der Vergangenheit, sondern mit der Gegenwart der Erdgeschichte anhebt. Diese neue und gewiß praktische Idee des ausgezeichneten Verfassers findet ihren natürlichen Grund in dem, was wir bereits weiter oben über den Charakter der endgestaltenden Kräfte darzulegen Gelegenheit fanden. Diese Kräfte sind niemals und zu keinen Zeiten andere gewesen, als solche, welche noch heute und unter unsern Augen an der Gestaltung der Erdoberfläche arbeiten. Was die Gegenwart bewegt, bewegt auch die Vergangenheit, und indem wir die erstere kennen lernen, wird uns die letztere ihren inneren Motiven nach beinahe von selbst klar. Indem uns Roßmäßler das Jetzt kennen lehrt, bereitet er uns auf’s Trefflichste vor, das Einst und Sonst der Erdzustände mit Leichtigkeit begreifen und verstehen zu lernen. Indessen mögen wir an dieser Stelle die Bemerkung nicht unterlassen, daß es uns scheint, als führe dem Verfasser sein Streben, die Vergangenheit durch die Gegenwart zu erklären, etwas allzu weit auf die Seite derjenigen, welche annehmen, die Naturkräfte hätten auch in der Vorwelt niemals mit größerer Intensität gewirkt, als heute, da es doch hinlängliche natürliche Erklärungsgründe für die entgegengesetzte Annahme giebt. Auch über die bisher ziemlich allgemein gültige Theorie von der allerersten Entstehung der Erdkugel wie der Weltkörper überhaupt scheint uns Roßmäßler etwas zu sehr zweifelnden oder negirenden Ansichten zu huldigen. Für diese Theorie sprechen so viele unabweisbare Thatsachen der Astronomie und Geologie, daß dieselbe gewiß als etwas mehr denn als eine „durch und durch in der Luft schwebende Hypothese und deßwegen ohne alle Bedeutung“ betrachtet werden darf.

Mag dies übrigens sein wie es wolle, der Leser des Roßmäßler´schen Buches kann sicher sein, daß er darin nur Wahrheit und Wissenschaft in eleganter und allgemeinverständlicher Darstellung, findet, und er wird dasselbe mit Recht weit allen jenen, leider nur zu oft auf den Unverstand oder die Neugierde des Publikums berechneten Machwerken von unbekannten Verfassern vorziehen, sollten dieselben auch in Blättern und Zeitungen drei- und vierfach energischer und häufiger annoncirt und angepriesen werden.
L. B.–r. 




Eine Mahlzeit bei den Esquimaux.

Die Theile der Erdoberfläche, welche sich nach dem Nordpol hin um das große Polarmeer lagern und von größerem Flächeninhalt sind, als ganz Europa, bilden jenseits des arktischen Cirkels (zwischen dem 60sten und 70sten Grade nördlicher Breite) eine erhabene Wüste der entsetzlichsten Art. Innerhalb dieses Kreises ist Alles verschlossenes Prachtschloß des ewigen Winters. Tausende und aber Tausende von Meilen baum- und pflanzenlos ohne den bescheidensten Keim eines Gräschens, hier voller himmelstürmender Alpen ewigen Eises, dort ewige, schneeblendende frostgebundene Ebene, durch welche das Renn- und Elennthier jagen, und über welche die uralte Sonne sechs Monate lang, ohne einmal unterzugehen, hinstreift, ohne die Diamantburgen ewigen Eises nur zu erweichen, über welchen dann eine sechs Monate lange Nacht liegt, die oben im Himmel mit den feurigen, wilden Heeren der Nordlichter spielt, ohne daß von diesen elektrischen Feuermassen, welche die härtesten Metalle schmelzen, nur ein Atom von Wärme heruntersteigt. Die eine Hälfte dieses Cirkels auf der amerikanischen Seite, Jahrhunderte lang Kampfplatz der Expeditionen zur Entdeckung eines Seeweges nach den asiatischen und amerikanischen Gestaden jenseits unserer Halbkugel, hat unlängst den Triumph der Entdecker dieser „Nordwestpassage“ gesehen und kurz darauf die Passage und den ganzen Kampf mit furchtbar tragischem Effekt auf ewig geschlossen. Die letzte Scene war eine arktische Eiswüste mit den verstümmelten starren Gebeinen Franklin’s und seiner 158 Helden, die nach langem Kampfe mit Kälte und Hunger sich zum Theil gegenseitig selbst aufgegessen hatten, ehe sie vollends verhungerten und erfroren. Wenigstens fielen die Berichte der Esquimaux über die letzten Schicksale der Franklinianer in diesem Sinne aus. Was auch nähere Untersuchungen, die man jetzt anstellt, ergeben, der 1527 begonnene und 1854 geschlossene Kampf um die Nordwestpassage ist und bleibt durch ewige Eislabyrinthe und die darin einbalsamirten Franklin-Leichen geschlossen. In der Mitte dieser Scene erhebt sieh zugleich das Denkmal des französischen Lieutenants Bellot, der auf einer der letzten englischen Expeditionen, während er mit dem Fernrohre durch die Eismauern zu dringen suchte, plötzlich von dem arktischen Meere verschlungen ward: eine neun Fuß hohe Steinsäule mit einem Erdglobus auf der Spitze und verschiedenen Inschriftem welche es zu einem Denkmale der arktischen Expeditionen überhaupt machen. Am Fuße der Säule steht: Post-Office (Post-Büreau) und darüber ist ein Briefkasten angebracht, in welchem Jeder, der von der Beechy-Insel nach Europa schreiben will, seinen Brief stecken kann, vorausgesetzt, daß sich dort Korrespondenten und Leute finden, die Briefe zu besorgen. Dieser englische Briefkasten hat etwas Lächerliches, wie denn die ganze Säule, insofern sie über den Zweck, ein Monument für Bellot zu sein, hinausgeht, zugleich als das Denkmal der Beschränktheit und Hartnäckigkeit der englischen Admiralität gelten kann. Der Weg von England aus durch die Eis- und Kanallabyrinthe des arktischen Meeres auf der amerikanischen Seite nach der Behringsstraße ist nicht nur von vorn herein ein Hunderte von Meilen langer Umweg um Grönland herum, sondern erwies sich auch, noch ehe man acht Millionen Thaler für Expeditionen dahin verschwendet, als ein unmöglicher, auch vorausgesetzt, daß man durch gebrochene Eismassen die Passage wirklich fände, wie denn auch die jetzt wirklich entdeckte sofort als ganz nutzlos proklamirt ward. Der Weg auf der asiatischen Seite an Sibirien bildet von London aus nach der Behringsstraße fast eine gerade Linie durch lauter offenes Meer hin, welches im Juni vollkommen eisfrei ist, [123] da es jedes Jahr von den gigantischen Strömen Sibiriens aufgerissen und vom warmen Golfstrome sowohl fortgetrieben als aufgelös’t wird.

Der berühmte Geograph A. Petermann bewies dies der Admiralität in einer besondern Broschüre aus den bisherigen Expeditionen auf dieser Seite und durch mathematisch sichere Wissenschaft der Wärmevertheilung auf der Erde und zeichnete ihnen die gerade Linie außerdem noch mit brennendem Roth in eine beigegebene Karte und daneben die krumme, die in ewige Kanal- und Eislabyrinthe auslief. Alles vergebens. Man kann sagen, daß bei der englischen Admiralität selbst das Sprüchwort: „mit der Nase drauf drücken,“ zu Schanden ward. Es ist dieselbe Admiralität, welcher Charles Napier einmal vorwarf, daß sie schon bei einer Fahrt die Themse herunter seekrank würde, dieselbe Admiralität, welche bei den Wahlen auf dem Lande das meiste Geld für Bestechungen ausgiebt, und neuerdings die Flotten im baltischen und schwarzen Meere aus „Diplomatie“, Nachlässigkeit und Unwissenheit theils in Lächerlichkeit, theils in Stürmen, theils in Unthätigkeit verkommen ließ.

Sehen wir uns nach etwas Lebendigem in dem ungeheuern todten Cirkel ewigen Eises um. Wir finden schneeweiße Thiere mit kostbaren Pelzen und gelbbraune, geräucherte, fettglänzende, kleine, listige, lügnerische, tückische Menschen, in einzelne, schneebedeckte, rauchende Haufen verkrochen. Zwar zeigen sie viel Unterschiede, selbst racische, denn während einzelne Lappen kaum die Größe eines Kindes von drei Jahren erreichen, findet man Samojeden, die es an Größe und Kraft mit jedem „Weißen“ aufnehmen. Und die Esquimaux, welche hauptsächlich Zeugen der arktischen Expeditionen waren, übertreffen an List und Diebischkeit die geschultesten londoner Uebertreter des siebenten Gebots. Im Uebrigen sind sie ganz frei von Civilisation. Vom Lesen, Schreiben, Regiertwerden, Steuernzahlen, Kirchen, Kerkern und sonstigen Phasen höherer Kultur wissen sie nichts. Sie jagen und fischen nach Fleisch und Fett, um damit dem eingeathmeten Sauerstoff Brennmaterial zu liefern und sich auf diese Weise selbst einzuheizen. Nach Liebig besteht das Athmen und Verdauen in Heizung des menschlichen Körpers. Je kälter es ist, desto mehr heizen wir unsere Oefen und uns selbst. Der Magen ist nur der Ofen in uns. Die Kälte macht Appetit, d. h. die Natur fordert uns auf, Kohlenstoff und Wasserstoff (welche die Verdauung aus Fleisch, Fett und Oel bereitet) in den Magen zu schaffen, damit sie der eingeathmete Sauerstoff in Kohlensäure und Wasser verwandeln, und dadurch die thierische Wärme erzeugen könne. Diese Verwandlung ist genau dasselbe, was mit dem brennenden Holze im Ofen vor sich geht, nur nicht mit Flammenentwickelung und nicht so rasch.

Wir können uns daher nicht wundern, daß die Menschen jenseits des arktischen Cirkels bei gegen 40 Grad Kälte ganz anders einheizen, als wir. Ein braver, gesunder Mann bewältigt dort auf einmal einen Seehund und schlingt bei festlichen Gelegenheiten ein Pfund Talglichte hinterher oder gießt eine gute Kanne Fischthran oder sonstiges Oel in das Feuer seines Verbrennungs-Verdauungsprozesses. Doch um hier genau zu sein, lassen wir einen Engländer der arktischen Expedition, der bei einem Tusken (einer Sorte von Esquimaux) zu Tische eingeladen war, diese Mahlzeit selbst schildern.

„Der erste Gang bestand in einem großen Klumpen zusammengefrorner, frisch aus dem Wasser gezogener Fische. Um unsern Wirth nicht zu beleidigen, hieben wir uns auch Jeder ein Stück Eisfisch ab, aber sie waren uns wirklich zu frisch. Frisch aus dem Wasser, ungesalzen, ungekocht, unausgenommen, reine Natur und dabei noch in Eis verwandelt, das wie Glas zwischen den kauenden Zähnen der Gierigen splitterte und knirschte! — Der nächste Gang bestand aus einem großen Haufen grünlicher Masse, die zwei Mann auf einem schmutzigen Brette hereintrugen. Die ganze Familie griff gierig hinein und stopfte sich den Mund damit, hinter jeder Hand voll ein Quadrat Wallfischspeck herschiebend, welchen die Dame des Hauses zu diesem Zweck geschnitten hatte. Dieses Grünfutter oder „Gemüse“ schmeckte gar nicht übel, obgleich es weiter nichts war, als die noch nicht wiedergekäute Moosmasse aus dem Magen eines zu unseren Ehren geschlachteten Rennthiers. Die Wallfischquadrate, natürlich auch roh und geeis’t, statt gesalzen, waren uns so viereckig, daß wir kein einziges vertilgen konnten, so wiederholt wir auch eingeladen wurden. Mit ironischem Lächeln über unsern Mangel an Geschmack sah man uns zu, wie wir versuchten, ohne einen einzigen Sieg zu feiern. Nachdem diese „Schüssel“ geleert war, fuhr die Dame des Hauses mit schmutziger, knochiger Hand über das schmutzige Brett, denn sie hielt sehr auf „Reinlichkeit,“ und nachdem sie dieselbe ganz in den Mund gesteckt und auch diese auf diese naive Weise „gereinigt“ hatte, wurden gekochte Stücke Seehund und Walroß auf das Brett geworfen. Das Fleisch erschien uns zwar viel geeigneter zu starken Sohlen für Jagdstiefeln, aber es war doch etwas „Warmes“ und wir hatten längst unsere englischen Ansprüche aufgeben gelernt, so daß wir mit zulangten und unsern civilisirten Zähnen Heldenthaten der Urwelt zumutheten, worüber sich die ganze Familie sehr freute. Demnächst kam eine kohlschwarze, ebenholzartige Masse zum Vorschein, die uns anfangs selbst für die schärfsten Sägen oder Messer unverdaulich erschien, uns aber hernach nur desto mehr überraschte. Es war Wallfisch, den die Dame, welche die Honneurs machte, sehr geschickt in kleine Würfel zerschnitt, die dann von Jedem nach Belieben in den Mund hineingewürfelt wurden. Des Anstandes wegen versuchte ich’s auch. Wie überraschte mich aber der hübsche cacaonußartige, angenehme Geschmack dieser Delikatesse, die eigentlich nicht aus Fleisch, sondern aus der dicken Haut des Wallfisches bestand. Es folgte eine sehr geringe Quantität gekochtes Rennthierfleisch, dann Wallfischgaumen, welcher die Zucker- und Mandel-Näschereien unserer Nachtische vertrat. Die Tusken nennen ihn ihren Zucker, und ich muß gestehen, daß wenn ich an der reichsten Tafel die Wahl zwischen Wallfischgaumen und Konditorwaaren hätte, ich ersteren stets vorziehen würde. Schlecht gerechnet, hatte während dieses Mahles Jeder etwa 5—6 Pfund Fleisch und Fett oder vielmehr Fett mit etwas Fleisch als Brennmaterial in seinen innern Verdauungsofen hineingeschoben. Und das war bei dieser Temperatur gar nicht zu viel auf 6—8 Stunden. Auch darf man dort in Bezug auf die Zubereitung des Brennmaterials nicht zu wählerisch sein: es giebt keine besondere Auswahl und was die Natur bietet, reicht nur eben hin, wenn man sie aufzusuchen weiß. Ohne die thranigen, öligen, fetten Thiere und das Renn- und Elennthier besonders würde sich keine Lebensflamme dort erhalten können.“




Blätter und Blüthen.

Ein Volksgericht in Graubünden. Das heutige Bündnerland züngelt an zwei Orten in die Lombardei hinein, nämlich in Puschlav und im Bergell. Es ist, als sollte in diesen kleinen Thälern am südlichen Fuße der Alpen den Bündnern noch eine Erinnerung an die alte Zeit bewahrt bleiben, da ihre Vögte im Prachtgarten von Cläven geherrscht und an den lachenden Ufern der Adda sich bereichert haben. Sowohl im unteren Bergell als im Brusaskerthal, der Fortsetzung des Puschlaverthals, bewundert der Wanderer südlichen Pflanzenwuchs und wird von milden italienischen Lüften angeweht. Nicht nur der Kastanien- und Feigenbaum, sondern auch Sprache, Gesichtszüge, Haare, Kleidung und mancherlei Sitten und Gebräuche der Einwohner sagen ihm, daß er sich an der Schwelle Italiens befinde. Am Ende des wunderschönen Puschlaversee’s steht das Dörfchen Meschino, welches, wie sein Name andeutet, ziemlich armselig aussieht. Von da stürzt der Poschiavino schäumend und tosend durch ein enges, sich rasch absenkendes Thal in die Adda hinunter. In diesem Thale liegen die zerstreuten Häusergruppen und zwei Kirchen der paritätischem Gemeinde Brusio, welche der Schauplatz unserer Erzählung ist.

Mannigfaltigkeit, Größe und Gegensatz ist im Allgemeinen der unterscheidende Charakter der Landschaften der Schweiz. Das gilt im Besondern auch vom Thale am südlichen Fuße des Bernina. Die Riesengestalten der Hochgebirge streben weit über die Wolken empor, oft zwei- bis dreifach über einander hervorblickend, und zu oberst erglänzen die weißen Eismassen, welche im Strahle der Morgen- und Abendsonne wie vergoldet aussehen. Am Fuße dieser Gebirge sammelt der Landmann auf seinen Aeckern zwei Ernten im Jahre, mäht dreimal seine Wiesen und ißt drei Monate fast täglich Kastanien von seinen Bäumen. Nicht nur an erhabenen Naturscenen, auch an geschichtlichen Erinnerungen ist die vom Poschiavino durchströmte Landschaft sehr reich. Wie oft zogen in älterer Zeit Kriegsschaaren von den wilden Höhen des Bernina durch dieses Thal in die zahmen Gefilde der Lombardei hinunter! Wie viel erzählen noch jetzt davon die Väter ihren Kindern und Enkeln! Im gegenwärtigen Jahrhundert ist die Stille des Thales noch nie durch Kriegsgetümmel, um so öfter dagegen durch schreckliche Naturereignisse unterbrochen worden.

Die Felsen sind nämlich vorherrschend von grauem Schiefer und Kalk, verwittern daher rasch, lösen sich in größere und kleinere Steine auf und [124] füllen die Schluchten an. Wenn dann ein Gewitter durch das Gebirge zieht und seine Fluten ausströmt, donnern die angehäuften Felstrümmer unter dem Namen von Rüfen in die Thaltiefe hinunter und verwandeln in wenig Minuten blühende Wiesenfluren und wogende Saatfelder in Schuttflächen, in welchen der betrübte Blick des Landmanns umsonst ein grünes Plätzchen sucht. Nicht nur durch Rüfen, auch durch Schneelawinen werden die Bewohner der rhätischen Thäler oft in Schrecken gesetzt. Die Lawinen reißen sich von den höchsten Firnen der Berge los, stürzen mit entsetzlichem Krachen und Tosen über die Halden herab, werden immer größer und größer, schießen immer schneller, tosen und krachen immer fürchterlicher, jagen die Luft so vor sich durcheinander, daß im Sturme, ehe sie ankommen, ganze Wälder zusammenstürzen und Gebäude wie Spreu davon fliegen. Neben der Straße am Puschlaversee steht auf einem Stein ein eisernes Kreuz. Daselbst fanden vor nicht gar viel Jahren fünf Männer von Brusio in einer Lawine ihr Grab. Drei davon waren leibliche Brüder; die andern zwei waren Schwäger. Ein ähnliches Unglück ereignete sich zu Anfang des gegenwärtigen Jahrhunderts in Brusio selbst am Fuße der östlichen Gebirgskette. Daselbst wird der Blick des Reisenden, welcher Sinn für Naturschönheiten hat, von einem prächtigen Staubbache gefesselt. Es ist, als wenn das Wasser, welches über den Rand einer Felswand wegstürzt, in Staubwolken aufgelöst würde. Unten sammeln sich die aufgelösten Dünste dann wieder und bilden einen Bach, der murmelnd in mannigfachen Windungen dahinfließt, und von den fleißigen Einwohnern zur künstlichen Bewässerung ihrer Wiesen benutzt wird. Zur Winterszeit stürzt über die genannte Felswand statt des Wassers bisweilen eine Schneelawine herunter. Denn wenn auch im tiefen Thale der Boden selten mehrere Wochen nach einander mit Schnee bedeckt bleibt, so lagern auf den Höhen des Gebirges gewöhnlich große Schneemassen, die, wenn Thauwetter eintritt, oft als Lawinen in das Thal stürzen.

Nicht weit vom schönen Wasserfall wohnte vor ungefähr fünfzig Jahren in einem isolirten Hause ein gewisser Paul mit seiner zahlreichen Familie. Das enge Thal ist stark bevölkert. Die meisten Haushaltungen besitzen daher wenig Grundstücke. Paul konnte also mit den Erzeugnissen des Bodens nicht Weib und Kinder, deren er fast ein Dutzend hatte, ernähren, so einfach auch ihre Kost und Kleidung war, und so sorgfältig auch Aecker und Wiesen bebaut wurden. Um sich den nothwendigen Nebenverdienst zu verschaffen, führte der treubesorgte Hausvater, gleich andern Thalgenossen, im Winter mit einem Pferde gewürzigen veltliner Wein, der schon dem Kaiser Augustus so trefflich mundete und noch jetzt allenthalben Liebhaber findet, auf die Höhe des Bernina, von wo er von den Engadinern abgeholt wurde.

„Gott begleite und behüte Dich vor Lawinen und andern Gefahren,“ sagte eines Morgens die liebende Gattin zu Paul, als er einspannte, um in Gesellschaft anderer Fuhrleute veltliner Produkte nach dem Norden zu führen. — „Nehmt Euch in Acht, lieber Vater, daß Euch kein Unfall zustoße,“ fügten die ältern Kinder hinzu.

„Gott bewahre auch Euch vor Unglück,“ sagte Paul, indem er mit einem Peitschenknalle das Zeichen zur Abfahrt gab.

Es wehte ein lauer Wind. Obschon er von Norden kam, wurde er Föhn genannt. Die Winde brechen sich nämlich in den Bergen Graubündens oft dermaßen, daß in manchem Thale zuweilen der Südwind von Norden kommt und umgekehrt der Nordwind von Süden.

Während Rosina — so hieß Paul’s Gattin — in der kleinen Wohnstube am Fenster selbstgepflanzten Flachs spann, und in Gedanken nicht ohne Besorgniß ihren Gatten auf die Berghöhen begleitete, drang plötzlich ein starkes Tosen zu ihren Ohren. Sie blickte unwillkürlich zum Wasserfall empor. In demselben Augenblick stürzte eine Lawine über die Felswand herunter. Die Schneemasse war aber nicht groß und breitete sich unten nur wenig aus. Die Neugierigen, welche da und dort an den Fenstern erschienen waren, zogen sich daher wieder zurück und setzten ihre Arbeiten fort, ohne sich weiter um die kleine Lawine zu bekümmern. Die häusliche Rosina ging aber ein paar Stunden nachher zum Felsen, um nachzusehen, ob die Lawine kein Holz mit sich geführt habe. Sie wollte durch Sammlung desselben ihrem Manne einen Gang in den fernen Wald ersparen. Zwei halberwachsene Töchterlein begleiteten die Mutter. Auch das Haushündlein ging mit. Es waren noch nicht viele Tannenäste zusammengelegt, als ein gewaltiges Krachen die Luft erfüllte. Es ist nicht mehr Zeit zum Fliehen. Eine furchtbare Schneemasse stürzt von der Höhe und thürmt sich am Fuße des Felsens auf. Rosina, beide Mädchen und das Hündlein sind verschwunden.

Der augenscheinlichen Gefahr zum Trotze eilen die Nachbaren mit Schaufeln herbei; allein die bald hereinbrechende Nacht gestattet nicht lange Nachsuchungen. Paul vernimmt am folgenden Tage auf dem Heimwege schon in Puschlav die Trauerbotschaft. Fast außer sich, langt er in Brusio an, weint bitterlich mit seinen Kindern und vielen andern theilnehmenden Personen. Tage und Wochen lang suchte man vergeblich mit großen Anstrengungen die Tiefverschütteten. Der betrübte Gatte und Vater ließ nach dem Glauben seiner Kirche für sie viele Seelenmessen lesen. Sowohl dafür, als für die Nachgrabungen gab er viel Geld aus. Es kam der Frühling; Berg und Thal grünten und tausend Blümchen blühten neben dem Schneehügel am Fuß der Felswand. Es kam auch der Sommer; das Heu wurde gemäht und der Roggen geschnitten und der Buchweizen gesäet, - und noch immer ruhten Rosina und ihre zwei Kinder in ungeweihter Erde unter der Schneemasse, welche auch der italienischen Julisonne trotzte. Paul fühlte sich in der Mitte seiner Kinderschaar hülflos und gehindert, dem Verdienste nachzugehen, und dachte deshalb bereits an eine andere Gehülfin, die um ihn wäre. Schon war ein starkes Mädchen ausfindig gemacht, das sich nicht ungeneigt zeigte, mit dem Wittwer zum Traualtar zu gehen. Beide waren jedoch der Meinung, mit der Hochzeit warten zu müssen, bis Rosina auf dem Gottesacker neben der Kirche ein Ruheplätzchen gefunden hätte. Die Leute des ganzen Thales, sagten sie, würden sonst bis an’s Ende der Welt von uns sprechen und unsere Kinder und Kindeskinder bis in’s dritte und vierte Geschlecht müßten sich unserer schämen.

Eines Tages erglühten Felsen und Steine von der Augustsonne. Der Lawinenhügel hatte schon seit etlichen Tagen sichtbar abgenommen. Da ging Paul wieder hinauf und entdeckte — ich möchte fast sagen mit freudigem Entsetzen — eine Hand. Es war diejenige seiner Gattin. Er ruft Nachbarn zu Hülfe und nach kurzem Suchen werden auch die Töchterlein nicht weit von der Mutter und mitten zwischen ihnen das Hündlein gefunden. Am folgenden Tage bewegt sich ein langer, langer Leichenzug durch die Wiesen hinunter zum Friedhofe.

Paul glaubte nun, der öffentlichen Meinung das schuldige Opfer dargebracht zu haben und schritt schon zwei Tage nachher zum ehelichen Versprechen mit dem erwähnten Mädchen. Deshalb machten ihm Rosina’s Verwandten bittere Vorwürfe und bald konnte er keinen Schritt im Thale thun, ohne Tadel oder Spott zu hören. Ueberall war der Wittwer Gegenstand des Tagesgespräches. Paul meinte aber, wer A gesagt habe, müsse auch B sagen, und ließ sein eheliches Versprechen alsobald öffentlich in der Kirche verkünden, woran ihn kein Landesgesetz hinderte. Er hoffte, daß die Geschichte mit zwei oder drei Katzenmusiken, die jeder Wittwer, der zur zweiten Ehe schreitet, nach der Sitte des Thales sich gefallen lassen muß, enden werde. Er täuschte sich jedoch. Die beleidigte Volksmajestät — also kann die öffentliche Meinung genannt werden — ist nicht so leicht auszusöhnen. Am Tage der kirchlichen Einsegnung mußte sich das Brautpaar durch dichte Schaaren neugieriger Zuschauer hindurch arbeiten, aus denen mancher Pfeil des Spottes auf sie abgeschossen wurde, bis das Gotteshaus sie in Schutz nahm. Schon am Abend vorher hatten sich die Jünglinge aller Höfe und Weiler vom See bis an die lombardische Grenze unter dem Vorsitze eines Hagestolzen versammelt und einmüthig beschlossen, dem Paul zur Strafe dafür, daß er auf unerhörte Weise schnell das Trauerkleid mit dem Hochzeitsgewand vertauscht habe, ein ganzes Jahr lang jeden Abend eine Katzenmusik aufzuführen. Kaum hatte aber das Ave Maria- Glöcklein den fleißigen Landleuten Feierabend verkündet, als da und dort im Thale Töne eines Horns gehört wurden. Es war das verabredete Zeichen, auf dem Sammelplatze sich einzufinden. Die Jünglinge hätten nicht mit größerer Eile aus den zerstreuten Hütten zusammen laufen können, wenn es die Vertheidiguug des Vaterlandes gegen einen eindringenden Feind gegolten hätte. Eine wackere Schaar, worunter auch etwelche Knaben und verheirathete Männer sich befanden, stand vor einem Wirthshause, auf die Befehle des Hagestolzen harrend, welcher ein gewaltiges Horn, wie der Stier von Uri, in der rechten Hand hielt. Die meisten Anwesenden hatten große und kleine Viehschellen um den Hals gehängt, zwei waren mit alten Trommeln, einer mit einer Trompete, ein anderer mit einer alten Baßgeige versehen. Manche hatten eiserne Schaufeln oder Pfannen in der einen und Hämmer in der andern Hand, und die Hörner der Hirten waren alle in Anspruch genommen.

Mit Ungeduld warteten Frauen und Töchter an den Fenstern auf den seltenen Ohrenschmaus. Nun setzte sich der Zug mit einem wahren Höllenlärm in Bewegung. Es wurde nicht nur getrommelt, geblasen, geschellt und gepfiffen; man ahmte auch die Stimmen der Esel, Ochsen, Kühe, Ziegen, Schafe, Hunde, Katzen und anderer Thiere nach. Erst nachdem der wilde Haufen bis lange nach Mitternacht sich um Paul’s Wohnung herum müde und heiser gelärmt hatte, wurde es im Thale wieder stiller. Als das Ehepaar schon mehrere Abende nach einander in der ersten und zweiten Flitterwoche auf solche Weise in seiner Ruhe gestört worden war, wurde ein Versuch gemacht, den Präsidenten des Volkstribunals, den mehrgenannten Hagestolzen, durch ein Geschenk von zwei Dukaten zu bestechen. Es gelang nicht. Deshalb begab sich Paul, von seiner jungen Frau angestachelt, zum ersten Gemeindevorsteher, um ihn auf einen Gesetzesartikel, der solchen Scandal verbiete, aufmerksam zu machen. „Die Sitte ist stärker, als das Gesetz“, gab dieser zur Antwort. Wo das Gesetz ohnmächtig ist, ist Selbsthülfe erlaubt, dachte das handfeste junge Eheweib, und prügelte mit wahrem Amazonenmuth am nächsten Abende zwei Jünglinge nach Herzenslust, die nach dem Abzuge der übrigen in der Nähe ihres Hauses zurück geblieben waren. Nun wurde beiderseits beim Amtspodesta von Puschlav geklagt. Dieser machte sich auch nicht gerne bei dem jungen Volke, das an Wahltagen ein nicht kleines Gewicht in die Wagschale legt, verhaßt; allein die Aussicht, einige Thaler zu erhaschen, bestimmte ihn doch, in der Abenddämmerung zwei Gerichtsdiener nach Brusio zu schicken mit dem Befehle, sobald der Scandal wieder anginge, mit Laternen aus irgend einem Versteck hervorzuspringen und alle Uebertreter des Gesetzes, die sie erkennen, aufzuzeichnen. Die Waibel gehorchten willig, da auch ihnen etwas von den Geldbußen zu Theil wurde. An einer klug gewählten Stelle, wo die Flucht nicht so leicht war, wurde die lärmende Schaar von den Männern mit dem rothen Kragen am Rocke, an denen Niemand wagte, sich zu vergreifen, überfallen. Fünfzehn Jünglinge, die beim Laternenschein erkannt wurden, mußten die gesetzliche Buße, jeder einen Thaler, bezahlen. Der größere Theil daran gehörte dem Podesta, welcher dann viele Jahre lang an den Wahltagen von den jungen Männern in Brusio keine Stimme mehr erhielt. Die Katzenmusiken hörten indessen noch nicht auf. Die jungen Leute, besonders die fünfzehn abgestraften Burschen, lärmten noch viele Nächte, bis es den Geistlichen und andern einflußreichen Personen gelang, das außerordentliche Strafgericht aufzulösen und den nächtlichen Ruhestörungen ein Ende zu machen.


Aus der Fremde“ Nr. 9 enthält:

Der Schuß in’s Auge. Von W. E. — Die Kondhen und ihr Land. Nach einem Originalbriefe aus Cussipanga von A. von Cloßmann. Südamerikanische Reisebilder. (Schluß.) — Aus allen Reichen: Ein Engländer als Malaien-Fürst. — Von einer Eisenbahnfahrt im Westen. —

Verlag von Ernst Keil in Leipzig. - Druck von Alexander Wiede in Leipzig.