Die Gartenlaube (1856)/Heft 2
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No. 2. | 1856. |
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Die Natur hatte Ludwig mit dem großen Vorzuge eines angenehmen Aeußern beschenkt; seine heitere, ruhige Stirn, der Schnitt seines ausdrucksvollen Gesichts und seine ungekünstelten, edeln Bewegungen hatten in dem Herrn von Heiligenstein, den eine schmerzliche Erinnerung an die Familie Nienstedt fesselte, ein persönliches Interesse für ihn erweckt. Und Ludwig mußte den Mann mit dem ehrlichen Gesichte und dem offenen Wesen lieb gewinnen, zumal da sich ihm noch keiner so vertraulich genähert hatte. Der junge Mann stand einsam in der Gesellschaft, die er im zarten Jünglingsalter verlassen hatte, es traten ihm unbekannte Gesichter, andere Menschen entgegen.
„Sie haben Ihr Heimathland in glücklichen Verhältnissen wieder betreten,“ begann Herr von Heiligenstein theilnehmend.
„Ja, mein Herr, und diese Verhältnisse machen mich um so glücklicher, da ich sie mir und keinem Andern zu verdanken habe.“
„So nehmen Sie die Versicherung, Herr Baron, daß ich mich Ihres Glückes innig freue.“
Ludwig reichte ihm die Hand.
„Und nehmen Sie dafür den Dank meines erfreuten Herzens. Ich darf wohl mit Recht die Vermuthung hegen, daß meine rasche und heimliche Entfernung zu mancherlei Annahmen Veranlassung gegeben?“ fragte Ludwig, indem er seinen Gesellschafter schmerzlich lächelnd ansah.
„Gewiß, Herr Baron, Annahmen, die nur Ihren jugendlichen Leichtsinn tadelten, weil er Ihren alten, guten Aeltern einen tiefen Kummer bereitete. Sie waren der einzige und letzte männliche Erbe der Familie Nienstedt, die, wenn sie auch mit zeitlichen Glücksgütern nur karg gesegnet war, dennoch eines Rufes sich erfreute, der sie den ersten Adelsfamilien Deutschlands beigesellte. Ich war der Freund Ihres Vaters, und oft hat er mir sein bekümmertes Herz eröffnet. Ihre Entfernung zerstörte ihm den Plan, den er mühsam erdacht und eingeleitet, um seiner Familie die frühere Geltung wieder zu verschaffen. Ich weiß nicht, ob er Ihnen je eine Andeutung davon gegeben hat –“
„Nie, nie!“ sagte Ludwig eifrig. „Sie wissen es, mein Herr – und wenn ich Sie nun bitte, mir jetzt diese Andeutung zu geben – –“
„Ich halte es selbst für meine Pflicht, Herr Baron, Ihnen Alles mitzutheilen, was mir über diesen Punkt bekannt ist. Vielleicht gelingt es mir, zur Verwirklichung des Planes, den Ihr verstorbener Vater entworfen, etwas beizutragen.“
„O, reden Sie, reden Sie, mein Herr!“
„Zuvor aber gestatten Sie mir eine Frage, welche ich aus Gründen voranschicken muß, die ihnen bald einleuchten werden. Sind Sie verheirathet, Herr Baron?“
„Nein!“
„Sie haben auch sonst kein Versprechen gegeben, das Sie bindet?“
„Eben so wenig, mein Herr!“ antwortete Ludwig ein wenig verlegen.
Dem Fragenden entging diese Verlegenheit nicht.
„Verzeihung,“ sagte er lächelnd, „wenn ich indiscret erscheine; aber der Drang, Ihrer Familie zu nützen, die mir theuer ist –“
„O, ich bitte, mein Herr, fahren Sie fort!“ sagte Ludwig, den die Neugierde verzehrte.
„Ihr Vater also hatte den Plan gefaßt, Sie in Ihrem zwanzigsten Jahre zu verheirathen, und zwar mit der Tochter eines Hauses, das fähig war, zur glänzenden Fortpflanzung Ihres Namens Alles beizutragen. Es waren alter Adel und ein großes Vermögen vorhanden. Die Einleitungen waren dem Abschlusse nahe gediehen, als Sie verschwanden, und einen Brief zurückließen, der wenig Beruhigendes hatte, da er weder den Zweck noch das Ziel Ihrer Abreise anzeigte. Zwei Tage nach diesem Ereignisse betrat ich das Schloß Nienstedt. Ihr Vater war trostlos, und mit Thränen in den Augen bekannte er mir, daß die Hoffnung, den Rest seiner Tage ruhig zu verleben, zerstört sei. Noch mehr: später theilte er mir mit, daß er seinem Ruine nicht vorbeugen könne, da Sie ihm das einzige Mittel dazu entzogen hätten. Herr Baron, ich verhehle es nicht, daß ich, der ich nur ein kleines Vermögen besitze, auf eine Morgengabe von Adelheid’s Hand gerechnet hatte. Diese Enttäuschung aber hielt mich nicht ab, mich mit meiner Geliebten öffentlich zu verloben, und Ihrem Vater die kleinen Summen zur Verfügung zu stellen, deren er zur Deckung der dringendsten Schulden bedurfte. Wir stellten inzwischen Nachforschungen nach Ihnen an, und erhielten die Gewißheit, daß Sie in Hamburg zu Schiffe gegangen seien, um Europa für immer zu verlassen. Umsonst fragten wir nach dem Grunde, umsonst forschten wir in Göttingen, wo Sie den Brief geschrieben, der Ihre Abreise angekündigt – Sie studirten Cameral-Wissenschaft – weder eine Person noch irgend ein Umstand vermochte das seltsame Räthsel zu erklären. Man gab überall Ihrem ehrbaren und ruhigen Charakter das beste Zeugniß, Gram und Leid warfen Ihren Vater auf ein langes Krankenbett. Zwei traurige Jahre verflossen, und es war wohl natürlich, daß Adelheid nicht an ihre Verbindung denken konnte, sie war ja die einzige Stütze, die einzige Pflegerin des alten gebeugten [18] Mannes. Der alte Herr von Nienstedt starb; seine Freunde und Standesgenossen bedauerten ihn, aber es war keinem eingefallen, ihm zu helfen. Nun fielen die Gläubiger über den Nachlaß her, man ließ verkaufen, was vorhanden war, und Adelheid flüchtete sich zu der Gräfin v. B., um nur ein Unterkommen zu finden, da ich leider außer Stande war, ihr ein solches zu bieten. Die Aufregungen der Krankenpflege und die gewaltigen Gemüthserschütterungen warfen sie auf das Krankenbett – sie starb am Nervenfieber. Die Behörden erließen Aufrufe an den letzten der Herren von Nienstedt; sie blieben eben so erfolglos, als unsere frühern Nachforschungen. Man hielt die Familie von Nienstedt für ausgestorben. Seit dieser Zeit sind Jahre verflossen, und Sie können sich mein Erstaunen denken, als ich diesen Abend von dem Obersten von Eppstein höre, der junge Baron Ludwig von Nienstedt befinde sich unter den Gästen.“
„Ich danke Ihnen, mein Herr, für die warme Theilnahme an dem Geschicke meiner Familie!“ sagte Ludwig gerührt. „Und nicht wahr, ich darf hoffen, daß Sie die Freundschaft, die Sie für meinen Vater und meine Schwester gehegt, auf mich übertragen werden? O, ich verstehe die Frage, die in Ihren Blicken liegt: fürchten Sie nicht, daß Sie sich einem leichtsinnigen Abenteurer anschließen – ich kannte die bedrängte Lage meines Vaters, ich wußte, daß sein Gut überschuldet war, und aus diesem Grunde schloß ich mich einer Expedition nach Indien an, wozu mir damals gerade Gelegenheit geboten ward. Aus Furcht, daß man mich hindern würde, diesen kühnen, abenteuerlichen Schritt auszuführen, reiste ich heimlich, unter Zurücklassung eins Briefes, ab. Ich war damals achtzehn Jahre alt, hatte den Kopf voll großartiger Ideen und kühner Unternehmungen, die Vorurtheile, die ein armer Edelmann in dem lieben deutschen Vaterlande gegen sich hatte, verschmähete ich zu bekämpfen, und es kam mir lästig, selbst lächerlich vor, auf einen Stammbaum, und nur auf einen Stammbaum meine Carriere zu gründen. Alles ist Vorurtheil in der Welt, sagte ich mir; nur das Geld, nur der Mammon nicht. In glänzenden Karossen, in prachtvollen Schlössern hat der Geburtsadel einen Werth – ein armer Edelmann, der sich nur mit seinem Stammbaume bläht, dachte ich, ist eine lächerliche Erscheinung. Ich sah die furchtbaren Leiden meines Vaters, ja, mein Herr, ich kannte den Wurm, der ihm am Herzen nagte: es war der Stolz auf seinen Stammbaum, die Furcht, seinen Glanz nicht aufrecht erhalten zu können; und diese Furcht erstreckte sich bis über das Grab hinaus – er wußte, daß es seinem Sohne unmöglich sein würde, einen deutschen Baron zu repräsentiren. Ist der Plan meiner Verheirathung nicht der sprechendste Beweis? Mein Vater war gut, aber schwach; hätte er die Vorurtheile abgeschüttelt, hätte er das Leben genommen, wie es sich ihm bot, er würde vielleicht die Freude gehabt haben, seinen Sohn als Millionär wiederzusehen. Ja, mein Herr, ich bringe die Mittel mit, um das Geschlecht der Nienstedt im neuen Glanze erstehen zu lassen. Was der Stammbaum nicht vermocht, hat meine Kühnheit, nennen Sie es auch jugendliche Unbesonnenheit, hat mein rastloser Unternehmungsgeist und meine Verachtung der Vorurtheile vermocht. Ich war Kaufmann, Pflanzer und Sklavenbesitzer – jetzt will ich der Baron von Nienstedt sein, um einen Stammbaum aufrecht zu erhalten. Ich zahle die Schulden meines Vaters, und bei Ihnen, dem großmüthigsten seiner Gläubiger, will ich den Anfang machen. Nennen Sie mir die kleinen Summen, die Sie dem Verstorbenen im Drange der Noth zur Verfügung stellten, und ich zahle sie Ihnen doppelt und dreifach zurück.“
„Herr Baron!“
„Und außerdem seien Sie meines Dankes gewiß, er wird nie erlöschen!“
Ludwig ergriff mit Innigkeit die Hand des Edelmannes.
„Fast bereue ich,“ antwortete dieser bewegt, „in meiner Offenherzigkeit so weit gegangen zu sein, daß ich Ihnen eine Mittheilung machte, die mich eigennützig erscheinen lassen muß.“
„Ist es nicht meine Pflicht, die Schulden des Verstorbenen zu tilgen?“
„Herr Baron,“ sagte Heiligenstein in einem fast feierlichen Tone, „ich war mit Adelheid von Nienstedt verlobt, und ich glaube ein Recht zu haben, mich als ein Glied Ihrer Familie zu betrachten. Dieser Gedanke war bisher mein Trost, und ich hoffe, Sie werden ihn mir nicht rauben, indem Sie mich als einen Gläubiger Ihres Vaters betrachten. Darf ich dem Bruder meiner todten Braut ein Freund sein, so habe ich keinen Wunsch mehr auszusprechen!“
Gerührt reichten sich die beiden Männer die Hände.
Ludwig war keines Wortes fähig; aber die Blicke seiner großen, ehrlichen Augen verriethen, was in seinem Innern vorging.
Die Quadrille war zu Ende und die Tänzer zerstreuten sich. Die beiden neuen Freunde gingen Arm in Arm durch den Saal und traten, wie von einem und demselben Gedanken geleitet, auf den Balcon hinaus. Die Nacht war prachtvoll. Das Silberhorn des Mondes hing wie eine Sichel an der höchsten Spitze der Bergkette, die das Thal einschließt, in welchem das reizende Bad liegt. Ein mildes Licht schwebte über der duftenden Landschaft. Die köstlichste Sommernacht war herabgesunken. Schweigend standen die Freunde an dem hohen Eisengitter, das mit einem Blumenflore geschmückt war, dem tausend Wohlgerüche entströmten. Der gereiste Mann dachte mit Rührung der Vergangenheit – der jüngere zitterte bei dem Gedanken an das Glück der Zukunft.
„Mein lieber Freund,“ begann Ludwig nach einer langen Pause, „es bedarf zwar der Schilderung meiner Gefühle nicht, die sich meiner bemächtigten, als ich das Schloß Nienstedt betrat, und nur von fremden Gesichtern empfangen und neugierig angeblickt ward – denn Sie vermögen sich einen Begriff davon zu machen; aber es drängt mich, Ihnen Alles mitzutheilen.“
„Sie waren schon auf Nienstedt?“ fragte Heiligenstein überrascht.
„Ja. Es sind heute vier Wochen, als ich dort ankam. Um die Freude der Ueberraschung zu vergrößern, ließ ich mich dem Besitzer des Schlosses, wofür ich natürlich meinen Vater hielt, unter dem einfachen Namen Herr Ludwig anmelden. Ich trat in das Zimmer, und fand einen mir völlig fremden Mann.“
„Den Obersten von Eppstein; er hatte sich zur Zeit des Todes Ihres Vaters aus dem Dienste zurückgezogen und kaufte das Schloß Nienstedt, das damals feil geboten ward.“
„Der Oberst unterrichtete mich kurz und bündig von den obwaltenden Verhältnissen, und, sei es nun, daß mich meine Gemüthsstimmung zu gereizt machte, oder daß ich den Charakter des Mannes zu wenig kenne – kurz, er sprach in einem Tone, der mich bewog, mein Incognito zu bewahren, und ihn in dem Glauben zu lasse,; ich sei der Kaufmann Ludwig. Diesen Namen habe ich als Geschäftsmann geführt. Der Oberst entschuldigte sich, mich zu einem längern Verweilen nicht einladen zu können, da er nach zwei Stunden mit seiner Tochter in das Bad P. reisen wolle, wozu bereits alle Anstalten getroffen seien. Aber er lud mich zum Frühstück ein, bei dem ich ihn gestört hatte. Halb willenlos nahm ich die Einladung an. Ich trat mit ihm in den Saal, und da sah ich seine Tochter. O, mein Herr, Henriette ist das einzige weibliche Wesen, das auf mich einen nachhaltigen Eindruck gemacht hat; sie besitzt für mich etwas unaussprechlich Heiliges und Geweihtes, sie ist eine Erscheinung, die ich wie eine göttliche Offenbarung verehre und bewundere. Ich verberge es nicht, daß die reizende Wirthin eine völlige Umwandlung in meinem ganzen Wesen hervorbrachte; die halbe Stunde, die wir beim Frühstücke saßen, genügte, um mich auf immer zu ihrem Sclaven zu machen. Ich war frei; das heißt, unabhängig von Zeit und Verhältnissen – ich wählte dasselbe Bad für den Sommer zu meinem Aufenthalte, in das der Oberst mit seiner Tochter reis’te.“
Ludwig schwieg, als ob er die Ansicht seines neuen Freundes über diese Eröffnung hören wollte, zu der ihn sein Herz gewaltsam gedrängt hatte.
Der wackere Heiligenstein ließ nicht lange darauf warten:
„Herr Baron,“ flüsterte er bewegt, „Ihre Neigung zu Henrietten ist eine wunderbare Fügung des Himmels. Die Familie Eppstein ist es, mit der Ihr seliger Vater jene Verbindung eingeleitet hatte, von der ich vorhin sprach. Henriette hat noch eine ältere Schwester, diese sollten Sie kennen lernen und sich dann mit ihr verheirathen. Ihr Verschwinden und der dadurch herbeigeführte Sturz Ihres Hauses vereitelte den Plan, und der Oberst, der an Ihrem Wiedererscheinen zweifelte, auch wohl seine Gesinnung nach dem Tode Ihres Vaters geändert hatte, billigte die Wahl, die Emilie getroffen: sie ist seit sieben Jahren schon die Gattin eines höhern Offiziers in der preußischen Armee.“
„Und Henriette?“ fragte Ludwig dringend und mit bebender Stimme.
[19] „Mir ist nicht bekannt, daß man über ihre Zukunft entschieden hat.“
Eine Gruppe Herren und Damen trat auf den Balcon und unterbrach das Gespräch der beiden Männer. Sie gingen in den Saal zurück. Heiligenstein stellte seinen Freund einigen Edelleuten vor, die den seligen Herrn von Nienstedt gekannt und geschätzt hatten. Ludwig hatte die Freude, die Achtung auf sich übertragen zu sehen, die man seinem Vater gezollt hatte. Der schöne und reiche junge Mann – Heiligenstein hatte nicht verfehlt, Andeutungen über seinen Reichthum zu geben – erregte das allgemeine Interesse. So verfloß noch eine halbe Stunde, und der letzte Tanz vor dem Walzer war vorüber. Ludwig suchte Henrietten mit den Blicken auf. Sie saß in einem Kreise älterer und jüngerer Damen. Wie reizend war das junge Mädchen in dieser Umgebung, die nur eine Folie ihrer Schönheit zu sein schien. Lächelnd und ungezwungen unterhielt sie sich mit ihrer nächsten Nachbarin, einer vielleicht sechzigjährigen Dame von stolzem, aristokratischen Aeußern. Es war ersichtlich, daß diese Dame es sich angelegen sein ließ, Henrietten durch eine Unterhaltung zu fesseln. Da trat plötzlich der Oberst mit einem blonden, jungen Manne heran, den er, indem er seine Hand ergriff, seiner Tochter vorstellte. Henriette erhob sich und grüßte durch eine graziöse Verneigung. Aber dem Baron, dessen Blick eine furchtbare Eifersucht schärfte, entging es nicht, daß Henriette’s Gesicht plötzlich eine dunkele Röthe überzog, während der Vater freundlich zu ihr sprach.
„Wer ist der junge Mann?“ fragte Ludwig leise den Freund, der neben ihm stand.
Heiligenstein hatte ebenfalls die Gruppe in’s Auge gefaßt.
„Er ist der Sohn der alten Dame, die neben Fräulein von Eppstein sitzt,“ war die Antwort.
„Und die alte Dame?“
„Eine Freifrau von Erichsheim, die Mutter des Gemahls Emiliens, der Schwester Henriette’s. Der junge Mann lebt bei seiner Mutter, die Wittwe ist, auf dem großen Gute Erichsheim, nicht weit von hier. Er hat vor einem Jahre seine Studien auf der Universität beendet. Er muß heute erst angekommen sein, denn ich habe ihn bis jetzt im Bade noch nicht gesehen. Der Oberst selbst führt ihn seiner Tochter zu. Es ist dies erklärlich, da die beiden Familien verwandt sind.“
In diesem Augenblicke trat der Oberst zurück und unterhielt die Freifrau, die sich erhoben hatte. Henriette und der junge Mann unterhielten sich allein.
Ludwig’s peinlicher Zustand läßt sich nicht beschreiben. Er liebte mit der ganzen Glut der ersten Leidenschaft, mit der Leidenschaftlichkeit seines Charakters. Er beneidete einen Augenblick den blonden jungen Mann mit dem hübschen, aber einfältigen Gesichte, daß es ihm vergönnt war, zwanglos mit der Abgöttin seines Lebens zu sprechen, und, wie er in diesem Augenblicke wirklich that, ihr die Hand zu küssen. Er zitterte am ganzen Körper und alle seine Pulse klopften heftig. Da begann das Orchester den Walzer, zu dem Henriette ihn durch den Brief engagirt hatte. Die Töne erklangen ihm wie Sphärenmusik, denn sie gaben ihm das Recht, eine Unterredung zu unterbrechen, die sein Herz zerriß, obgleich er sie nicht einmal kannte. Raschen Schrittes ging er durch den Saal, näherte sich der Gruppe, und bat Henriette um den Tanz. Sie zuckte einen Moment wie vom Blitze getroffen zusammen, aber mit dem feinen Takt der gebildeten Dame verbarg sie ihre Ueberraschung, indem sie sich lächelnd zu dem jungen Freiherrn von Erichsheim wandte:
„Sie beklagen, daß Sie mich noch nicht tanzen gesehen – ich freue mich, daß sich Ihnen jetzt die Gelegenheit bietet. Seien Sie nicht ein zu strenger Kritiker, mein Herr, vielleicht rechtfertige ich die Erwartungen, die Sie von meiner Tanzkunst hegen.“
Sie legte ihren reizenden Arm in den Ludwig’s, und beide traten in die sich bildende Reihe der Tänzer. Aller Blicke folgten dem schönen Paare als es durch den Saal schwebte. In wenig Minuten war der Baron Ludwig von Nienstedt der Gegenstand des allgemeinen Gesprächs. Die Damen fanden ihn schön, und die Männer, die nicht tanzten, traten zu dem Herrn von Heiligenstein, um sich näher nach dem eleganten Cavalier zu erkundigen, da sie gesehen, daß er sich lange mit ihm unterhalten hatte.
Die erste Tour war vorüber, und Ludwig trat mit seiner Tänzerin unter die Zweige eines blühenden, großen Oleanders, der in einem zierlichen Kübel neben einer Säule des Saales stand. Er fühlte, wie der Arm Henriette’s in dem seinigen brannte, wie sie leise zitterte und wie der warme duftige Hauch ihres Mundes sanft sein Gesicht streifte. Ihm fehlte fast der Muth einen Blick auf die Abgöttin seiner Seele zu werfen.
„Vorsicht!“ flüsterte sie. „Mein Vater, die Freifrau und ihr Sohn beobachten uns scharf.“
„Wer ist der junge Mann?“ fragte Ludwig so unbefangen als es ihm möglich war.
Er hätte gern die Frage anders gestellt, aber es fehlte ihm die ruhige Ueberlegung dazu.
„Der Schwager meiner ältern Schwester Emilie,“ antwortete Henriette so leise, daß es der Baron kaum verstehen konnte.
„Ich bitte, eröffnen Sie mir kurz, was Sie dem Briefe nicht anvertrauen konnten.“
„Mein Gott, wir sind von allen Seiten beobachtet!“
„Aber man hört uns nicht, und wir sind um so sicherer, da die allgemeine Aufmerksamkeit auf uns gerichtet ist.“
„Seit vier Tagen erwarteten wir den jungen Freiherrn. Eine Zusammenkunft mit ihm und seiner Mutter ist der Zweck unserer Badereise.“
„Henriette, ich beschwöre Sie, verhehlen Sie mir Nichts!“
„Sie sehen meine Angst, mein Herr!“ flüsterte sie, indem sie sich zitternd mit dem kleinen Elfenbeinfächer frische Luft zufächelte.
„Verbannen Sie die Angst, und fassen Sie unbedingtes Zutrauen zu mir. Unsere Lage ist so eigenthümlich, daß es gerechtfertigt erscheint, wenn wir die gewöhnlichen Schranken kleinlicher Decenz nicht berücksichtigen. Henriette, ich schwöre Ihnen bei Gott, der uns sieht und hört, Sie werden nicht gezwungen sein, einen Schritt zurückzuweichen, wenn Ihr Herz den Weg billigt, den Sie zu meinem Glücke betreten haben.“
„Ich fürchte leider, daß ich schon zu weit gegangen bin!“
„Wie, Henriette!“
„In einer fürchterlichen Angst habe ich diesen Abend erwartet.“
„Weil Sie besorgten, ich würde nicht unter den Gästen sein?“
„Ja, mein Herr!“ flüsterte sie aus beklommener Brust.
„O, nun weiß ich Alles! Die Macht des Vorurtheils –“
„Vorurtheile sind mir fremd – aber mein Vater, den ich zärtlich liebe, der mit Leib und Seele an seinem Stande hängt, dessen Liebe ich nicht verscherzen möchte, der unglücklich werden würde – –“
„Henriette, ich bin der Baron Ludwig von Nienstedt!“
Sie zuckte zusammen.
„Tanzen Sie, mein Herr, die Reihe ist an uns!“ flüsterte sie ängstlich.
Der Baron raffte sich zusammen. Das schöne Paar schwebte im langsamen Walzer durch den Saal. Der Takt des ruhigen, gemessenen deutschen Tanzes paßte wenig zu der Aufregung, in der sich die beiden Tanzenden befanden; die raschen Schwingungen eines Galopps wären angemessener gewesen. Nach zwei Minuten war es dem Baron wieder gestattet, mit seiner Dame zu ruhen.
„Herr Baron,“ fragte Henriette, „warum haben Sie so lange Ihren Namen und Stand verschwiegen? Warum treten Sie als einfacher Kaufmann auf, während Sie das Recht hatten –“
„Nennen Sie mich einen Sonderling, mein liebes Fräulein; aber ich konnte es nicht über mich gewinnen, mir durch den Geburtsadel Ansehen zu verschaffen. O, wie glücklich macht mich der Gedanke, daß es mir, so lange ich der schlichte Kaufmann war, gelungen ist, Ihnen einiges Interesse abzugewinnen.“
„Leider muß ich Vorurtheilen huldigen, die mein Verstand verwirft; und dennoch hätte ich die Richtung meines Gefühls beklagen müssen, wäre es mir nicht vergönnt gewesen, die Pflichten der Tochter damit zu vereinbaren.“
„O, ich verstehe Sie, Henriette! Und was fordern Sie nun, das ich thue?“
„Dem Baron von Nienstedt kann es nicht schwer fallen, mit dem Freiherrn Ignaz von Erichsheim in die Schranken zu treten, zumal da Letzterer Nichts für sich hat, als ein Heirathsproject der alten geizigen Freifrau, die eine Ehe unter Edelleuten wie ein Geschäft betrachtet, bei dem die Stimme des Herzens ohne Einfluß ist. Sie will unser beiderseitiges Vermögen verheirathen. Bis jetzt habe ich nicht gewagt, dem Plane meines Vaters zu widersprechen – –“
„Aber nun, Henriette?“ fragte Ludwig zitternd.
[20] „Sie sind auf dem Balle des Fürsten, Sie sind der Baron von Nienstedt – ich habe auf Nichts mehr zu hören, als auf die Stimme des Herzens.“
Wie berauscht vor Entzücken neigte sich Ludwig dem Ohre des reizenden Mädchens zu und flüsterte:
„Henriette, was sagt Ihnen die Stimme Ihres Herzens?“
„Daß es mir vergönnt ist, die Schwüre Ludwig’s anzunehmen.“
„Und ich wiederhole diese Schwüre vor dem Angesichte Gottes!“
Ein leiser, aber inniger Händedruck war die Antwort.
Der Walzer ging dem glücklichen Paare viel zu rasch zu Ende; sie mußten sich trennen. Der Baron führte seine Tänzerin zu dem Familienkreise zurück. Ignaz von Erichsheim empfing sie, und führte sie mit stolzer, vertraulicher Miene zu dem Sessel. Ludwig kümmerte sich um den blonden Gecken nicht, er suchte seinen Freund wieder auf, nachdem er den alten Herrn von Eppstein freundlich gegrüßt hatte.
Gleich darauf erschien Henriette am Arme des jungen Freiherrn; Ludwig verfolgte jede ihrer Bewegungen. Es war ersichtlich, daß sie sich freundlich, aber zurückhaltend mit ihrem Tänzer unterhielt. Um Mitternacht verließen der Oberst, die Freifrau und die beiden jungen Leute den Ball. Eine halbe Stunde später folgten Ludwig und Heiligenstein. Arm in Arm machten sie noch einen Spaziergang durch die große Allee. Als sie sich vor dem Hause des Polizeicommissars trennten, sagte der Baron:
„Zweifeln Sie nicht, Freund, der Plan meines Vaters soll auch nach seinem Tode noch verwirklicht werden. Henriette ist ein Engel, ich kann nur mit ihr leben oder ohne sie sterben!“
„Verbannen Sie die Grabesgedanken,“ sagte lächelnd Heiligenstein; „Amor, scheint mir, hat die Absicht, Sie noch lange an das Leben zu fesseln.“
„Tragen auch Sie das Ihrige dazu bei!“
„Wie?“
„Indem Sie mir ein aufrichtiger Freund bleiben.“
„Sind Sie nicht der Bruder meiner Adelheid? Vergessen Sie nicht, daß mich ein heiliges Band an die Familie Nienstedt fesselt.“
Gerührt umarmten sich die beiden Männer, dann trennten sie sich. Ludwig betrat sein Zimmer. Bob folgte ihm und begann seinen Herrn auszukleiden.
„Wie gefällt es Dir in Europa, Bob?“ fragte der Herr, den das Glück redselig machte.
Der braune Diener zögerte mit der Antwort.
„Hast Du Lust, in Dein Vaterland zurückzukehren?“ fuhr der Baron fort. „Wenn Dich das Heimweh plagt, so bekenne es offen – das Leid des Herzens ist das drückendste, es zerstört das Leben. Sprich ein Wort, Bob, und ich rüste Dich mit den Mitteln aus, die erforderlich sind, um Indien zu erreichen.“
Dem guten Bob traten die Thränen in die Augen.
„Herr,“ sagte er, „wollen Sie mich nicht behalten? Wohl denke ich jetzt noch mit Sehnsucht an mein Vaterland, obgleich ich dort ein Sclave war – aber das wird sich geben. Es gefällt mir nicht in Europa, es ist wahr – aber was habe ich davon, wenn ich zurückkehre?“
„Was Du davon hast, Bob? Du bist kein Sclave mehr, ich habe Dich zum freien Manne gemacht –“
„Ach, Herr, das lohne Ihnen Gott!“ unterbrach ihn der Mulatte, indem er ihm dankbar die Hand küßte. „Sie haben mich von einem strengen, furchtbaren Herrn befreit, der den armen farbigen Mann wie eine Sache betrachtete. Verzeihen Sie, lieber Herr, er war Ihr Landsmann, ein Europäer –“
„Genug, Bob!“ sagte der Baron erregt, „Dein Peiniger ruht im Grabe, und von den Todten soll man nur Gutes reden. Mit ihm ist Deine Knechtschaft begraben, Du bist so frei wie ich, wie alle die Leute, die Du hier siehst. Nun denke Dir, wenn Du mit einem kleinen Kapitale in Deine Heimath zurückkommst, wenn Du Dir ein Stück Land kaufen, und es als Eigenthümer bebauen kannst; wenn Du Dich verheirathest und ein glücklicher Familienvater wirst – Bob, ich meine, die Sache verdient, daß Du sie überlegst.“
Bob sah seinen jungen Herrn einen Augenblick gerührt an, dann schüttelte er schmerzlich lächelnd seinen mit krausen Haaren bedeckten Kopf und sagte:
„Nein, Herr, ich würde dort nicht glücklicher sein als hier.“
„Warum, Bob?“
„Weil ich mich nach meinem Retter, nach meinem guten Herrn sehnen würde! Haben Sie mir nicht selbst gesagt, als wir zu Schiffe gingen: wo man glücklich ist, hat man seine Heimath? Darum lassen Sie mich in Ihrem Dienste leben und sterben!“
Bob hatte diese Bitte so rührend ausgesprochen, daß der Baron nicht weiter in ihn drang. Es wäre eine Grausamkeit gewesen, den treuen Diener zu einer Trennung zu bewegen,
„Gut, so bleibe, Bob!“ sagte er nach einer Pause.
„O, ich wußte es wohl,“ meinte der Mulatte, „daß Sie mich nur auf die Probe stellen wollten. Ich werde jede bestehen, um Ihnen meine Dankbarkeit zu beweisen!“
Eine Viertelstunde später schlich Bob in seine Kammer. Der Baron betrat sein Schlafzimmer. Mit dem Gedanken an die reizende Henriette schlief er ein, um von ihr zu träumen.
Ungefähr acht Tage nach dem Balle in dem fürstlichen Schlosse trat der Oberst von Eppstein in das Zimmer seiner Tochter. Es war noch früh, und Henriette hatte ihre Toilette nur erst halb vollendet. Bei dem Eintreten des alten Herrn richtete das Kammermädchen einen fragenden Blick auf ihre Gebieterin.
„Sophie, ich werde diesen Morgen nicht spazieren gehen,“ war die Antwort auf diesen Blick. „Ich werde Dich rufen, wenn ich meine Toilette vollenden will.“
Das Kammermädchen verließ das Zimmer; Vater und Tochter waren allein.
„Ich setze nämlich voraus,“ wandte sich das junge Mädchen freundlich lächelnd zu dem Obersten, „daß Sie nicht gekommen sind, um mich abzuholen.“
„Deine Voraussetzung ist richtig, mein Kind,“ antwortete der Oberst, indem er seine Tochter mit einem ruhigen Ernste ansah. „Ich bin im Gegentheil gekommen, um Dich um eine Unterredung zu bitten, die eben so wenig für die Promenade paßt als meine Stimmung. Willst Du mich anhören, Henriette?“
Henriette sah den Vater mit einem fast trübseligen Lächeln an; dann sagte sie im Tone zärtlichen Vorwurfs:
„Vater, warum fragen Sie denn, ob ich Sie anhören will? Ist es nicht meine Pflicht, jedem Ihrer Wünsche zuvorzukommen? Mehr noch, Vater: giebt es eine Pflicht für eine gute Tochter? Ich habe ein falsches Wort gewählt – Sie kennen ja meine Kindesliebe, die der Pflichten nicht bedarf –“
„Henriette,“ unterbrach sie der Oberst, „wohl Dir und mir, wenn ich Dich nicht an Deine Pflicht zu erinnern brauche, wenn Dein Herz Dich antreibt, mir offen und wahr entgegenzukommen. Aber hast Du dies in der letzten Zeit unsers Hierseins auch immer gethan? Hat Dein Herz mir Nichts verborgen, das ich als Vater wissen mußte?“
Die reizende Henriette erröthete; sie legte ihr glühendes Gesichtchen an die Brust des Vaters und schlang ihren Arm um seinen Nacken.
„O, mein Kind,“ rief der Oberst, „das Herz liegt mit der Pflicht im Streite, und ich glaube mir es zum Vorwurfe machen zu müssen, daß ich so lange gezögert, letzterer hülfreich zur Seite zu treten. Jetzt muß es geschehen, und ich bin in dieser Absicht zu Dir gekommen.“
Er führte Henriette zu dem Sopha. Dem Vater entging es nicht, daß sie sich gewaltsam mit Ruhe und Ergebung waffnete, daß in ihrer Brust eine gewaltige Macht mit der Liebe des Kindes kämpfte.
„Sie sehen mich bereit, mein Vater, Ihnen zuzuhören!“ flüsterte sie.
„Du kennst den Plan, Henriette, den ich mit der Freifrau von Erichsheim über Deine Zukunft und über die ihres Sohnes entworfen habe.“
„Ja, mein Vater, Sie haben mich davon in Kenntniß gesetzt, als wir in dieses Bad reis’ten.“
„Ich komme heute auf diesen Plan zurück – – Welchen Eindruck hat Ignaz von Erichsheim auf Dich ausgeübt?“
Es war im Jahre 1825, als Karl X. einem jungen Poeten von zweiundzwanzig Jahren eine Audienz gewährte, der dem Monarchen eine Krönungsode überreichte. Herr von Chateaubriand, der unerschütterlich treue Freund der Bourbons, der später demselben Karl X., da ihm der Julisturm die Krone vom Haupte geschlagen, freiwillig, unaufgefordert in die Verbannung gefolgt, Herr von Chateaubriand war auch zugegen. Der König durchlief die gereimten Zeilen, und überreichte das Manuscript dem berühmten Verfasser des „Geistes des Christenthums“, der sich etwas rückwärts an der Seite des Königs hielt. Nachdem Herr von Chateaubriand das Poem gelesen hatte, frug der König:
„Nun, was halten Sie von diesem jungen Manne?“
„Sire,“ antwortete der Befragte, „es ist ein erhabenes Kind (un enfant sublime).“
Dieser junge Mann war Victor Hugo; dieses Wort als Geleitsbrief, begann er seine dichterische Laufbahn, die so reich an Widerwärtigkeiten und Erfolgen, so reich an Kämpfen und an Siegen werden sollte.
Die Kindheit Hugo’s war eine bewegte, reich an wechselnden Bildern, an tiefgehenden, wunderbaren Eindrücken.
Er ist zu Besançon im Jahre 1803 geboren, und folgte in einem Alter von fünf Jahren seinem Vater, der General im Dienste des damaligen Königs von Neapel, Joseph Bonaparte, war, nach Italien und später nach Spanien. Seinem Vater, als Gouverneur der Provinz Avellino, ward die Aufgabe, den berühmten Räuberhauptmann Fra Diavolo, der zu jener Zeit seine abenteuerlichen Streiche spielte, zu besiegen, die er vollkommen lös’te. Bilder und Ereignisse, die an dem Kinde vorüberzogen, mußten nothwendig auf dessen Einbildungskraft wirken, um sich später in dem Poeten als Erinnerungen zu beleben.
Im Jahre 1809 kam der kleine Victor mit seiner Mutter und seinen zwei Brüdern nach Frankreich zurück, und da begann seine wissenschaftliche Ausbildung, die Ausbildung seines Herzens, dem die zarte Liebe, die hingebende Wachsamkeit seiner Mutter eine heilsame Pflege gewährte. Das alte Kloster der „Feuillantines“ nahm die Familie auf, die sich in stiller Zurückgezogenheit ein freundliches Dasein gestaltete, das zwei Jahre dauerte. An diese Zeit und an diesen Aufenthalt knüpfen sich die ersten zwei Erfahrungen des Knaben von verschiedener Bedeutung, die bis in ein reifes Alter hinein ihre Geleise zogen.
Er gewann eine kleine Freundin seines Alters, mit der er sich im Garten umhertummelte, und die ihm später eine liebende, eine geliebte Gattin wurde. Außerdem traten ihm die blutigen Wehen seines Landes, die verderbliche Parteileidenschaft, der unvertilgbare, unausgleichbare Zwiespalt, dem schon viele große, heilige Opfer gefallen, in einem Geächteten entgegen. Der General Lahorie, in den Prozeß Moreau verwickelt und legitimistischer Bestrebungen angeklagt, suchte in dem Hause der Frau Hugo, einer echten Vendeerin, einen Versteck und Schutz vor den Verfolgungen der kaiserlichen Polizei. Zwei Jahre lang blieb der Flüchtling den Blicken der Häscher verborgen und es gereichte ihm zum Zeitvertreib, dem kleinen Hugo von seinem Wissen mitzutheilen, der sich [22] zu dem ernsten Lehrer hingezogen fühlte, von dem ihm die ersten legitimistischen Grundsätze eingeimpft wurden. Der Verrath lieferte im Jahre 1811 das Opfer den Schergen. Der General wurde entdeckt, aus den Armen des weinenden Knaben gerissen und in der Ebene von Grenelle zugleich mit dem Aufwiegler Mallet erschossen. Einige Monate hierauf berief der General Hugo, Major Domus des Palastes zu Madrid, seine Familie zu sich, und der Knabe wurde in ein adeliges Seminarium gethan, aus dem er im Jahre 1812 in das alte Kloster zurückkehrte. Hier erlebte er die erste Rückkehr der Bourbons, die er im Geiste seiner vendeeischen Mutter mit Jubel begrüßte. Er zählte kaum zehn Jahre, als ihn der Genius der Poesie überkam, und sich seine Gedanken und Gefühle zu rhythmischem Ausdruck drängten.
Noch einen andern Streich bis tief in sein Inneres sollte der Knabe von der politischen Leidenschaft erhalten, die ihren Zwiespalt in seine Familie schleuderte. Sein Vater und seine Mutter, durch Meinungen scharf getrennt, ließen sich gerichtlich scheiden, und der General, von seinem Recht Gebrauch machend, entzog das Kind den pflegenden, mütterlichen Händen, um es in Vorbereitungsanstalten in den Wissenschaften unterweisen zu lassen, die erforderlich zum Eintritt in die polytechnische Schule sind. Wiewohl mit Widerstreben dem Studium der Mathematik obliegend, die so wenig der Natur und Richtung seines lebhaften Geistes entsprach, blieb der junge Hugo dennoch nicht hinter den Forderungen seines Vaters und seiner Lehrer zurück. Alle Stunden, über die er verfügen konnte, widmete er jedoch der Poesie. Und im vierzehnten Jahre hatte er eine Tragödie nach dem sogenannten klassischen Zuschnitt vollendet, die Irtamène betitelt war.
Zu funfzehn Jahren warb er um den Preis, welchen die pariser Academie auf das beste Gedicht, als Stoff „die Vortheile des Studiums“ behandelnd, gesetzt. Er hätte ihn gewonnen, wenn sich nicht die ehrenwerthen Schiedsrichter, durch zwei Zeilen in dem Gedichte genarrt, mystifizirt geglaubt hätten. Diese lauteten:
„Ich, der selten Höfe und Städte geseh’n,
Zähle nicht zweimal der Jahre zehn.“
Wie hätten die privilegirten Kunstrichter hinter dem fertigen Werk, das außerordentliche Vollendung der Form kund that, die Jugend des Meisters vermuthen sollen; sie hielten die Angabe für Hohn und enthielten zur Strafe für so kühnes Vermessen dem Poeten den Preis vor. Der verzweifelte junge Dichter trug schleunig, so wie er durch einen Freund Kenntniß der Umstände erhielt, seinen Geburtsschein zu dem Berichterstatter, Herrn Raynouard, um den Irrthum aufzuklären und die gemachte Angabe zu bestätigen, allein es war zu spät. Die Palme war bereits einem Anderen zugestanden, und der junge Dichter mußte sich für dieses Mal mit einer ehrenvollen Erwähnung und mit dem Aufsehen begnügen, das die Geschichte in wissenschaftlichen und künstlerischen Kreisen gemacht. Die Zukunft bot reichen Ersatz. Als Hugo achtzehn Jahre alt war, waren drei seiner lyrischen Gedichte von der Akademie mit Preisen gekrönt. Er hatte sich bei seinem Vater die Freiheit ausgewirkt, seinem künstlerischen Berufe ungestört zu folgen.
Die Jahre 1820 und 1822 finden den Poeten in voller rastloser Thätigkeit, und schon fängt Frankreich an, über die frühreife Kraft des jungen Poeten, über die Selbstständigkeit seines Geistes, über die Kühnheit seiner Gedanken, über die Tiefe der Leidenschaft, die Ueberwältigung der Form zu staunen. Seine „Oden und Balladen“ erschienen noch ohne jenes Uebermaß, dem sich der Poet später hingab, voll religiöser und royalistischer Gefühle, ohne sklavischen Gehorsam für das Hergebrachte, aber auch ohne jene Sucht nach Originalität, ohne die verkehrte Absichtlichkeit, eine besondere Schule zu gründen, die aus dem frei schaffenden Künstler einen poetischen Parteigänger gemacht. Das überreizte Paris machte sich zum Götzen des jungen Dichters, und es war um dessen Unbefangenheit, um dessen poetische Lauterkeit geschehen. Die durch den ununterbrochenen Wechsel von Katastrophen abgestumpfte, ermüdete pariser Gesellschaft forderte Ungeheures, Gräuliches, um auf sich wirken, sich bewegen zu lassen, und Hugo beging den Fehler, das Verbrechen an seiner außerordentlichen Begabung, dieser Forderung nachzukommen. Er konnte ein großer Dichter sein für alle Zeit, wie er es in seinen lyrischen Schöpfungen, von keinem Franzosen erreicht, unbestreitbar dargethan, und machte sich zum Poeten des Tages, er überschrie den Lärm des literarischen Marktes, um Gold und Kränze aus ungeweiheten Händen zu empfangen; es gelang seiner mächtigen Stimme; allein sein poetischer Genius weint über den traurigen Erfolg. In „Han von Island“ und „Bug-Jargal“ stellte Hugo ein Ungethüm und einen Zwerg so widriger, unnatürlicher Art dar, daß ein krankhaftes, verfehltes Streben nach dem Ungewöhnlichen, Außerordentlichen unverkennbar. Seine Freunde suchen diese beiden Jugendwerke, die der Entschuldigung bedürfen, dadurch zu entschuldigen, daß sie ihr Entstehen mit dem Gram in Zusammenhang bringen, der den jungen Dichter wegen des Hindernisses heimgesucht, das sich seiner Verbindung mit dem Mädchen seiner Liebe entgegengestellt. Dieses Hinderniß war nämlich seine Armuth, in der That eine Zwangsjacke der drückendsten Art, aus der herauszukommen der brennende Wunsch verzeihlich ist. Allein Fräulein Foucher wurde die Frau Hugo’s. Gold, Auszeichnung, Ruhm näherten sich schmeichelnd dem glücklichen Poeten; er wurde eine gesetzgebende Macht; ein ganzer Troß junger Schriftsteller befand sich in seinem Gefolge wie ein Hofstaat, und er dichtete seine Dramen, seinen Roman „Notre Dame de Paris“, in denen statt Schönheit, Wahrheit und Natur Haß, Lüge, Unnatur die Hauptrollen spielen. Im Notre Dame, um nur des Einen unter Vielen zu gedenken, hat der Leser immer und immer den Galgen vor Augen; die Heldin des Stückes, die reizende Zigeunerin Esmeralda, eine Nachbildung der goethischen Mignon, wird ein Mal vom Galgen gerettet und dann doch gehängt, ohne das Geringste verbrochen zu haben. Niemand kann den Grund ermitteln, warum es Herrn Hugo beliebte, einen Menschen zum Scheusal zu machen, wie Quasimodo, warum er sich gar so eifrig bemüht, alle Häßlichkeiten auf ein Wesen zusammenzutragen. Herr Hugo zerbrach in Frankreich den Zwang der sogenannten klassischen Einheiten, in die sich die Tripelallianz des großen Zeitalters: Corneille, Racine und Voltaire, so wie ihre Nachfolger geschmiedet. Unser Lessing hat ebenfalls die dramatische Kunst von dem Gotsched’schen Zopfe befreit und dem natürlichen Ausdruck der Gefühle und Leidenschaften einen Raum und Umfang gewonnen, allein er hat nicht einen Fehler beseitigt, um in den entgegengesetzten zu verfallen, er warf nicht die Unnatur zur Thür hinaus, um sie zum Fenster hereindringen zu lassen; er dichtete Minna von Barnhelm, Emilie Galotti, Nathan der Weise, aber nicht Marion de Lorme, Hernani etc. etc., er schuf keine Frage, poetisirte keine Dirnen, um eine angefaulte Welt anzuziehen und ihr zu schmeicheln, er ließ sich nicht herab, durch solche Theatercoups, durch frappante Unmöglichkeiten die Zuschauer zu verblüffen. Lessing stand über seiner Zeit, Hugo steht unter ihr, trotz seiner Kraft, sie zu beherrschen; er ließ seine Muse von der Verderbtheit der Sitten und des Geschmackes tyrannisiren, die unverzeihlichste Unterwerfung, zu der sich ein Künstler herbeilassen kann. Der Deutsche war ein großer Mensch, der Franzose ist ein – Franzose.
Als Hernani zum ersten Male im Theater Français gegeben wurde (1830), kam es im Publikum zwischen klassisch und romantisch Gesinnten (die Schule Hugo’s nannte sich romantisch) wirklich und wahrhaft zum Handgemenge, es setzte blutige Köpfe; das Schauspiel im Parterre zog an, und die vornehme Welt drängte sich in die Logen, um den Wettstreit der Klatschenden und Zischenden anzusehen. Nichts konnte in Paris dem Ruhme des Dichters mehr Glanz verleihen, als diese Scenen, die er außer der Bühne hervorgerufen. Er konnte durch die unerreichbarste Schönheit in seinen Dichtungen nicht so viel Aufsehen machen.
Sein Anhang wuchs von Tag zu Tag und drang siegreich nach Deutschland, wo man das Widerstrebendste, das seine Beglaubigung aus Paris mitbringt, bewundernd hinnimmt. Auf Hernani folgte „Marion Delorme“, auf Marion Delorme „der König vergnügt sich“ (Le roi s’amuse), darauf „Lucrezia Borgia“, „Maria Tudor“, „Angelo“, „Ruy-Blas.“ Der Dichter wurde immer athemversetzender und gefiel sich darin, aufgemuntert durch die Erfolge vom Scheußlichen zum Scheußlichern fortzuschreiten und seinem angebornen herrlichen Talente nur ab und zu einen beschränkten Spielraum zu lassen. Man kann das Schöne in seinen dramatischen Dichtungen unter dem Wust von Gewaltsamkeit kaum heraus finden. Bei der Ueberreizung, bei den haarsträubenden Wirkungen, welche sie hervorbringen, behält man kaum Sinn und Empfindung für die poetischen Laute, die hie und da aus tiefstem Herzen herausklingen.
Von Erfolgen gekrönt, von Glück getragen, hatte Hugo das Mädchen seiner Wahl heimgeführt und bald sich eine Häuslichkeit gebildet, die kaum etwas zu wünschen übrig ließ. Eine holde Frau und vier lachende Kindergesichter grüßten den Dichter, wenn er [23] ermüdet von Arbeit und Kampf, von Anstrengung des Geistes und Schöpfungsthätigkeit im Schooße der Familie Ruhe und Erholung suchte. Ein zahlreicher Freundeskreis umgab ihn, der ihn verehrte und ihm apostolisch folgte. Er hatte sich mit seinem Privatleben in das Hotel Ludwig’s XIII. zurückgezogen, wo er sich seine Wohnung, einem phantastischen Geschmacke folgend, mittelalterlich einrichtete.
Wie ihm seine Kinder eine Quelle der Lust, eine Quelle des Segens waren, so wurden sie ihm ohne ihr Verschulden Ursache tiefen bittern Leids. Das Erstgeborne, der Liebling der Mutter, starb in der ersten Blüthe der Jahre, von einer Krankheit hinweggerafft. Eine Tochter, neuvermählt, verunglückte bei einer Vergnügungswasserfahrt und war verloren. Was lockten diese Trauergeschichten für tiefe, wunderbare Töne aus der schmerzbewegten Brust des Poeten! Sollte ich überhaupt auf das Schöne und Schönste unter den lyrischen Gedichten von V. Hugo hinweisen, ich wüßte wahrhaftig nicht, wo anfangen und wo enden. Wer mag es entscheiden, ob seinen „Orientalen,“ ob seinen „Dämmerungen,“ seinen „innern Stimmen“ oder seinen „Herbstblättern“ ein Vorzug eingeräumt werden soll. Was weiß Hugo, wenn er seinem edeln Naturell folgt, Unglück und Armuth zu trösten, die Gesunkenen zu erheben, die Enterbten zu erfreuen, auf den Verstoßenen einen schönen, lachenden Himmel niederzuziehen. Was schwingt er Geißeln über Gemeinheit und Verrath? Was für Flüche weiß sein beredter Mund gegen Unrecht und Gewaltthat zu schleudern? Was hat er für die ganze Stufenleiter menschlicher Gefühle von den zartesten bis zu den gewaltigsten stets das rechte Wort, den rechten Ausdruck?
Ein Streben besonders geht mit ihm durch sein ganzes öffentliches Leben, und zwar ist es auf Abschaffung der Todesstrafe gerichtet. In Wort und Schrift, in Versen und Prosa, auf der Bühne, auf der Tribune im Gerichtssaal hat er nach dieser Richtung hin gewirkt, hat er an dieses Ziel hingearbeitet. Er war wirklich groß, als er seinen Sohn vertheidigte, der während der Präsidentschaft Louis Napoleon’s den Gedanken seines Vaters aufnehmend, die Gräuel bei Gelegenheit einer stattgefundenen Hinrichtung in dem „Evennement“ darstellte. „Die letzten Tage eines Verurtheilten,“ ein Meisterstück physiologischer Durchführung ist lediglich zu diesem Zweck verfaßt.
Als Barbès im Jahre 1839 von dem Gerichte Aufruhrs wegen zum Tode verurtheilt war, wandte sich die Schwester des bekannten Demokraten an unseren Dichter und bat ihn um sein Fürwort bei dem König Ludwig Philipp, der ihm sehr gewogen war. Die Bittende fand eine entgegenkommende Bereitwilligkeit. Der erste Versuch mißlang. Es war gerade um die Zeit als der Hof wegen der in blühender Jugend dahingeschiedenen Marie von Würtemberg in Trauer war, und zugleich der Graf von Paris, der Sohn der Herzogin von Orleans, das Licht der Welt erblickte. Hugo begab sich noch einmal, und zwar am 12. Juli um Mitternacht in die Tuillerien. Ihre Majestät war bereits zu Bette gegangen und für Niemanden mehr sichtbar. Der Dichter schrieb diese Strophe auf ein Blatt Papier, das er auf den Tisch im Vorzimmer des Königs legte:
Par votre ange envolée ainsi qu’une colombe!
Par ce royal enfant, doux et frèle roseau!
Grace encore une fois, grace au nom de la tombe,
Grace au nom du bérceau.
(Um des Engels willen, der wie eine Taube entflog,
Des königlichen Kindes willen, des zarten schwachen Sprossen.
Gnade, noch einmal Gnade im Namen des Grabes!
Gnade im Namen der Wiege.)
Der König las dieses als er erwachte und Barbès war gerettet.
Hugo ist mittlerer Größe und von einem stämmigen Körperbau, von stolzer, männlicher Haltung, sein Kopf ist schön und ausdrucksvoll. Dunkle Haare, die lang bis zum Nacken niederhängen, beschatten eine hohe mächtige Stirn, aber die Zeit und Arbeit haben beträchtliche Furchen gezogen. Das Auge liegt tief in den Höhlen und blickt klug und feurig hervor. In seinem ganzen Wesen giebt sich eine Art von schüchterner Zurückhaltung kund; aber in seinen Zügen drückt sich Kraft, Entschiedenheit und fester Wille aus. Die ganze Laufbahn des Dichters beweist, daß seine Züge wahrsprechen. Hinter den Coulissen des Theater Français erzählt man sich noch heute, mit welcher Würde und Unerschütterlichkeit der junge V. Hugo seiner Zeit der allgebietenden Mademoiselle Mars, der Königin der Bühne, dem Abgott des Publikums entgegengetreten, da sie dem Autor nach Art erster Heldinnen ihr Urtheil aufdringen wollte. Als bei den Proben von „Hernani“ die Stelle vorkam, welche Dona „Sol“ (Mars) zu sagen hat:
„Du bist mein stolzer, mein großmüthiger Löwe,“ meinte die berühmte Schauspielerin, daß „Löwe" auffallend klinge und daß es einfacher wäre, zu sagen:
„Du bist mein stolzer, mein großmüthiger Herr.“
„So habe ich es gedichtet und so wünsche ich, daß es gesprochen werde, Madame,“ versetzte Hugo kurz und bestimmt.
„Das Publikum wird bei diesem Ausdruck zischen,“ meinte die Schauspielerin.
„Das steht dem Publikum frei,“ versetzte der Dichter; „aber Sie wollte ich gebeten haben, daß Sie die Probe nicht weiter unterbrechen.“
Ein ander Mal als Angelo einstudirt wurde, gefiel es Fräulein Mars, einer Kameradin, mit der sie zu spielen hatte, die schönsten Effekte wegzuhaschen, indem sie ihr die Gegenrede schuldig blieb oder durch ihre Haltung störend einwirkte.
„Bitte, seien Sie doch freundlicher gegen Ihre Kunstgenossin,“ verwies sehr sanft der Verfasser.
„Es ist ja nicht meine Schuld, Monsieur,“ erwiederte Fräulein Mars, „wenn Madame die Sachen verkehrt spielt.“
„Sie verderben ihr absichtlich die Situation, in welcher sie glänzend hervortreten könnte.“
„Ich stelle dar, was ich sein soll.“
„Nun denn, wenn es nicht anders geht, Madame, wollen Sie mir gefälligst Ihre Rolle zurückstellen?“
Mademoiselle Mars gerieth außer sich. Und ringsum erstarrten Alle, die das Wort an die Königin der Bühne gerichtet vernahmen, erstaunt über das unerhörte Vermessen. Der Dichter beharrte bei seiner Forderung, und Fräulein Mars gab nach, indem sie fügsamer zu sein versprach.
Victor Hugo lebt nun auf der englischen Insel Jersey; aus dem Vaterlande gestoßen, ein Verbannter.
Aus dem begeisterten Legitimisten ist ein glühender Republikaner geworden; und die Regierung Louis Napoleon’s III. hat es für nützlich erachtet, sich des Poeten zu entledigen. Man hat vielfach die Verwandlung Hugo’s angefochten und sie als Abfall ausgelegt. Wir wollen bemerken, daß es für Ueberzeugungen keine Polizei giebt, der sie einen Reisepaß vorzeigen, auf dem amtlich angegeben ist, woher sie kommen und wohin sie gehen. Ausgemacht ist es, daß sich bei Hugo die politische Umgestaltung schon während der Restauration, und noch hervortretender unter der Juliregierung kund gab. Ein Beweis unter vielen ist der, daß die Theatercensur Karl’s X. die Aufführung vor Marion Delorme verbot, und diese erst nach der dreißiger Revolution stattfinden konnte, weil Ludwig XIII. in dem Stücke nicht vortheilhaft genug gezeichnet ist. Und „Der König vergnügt sich“ wurde sogar unter Louis Philipp die Thüre zur Darstellung versperrt, weil in demselben die Majestät des Herrschers zu sehr preisgegeben ist. Zu einer eigentlichen Opposition, es wäre denn gegen die Todesstrafe, zum Bekenntniß einer festen abgeschlossenen Meinung, kam der Dichter erst als das Jahr 1848 aus dem Pair von Frankreich, zu dem ihn Louis Philipp erhoben, einen Volksvertreter gemacht. Im Anfang seiner parlamentarischen Laufbahn unsicher, unschlüssig hin- und hertappend, bei verschiedenen Parteien anklopfend, schloß er sich zuletzt der Linken an und vertrat ihre Prinzipien mit der ihm eigenen Kraft, mit der ganzen Fülle seines Talents. Man konnte ihn, um seine Beredtsamkeit zu bezeichnen, den „Sturm der Tribune“ nennen. Er begeistert, er erschüttert, er reißt hin; allein er beweist nicht; seine Reden sind weit mehr lyrisch als logisch, voll Humanität, aber ohne alle Staatswissenschaft. In den Decembertagen des Jahres 1851, wo der Staatsstreich die festgestellte Ordnung der Dinge umgeworfen, hat Hugo glänzende Beispiele von Entschlossenheit und persönlichem Muth gegeben. Er spielte auf den Boulevards du Temple kühn um sein Leben, indem er zum Widerstand gegen das Verfahren des Präsidenten der Republik laut aufforderte. Seinem tiefen, wie es scheint, unverlöschlichen Haß gegen Louis Napoleon hat er in der Verbannung durch zwei veröffentlichte Werke Luft gemacht. Das eine in Prosa ist: "Napoleon der Kleine,“ das andere in Versen: [24] „Geißelung“ betitelt. Wir urtheilen nicht über Recht oder Unrecht in diesem Streit; wir wollen dieses unseren Lesern je nach ihrer Anschauungsweise selbst überlassen und weisen lediglich auf die außerordentlichen poetischen Schönheiten, auf die Schilderungen und Beschreibungen in der versificirten Polemik hin.
Die neuern Schicksale Victor Hugo’s auf der Insel Jersey haben seinen Namen wieder in den Vordergrund gedrängt, doch ist er selbst weniger thätig aufgetreten. In den nächsten Tagen wird eine neue Sammlung unpolitischer Dichtungen von ihm erscheinen, von der man sich viel schönes verspricht.
Wenn Ihnen vor einigen Tagen[2] der gerade jetzt höchst jahreszeitgemäße Kohlenstoff vorgeführt wurde, so könnte es dagegen ein Verstoß gegen die Jahreszeit genannt werden, im rauhen Novemberwetter von der Pflanzenwelt zu sprechen. Mich entschuldigt aber zunächst der Umstand, daß die Pflanzenwelt im Winter, selbst in unserer nördlichen Breite keineswegs ganz erstorben ist. Es bleiben noch genug Pflanzen auch im Winter lebendig, wobei ich weder an die zahllosen schlummernden, aber doch lebendigen Knospen des winterlichen Waldes denke, noch an Ihre blumengeschmückten Zimmer. Ich habe die Moose und Flechten und viele andere noch viel einfachere Pflänzchen im Sinne, welche jetzt trotz der Winterkälte ihr genügsames Leben, meist unbemerkt von den Menschen, fortspinnen. Sollte es einer weiteren Rechtfertigung botanischer Wintervorträge bedürfen, so brauche ich Sie, meine Damen, nur daran zu erinnern, daß es nur die Pflanzen sind, welche uns den gerade jetzt so wichtigen und unentbehrlichen Kohlenstoff zubereiten, daß also mein erster botanischer Vortrag sich ganz naturgemäß an den chemischen Vortrag über den Kohlenstoff anschließt. Die Chemie vermag viel, – und wir werden im Verlaufe dieses Winters oft davon hören – aber uns den Kohlenstoffbedarf für unsere Haushaltung zu bereiten vermag sie nicht. Wir danken ihn lediglich der Pflanzenwelt, nicht nur den in unserem Brennholze, sondern auch den der Stein- und Braunkohlen.
Wir haben also einen ganz berechtigten Ausgangspunkt für unsere botanischen Winterbetrachtungen. Dem Mangel lebender Gewächse werde ich durch Bilder abzuhelfen suchen.[3]
Ueberschauen wir die Pflanzenwelt, wie sie uns in Wäldern und Fluren, auf Wiesen und in Gärten umblühete, so empfinden wir, nachdem wir uns, jetzt freilich nur in Gedanken, an ihrer Schönheit und Mannichfaltigkeit erquickt haben, das Bedürfniß, in dieses schöne, formenreiche Vielerlei eine übersichtliche Ordnung zu bringen. So ist das System des Pflanzenreichs nicht allein eine Schöpfung botanischer Gelehrsamkeit, es ist auch die Befriedigung eines Wissensbedürfnisses jedes denkenden Menschen.
Das System bringt also Ordnung in das Gewächsreich. Dieses Unternehmen ist aber bei der außerordentlich großen Zahl und tausendfacher Mannichfaltigkeit der Gewächse keine leichte Aufgabe. Jeder geordneten Zusammenstellung eines Haufens ähnlicher und doch in ihren Einzelnheiten vielfältig verschiedener Dinge muß eine leitende Idee zum Grunde liegen. Linné ordnete die Pflanzen, wie Sie alle wissen, nach den Befruchtungstheilen der Blüthe. Hätte er einen anderen leitenden Gedanken gewählt, etwa die Beschaffenheit der Blumenkrone, des Kelches, der Frucht, der Blätter, so hätte er nach jedem dieser Theile eine andere Ordnung, ein anderes System erhalten; und in der That, es haben andere Botaniker Pflanzensysteme auf diese Theile gegründet. So erhalten wir eine Mehrzahl von Pflanzensystemen; jedes stellt eine andere Ordnung des Pflanzenreichs her. Aber diese Ordnungen sind willkürliche, denn es liegt in eines jeden Botanikers freier Willkür, diesen oder jenen Pflanzentheil dabei zum Grunde zu legen. Deshalb nennt man solche Systeme mit vollem Recht künstliche. Sie haben nur den sehr untergeordneten Werth, in das Chaos der Formen einige Uebersichtlichkeit zu bringen, die sehr oft gar sehr gegen die allgemeine natürliche Verwandtschaft verstößt. So finden sich z. B. in der fünften Linné’schen Klasse das Veilchen, der Kümmel, der Flieder, das Primel, die Stachelbeere, der Lein, das Vergißmeinnicht beisammen. Welch' eine gewaltsame Vereinigung ganz unverwandter Pflanzen, blos weil alle diese Pflanzen fünf Staubgefäße in den Blüthen haben! Sie würden in einem Systeme nach der Beschaffenheit der Blumenkrone in andere Genossenschaften gerathen, denn Primel, Flieder und Vergißmeinnicht haben eine aus einem Stück bestehende Blumenkrone, die übrigen eine aus mehrern Blättern zusammengesetzte. Nach einem Blättersysteme würden sie natürlich wieder anders vergesellschaftet werden.
Das natürliche System sieht nicht einseitig blos auf einen Theil der Pflanzen, sondern es faßt die ganze Pflanze in’s Auge; und wenn es auch dann und wann bei einem einzelnen Pflanzentheile stehen bleibt, so geschieht dies deshalb, weil sich an diesem die verwandtschaftliche Zusammengehörigkeit der Gewächse am deutlichsten ausspricht. Oft aber spricht sich diese sehr bestimmt in allen Theilen zugleich aus. Ich erinnere Sie an den Lack, den Levkoy, den Raps, den Rübsen, den Senf, bei denen allen Kelch, Blumenkrone, Staubgefäße und Pistill an Zahl und Gestaltung ganz übereinstimmend beschaffen sind. Dasselbe gilt von der Wicke, der Erbse, der Akazie, dem Blasenstrauch, der Linse, der Hauhechel, der Bohne, dem Ginster. Die genannten Pflanzengattungen repräsentiren zwei sogenannte natürliche Familien. In diesen natürlichen Familien stehen die Pflanzen nach ihrer allseitigen natürlichen Verwandtschaft mit innerer Nothwendigkeit beisammen; daran läßt sich nichts deuteln und ändern. Denn Niemand kann es z. B. einfallen wollen, die Wicke aus dem Kreis ihrer genannten Familienverwandten herauszunehmen und in eine andere Familie, etwa zu den lilienartigen und rosenartigen Gewächsen zu stellen. Es steht also der willkürlichen Ordnung der künstlichen Systeme die nothwendige verwandtschaftliche Ordnung des natürlichen Systems gegenüber; es steht aber auch den vielerlei Ordnungen der ersteren, die eine des letzteren gegenüber. Da das natürliche System nichts anders ist und will, als eine wahrnehmbare Darstellung der in dem Gewächsreich liegenden verwandtschaftlichen Ordnung, deren es doch nicht mehr als eine geben kann, so kann es natürlich eigentlich auch nur ein natürliches Pflanzensystem geben. Wenn man gleichwohl ein natürliches Pflanzensystem von Decandolle, von Jussieu, von Richard, von Endlicher, von Reichenbach und Anderen hat, so fühlen Sie nun leicht, meine Damen, daß dies nichts anderes ist, als verschiedene Versuche, das eine, von der Natur selbst gegebene, natürliche System des Gewächsreichs nachzuweisen und darzustellen.
Ich wähle als den, welcher mir der gelungenste scheint, das natürliche Pflanzensystem von Reichenbach, um Ihnen darnach das Pflanzenreich übersichtlich vorzuführen, ohne mich, wenigstens in der niederen Hälfte des Gewächsreichs, streng daran zu binden. Ich werde meine Belege nur aus der deutschen Flora wählen, zu welcher ich auch die in unseren Gärten heimisch gewordenen Ausländerinnen ziehe.
Indem wir uns anschicken, das Gewächsreich nach dem natürlichen System zu überschauen, so fällt uns ein Unterschied zunächst auf. Eine ganze große Gruppe von Pflanzen hat keine eigentlichen Blüthen, wie wir auch im gewöhnlichen Leben jene oft so schmuckvolle Werkstätte der Samenbildung kennen. Wir alle wissen, daß Pilze, Flechten, Moose und Farrenkräuter und die im [25] gemeinen Leben weniger bekannten und beachteten Algen keine Blüthen haben. Wir nennen sie daher die blüthenlosen Pflanzen. Linné nannte sie deshalb kryptogamische, im Verborgenen blühende Pflanzen, weil viele von ihnen zwar keine eigentliche Blüthe, aber doch meist mikroskopischkleine Anfänge einer Blüthenbildung haben.
Nach einer anderen Auffassung können wir die blüthenlosen Pflanzen auch samenlose oder, um es nicht verneinend, sondern bestimmend auszudrücken, Keimkorn- oder Sporenpflanzen nennen.
Diese Benennung beruht auf der wesentlichen Verschiedenheit, welche im innern Bau der Fortpflanzungsmittel der Gewächse stattfindet. Der echte Same, z. B. eine Eichel, Mandel, ein Bohnenkern, enthält immer einen vorgebildeten Keim, welcher mit anderen Theilen des Samens von der Samenschale umschlossen ist. Letztere wird beim Keimen des Samens von dem Keime durchbrochen und zwar immer an einer bestimmten Stelle. Wir mögen z. B. eine Eichel mit der Spitze auf- oder abwärts[WS 2] in den Boden legen, immer kommt der Keim - streng genommen, blos die eine Hälfte desselben, aus welchem die Wurzel wird - aus der Spitze derselben hervor, und biegt sich dann, wenn wir die Eichel mit der Spitze nach oben gelegt haben, abwärts, um in das Erdreich zu dringen.
Anders sind die Samenkörnchen der blüthenlosen Pflanzen beschaffen. Sie sind immer blos einzelne, einfache oder durch innere Querscheidewände abgetheilte Zellen von außerordentlicher Kleinheit. Während also aus einer keimenden Bohne der schon vorgebildete Keim an einer bestimmten Stelle hervortritt und, wie wir bald sehen werden, die übrige innere Masse der Bohne ein Nahrungsbehälter für den Keim ist, so ist dagegen das Samenkörnchen eines Mooses eine unendlich kleine einfache Zelle, welche sich im Erdboden beim Keimen blos ausdehnt und theils dadurch, theils durch Hinzubildung neuer Zellen sich allmälig zum Moospflänzchen entwickelt. Deshalb darf man auch nicht sagen, daß den Samen der blüthenlosen Pflanzen der Keim fehle. Es fehlen ihm vielmehr die umfänglichen Hüllen, welche im Samen der Blüthenpflanzen den Keim umgeben. Die eben geschilderte einfache Zelle der blüthenlosen Pflanzen ist der Keim, der nackte Keim, und Same zugleich. Jedoch sind diese einfachen Zellen nicht immer nackt, sondern haben oft, wie wir es z. B. bei den Farrenkräutern sehen werden, eine zweite härtere, äußere Schale, welche von der eingeschlossenen zarthäutigen Zelle durchbrochen wird. Jedenfalls werden Sie es ganz gerechtfertigt finden, daß man diese so höchst einfachen und stets unsichtbar kleinen Samenkörnchen der blüthenlosen Pflanzen nicht Samen nennt, sondern ihnen den Namen Keimkorn, oder Spore gegeben hat. Nach letzterer zwar lateinischen, aber in die deutsche Wissenschaftssprache aufgenommenen Benennung nennen wir also die blüthenlosen Pflanzen auch Sporen-Pflanzen.
Sie bilden gewissermaßen eine niedere Hälfte des Gewächsreichs; wenn auch für das unbewaffnete Auge minder schön als die Blüthenpflanzen, dem bewaffneten aber oft überraschende Zierlichkeit enthüllend und an Zahl der Arten den Blüthenpflanzen vielleicht nicht nachstehend.
Die erste Klasse der Sporenpflanzen bilden die Pilze, Ihnen allen durch die Champignons und andern eßbaren Pilze[4] bekannt. Diese sind die verhältnißmäßig riesigen Großwürdenträger der Klasse, welche übrigens großentheils aus Gebilden besteht, welche Sie wegen ihrer Kleinheit und Unansehnlichkeit kaum für Gewächse anerkennen würden.
Als Beispiel hiervon mache ich Sie auf den abgebildeten absterbenden Mohnkopf (F. 1. mo.) aufmerksam, an dessen Stiele Sie schwarze Flecke bemerken. Unter dem Mikroskop lösen sich diese Flecken in Wälder unendlich kleiner, äußerst zierlicher Bäumchen auf, von denen Sie eins in stärkster Vergrößerung dargestellt sehen (Fig. 1'''.)[5]. Das Bäumchen ist perlschnurartig aus Zellen gebildet und trägt an den Spitzen und an der Seite der Aestchen die durch Querscheidewände abgetheilten Sporen oder Keimkörner, deren Bau Ihnen die noch stärkere Vergrößerung sp'''. veranschaulicht.
[26] Solche außerordentlich einfach und doch mit tausendfach abwechselnder Zierlichkeit gebildete Pilzgebilde entwickeln sich vorzugsweise da, wo organische Körner in Zersetzung und Gährung oder Fäulniß begriffen sind, also z. B. auf absterbenden Pflanzentheilen, an faulenden Baumstöcken, abgefallenem Laube u. s. w. Manche davon dringen zu Ihrem Verdruß in Ihre Speisekammer, obgleich sie es nicht sind, was Ihre Vorräthe an Pflaumenmuß oder Himbeersaft verdirbt, oder ihre Aepfel zum Faulen bringt; diese Pilzgebilde, die man allgemein mit dem Namen Schimmel belegt, fanden sich erst ein, nachdem jene Stoffe bereits in Gährung begriffen waren.
Obgleich nun alle Pflanzen nur von in chemischer Auflösung begriffenen Stoffen leben, so sind doch recht eigentlich die Pilze Fäulnißpflanzen zu nennen, welche sich schnell auf den Leichen ihrer höher ausgebildeten Schwestern ansiedeln.
In anderer Weise eigenthümlich ist das Leben der Flechten, der zweiten Pflanzenklasse. Von ihnen kann man fast in buchstäblichem Sinne sagen, daß sie von der Luft leben. Sie kennen sie als die grüngrauen Bärte, welche namentlich in Gebirgsgegenden von den Zweigen alter Tannen herabhängen. Selten ist ein Baumstamm ganz frei von Flechten; oft sind sie ganz davon überzogen, obgleich sie dann die Volkssprache, die überhaupt mit dem Worte Moos einen heillosen Mißbrauch treibt, bemoos’t nennt. F. 2. zeigt Ihnen ein Tannenreis, auf welchem sich eine solche Bartflechte angesiedelt hat. Ihre fadenförmigen, vielfach zertheilten Zweige tragen kreisrunde Scheiben, deren Rand wieder mit fadenförmigen Zweiglein besetzt ist. Diese Scheiben, die bei andern Flechten anders, obgleich bei den meisten als eigentliche Scheiben gebildet sind und Schüsselchen genannt werden, sind die Früchte der Flechten. F. 2. f.′ zeigt uns einen senkrechten Durchschnitt durch das Schüsselchen einer anderen Flechtenart, und wir können daran drei verschiedene Schichten unterscheiden. Die oberste ist die Sporenschicht, unter ihr liegt die sehr lockere Markschicht und zu äußerst die Rindenschicht, in welcher bei den Flechten die grüne Farbe, wenn auch nur erst noch schwach, auftritt, welche der Klasse der Pilze noch ganz fehlt. Die Stelle der Sporenschicht, welche an F. 2. f.′[WS 3] schwarz erscheint, ist in l.″[WS 4] stärker vergrößert dargestellt. Zwischen zarten Fäden, welches gestreckte Zellen sind, sehen Sie keulenförmige Schläuche, in welchen sich die Sporen entwickeln, von welchen sp.‴ eine in sehr starker Vergrößerung zeigt.
Fast auf bloße landkartenartige Zeichnungen beschränkt zeigen sich viele Rindenflechten, wie wir sie an der verkleinerten Figur 3o eines Stammstückes der Hagebuche sehen. Hier sind die Flechten blos ein dünner Schorf, in welchen die Fruchtbehälter entweder eingesenkt oder ihm auf der Oberfläche angeheftet sind. Die Stämme der Hagebuchen unseres Rosenthals, welche der Leipziger irrig für Buchen hält, deren es leider in Leipzigs schönen Laubwäldern keine giebt, werden Ihnen vielfältig als Originale zu meiner Figur dienen können.
Allgemein bekannt ist die Schüsselflechte (F. 4.), deren bei trocknem warmen Wetter dottergelbe, jetzt aber graugrüne lappige Ausbreitung die kleinen scheibenförmigen Sporenbehälter deutlich zeigt und auf der rissigen Borke vieler Bäume sehr gemein ist. Die Säulchenflechten (F. 5.) bilden auf dem Waldboden gebirgiger Gegenden oft einen dichten Ueberzug graugrüner zierlicher Wäldchen, welche in der warmen, trocknen Jahreszeit oft monatelang scheintodt und ganz trocken sind, so daß sie unter unseren Fußtritten knisternd zerbrechen wie zarte Korallen. Der Nachtthau oder ein einziger Regen ist aber hinreichend, sie wieder zu neuem Leben und Wachsthum anzutreiben. Die Korallenflechte, zu der Gattung der Säulchenflechten gehörig, ist gewiß vielen von Ihnen durch ihre schönen korallenrothen, traubig-knopfförmigen Fruchtbehälter bekannt, und nicht minder die Becherflechte, deren Champagner-Gläsern gleichende Stämmchen zu großen Trupps vereinigt namentlich auf alten Lehmmauern gefunden werden.
Wenn die Flechten Luftpflanzen genannt werden können, so sind in noch buchstäblicherem Sinne die Pflanzen der dritten Klasse, die Algen, Wasserpflanzen zu nennen. Nur wenige leben außerhalb des Wassers, aber auch diese bedürfen wenigstens einer sehr feuchten Luft, um gedeihen zu können. Dies gilt von den allbekannten grünen Beschlägen am Fuße feuchter Mauern und auf den Steinplatten unter dem Ausguß der Brunnen. Dieser
anscheinend gestaltlose grüne Ueberzug besteht aus Algengebilden der niedersten Rangordnung.
Die den Pilzen noch ganz abgehende, in den Flechten beginnende grüne Farbe tritt bei den Algen in ihrer ganzen Kraft auf, und zwar wie immer im Pflanzenreiche nicht als grüne Flüssigkeit oder als grüne Färbung der Zellenhäute, sondern in der Form außerordentlich kleiner grüner Körnchen, welche in dem an sich wasserklaren Zellsaft schwimmen.
Sie kennen die zarten grünen Fäden, welche sich an den hölzernen Wänden der Mühlgerinne, an den triefenden Mühlrädern, in Brunnenkästen ansetzen und auch in Gräben und Teichen oft in großer Fülle wachsen. Die schlüpfrigen, sich fest an die Hand anschmiegenden Fäden werden eben deshalb meist mit Widerwillen betrachtet, und doch erscheinen sehr viele von ihnen, die Familie der[WS 5] Conferven bildend, unter dem Mikroskop betrachtet, als die zierlichsten Bildungen. F. 9 zeigt uns einen solchen Algenschopf und daneben (f.‴) einen einzelnen Faden desselben, aus einer zarten Zellenreihe gebildet, in deren einzelnen Zellen das Blattgrün – so nennt man den grünen Farbstoff des Pflanzenreichs – in Spiralbänder geordnet ist. Aber noch einfacher gebildet, finden wir die Figuren 6‴ und 7‴, einzellige Algen darstellend. Diese dem bloßen Auge nicht sichtbaren Pflänzchen bestehen aus einer einzigen, wie wir sehen durch eine tiefe Einschnürung in zwei gleiche Hälften abgegliederten Zelle. Diese und viele andere Formen finden sich oft in zahlloser Menge in dem feinen Schlamme der Wiesengräben, wo freilich nur der Unterrichtete so zierliche Schönheit sucht.
Mit ihnen zusammen lebt hier das räthselhafte Geschlecht der Diatomeen oder Spaltalgen, deren älterer deutscher Name, Stabthierchen, keine Gültigkeit mehr hat, da man in neuerer Zeit die Pflanzennatur dieser sonderbaren Gebilde erkannt hat. Kleine, sehr manchfaltig gestaltete Zellen, immer mit einer zarten Kieselschale bedeckt, reihen sich meist linienartig an einander (F. 8.‴). Die große Vermehrungsfähigkeit dieser lange für Thiere gehaltenen Pflänzchen und die Unverweslichkeit ihrer Kieselschalen macht es erklärlich, daß man mächtige Schichten feiner Erde findet, welche lediglich aus diesen Kieselschalen besteht und nicht blos Bergmehl genannt, sondern in Lappland und Schweden auch zuweilen als Zusatz zum Brotmehl verbacken wird [6].
Im Meere lebt die schöne Algenfamilie der Tange und Fucoiden, unter denen, neben den kleinsten eben besprochenen, die größten Gewächse vorkommen. Sie kennen aus Campe’s Entdeckung von Amerika die Täuschung der kühnen Reisenden durch meilenweite Verwandlung der Meeresoberfläche durch Seegewächse in begrüntes Land. Es waren dies Tange, von denen manche über 1500 Fuß lang werden.
F. 10 ist eine kleinere Art dieser Tange aus der Familie der Rothtange und Florideen, so genannt wegen ihrer meist rothen Färbung.
Indem wir nun zu den Moosen übergehen, treten wir in eine Welt der zierlichsten Bildungen und von einer viel entschiedeneren Ausprägung der Pflanzengestalt. Die Blätter, welche bei den Rothtangen allein die ganze Pflanze bilden, treten in reiner Vollendung bei den Moosen der Fruchtbildung gegenüber. Wer liebt nicht diese prächtiggrünen Pflänzchen, welche bald mit sammtnen Polstern das faulende Strohdach der Hütte schmücken, bald als einladende Decke den Waldboden überziehen.
Die Moose zerfallen in zwei bestimmt von einander getrennte Gruppen: die Lebermoose und die Laubmoose. Jene erinnern in der Bildung ihres Laubes in einigen ihrer Arten noch an die unentschiedene Laubbildung der Flechten (man vergleiche F. 11 mit F. 4.). Die große Mehrzahl der Lebermoose trägt auf einem zarten Stielchen eine kleine schwarzbraune runde Kapselfrucht, welche in Klappen aufspringt (F. 11. k′) und zwischen niedlichen Schläuchen, in denen ein oder zwei Spiralfäden laufen, die kleinen[WS 6] Keimkörner enthält (F. 11. sch‴. und sp‴.). F. 12. zeigt uns von einigen anderen Lebermoosen mit entschieden ausgebildeten Blättchen die Form und Stellung derselben.
Da die Lebermoose fast nie in so großer Menge beisammenwachsen wie die Laubmoose, so sind es fast nur die letzteren, was wir im gewöhnlichen Leben unter Moosen schlechthin verstehen. Mit einigen wenigen Ausnahmen sind die Laubmoose sehr übereinstimmend gebaut. Das zierlich beblätterte oft auch verzweigte [27] Stengelchen trägt auf meist langen fadendünnen Fruchtstielen eine Frucht, welche wir Büchse nennen, weil sie mit einem förmlichen Deckel verschlossen ist.
Als Vertreter der Laubmoose habe ich ein ziemlich häufig vorkommendes gewählt, eine Art der Gattung der Wiederthone, mit einfachen Stengelchen (F. 13.). Auf dem langen Fruchtstiele sitzt die Büchse, welche zunächst mit einer Haube oder Mütze bedeckt ist. Wir sehen sie bei F. 13. m''. allein und stärker vergrößert dargestellt. Hier ist sie haarig-filzig, eine wahre Perrücke; bei den meisten Laubmoosen ist sie jedoch häutig. Ziehen wir die Mütze ab, so erscheint nun als ein zweiter Verschluß der Büchse das Deckelchen (F. 13. b''.). Sind die Sporen reif, so fällt das Deckelchen ab und dann ist bei den Wiederthonen noch ein dritter Verschluß vorhanden, eine zarte, weiße Haut (h''.). Diese wird von einem zierlichen Zahnkranz, dem sogenannten Zahnbesatz, gehalten, welcher, bei vielen Moosen doppelt, die Oeffnung der Büchse umgiebt (z'. u. zz'''.). Dann erst kommen wir auf das außerordentlich feine grüne Pulver, welches die unendlich kleinen Keimkörner bilden. In sp''. ist eins sehr stark vergrößert dargestellt.
Es bleiben uns nun von der Abtheilung der blüthenlosen Pflanzen nur noch die Farrenkräuter übrig, von denen ich Ihnen in der nächsten Vorlesung eine Uebersicht geben will. Wir werden finden, daß sie ein großes und geschichtliches Interesse haben und daß ihre Vorfahren bei der Steinkohlenbildung thätig mitgewirkt haben.
Kriegsbilder aus der Krim.
Es mochten nun ungefähr fünf bis sechs Tage nach unserer Landung bei Balaklava vergangen sein, als meine Escadron den Befehl erhielt, eine größere Recognoscir-Patrouille zu unternehmen, bei welcher wir die Wahrscheinlichkeit hatten, mit der russischen Kavallerie, von der wir bisher nur einzelne Vedetten aus der Ferne gesehen, zusammen zu kommen. Es war eine unendliche Freude bei meiner gesammten Mannschaft, als dieser Befehl bekannt wurde, denn zu sehr brannten Alle vor Ungeduld, sich endlich einmal mit der russischen Reiterei messen zu können. Hätte man jedem einzelnen Chasseur zehn Napoleond’ors dafür versprochen, wenn er von dieser Expedition zurückbleiben wollte, ich glaube kaum, daß sich in meiner ganzen Escadron ein Mann gefunden, der dies um solchen Preis gethan.
Wir waren bei dieser Patrouille wohl schon an 11/2 Stunden in das Innere des Landes hineingeritten, und hatten außer einigen Kosaken, die sich bei unserer Annäherung aber stets schnell zurückzogen, noch keinen Feind weiter gesehen, so daß meine Chasseurs nicht wenig mißvergnügt darüber waren, und unzählige Flüche ausstießen. Der Allerungeduldigste war aber Jean-Jean, der seinem Zorn auf eine so komische Weise Luft machte, daß ich wiederholt darüber lachen mußte.
Endlich, als ich schon wieder umkehren lassen wollte, denn meine Recognoscirung wäre fast zu weit ausgedehnt worden, kam eine größere Masse russischer Reiterei langsam auf uns zugeritten. Es waren reguläre Uhlanen, ungefähr wohl in gleicher Stärke, wie wir selbst, dazu noch an vierzig bis funfzig Kosaken. Die Russen schienen die Absicht zu haben, unserm Angriff entgegen zu kommen, und so war denn endlich die so lange ersehnte Aussicht zu einem Gefechte vorhanden. Eine große Freude hatten wir darüber, und ich selbst hatte Mühe, die allzu hitzige Kampflust meiner Leute zu zügeln. Nach und nach hatten wir im langsamen Tempo den Russen uns wohl bis auf 5 bis 600 Schritte genähert, und ich ließ das Signal zum Trabe und bald darauf auch zum Galopp von dem Trompeter blasen. Bei Gott, was war dies für ein schöner Augenblick, als die Trompetentöne so hell und verlockend schmetterten, unsere Säbel blinkten, und meine Leute ein lautes, jubelndes „vive l'empereur!“ den Feinden entgegenriefen! Die russischen Uhlanen gaben sich nun den Anschein, als wollten sie mit eingelegten Lanzen unserer Attaque entgegenkommen; allein plötzlich machten sie vor uns Kehrt, und gingen in vollem Galopp zurück. In demselben Augenblick[WS 7] sah ich aber auch, daß vier russische Geschütze der reitenden Artillerie, die bisher in einer Schlucht verborgen gewesen waren, plötzlich aus derselben hervor und den Uhlanen zur Hülfe angejagt kamen. Jetzt galt es, meine Chasseurs, die in möglichster Eile hinter den russischen Uhlanen dreinjagten, um dieselben noch einzuholen, wieder zurückzuerhalten, da sonst die Feinde ihren Zweck, uns einen Hinterhalt zu legen, vollkommen erreicht hätten. Der Trompeter mußte das Signal zum Appel blasen, was er wirklich ungemein ungern that, und ich ordnete die Glieder wieder zum langsamen Zurückgehen.
Zwei russische Uhlanen, die mit ihren Pferden gestürzt waren, hatten meine Chasseurs bei dieser kurzen Verfolgung gefangengenommen, und dazu noch ein sehr gutes Offizierpferd, welches ohne Reiter auf uns zugelaufen kam, erbeutet. Jean-Jean, auf seinem schnellen Rothfuchs, wie immer mit der Vorderste im Gefechte, hatte den Einen dieser russischen Uhlanen, der sich einen Augenblick noch mit der Lanze gegen ihn vertheidigte, gefangen genommen, und war nicht wenig erfreut darüber, daß er der erste Soldat in unserer ganzen Escadron gewesen, der einen Russen zum Gefangenen gemacht.
In demselben Augenblick, wo der lustige Irländer aber noch hierüber lachte und schwatzte, und seinem Gefangenen, einem mit mehreren Medaillen gezierten Soldaten, gutmüthig seine Branntweinflasche hingereicht hatte, damit dieser durch einen tüchtigen Zug daraus sich über sein Schicksal bestens trösten möge, krachte eine Kartätschensalve, welche die vier feindlichen Kanonen abgefeuert hatten, gegen uns. Die Entfernung der Geschütze war aber noch zu groß, und die Kugeln schlugen gewiß noch an 50 bis 60 Schritte von uns in den Boden. Eine derselben mußte von Ungefähr dort so an einen Stein angeprallt sein, denn sie flog in schiefer Richtung und traf den Jean-Jean so mitten in der Brust, daß derselbe auf der Stelle todt von seinem Fuchs stürzte, und keinen Laut mehr von sich geben konnte. Ich kann nicht leugnen, daß es mir sehr Leid that, gerade meinen lustigen Irländer verlieren zu müssen, so häufig erzürnt ich auch manchmal mit Recht über denselben gewesen war.
Um nun mehr aus dem Bereiche der russischen Geschütze, hinter denen sich die Kosaken und Uhlanen wieder gesammelt hatten, fortzukommen, ging ich mit meiner Escadron im langsamen Trabe zurück. Die Kanonen der Feinde folgten uns in gleichem Tempo, und gaben uns auch später nochmals eine Salve, die aber nicht den mindesten Schaden that. Jetzt waren die Uhlanen auch wieder kühner geworden und rückten uns näher, so daß ich Kehrt machen und dieselben auf kurze Strecke verfolgen ließ. Dem Flanqueurzug meiner Escadron, der mit den schnellsten Pferden beritten war, befahl ich aber, die russischen Uhlanen so weit wie möglich zu verfolgen, und setzte mich selbst an dessen Spitze, während ich meinem ersten Lieutenant die Führung der übrigen Escadron, die langsam zurückging, übergab. Dies Manöver glückte uns endlich und wir holten die acht russischen Uhlanen, die am Schlechtesten beritten waren, ein und bevor ihre Kameraden ihnen noch zur Hülfe gekommen waren, hatten wir sie nach kurzer und schwacher Gegenwehr, wobei nur ein Chasseur leicht durch einen Lanzenstich in der Schulter verwundet war, niedergehauen und vier ihrer Pferde erbeutet. Der übrige Theil der russischen Kavallerie wandte sich jetzt zwar wieder gegen uns Flanqueurs, aber es war uns auf unsern flüchtigen maurischen Hengsten gar leicht, denselben zu entkommen, und den zurückgebliebenen Theil der Escadron zu erreichen.
Da die Russen abermals Kehrt machten, der Abend auch schon allmälig herandämmerte, so gingen auch wir in unser Lager zurück, in welches wir sieben erbeutete Pferde und zwei gefangene Uhlanen mit zurückbrachten. Die Leiche des gefallenen Jean-Jean, welche seine Kameraden auf dem Pferde mitgenommen hatten, begruben wir am andern Morgen mit allen militairischen Ehren, da es ja der erste Soldat war, den unsere Escadron in diesem Feldzuge gegen den Feind verloren hatte.
[28] Als ich einige Tage darauf einem Offizier des englischen Husarenregiments, bei dem der Bruder des Jean-Jean diente, den Tod desselben mittheilte, sagte der mir, daß auch dieser an demselben Tage in einem kleinen Scharmützel, das sie ebenfalls mit den russischen Vorposten gehabt hätten, geblieben sei. Es war doch ein merkwürdiger Zufall, daß diese beiden Zwillingsbrüder hier an ein und demselben Tage in der Krim vor dem Feinde bleiben mußten, der Eine als Chasseur d'Afrique, der Andere als englischer Husar, nachdem sie sich kurz zuvor nach vieljähriger Trennung auf einige Stunden wieder gesehen hatten.
Ein paar Tage nach diesem kleinen Vorpostengefechte zwischen uns und den russischen Uhlanen, hatte unsere Infanterie einen größeren Kampf mit den Russen, dem ich als Volontair mit beiwohnte, zu bestehen. Bei Gott, es war eine wahre Freude, einige Kompagnien von unseren Zuaven bei dieser Gelegenheit zu sehen, und ich beneidete förmlich ihre Offiziere, daß sie solche tapfere Burschen in das Feuer führen durften. Ich war früher gerade mit diesen Zuaven-Kompagnien unweit Setif in Algerien mehrere Wochen lang im Bivouak gewesen, hatte sie dann aber seit 1851 nicht wieder gesehen, wie gerade jetzt in diesem Augenblick, wo die Kompagnien in das feindliche Feuer hineinmarschiren sollten. Fast alle die älteren Soldaten, und bei den Zuaven trifft man stets sehr viele derselben, erkannten mich augenblicklich wieder, und da zwischen uns Chasseurs d'Afrique und den Zuaven stets eine Art von Rivalität stattfindet, so schmeichelte es jetzt ihrer Eitelkeit sehr, daß ich gekommen war, ihren Angriff mit anzusehen.
„Voyez, voyez le capitaine des chasseurs d'Afrique“ rief es laut in den Gliedern, als ich mit dem mir näher befreundeten Kommandanten des Bataillons an dieselben herantrat, und ein häufiges: „Soyez le bien revu chez nous mon capitaine!“ erscholl mir aus dem Munde der Soldaten entgegen.
Man hätte es in der That diesen Zuaven-Kompagnien nicht anmerken können, daß sie in den nächsten Augenblicken so recht auf die gefährlichsten Stellen des ganzen Gefechtes hinmarschiren sollten, so munter ging es bei ihnen zu. Das lachte und pfiff und trällerte in den Gliedern und machte Witze und trieb Possen aller Art, daß selbst die Offiziere nur mit Mühe den nöthigen Ernst behaupten konnten. Besonders ein kleiner Affe, den ein Zuave angekettet auf seinem Tornister trug, war der Gegenstand unerschöpflicher Scherze für die umherstehenden Rotten. Das Thierchen, dem man eine Art mit Flitterkram bunt aufgeputzter russischer Generalsuniform angezogen hatte, mochte sich in dem Lärmen, denn die feindlichen schweren Geschütze krachten von den Forts von Sebastopol laut genug herüber und Kanonenkugeln saus’ten häufig über die Köpfe der Soldaten hinweg, die mit spöttischem Lachen dieselben begrüßten, sehr unbehaglich fühlen, und schnitt nun in seiner Angst so unbeschreiblich komische Gesichter, daß selbst der ärgste Murrkopf herzlich darüber lachen mußte.
Desto muthiger aber zeigte sich Bim-Bim, der wohlbekannte kleine Bulldogge der einen Zuaven-Kompagnie, der schon in Algerien so vielen Gefechten mit beigewohnt, und auch den berühmten Sturm an der Alma mitgemacht hatte, Der Hund stand wie gewöhnlich neben dem Signalisten der Kompagnie und bellte muthig die in seiner Nähe in der Luft sausenden Kanonenkugeln an. Oft blickte er den Signalisten an und schaute förmlich nach dessen Trompete hin, ob er dieselbe nicht bald an den Mund setzen und das ihm längst bekannte Signal zum Avanciren blasen würde. So wie dies geschieht, macht Bim-Bim seiner Freude durch einige hohe Sprünge und ein lautes Gebelle Luft und springt dann unverzagt der Kompagnie mitten in den stärksten Kugelregen voran. Der Hund ist schon zwei Mal in Algerien verwundet worden, ohne daß seine Kampflust dadurch im Mindesten geschwächt worden ist.
Viele Zuaven vertreiben sich die Zeit des Wartens auch mit Gesang, und besonders ihr Leiblied:
„L’as tu vue,
L’as tu vue,
La casquette
Du père Bugeaud?“
was ich in Algerien so unzählige Male von ihnen gehört hatte, erscholl in lautem mächtigem Chor. Nicht so laut, aber sonst nicht minder feurig, sangen auch mehrere Soldaten die Parisienne:
„Par la voix du canon d’alarme,
La France appelle ses enfants,
Allons dit le soldat aux armes!“
obgleich dieser Gesang, wie auch der der Marseillaise, jetzt nicht mehr im Heere gesungen werden soll. Nun, vor einem hitzigen Gefecht nimmt man es freilich nicht so genau!
Der Kanonendonner von den russischen Forts hatte schon eine ganze Weile gedröhnt, als endlich auch für die Zuaven der so lange ersehnte Befehl zum Vorrücken kam. „Les Zouaves en avant!“ rief ein in vollem Galopp ansprengender Adjutant schon in der Ferne, und ein jubelndes „vive l’empereur!“ der Kompagnien, was durch all den Kanonendonner hervortönte, war die Antwort darauf. Im Sturmschritt ging es nun vorwärts, wobei ich leider die Tapfern nicht mit begleiten durfte, wie ich so gerne gethan, und bald konnte man ihre ersten Salven, womit sie die russischen Truppen, die den Ausfall unternommen hatten, empfingen, hören. Lange sich mit dem Schießen aufzuhalten, ist aber nicht nach dem Geschmacke der Zuaven, und so warfen sich denn auch diesmal die Kompagnien unter lautem Schlachtgeschrei mit den Bayonnetten auf die Feinde.
Ungefähr zehn Minuten dauerte das Handgemenge, und die bunten Turbane der Zuaven waren mit den blinkenden Pickelhauben der russischen Grenadiere in einem dichten Knäuel untermischt; man hörte zwar bisweilen noch einzelne Schüsse knallen, doch waren die blitzenden Bayonnete die Hauptwaffen, mit der die Gegner einander sich bekämpften, dann wich die graue Linie der Russen immer mehr zurück, während unsere Soldaten derselben ziemlich schnell nachfolgten. Die Tapferkeit der Zuaven hatte auch diesmal wieder, wie fast immer, den Sieg davon getragen, und mit empfindlichem Verluste waren die Gegner wieder zurückgetrieben worden.
„Wir hatten all’ unser Geld zusammengethan, um uns womöglich ein Stück Fleisch zu kaufen. Mir ward der Auftrag, auf die Jagd danach auszugehen, da man behauptete, ich verstehe am Meisten Armenisch. So machte ich mich auf den Weg über Ruinen von Häusern und Holzhütten, zwischen denen Kugeln, Todte, Gerippe, jammernde Weiber und Kinder und still und lautlos verhungernde Leute kauerten und lagen. Ich verschaffte mir Zutritt in verschiedene Hütten und Höhlen, aus denen der größte Theil von Kars besteht, so prächtig es auch von Außen auf seinem Berge aussieht, fand aber entweder keine lebende Seele oder zusammengesunkene Personen und Familien, denen der leibhaftige Tod des Verhungerns aus den matten, schwarzen Augen sah. Merkwürdig, wie viel Ruhe, wie viel kalte, schmerzlose Ergebenheit in vielen solcher Gesichter lag!
„Endlich fand ich in einem Hause verkäufliches Fleisch - eine lebendige, freilich auch sehr abgemagerte Katze. Der Hausherr, eine athletische, braune Armenierfigur, sprach lebhaft und leidenschaftlich, doch verstand ich nur im Allgemeinen den Sinn seiner Worte, über Kurz oder Lang müsse doch die Erlösung von Rußland kommen, da Gott und der Sultan und die alliirten Franken dazu uns offenbar absichtlich ohne Hülfe und Beistand gelassen, und daß nur „Geld haben“ das Einzige sei, wonach er strebe. Deshalb solle ich die Katze für zweihundert Piaster haben. Meine gesammelte Kasse bestand aber nur in einigen Münzen über hundert Piaster. Ich bot ihm also hundert, Aber er schüttelte entschieden den Kopf und erklärte bestimmt, daß der Preis feststehe und er sie schon für 150 Piaster lieber selber essen werde. Ausgehungert und übermüdet, als Bote und Bevollmächtigter von Freunden, die seit drei Tagen ebenfalls nichts gekaut als Stückchen Holz und an ihrem Lederzeug, blieb mir keine Wahl. Ich bot also hundert Piaster und meine Uhr, Onkel wird mir vergeben, daß ich auf diese Weise sein Geschenk opferte. Es galt nicht
[29][30] blos mein, sondern auch das Leben lieber Freunde. Wir bekommen zwar regelmäßig bis zum letzten Augenblicke unsere Drittelrationen, nicht weniger, als sich unser General Williams ebenfalls blos erlaubte, aber wir hatten sie während der drei letzten Tage an Kinder verschenkt, die wir ziemlich verhungert fanden, und die so rührend und schön aussahen in ihrem letzten Kampfe um ihr unschuldiges Leben. Dabei waren die kleinen Stückchen Pferdefleisch, die wir früher bekamen, während der letzten zehn oder vierzehn Tage auch ausgeblieben. Das Fleisch gefallener und verhungerter Pferde war zum Privilegium der Hospitäler und auch hier nur der schwer Verwundeten und Kranken geworden.
„Also ich gab meine Uhr und meine hundert Piaster für die abgemagerte Katze, die sich ganz ruhig auf dem Arme von mir forttragen ließ. Unterwegs ward ich von einigen Türken attaquirt, welche mir meinen Schuh abnehmen wollten, aber ich schimpfte und drohte so verzweifelt, daß ich mich glücklich durchschlug und von meinen Freunden mit Jubel (der aber sehr dünn und schwach klang) empfangen ward. Die Katze ward sofort in fünf Theile zerhauen, von denen Jeder sofort ein Stück gierig zermalmte und als größte Erquickung verschluckte. Ja, liebe Aeltern, so ekelhaft dies auch klingen mag, so war es. Wollte Gott, es wäre nichts Schlimmeres verzehrt worden und geschehen. Ich könnte Euch haarsträubende, herzzerreißende Geschichten mittheilen. Nur eine, die lächerlich-schauderhaft ist, aber doch auch zugleich wieder Respect vor der menschlichen Natur einflößt. Auf meiner Jagd nach Fleisch trat ich in eine Hütte, deren Patriarch mir seine linke Hand mit nur drei Fingern zeigte. Wo waren die beiden andern hingekommen? Er hatte sie sich abgehackt, gekocht und mit seiner Frau und den Kindern gegessen. So erzählte er mir, und zum Beweise zeigte er mir noch die abgenagten Knochen davon.“
Diese wörtlich übersetzte Stelle aus dem Privatbriefe eines Engländers an seine Aeltern bei Leeds giebt in einzelnen kleinen Zügen doch ein ziemlich getreues, volles Bild der Zustände während der letzten Tage von Kars. Aus einer andern Stelle seines Briefes geht hervor, daß er die Katze am 23. November kaufte. Am Tage darauf schon sandte General Williams seinen Adjutanten Mayer Teesdale an den Kommandanten der russischen Belagerungsarmee, General Murawieff, um eine Audienz bittend. Diese ward ihm bewilligt. Am 27. erschien General Williams im russischen Lager vor dessen Kommandanten und unterzeichnete die Bedingungen der Uebergabe. Der Schreiber obigen Briefes, der einen untergeordneten Posten im Stabe des General Williams bekleidete, war bei dieser Gelegenheit mit ihm, doch giebt er davon weiter keine Einzelnheiten, wahrscheinlich weil er den Brief schrieb, als er schon russischer Kriegsgefangener war.
Am 28. November überlieferte sich die Festung Kars mit seiner Heldenarmee (Helden des tragischsten, höchsten Ruhmes in diesem Momente) dem Sieger. Letzterer hatte ihnen gestattet, mit ihren Waffen, mit fliegenden Fahnen und klingendem Spiel den Ort ihrer heldenmüthigen Thaten und heldenmüthigeren Leiden zu verlassen, aber in Folge des Gesuchs der Kommandeurs zogen sie still ab mit Hinterlassung ihrer Waffen und aller ihrer Munition, die von Türken bewacht ward, bis Russen sie ablös’ten. Sechstausend der ältesten und schwächsten Redifs und Baschiboschuks wurden in ihre Heimath entlassen, gegen 8000 Mann reguläre Truppen, General Williams mit seinem ganzen Stabe und neun Pascha’s überlieferten sich dem Feinde als Kriegsgefangene.
Vor der hohen Festung draußen schlängelt sich ein Flüßchen, Karstschai, an dessen linkem Ufer der Feind für die ausgehungerten Besiegten ein vollständiges Mahl hatte bereiten lassen. So rettete diesen letzten Rest der anatolischen Armee, im Juni noch 3,000 Mann stark, der Feind vor dem Hungertode. Die mächtigen Freunde hatten Woche für Woche, Monat für Monat zugesehen, wie diese Heldenarmee allmälig zusammenhungerte, den Augenblick sicher und ohne Gegenwehr heranschleichen lassen, in welchem sie aus der Hand des Feindes wieder die erste Mahlzeit genossen, nicht blos zugesehen, nicht blos diesen Augenblick heranschleichen lassen, sondern auch ein Bischen mit geholfen und Hülfe verhindert, Omer Pascha verhindert, umhergetrieben, aufgehalten, bis es zu spät war.
Omer Pascha, der einzige wirkliche Held von Talent, Ehrlichkeit, Ernst und Pathos für die Türkei, und deshalb gegen die officiellen Türkenfreunde, hat nun, nachdem man ihn zu spät aus den Fesseln seiner Wirksamkeit auf der Krim entließ, eine Stellung in Kleinasien, die seinen Untergang nach weiser Berechnung nur zu wahrscheinlich macht. Die anatolische Armee verhungerte und zerfiel durch den Fall von Kars. Sechstausend Mann davon wurden russische Kriegsgefangene. Mit ihnen gingen 12 Standarten, 130 Kanonen und 30,000 Gewehre in die Hände des Feindes über.
Kars wäre von Seiten der Alliirten Wochen und Monate vorher von einem Hafen im schwarzen Meere leicht zu erreichen und zu retten gewesen, aber man überließ es seinem Schicksale, wie früher den Omer Pascha an der Donau, der ganz gegen alle Erwartung siegreich blieb, während man die alliirten Freunde thatenlos in den Sümpfen bei Varna von Cholera und Langeweile aufreiben ließ.
Mit welcher Zuversicht man in Kars auf Hülfe rechnete, da das Gegentheil ganz unglaublich, ganz selbstmörderisch erschien, davon werden mit der Zeit überraschende Beweise bekannt werden, überraschende, weil der Glaube so ganz natürlich und naheliegend erschien und doch betrogen ward.
Nach dem glücklichen Ausfalle der Belagerten am 29. September, nahmen Hoffnung und Muth die freudigste Gestalt an. Man erwartete Bely Pascha von Trebisond aus und von andern Seiten Omer Pascha. Beide waren aber wegen Vernachlässigung von Zufuhren an Geld und Lebensmitteln aufgehalten worden, und ersterer erwies sich zu schwach gegen die russische Abtheilung des General Souloff, der ihn an der ganzen Länge seiner Marschlinie fortwährend beunruhigte und aufhielt. Die Belagerung ward strenger, runder, abgeschlossener, Muth und Hoffnung und Lebensmittel innerhalb der fest umzingelten Stadt schmolzen zusammen, obgleich letztere bald bis auf ein Drittel dessen, was der Mensch zu seiner täglichen Nahrung braucht, eingeschränkt wurden und die einbrechende Kälte und herabfallender Schnee dieses Drittel zu einem Fünftel des Nothwendigen herabdrückten. Mit zunehmender Kälte tritt das Bedürfniß einer größern Masse von Nahrung, d. h. von Wärme und Respirationsmitteln ein, wie wir aus frühern Artikeln wissen. Die Soldaten und die Bewohner sanken erst moralisch, dann materiell zusammen. Hungertodesfälle wurden immer alltäglicher. Viele desertirten, um diesem Tode zu entgehen. Düstere Verzweiflung, brutale Raubgier und Speculation mit Lebensmitteln steigen zu entsetzlicher Größe und Willdheit. Das verächtlichste, ekelhafteste Fleisch bekam den Preis des edelsten Metalles. Ratten, Mäuse und Katzen wurden mit Gold aufgewogen. Hier und da kochte man Heu und Stroh und aß die Suppe davon, ehe man das so ausgekochte Futter den Pferden gab. Wir vernahmen von einem Beispiele, daß ein Familienvater die Seinigen direkt von seinem eigenen Fleische und Blute vor dem Hungertode zu retten versuchte. Später werden noch manche tragische und entsetzliche Einzelnheiten bekannt werden.
Am 14. November forderte Murawioff die unglückselige Stadt zur Uebergabe auf. General Williams berief einen Kriegsrath, der sich in dem Beschlusse vereinigte, die Flagge des Waffenstillstandes zu erheben und um Sendung eines Couriers nach Erzerum, zu Selim Pascha zu bitten. Dies ward gestattet. Der Courier fand die Russen bis dicht vor Erzerum vorgerückt, und Selim Pascha ohne Absicht und Willen, Kars zu helfen. Für letztern, räthselhaften Umstand giebt’s noch keine officielle Aufklärung. – Am 22. kehrte der Courier zurück. Zwei Tage später war General Williams in der Lage, den Rest seiner Armee entweder von Hunger vollends aufreiben zu lassen oder die Uebergabe der Stadt selbst zu beantragen. Er wählte das Letztere, als das allein noch Vernünftige und Menschliche.
So endete traurig und tragisch die Vertheidigung von Kars, eine der nobelsten und heroischsten Episoden dieses ganzen Krieges, vor deren Helden selbst die Feinde an den ihnen Anheimgefallenen die größte, allgemeinste Achtung bewiesen. Warum man die belagerte Stadt und ihre heroischen Vertheidiger so tragisch untergehen ließ, warum sich Premiers, Sultans, Pascha’s, alliirte Türkeiretter stets in so ehrerbietiger Entfernung von diesem Heroismus hielten, mag darin seinen Grund haben, daß ihnen dieser Heroismus überhaupt zu fern lag, daß er nicht zu näher liegenden Plänen und Interessen paßte, und der Fall von Kars, wie es in einigen englischen Zeitungen feststehende Phrase geworden, ein beabsichtigter war.'
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Egyptische Sklaven. Die egyptische Regierung schickt bekanntlich ganz öffentlich ihre Soldaten auf die Sklavenjagd, die oft sehr blutig ausfällt, da sich das menschliche Wild nicht immer gutwillig fangen läßt. Kein Wunder, daß bei der Rentabilität derartiger Jagden auch Privatleute dies Geschäft treiben. Zwischen Obeîd und dem weißen Flusse wohnen die Kababiesch, ein räuberischer Nomadenstamm, dem Namen nach von den Türken ebenfalls unterjocht. Zwanzig bis dreißig dieser Nomaden besteigen ihre schnellfüßigen, ausdauernden Pferde und jagen dem Gebirge zu. Ehe die muthigen Gebirgsbewohner es ahnen, ist ein Dorf überfallen, zehn bis zwölf Kinder werden geraubt, bevor noch der Neger zu den Waffen greifen konnte, ist die Räuberhorde wieder verschwunden. Sklavenhändler erscheinen nun im Lager der Nomaden, kaufen die Kinder und bringen sie nach Obeîd. Die Knaben werden entweder Soldaten oder, wie die Mädchen, Dienstleute, Sklaven in den Häusern der Vornehmen und Reichen. Wohl ihnen, wenn sie in die Hände milder Türken oder Egypter fielen; wehe ihnen, wenn ihr unglückliches Loos sie in die Hände eines Nubiers, Kordofahnesen oder — eines Europäers warf! Die aus der Haut des Hippopotamus geschnittene Peitsche zerfleischte ihren Rücken, ehe sie noch Jünglinge wurden. Die grausame Behandlung dauert auch in der Sklaverei fort. Es ist wahr, der Neger ist in der Knechtschaft ein anderer Mensch als in der Freiheit seiner heimathlichen Berge. Wie jeder unterdrückte und dabei uncivilisirte Mensch wird er falsch, tückisch und schlecht. Seine Energie verwandelt sich in der Sklaverei in Starrköpfigkeit, seine Kriegslist in Hinterlist und Heimtücke, seine an dem feindlichen Stamme ausgeübte Blutrache in Rachsucht: der frühere Krieger wird jetzt leicht ein zu fürchtender Mörder. Der Sklave, welcher seine Kette nicht brechen kann, sinnt auf Mittel, sich an Dem zu rächen, welcher ihm diese geschmiedet. Ihm ist es einerlei, ob er einen milden oder strengen Herrn bekommt, er haßt diesen, wie jenen. Aber der Weiße trägt daran die Schuld. Er entriß ihm vielleicht sein Weib, seine Kinder, er trennte ihn von Allem, was ihm theuer war, er nahm ihm die Freiheit und gab ihm schmachvolle Knechtschaft dafür, er entwürdigte den Menschen in ihm und erniedrigte ihn zum Thiere. Der Reisende, welcher Kordofahn’s Hauptstadt betritt, sieht die Sklaven als Diener von Vornehm und Gering, denen man die schwersten Arbeiten aufbürdet und die man, um ihr Entspringen zu verhüten, mit schweren Ketten fesselt. Unangenehm tönt das Gerassel derselben im Innern jedes Braven wieder; er sieht die Sklaverei in ihrer ganzen Furchtbarkeit. Einen so gemißhandelten Sklaven ist es nicht zu verargen, wenn er sich sehnt, anstatt des lästigen Staubes der Ebene, welche er zu Feld umzuschaffen gezwungen wird, die frische Luft seiner heimathlichen Berge zu athmen; wenn er wünscht, seinen von Peitschenhieben zerfleischten Rücken des lastenden Joches zu entledigen und mit der Lanze in der Hand Dem frei gegenüberzutreten, welcher ihn in jahrelanger Knechtschaft quälte. Er entflieht und eilt zurück nach den blühenden Wäldern seiner Heimath, zu den Brüdern seines Stammes. Aber eine fürchterliche Strafe harrt seiner, wenn ihm ein Fluchtversuch nicht gelang und er wieder eingefangen wurde. Der Sklavenbesitzer will seinen Neger, mit dem er schalten und walten kann gleichwie mit vernunftlosem Vieh, nicht gutwillig fahren lassen. Was ist schon für ein Kummer, wenn so ein Sklave stirbt! Wie bedauert sein Herr den Verlust der zwei oder dreihundert Piaster, die er gekostet hat! Und welche Wuth erfaßt einen Sklavenbesitzer, wenn es einem seiner Leibeigenen gelang, zu entfliehen! Er schwört ihm im Voraus grimmige Rache, unmenschliche Strafe zu. Dann geht er zu einer gewissen Art Menschen, die den Dienst der Bluthunde Nordamerikas übernehmen. Er führt sie in seine Behausung, zeigt ihnen die Fußstapfen des Entflohenen und fordert sie auf, ihn wieder einzufangen, wofür er eine gewisse Geldsumme verspricht. Die Bluthunde machen sich auf, den Flüchtling zu suchen. Sie bewaffnen sich mit Pistolen, einem Feuergewehr und der Lanze, nehmen Ketten, Nägel und eine Axt mit sich, um sogleich die Scheba zu zimmern. Dann verfolgen sie die Fährte des Entkommenen. Unter Tausenden von Fußstapfen wissen sie dieselbe herauszufinden und zu behalten. Es gelingt ihnen nach stunden- und tagelanger Jagd wirklich, den Sklaven wieder einzufangen oder niederzuschießen, wenn er sich nicht gefangen geben will. Im ersteren Falle bringen sie den Unglücklichen zu seinem Herrn zurück.
„Fesselt und bindet den Hund auf diesen Balken!“ herrscht er den Uebrigen zu. Der Befehl wird ausgeführt. Die Henkersknechte, welche die Peitsche schwingen müssen, erhalten von der berauschenden Meriesa soviel sie trinken wollen. Die Bastonnade beginnt. Kein Laut entfährt dem Gefolterten. Schon ist die Lederhaut seines Rückens zersprungen, die blutgetränkten Peitschen wühlen in den bloßgelegten Muskelfasern. Da und dort fliegen die losgetrennten Fleischstücke. Der Gemarterte schweigt, er ist besinnungslos oder gar todt. Ich habe einen so gemißhandelten Menschen gesehen, der mit dem Leben davongekommen war.
Wir waren in dem Grenzdorfe Melbeß in Kordofahn; es war im Monat Mai 1848. Mein Bedienter Mahammed bälgte mehrere große Geier ab, deren Fleisch in Haufen vor unserer Hütte lag. Die Geier fressen nur faulendes Aas, sie selbst nehmen den Geruch desselben an und stinken noch nach Jahren in den Sammlungen, trotz des Kampfers und anderer stark riechender Konservationsmittel. Der Nubier hatte sich, um den Gestank der Vögel ertragen zu können, Zwiebeln in die Nase gesteckt. Da schlich hinkend eine menschliche Gestalt zu ihm und bat ihn mit arabischen Worten: „Ju achni, be rachmet lillahi, wu rassuhlu Mahammed, etini hasa el lachem!“[7] Ich trat verwundert aus meiner Rebuka hervor. Vor mir stand ein Mensch – nein, es war kein Mensch mehr! – vor mir stand ein menschliches Knochengerippe, mit geistgetödtetem Auge, die Füße in eine mehr als zehn Pfund schwere Kette gezwängt, mit acht bis zehn 4–8 Zoll langen, 1–2 Zoll breiten, eiternden Wunden auf dem Rücken, zitternd vor Schwäche am ganzen Körper und gestützt auf einen Stab, um das wankende, kraftlose Gerippe aufrecht zu erhalten. „Schon der aufrechte Gang des Menschen zeigt das Streben seines Geistes zum Hohen, Himmlischen – zu Gott an,“ lautet die gewöhnliche Erklärung, warum der Mensch aufrecht geht. Fand sie auch hier ihre Anwendung? Wäre dieses Thier, das vor uns stand, wohl fähig gewesen, noch aufrecht, zum Himmel blickend, zu gehen, wenn es sich nicht auf einen Stab gestützt hätte? Nein. Es hätte kaum Kraft genug gehabt, auf allen Vieren herumzukriechen! Aber trotzdem trug es noch die schwere Kette, trotzdem wurde es noch zur Arbeit gepeitscht.
„Unglücklicher, was willst Du mit dem Fleische?“ fragte ich die Jammergestalt.
„O Herr, ich will es essen, ich bin so kraftlos und habe seit Monaten kein Fleisch genossen, ich will mich daran kräftigen.“
Ich habe ihm keine Antwort gegeben, ich fand keine Worte. Stumm willfahrtete ich seiner Bitte. Hätte er mich gebeten, ihm die Kugel der neben mir stehenden Büchse durch sein Hirn zu jagen, ich hätte es auch gethan! – Das ist die Sklaverei im Innern Afrika´s; das war ein Sklave, der entflohen, wieder gefangen und vor drei Monaten bestraft worden war!
Man erinnere mich hier nicht an die bekannte Thatsache, daß die Schwarzen Hunde, Schlangen, Krokodile und anderes Gethier, vor dessen Genuß wir zurückschaudern würden, ohne Ekel verspeisen, – Geierfleisch essen sie nicht. Ich behaupte, daß es einem Menschen, der andere Nahrung erhalten kann, unmöglich ist, eine so ekelhafte Speise zu genießen. Das bewies das Erstaunen und Grauen meines braunen Bedienten bei der Bitte des Unglücklichen, das bewiesen meine lebenden, stinkendes Aas mit Begierde verschlingenden Hyänen, welche sich weigerten, Geierfleisch zu fressen. Ein fast verhungerter, durch Mißhandlung halb wahnsinnig gewordener Mensch ißt es, er befindet sich aber in einem so traurigen Zustande, daß er nicht mehr Mensch genannt werden kann.
Die Weihnachtsfeiertage des 2. leichten Infanterieregiments der britisch-deutschen Legion. „Am 22. December,“ so schreibt uns der junge Legionär, dessen Berichte aus Shorncliff wir neulich mittheilten, „kam endlich der schon öfter gegebene, aber immer wieder zurückgenommene Befehl zur Einschiffung des 2. Regiments zur Ausführung.“
Im Hafen von Portsmouth lag ein stattliches Transportschiff, „der Transit,“ bereit, das Regiment aufzunehmen. Das Schiff wurde bestiegen und lichtet die Anker, legte aber etwa zwei englische Meilen von Portsmouth noch auf der Rhede wieder an, um Pulver an Bord zu nehmen, was im Hafen nicht geschehen darf. Das Pulver ward eingeladen, der Transit aber blieb ruhig vor Anker liegen.
Inzwischen hatte man Zeit gehabt, sich das Innere des Schiffes näher anzusehen. Der Transit ist ein Schraubendampfer und hat zwei Zwischendecke, dessen unteres aber zum größten Theile von den Maschinen eingenommen wird. In diesem untern Zwischendeck waren die 4. und 5. Kompagnie einquartirt, in dem obern die acht andern Kompagnien. Es stellte sich sofort heraus, daß der Schiffsraum viel zu enge für das ganze Regiment war, und höchstens etwa 600 Mann fassen konnte. An den beiden Seiten des obern Zwischendecks stehen dicht an einander Tische in Parallele. Zwischen denselben ist eben so viel Raum, daß an jeder Seite eines Tisches eine schmale Bank stehen kann. An jedem Tische sind sechzehn Mann einqartirt, es können aber in Wahrheit nur zehn, höchstens zwölf Mann daran sitzen. Das Gepäck der Soldaten, Tornister und Lederzeug, mußte oberhalb und zur Seite der Tische aufgehängt werden, aber auch hierfür war kaum Platz vorhanden. Nur aus der Enge des Schiffsraums läßt sich der Befehl erklären, daß stets ein Drittel der Mannschaft als sogenannte Wache Tag und Nacht, von vier zu vier Stunden abwechselnd, die Witterung sei, welche sie wolle, auf dem Verdeck kampiren muß. Zu welchem Zwecke sonst eine so unerhört starke Wache? Als die Nacht herannahte, wurden Tische und Bänke zur Erde niedergeklappt, etwa die Hälfte der Mannschaft legte sich auf dieselben zur Ruhe, die übrigen wenige Fuß darüber in Hängematten. Jeder Mann hatte etwa zwei bis drei Decken im Ganzen zur Unterlage und zur Bedeckung. Jetzt konnte man erst recht merken, wie enge man eingepfercht war; in Wahrheit mußte der Mann in Verlegenheit gerathen, wohin er sich wenden sollte, wenn er etwa einmal sich übergeben wollte.
Der Transit blieb den Sonntag und Montag über noch immer ruhig vor Anker liegen. Mit Sehnsucht erwartete ein Jeder die Abfahrt, nur bedenkend, daß er, je früher diese Statt sinde, desto eher aus dieser Eingeengtheit abgelöst werden könnte. Die Beköstigung konnte die Mannschaft für diesen Zeitverlust nicht entschädigen. Des Morgens empfing jeder Mann eine Portion Schisffszwieback von etwa ¾ Pfund, außerdem Morgens und Abends Kakao oder Thee, aber immer so dünn, daß das Getränk fast nichts Anderes war als heißes Wasser. Mittags gab es das unvermeidliche Salzfleisch (zwei oder drei Mal bis zum 28. allerdings frisches Fleisch) mit Erbsen oder Bohnen, oder mit Pudding, einem Gemengsel von Mehl und Fett mit vereinzelten Rosinen. Der beste Bestandtheil der täglichen Ration war ein kleiner Rum, den der Mann täglich einmal erhielt. Zur Genüge erhielt wohl Jeder, aber gut konnte Speise und Getränk nicht genannt werden. Dazu kam, daß die zinnernen Geschirre, aus denen gegessen und getrunken wurde, nicht gehörig gereinigt werden konnten, und zwar lediglich nicht wegen Mangels an Raum und heißem Wasser. Jedem übrigens, der an reinliches Geschirr gewöhnt war, mußte für die ersten Tage der Appetit bald vergehen. Am Tage vor Weihnachten waren übrigens die Portionen besonders klein gerathen, und am heiligen Abend mußte in Wahrheit mancher Legionär hungrig sich niederlegen, wenn auch die wehmüthigen Erinnerungen an früher erlebte [32] Weihnachtsfeste im trauten Familienkreise bei dem Einen oder Andern wohl den Gedanken an Speise und Trank nicht aufkommen ließen.
Endlich, am ersten Weihnachtstage Morgens neun Uhr wurden die Anker gelichtet. Das Wetter war schön, der Wind jedoch nicht günstig. Der Transit fuhr der Küste entlang, und gegen Abend hatte er wohl schon den Kanal passirt. Plötzlich, als die meisten Leute sich schon zur Ruhe begeben, nach acht Uhr, erlitt die Maschine eine Beschädigung. Mehrere Offiziere eilten in’s Zwischendeck, die Soldaten wurden auf’s Verdeck kommandirt. Durch die Beschädigung der Maschine war das Schiff leck geworden; die ganze Mannschaft mußte abwechselnd an die Pumpen. Das Schiff schwankte hin und her, die Dampfkraft war nicht mehr zu benutzen, das Steuer versagte den Dienst. Man sagt, der Kapitain, nicht Willens umzukehren, habe das Schiff der französischen Küste wollen zutreiben lassen, wo es an den Klippen gewiß gestrandet sein würde; allein die energischen Vorstellungen des Oberstlieutenants v. Aller hatten den Kapitain endlich zur Umkehr vermocht. Der Morgen des zweiten Festtags brach heran. Das Schiff trieb mitten auf dem Meere; es brauchte nicht mehr so stark gepumpt zu werden. Der Transit konnte sich nur noch mit Hülfe der Segel bewegen.
Nun erhob sich gegen Mittag ein Sturm. Das Schiff drohte das Gleichgewicht zu verlieren. Die Kapitains Schmidt und Riedel eilten in das Zwischendeck und beorderten alle Leute nach dem Hinterdeck zu. Die schäumenden Wellen spritzten über das Verdeck, die Situation war mehr als einmal kritisch. Auf dem Hinterdeck stand in seinen Wassermantel gehüllt, mit dem breitkrämpigen Hute auf dem Kopfe, der erste Schiffslieutenant, seine schrille Kommandostimme drang durch das Heulen des Windes. Die Soldaten, die am Tage zuvor von der Seekrankheit arg mitgenommen waren und die ganze Nacht hindurch angestrengt hatten arbeiten müssen, benahmen sich gefaßt und ruhig. Nach drei Uhr Nachmittags kam die kreidige Küste Englands wieder zu Gesicht. Schiff und Mannschaft konnten damit als gerettet betrachtet werden.
Aber sein Opfer hatte dieser Tag verlangt. Freilich nicht aus den Reihen der Legion. Ein Matrose stürzte während des heftigsten Sturmes aus dem Takelwerk in die See und er war natürlich rettungslos verloren.
Um fünf Uhr Abends befand sich der Transit wieder auf der Rhede von Portsmouth und warf Anker. Die ermüdeten Leute konnten der wohlverdienten Ruhe pflegen.
Der folgende Morgen bot einen prachtvollen Anblick. Unzählige Schiffe lagen zerstreut auf der Rhede, unter ihnen bedeutende Kriegsschiffe, wie der Wellington und Neptun. Auch das 3. leichte Infanterieregiment der Legion, das inzwischen an Bord gegangen war, konnte man auf einem dem Transit ähnlichen Transportschiffe bemerken. Dasselbe verließ gegen Abend die Rhede und dampfte unter Hurrahruf, während die Musikbande God save the queen spielte, am Transit vorüber. Wohin, kann ich nicht sagen. Auch der Bestimmungsort des Transit war bei der Abfahrt noch nicht bekannt.
Gegen Abend erwartete die Soldaten eine neue Qual. Sie hatten den ganzen Tag auf dem Verdeck zubringen müssen, da die untern Schiffsräume gereinigt wurden. Allmälig machte sich in Folge des vielfach genossenen Salzes ein furchtbarer Durst geltend. Der Apparat zur Bereitung des trinkbaren Wassers befand sich im Zwischendeck, wohin die Engländer, die mit der Schiffsreinigung noch nicht zu Ende waren, Niemand lassen wollten. Der Zugang zum Zwischendeck war von Durstigen besetzt, die ihren Unmuth bald genug laut werden ließen. Laute Klagen und Verwünschungen ertönten. Kaum konnten die Offiziere die Leute beruhigen. Endlich ließen sich die Engländer bereit finden, das an sich sehr wohl genießbare Wasser zu verabfolgen.
Auch am Freitag blieb der Transit unbeweglich liegen, und noch heute, am 29. December, liegt er wie festgebannt. Eine Kommission von Seeoffizieren ist am Bord und untersucht den Zustand des Schiffes. Wie es heißt, wird das Regiment auf demselben verbleiben, und morgen oder übermorgen, nachdem der Schaden gebessert, der Transit seine Fahrt auf’s Neue beginnen. Möge sie glücklicher sein als die jüngst versuchte!
Ein „sechster Sinn“ der Vögel. Audubon, der berühmte Naturforscher, schrieb eine ornithologische Biographie: Lebensschilderungen der Vögel. Darin behauptet er unter Anderem, daß die Geier und Adler sich blos vom Gesicht zu ihrer Beute führen ließen, der Geruchssinn helfe ihnen dabei gar nichts, obgleich man die für sie gedeckten Tische, Aas und Verwesung, oft Meilen weit riecht. Neuerdings hat man die Vögel genauer beobachtet und gefunden, daß sie allerdings ihre Nahrung theils riechen, theils sehen oder auch Beides zugleich, sie aber doch noch einen andern Sinn haben haben müssen, der für Fälle dient, in welchen die schärfsten Augen und Riecher nicht hinreichen. Man sagt wohl, es sei der „Instinkt.“ Aber was heißt das? Was nennen wir „Instinkt“ in den Thieren? Was wir nicht wissen. Das Wort ist blos eine Bezeichnung unserer Unwissenheit, wie viele andere gelehrte Ausdrücke, die sich immer zur rechter Zeit einstellen, wenn Begriffe fehlen. „Instinkt“ ist ein Reiz, ein Trieb, eine im Organismus auf einen bestimmten Punkt gerichtete Willensmeinung. Was erregt den Willen, den Trieb? Die Anregung muß von Außen gekommen sein, also einen „Sinn“ haben. Tauben fliegen morgens gleich frischweg und direct nach einem frisch gesäeten Acker oft Meilen weit, so daß sie das Futter weder sehen noch riechen konnten.
Wilde Enten, die in der Regel des Nachts schmausen, sind eben so schnell und sicher in Auffindung dessen, was ihnen gut schmeckt. Worin besteht in diesem Falle ihr Instinkt oder ihr „sechster Sinn?“ Der Hirsch weiß genau, wenn das Fleckchen Getreide des Schäfers im Walde reif ist und kommt nicht selten in großer Gesellschaft, um in einer Nacht die ganze Ernte zu verzehren. Alle Arten von Vögeln, was auch ihre Nahrung sein mag, besitzen eine Gabe, aus den größten Entfernungen, über welche weder Gesicht noch Geruch hinreichen, ihre Nahrung zu erwittern. Es ist dieselbe Gabe, welche die Brieftaube, mag man sie durch und durch verhüllt noch so weit tragen, sicher wieder nach Hause leitet. Wirf sie in die Luft, sie kreis’t ein paar Augenblicke und nimmt nun plötzlich schnurgerade ihre bestimmte Richtung, ohne zu schwanken oder unsicher zu werden.
Audubon erzählt vom Kreuzschnabel: „Der Scharfsinn, welcher diese Vögel sicher auf einen Punkt wieder zusammenbringt, nachdem sie des Nachts in allen Richtungen umher flogen, oft Meilen weit von einander, ist mir ein reines Wunder. Gegen Morgen zu einer bestimmten Zeit vereinigen sie sich schnell in der Luft und kommen dann erst gemeinschaftlich auf einen Ruheplatz herunter. Dieses pünktliche Versammeln oben in der Luft kann nur Folge einer den Abend vorher bestimmten Uebereinkunft sein.“
In Bezug auf das Auge der Vögel können Ornithologen mit einer noch merkwürdigeren Thatsache aufwarten. Die meisten Vögel besitzen nämlich eine außerordentliche Gabe, den Focus ihrer Augenlinsen zu verändern. Dadurch sind sie im Stande, den uns unsichtbaren, entferntesten Gegenstand eben so genau zu sehen, wie das kleines Insekt dicht vor dem Schnabel in der Baumrinde. Beobachte einmal die Herren, welche Brillen tragen, besonders ältere, weitsichtige mit convexen Gläsern. In der Ferne sucht er dich über die Brille hinweg zu erkennen, in der Nähe durch dieselbe. Gehe zum besten Optiker und sage ihm, er möge dir eine Brille machen, durch welche du weite und nahe Gegenstände gleich deutlich sehen könntest. Er wird dir sagen: Das Ding geht nicht. Er kann nicht solche Brillen machen, wie die Vögel von Natur in ihren Augen haben.
Der Mensch mit gesunden Augen hat allerdings einen weiteren Gesichtskreis, als die Vögel, aber er sieht nicht so scharf. Kapitain Roß erzählt in seinem Bericht über die Baffinsbay-Expedition, man habe bei hellem Himmel 150 englische Meilen weit nach allen Richtungen das Meer übersehen können. Wahrscheinlich kann nie ein Thier so weit sehen. Aber welch’ eine Schärfe besonders im Auge des Raubvogels! Der Adler schwebt über uns, ein bloßes schwarzes Pünktchen. Von da aus sieht er das von uns nicht vom Heiderich, worin es sich versteckt, zu unterscheidende Birkhuhn und fängt es, wie ein Pfeil herabschießend. Ein Ornithologe streute einmal kleine erdfarbige Käferchen in beträchtlicher Entfernung von einer Drossel, so daß das menschliche Auge sie auch in der Nähe nicht vom Erdboden unterscheiden konnte. Die Drossel bemerkte sie augenblicklich. Aus Aesten und Zweigen, an denen das menschliche Auge nichts bemerkt, holt mancher Vogel delikate Insekten. Das Auge des Vogels ist verhältnißmäßig von außerordentlicher Größe, und die Hornhaut convexer als an jedem andern Auge, außerdem mit einem sclerotischen (harten) Ueberzuge und einem Cirkel knochenharter Platten versehen.
Die Iris ist außerordentlich zusammenziehbar, wie man besonders an sterbenden Vögeln beobachten kann. Es dienen dazu blos sechs Muskeln, wie im menschlichen Auge. Die großen Augenballen sind bei vielen Vögeln ziemlich unbeweglich, in den Kopf der Eule sind sie wie eingeleimt, deshalb besonders stier und häßlich. Wie sich das Auge zum genauesten Erkennen der fernsten und nächsten Gegenstände immer blitzschnell einzurichten weiß, ist ein noch nicht physiologisch aufgeklärter Prozeß. Im Allgemeinen sagt man, das Auge ändere, ohne selbst an Größe zu- oder abzunehmen, die Kugelform der Krystalllinse, und vermehre und vermindere so die Kraft der Lichtbrechung. Dabei bleibt der Ausspruch des alten Schweigger in Halle immer noch richtig: „Es giebt keine dunklere Parthie in der Naturwissenschaft als die Lehre vom Lichte. In keiner Sphäre des Wissens sind wir so blind, als in der Wissenschaft des Sehens. Wir machen wohl Striche und Bogen, um den Lichtstrahl und das Auge zu zeichnen und zu demonstriren, wie das Licht einfalle u. s. w., aber wie wir sehen und sogar einsehen, ist noch nicht einzusehen. Nach der gewöhnlichsten Seh-Theorie sehen wir Alles verkehrt, die Menschen auf dem Kopfe gehend u. s. w. Vielleicht hat die Theorie gar keinen Kopf, darauf zu fußen.“
In meinem Verlage erscheint von Neujahr ab:
Diese neue Zeitschrift erscheint in den Familien des Vaterlandes wie ein Weitgereister in der Heimath. Wer hörte einen solchen nicht gern erzählen von seinen Wanderungen? Sie ist die erste, die es versucht, das große Publikum über die Natur und die Menschen jenseits Europa zu unterhalten, und fügt selbst Illustrationen bei. Sie vermeidet alles Trockene und Langweilige, bringt „aus der Fremde“ stets Neues, vermehrt die Kenntnisse ihrer Leser durch Unterhaltung und wird deshalb für Jedermann von Interesse sein.
Die eben erschienene Nr. 2 enthält: Wanderungen in Süd-Australien. – Insolvente Schuldner werden Leibeigene. – Reisen und Abenteuer an der Mosquitoküste. (Forts.) – Eduard Vogel. (Forts.) – Moderne Flibustier. – Aus allen Reichen.
Alle Buchhandlungen und Postämter nehmen Bestellungen an.
Leipzig, 5. Januar 1856.- ↑ Die Frauen Leipzigs werden bekanntlich während der Wintermonate wöchentlich zwei Mal durch die naturwissenschaftlichen Vorträge der Herren Professoren Bock, Roßmäßler und Dr. Hirzel erfreut, welche großen Anklang finden und stark besucht werden. Wir freuen uns, den Cyclus der Roßmäßler’schen Vorlesungen auch unsern auswärtigen Leserinnen mittheilen zu können, zumal wir voraussetzen dürfen, daß dieselben überall so ansprechen, wie beim mündlichen Vortrage in Leipzig.
Die Redakt.
- ↑ Am 22. November 1855 in der chemischen Vorlesung des Herrn Dr. Hirzel.
- ↑ Die beistehenden Figuren waren in Riesengröße auf zwei aufgehängten Tafeln von zusammen etwa 100 Quadratfuß Flächenraum dargestellt.
- ↑ In Süddeutschland Schwämme genannt.
- ↑ 1, 2 oder 3 Strichelchen oben rechts neben der Ziffer oder dem Buchstaben bezeichnen schwache, mittelmäßige oder starke Vergrößerung. Ein kleiner Kreis an dieser Stelle drückt Verkleinerung aus. Wo beides fehlt, da stellt die Figur die natürliche Größe dar.
- ↑ Mehr hierüber S. G. L. 1853. Nr. 20.
- ↑ Mein Bruder, bei der Gnade und Barmherzigkeit Gottes und seines Gesandten Mohammed, gieb mir dieses Fleisch.