Die Gartenlaube (1856)/Heft 1
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No. 1. | 1856. |
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Im Jahre 1850 schien die Saison in dem Bade P. eben nicht glänzend werden zu wollen. Es war schon um die Mitte des Monats Juli, und die Kurliste wies nur erst fünfhundert und einige Namen auf, während sie in den Jahren zuvor eben so viel tausend enthalten hatte. Aber was der Badegesellschaft in diesem Jahre an der Quantität abging, ward ihr durch die Qualität ersetzt; so meinte wenigstens der Baron von Masset, einer der Tonangeber in der feinen Gesellschaft, die fast nur aus den adeligen Familien der nähern und fernern Umgegend des Bades bestand. Die reiche Bourgeoisie aus Hamburg, Bremen und den größeren Städten des nördlichen Deutschlands war gering vertreten, man schrieb diesen Umstand den Folgen der Revolution von 1848 zu, das heißt dem immer noch stockenden Verkehre. Die Hausbesitzer des Dorfes harrten vergebens auf ihre sonst so regelmäßig wiederkehrenden Kurgäste, ihre freundlich und bequem eingerichteten Zimmer blieben größtentheils ohne Miethsbewohner. Der reiche Adel bewohnte die zahlreichen Hotels des Orts.
Gegen zehn Uhr Morgens betrat ein junger Mann seine Wohnung in einem freundlichen, unweit der großen Allee gelegenen Hause. Er hatte einen Spaziergang durch die Berge gemacht, und warf sich ermüdet in den Sopha.
Werfen wir einen Blick auf den Bewohner des mit einfacher Eleganz ausgestatteten Zimmers. Er war von schlanker Gestalt und mochte sieben bis achtundzwanzig Jahre zählen. Sein Gesicht war stärker von der Sonne gebräunt, als es sich nach der Mode für einen Kurgast schickt; trotzdem aber war es schön, und man hätte sagen können, daß der bräunliche Teint seine Schönheit männlicher machte, die bei einem zarten Weiß weiblich zu nennen gewesen wäre. Das sorgfältig frisirte Haar war glänzend schwarz, ebenso auch der zwar nicht starke, aber natürlich gekräuselte Bart, der das interessante ovale Gesicht einrahmte. Ueber seinen schwellenden Lippen, durch die schneeweiße Zähne schimmerten, zeigte sich ein geschweifter Schnurrbart. Das dunkelbraune Auge war groß und lebhaft. Die Stirn, die schöne dunkele Brauen begrenzten, war hoch und frei. Die Toilette des jungen Mannes war elegant und gewählt. An seinem feinen Brusthemde glänzten kostbare Diamantknöpfe und an den Fingern nicht minder kostbare Ringe.
Still und nachdenkend saß er in seinem Sopha; seine kleine aristokratische Hand spielte mit der goldenen Uhrkette, die über die weiße Weste hinabhing.
Da klopfte es leise an die Thür. Der junge Mann schrak ein wenig zusammen, aber ohne Zögern forderte er mit lauter, wohlklingender Stimme zum Eintreten auf. Die Thür öffnete sich, und die Wirthin des Hauses, eine Frau von vielleicht vierzig Jahren, trat ein.
„Madame Bühl!“ sagte der Bewohner des Zimmers, als ob er eine andere Person erwartet hätte.
„Ich bin es, Herr Ludwig!“ sagte die freundliche und elegant gekleidete Frau mit der Artigkeit und Gewandtheit, die sie sich durch den langen Umgang mit Kurgästen erworben hatte. „Verzeihung, wenn ich störe.“
„Was bringen Sie mir?“
Madame Bühl zog lächelnd einen Brief aus der Tasche ihrer kleinen Taffetschürze.
„Ein Briefchen, Herr Ludwig!“
„An mich?“
„An Sie!“ antwortete die artige Frau, indem sie mit einer zierlichen Verbeugung das Papier überreichte. „Als die Ueberbringerin, eine Art Kammerzofe, hörte, daß Sie nicht zu Hause seien, band sie mir auf die Seele, den Brief Ihnen selbst zu überreichen. Ich verfehle nicht, meine Pflicht zu erfüllen.“
Der junge Mann hatte hastig den Brief erbrochen, und las ihn mit großer Begierde, ohne sich um Madame Bühl zu kümmern, die zu dem Fenster getreten war, und eine Marquise herabließ, um das Zimmer vor der Sonne zu schützen. Dabei aber warf sie einen neugierigen Blick auf den Leser, dessen Gesicht eine freudige Ueberraschung verrieth. Die braunen Wangen desselben errötheten, und Madame Bühl glaubte sogar zu bemerken, daß seine Hände ein wenig zitterten.
„Vielleicht bin ich dem Geheimnisse auf der Spur, das mein Gast so sorgfältig und hartnäckig zu bewahren sucht!“ dachte die kleine Frau, indem sie eine Blumenvase ordnete. „Ich bleibe dabei, er hat ein Geheimniß, und wenn mich nicht Alles täuscht, ein zartes Geheimniß.“
Der junge Mann hatte indeß das Billet sorgfältig zusammengelegt, und in die Brusttasche seines Rockes gesteckt. In einer frohen Bewegung, die unzweifelhaft der Brief erzeugt, ging er einige Mal im Zimmer auf und ab. Madame Bühl unterbrach das Schweigen, als sie sah, daß ihr Gast keine Neigung zum Reden zeigte.
„Mein Herr, ich erlaube mir eine Bitte an Sie zu richten aber ich setze dabei voraus,“ fügte sie sehr artig hinzu, „daß mein verehrter Gast mich nicht mißverstehen wird.“
[2] „Was wünschen Sie, Madame?“ fragte der junge Mann, der seine Promenade unterbrochen hatte. „Sprechen Sie offen, und zweifeln Sie nicht an meiner Bereitwilligkeit, jeden Ihrer Wünsche zu erfüllen. Sie sind mir eine so liebenswürdige und freundliche Wirthin, daß ich trostlos wäre, wenn es nicht in meiner Macht stehen sollte – –“
„O, es ist nicht viel!“ sagte Madame Bühl, die vor Entzücken über dieses Kompliment hoch erröthete. „Ich erlaube mir, Sie an eine kleine Förmlichkeit zu erinnern, die Sie ohne Zweifel vergessen haben.“
„O mein Gott, ist die Rechnung von voriger Woche nicht bezahlt?“
„Nein, nein, das ist es nicht! Sie sind ja so pünktlich –“
„Soll ich Ihnen auf zwei, drei Wochen pränumeriren? Sprechen Sie es ohne Scheu aus, und ich zahle mit Vergnügen. Ich kenne die Förmlichkeiten dieses Bades nicht, das ich zum ersten Male besuche.“
„Verzeihung, es handelt sich um eine geringfügige Förmlichkeit.“
„Nun, was ist es?“
„Ich habe ein Schema auf Ihren Schreibtisch gelegt, das jeder Fremde ausfüllen muß. Ist dieses Schema mit Ihrem Namen und der Angabe Ihres Standes versehen, so sende ich es in das Polizeibureau, das es nur zur Anfertigung der Brunnenliste verwendet. Sie haben das Blättchen übersehen – wäre nicht mein Mann Polizeicommissar, der die Ordnung in dieser Beziehung zu überwachen hat, man würde mich längst in Strafe genommen haben. Opfern Sie mir eine Minute und füllen Sie die Spalten aus.“
Madame Bühl deutete auf ein Papier, das auf dem eleganten Schreibtische lag.
Dem jungen Kurgaste schien diese Forderung nicht gelegen zu kommen. Die Heiterkeit, die der Brief hervorgerufen, verschwand von seinem schönen Gesichte, und unmuthig warf er einen Blick nach dem Schreibtische.
„Es ist wahr, ich habe es vergessen!“ sagte er kalt. „Mir liegt Nichts daran, in der Brunnenliste zu prangen, und wenn es nicht unumgänglich nöthig ist – –“
„Wäre es nicht, ich hätte sicher die Erinnerung nicht auszusprechen gewagt. Sie haben vielleicht Gründe, incognito hier zu sein.“
„Ja, ich habe Gründe, Madame! Es wäre mir lieb, wenn ich noch einige Tage jenes Papier unberücksichtigt lassen könnte. Bis dahin entscheidet es sich, ob ich bleibe oder abreise. Sie werden übrigens keinen Schaden erleiden,“ fügte er lächelnd hinzu; „die Saison ist schlecht, und auf Zuwachs von Gästen läßt sich nicht hoffen – ob ich nun bleibe oder reise, ich habe dieses Zimmer für den Sommer gemiethet, und werde es bezahlen. Nehmen Sie diese Börse, Madame, sie enthält den Miethzins.“
Mit freundlicher Gewalt drückte er der verlegenen Frau eine volle Börse in die Hand, die er aus der Tasche gezogen hatte.
„Mein Herr,“ stammelte sie, „mich hat nicht Mißtrauen geleitet – ich wollte Sie nicht verletzen!“
„Davon bin ich überzeugt, Madame; aber halten auch Sie sich überzeugt, daß Sie keinen Abenteurer unter Ihrem Dache beherbergen.“
„O, dessen ist Gott mein Zeuge!“ antwortete rasch Madame Bühl, die durch die Maschen der Stahlbörse die Goldstücke hatte blinken gesehen.
„Gut, Madame, so unterstützen Sie mich bei der kleinen Intrigue, oder wenn Sie es lieber wollen, bei dem kleinen Herzensromane, in dem ich wider meinen Willen eine Rolle übernommen habe.“
„Das habe ich mir gedacht!“ rief lächelnd die kleine Frau, indem sie die Börse in die Tasche ihrer Schürze gleiten ließ. „Nun, so bleiben Sie denn noch für einige Zeit Herr Ludwig, ich werde in diesem Jahre so nachlässig sein, daß mein Kurgast nicht in der Brunnenliste steht.“
„Aber der Polizeicomissar?“
„Ist mein Mann, und ich bin die Besitzerin dieses Hauses. Ich werde Ihr Incognito zu ehren wissen.“
Madame[WS 1] Bühl wollte sich entfernen; aber Ludwig hielt sie durch die anscheinend gleichgültig hingeworfene Frage zurück: „Uebermorgen ist Ball bei dem Fürsten?“
„Ja, mein Herr, er ist der erste, der diesen Sommer im Schlosse stattfindet. Serenissimus giebt vier Bälle während der Kurzeit. Man sagt, unser Landesherr wolle dadurch den Flor des Bades aufrecht erhalten; aber ich bin der Meinung, und habe sie auch oft gegen meinen Mann ausgesprochen, daß er ein ganz verkehrtes Mittel dazu gewählt hat.“
„Warum, Madame?“ fragte Ludwig gespannt.
Die Frau des Polizeicommissars war in ihr bestes Fahrwasser gerathen und sie ließ auch lustig das leichte Schifflein ihrer Redseligkeit dahinschießen.
„O, die Sache ist sehr einfach, mein Herr,“ fuhr sie fort. „Glänzende Bälle sind in einem Bade allerdings nothwendig, denn sie dienen dazu, die Gäste mit einander bekannt zu machen. Serenissimus aber trennt sie, er theilt sie in gewisse Kasten. Der Kaufmann, und wenn er ein Millionär ist, wird nicht zu den Bällen im Schlosse geladen, wohingegen jeder lahme und kranke Edelmann, der kaum die nothwendigen Kosten seiner Kur bestreiten kann, sehr höflich durch einen Kammerlakai invitirt wird. Nichts als das Wörtchen „von“ kann dem Kurgaste die Thür des fürstlichen Ballsaales öffnen. Seit der unglücklichen Revolution vor zwei Jahren scheint der Adel sich fester zusammenzuziehen und den Bürgerstand demüthigen zu wollen, denn schon in der vorigen Saison ging man bei der Wahl der Gäste sehr difficil zu Werke. Aber wer hebt denn unser Bad? Wer bringt das mehrste Geld hierher? Der reiche Kaufmann aus Hamburg und Bremen, und Leute, die über Hunderttausende zu kommandiren haben, lassen sich von einem kleinen Fürsten nicht zurücksetzen, der den größten Theil seiner Revenüen aus diesem Bade zieht. Ich behaupte, daß sich der reiche Kaufmannsstand ein anderes Bad aussucht, wo man ihn nicht so augenscheinlich zurücksetzt. Sie sehen, daß meine Ansicht begründet ist.“
Ludwig hatte mit großer Spannung zugehört.
„Wer entscheidet über die Einladungen?“ fragte er.
„Das kann ich Ihnen ganz genau sagen, lieber Herr, denn meine Schwester ist Kammermädchen bei der Hofmarschallin. Der Herr Hofmarschall nimmt die Brunnenliste zur Hand, zieht die Namen mit dem Wörtchen „von“ heraus, und besorgt die Einladungen. Das ist die ganze Procedur. Ob diese Herren nun dem Bade Nutzen bringen oder nicht, ist gleich. Doch ja,“ fügte Madame Bühl höhnisch lächelnd hinzu, „einen Nutzen hat es gebracht: wir haben dieses Jahr viel Adlige hier, und Alle kommen auf die Bälle im Schlosse. Nun, wir wollen sehen, ob Serenissimus auf diese Weise den Flor seines Bades erhalten wird.“
„Und es giebt kein anderes Mittel, um Zutritt zu diesen Bällen zu erhalten?“ fragte der junge Mann wie ängstlich.
„Kein anderes; die Brunnenliste ist der Empfehlungsbrief. Wer nicht von Geburt ist, wird ohne Gnade ausgeschlossen, und wenn er eine Million besitzt. Doch, dort kommt mein Mann schon zurück,“ sagte Madame Bühl, indem sie durch das offene Fenster sah. „Verzeihung, ich ziehe mich zurück, denn ich muß ihm das Frühstück bringen.“
Sie verneigte sich und schlüpfte durch die Thür.
Als Herr Ludwig allein war, begann er seine Promenade wieder, aber unruhiger als zuvor. Er durchmaß das Zimmer mit großen Schritten. Plötzlich blieb er stehen, zog den Brief aus der Tasche und las ihn noch einmal. Folgende Zeilen, von einer zierlichen Frauenhand geschrieben, standen auf dem duftenden Papiere:
„Mein Freund!
„Zu meinem großen Bedauern ist es unmöglich, eine Gelegenheit zu der Unterredung zu finden, die Sie fordern, und die auch ich sehnlich wünsche. Mir scheint, mein Vater ist durch einen Neidischen aufmerksam gemacht und sucht unsere gegenseitige Annäherung zu verhindern. Einige Worte werden genügen, um Ihnen völlige Aufklärung zu geben; aber ich kann sie aus Gründen einem Briefe nicht anvertrauen. Wenden Sie die größte Vorsicht an, wie ich sie anwende. Uebermorgen ist Ball bei dem Fürsten, wir sind dazu geladen, und ich glaube annehmen zu dürfen, daß auch Sie eine Einladung erhalten haben. Fordern Sie mich zu dem ersten Walzer auf, und während des Tanzes werden wir uns verständigen können. Es giebt keine andere Gelegenheit dazu. Sie wissen, was von der Unterredung abhängt. Der erste Walzer gehört Ihnen. Henriette.“
Ludwig drückte das Papier an seine Lippen, dann steckte er es mit zitternder Hand in ein Portefeuille.
„Es giebt keine andere Gelegenheit!“ flüsterte er schmerzlich. „O, über diese Welt, die sich despotisch von Vorurtheilen beherrschen [3] läßt! Und wie nichtig sind diese Vorurtheile! Aber kann ich sie durch Gewalt bekämpfen? Nicht der Unterredung wegen, des Vorurtheils wegen darf ich von diesem Balle nicht ausgeschlossen bleiben. Welche Rolle würde ich nach demselben in dieser Gesellschaft spielen, die mich nur zu dulden scheint? Ich würde darüber lachen, wenn ihr Henriette nicht angehörte, würde ihr den Rücken wenden, wenn sie den Magnet nicht in ihrer Mitte hätte, der mich allmächtig anzieht, daß ich fast keinen Willen mehr habe. Man hat mir den Handschuh hingeworfen – wohlan, ich hebe ihn auf! Serenissimus wird morgen gezwungen sein, mir eine Einladung zu seinem Balle zu senden!“
Er warf sich auf den Stuhl vor dem Schreibtische, ergriff das Blatt, das ihm Madame Bühl angedeutet hatte, und wollte schreiben. Er bebte zurück, als ob er es nicht über sich gewinnen könne, seinen Namen in die Spalten zu schreiben. Starr sah er das Blatt Papier einige Augenblicke an, dann raffte er sich zusammen und schrieb mit fester Hand: „Baron Ludwig von Nienstedt, Particulier.“
Als ob er fürchtete, in seinem Entschlusse wieder schwankend zu werden, zog er rasch die Glocke. Einen Augenblick später trat Madame Bühl ein.
„Das Zeichen galt meinem Diener, Madame!“ sagte der Baron, den das Erscheinen der freundlichen Wirthin bestürzt gemacht hatte.
Er suchte und es gelang ihm, seine Bewegung zu verbergen.
„Ihr Bob, mein Herr, ist nicht zu Hause. Ich wußte es, und habe mich beeilt – –“
„Ah, ganz recht, Bob reitet mein Pferd aus – ich hatte es vergessen.“
„Was steht dem Herrn zu Diensten?“ fragte freundlich die Frau des Polizeicommissars.
„Bob sollte Ihnen dieses Blatt überbringen.“
„Die Fremdenliste?“
„Ja!“
„Vortrefflich! Nun sind alle Unannehmlichkeiten beseitigt.“
„Was für Unannehmlichkeiten?“
„Ich halte die Neugierde dafür, mit der man sich nach meinem reichen Kurgaste erkundigt. So eben machte mein Mann die Einleitung dazu. Ihr Klingelziehen überhob mich der Mühe, eine ausweichende Antwort zu ersinnen.“
„Und ich habe einen andern Plan ersonnen, Madame!“ sagte der junge Baron mit einem erzwungenen Lächeln. „Dieser neue Plan erfordert mein Incognito nicht, und ich gebe es um so lieber auf, da ich Ihnen die Unannehmlichkeit erspare, ausweichende Antworten auf die Fragen zu geben, welche die Neugierde an Sie richtet. Tragen Sie Sorge, daß man morgen meinen Namen und Stand in der Brunnenliste lies’t.“
Madame Bühl warf einen Blick auf das Blatt.
„Herr Baron,“ sagte sie dann mit einer tiefen Verneigung und einem bedeutungsvollen Lächeln, „die Einladung zu dem fürstlichen Balle wird noch zu rechter Zeit kommen, dafür stehe ich!“
Die kleine Frau verließ das Zimmer. In demselben Augenblicke ließen sich die Hufschläge eines Pferdes vor dem Hause vernehmen. Der Baron trat zum Fenster und rief einem Mulatten zu, der so eben ein stattliches Pferd in den Hof führen wollte:
„Bob, ich werde einen Spazierritt machen!“
Dann ergriff er Hut, Handschuhe und eine zierliche Reitpeitsche, und eilte die Treppe hinab. Zwei Minuten später sah man den schönen jungen Mann im kurzen Galopp die Chaussee hinabreiten, die sich neben der Hauptallee des Bades hinzieht.
Bob, ein Mann von vielleicht vierzig Jahren, sah seinem Herrn nach. Das braune, glänzende Gesicht des Mulatten verzog sich zu einem wohlgefälligen Lächeln, daß seine schneeweißen, regelmäßigen Zähne durch die dunkeln Lippen schimmerten. Er nahm seinen betreßten Hut ab, trocknete sich die hohe Stirn mit einem Taschentuche von gelber Seide, und trat in das Haus, als sein Herr hinter den Bäumen verschwunden war.
Madame Bühl saß mit ihrem Gatten, dem Polizeicommissar, beim Frühstücke.
„Und wer hat nun Recht gehabt?“ fragte sie lächelnd, indem sie sein Glas mit Wein füllte, „Unser Gast ist ein Baron von Nienstedt!“ fügte sie stolz hinzu. „Deine Polizeinase wittert stets Dinge, die sich mit dem gesunden Menschenverstande nicht vertragen.“
Herr Bühl war ein guter, schlichter Mann, der wohl in dem Badeorte, aber nicht in einer größern Stadt das Amt eines Polizeicommissars bekleiden konnte. Nachdem er seinen Wein behaglich geschlürft, sagte er lächelnd:
„Glaubst Du, meine liebe Marianne, daß ich von Amts wegen so viel geforscht habe? Ich müßte wenig Erfahrung besitzen, hätte ich nicht auf den ersten Blick gemerkt, daß ich es mit einem Manne von Stande zu thun habe. Seinem Incognito lag ohne Zweifel ein Liebesabenteuer zum Grunde.“
„Nun, und weshalb hast Du denn geforscht? Warum sollte ich unsern Gast erinnern, die Liste auszufüllen?“
„Wirst Du schweigen, Marianne?“ fragte Herr Bühl mit einem gutmüthigen Lächeln.
„Theodor, spiele nicht den Polizeimann gegen Deine Frau!“ sagte Madame verletzt. „Hege Argwohn gegen alle Welt, nur gegen mich nicht!“
Herr Bühl stand auf und drückte seiner schmollenden Gattin einen Kuß auf die Stirn. Er fühlte seine Ehre als kluger Beamter gekränkt, und diese mußte er retten.
„Es ist zwar oft der Fall,“ sagte er, „daß die gefährlichsten Aventuriers am Glänzendsten auftreten, und darum lasse ich mich nicht von der Außenseite verblenden; aber unser Gast hat ein Gesicht und ein Benehmen, das jeden Argwohn verbannt. Wenn ich nach seinem Namen und Stande forschte, so geschah es nur, weil man mich privatim dazu beauftragt hatte.“
Die Neugierde Madame Bühl’s war zwar im hohen Grade angeregt, aber sie fragte dennoch mit erkünstelter Gleichgültigkeit:
„So? Und wer hat Dir denn diesen Privatauftrag gegeben?“
„Ein Herr von Heiligenstein, der dieses Jahr zum vierten Male hier ist.“
„Derselbe Heiligenstein, der vor zwei Jahren sein Vermögen am Spieltische verlor?“
„Ja, mein Kind!“
„So kannst Du es ihm sagen: unser Gast ist der Baron Ludwig von Nienstedt, ein reicher, und dabei generöser junger Mann. Hier nimm den Zettel und trage Sorge, daß der Baron morgen früh in der Brunnenliste steht. Vergiß es nicht, damit die Einladung zum fürstlichen Balle morgen Mittag eintreffen kann.“
Herr Bühl küßte seine Frau, dann ging er nach dem Polizeibureau. Madame Bühl rief Bob in das Wohnzimmer und tractirte ihn mit einem guten Frühstücke.
Am folgenden Morgen stand der Name des Barons Ludwig von Nienstedt in der Brunnenliste. Gegen Mittag kam der junge Mann von einem langen Spazierritte zurück. Kaum hatte er sein Zimmer betreten, als Madame Bühl erschien. Sie überreichte ihrem Gaste unter einer tiefen Verneigung einen Brief. Als Ludwig das Couvert öffnete, fand er eine Einladungskarte zu dem fürstlichen Balle. Der Hofmarschall begleitete sie mit einigen freundlichen Zeilen.
„Habe ich Recht?“ fragte stolz die kleine Frau.
„Sie sind eine Prophetin, Madame!“
„Es gehört dazu keine große Prophetengabe, Herr Baron. Wer den Mechanismus kennt, kann die Wirkung desselben vorhersagen. Ich wünsche, daß Sie sich auf dem Balle gefallen mögen!“
Der Baron traf seine Vorkehrungen. Um sieben Uhr Abends erschien Bob, um seinem Herrn bei der Toilette behülflich zu sein. Der Mulatte war ein gewandter Kammerdiener, er war Friseur, Barbier und Garderobier in einer Person. Ludwig ging wie ein Adonis unter seinen kunstgewandten Händen hervor. Er trug das eleganteste pariser Ballkostüm, an der Brust glänzte eine prachtvolle Diamantnadel, an den aristokratischen Händen geschmackvolle Ringe, und selbst die kleinen Schnallen auf den leichten Tanzschuhen hatten flimmernde Steine.
Es war dämmerig, als der Baron, in einen leichten Mantel gehüllt, das Haus verließ. Bob, in großer Livree, folgte ihm. Madame Bühl sah ihm lächelnd nach.
„Er ist so schön,“ dachte sie, „daß er Aufsehen erregen muß. Der kleine Roman, von dem er sprach, kann nur einen befriedigten Schluß haben, es sei denn, daß die Heldin ein Herz von Stein oder keinen Geschmack besitzt.“
[4] Der Ballgast ging rasch durch die große Allee, in der noch einzelne Gruppen sich auf und ab bewegten. Das Schloß, der Sommersitz des Fürsten, lag vielleicht fünfhundert Schritte von der Allee entfernt. Ein großer Teich umgab das Schloß, das mehr einem Fort als einem Sommersitze glich. Fünf Minuten später flog Ludwig über die ziemlich lange Brücke und trat unter das gewölbte Thor, das sich unter einem mit Rasen dicht bewachsenen Walle befand. Bei dem Scheine einer Laterne ging ein Soldat mit Gewehr auf und ab. Der Schloßhof war ein großes Viereck, in dessen Mitte das Hauptgebäude lag. Die erste Etage desselben war glänzend erleuchtet. Aus der Balconthür, die man geöffnet hatte, um der frischen Abendluft Eingang zu gestatten, drang eine rauschende Tanzmusik – der Ball war also schon eröffnet. Ludwig erkannte, daß das Orchester einen Walzer spielte. Ueberrascht blieb er stehen.
„Der erste Walzer!“ dachte er. „Sie wird glauben, ich komme nicht oder vernachlässige ihr Engagement.“
In diesem Augenblicke rasselte ein Wagen in den Hof und hielt vor dem Perron des Schlosses an. Fünf bis sechs fürstliche Lakaien flogen die Treppe herab. Einer derselben öffnete den Schlag des Wagens. Ein bejahrter Herr in der preußischen Armeeuniform stieg aus.
„Deinen Arm, Henriette!“ sagte er, indem er sich zurückwandte.
Bei dem hellen Scheine der Laternen sah Ludwig eine junge Dame aussteigen. Sein Herz begann heftig zu klopfen und ein dumpfes Sausen durchbebte seinen Kopf. Wie fest gebannt blieb er stehen und starrte die aussteigende Dame an. Sie trug ein hellblaues seidenes Kleid mit weißen Spitzen. Der niedliche Fuß mit Atlasschuhen von weißer Farbe berührte kaum den Wagentritt. Ein leichter Florshawl lag über den glänzenden weißen Schultern. Das braune Haar war schlicht gescheitelt und mit einer künstlichen dunkelrothen Rose geschmückt.
„Henriette!“ flüsterte Ludwig entzückt vor sich hin. „Ich komme also nicht zu spät!“
Der Vater – der Herr in der Armeeuniform war Henriette’s Vater – ergriff den Arm seiner Tochter und stieg die mit Decken belegten Stufen des Perrons hinan. Die reizende Tänzerin streifte dicht an Ludwig vorüber. Eine Purpurröthe überflammte ihr Gesicht als sie den jungen Mann erblickte, sie grüßte nicht, aber dieses Erröthen und ein Blick sagten ihm mehr als ein Gruß.
„Du wartest bis nach Mitternacht hier!“ befahl der Baron seinem Diener in englischer Sprache.
Dann warf er ihm den Mantel zu und flog die Treppe hinan.
In dem Vorsaale empfing der Hofmarschall, ein Mann mit grauen Haaren, die Gäste. Ludwig war gezwungen, sich in Gegenwart Henriette’s ihm vorzustellen. Er nannte seinen Namen. Der alte Herr in der Uniform schien überrascht zu sein; doch grüßte er den jungen Baron mit einem Lächeln, das eine oberflächliche Bekanntschaft voraussetzen ließ. Der Hofmarschall führte die Gäste in den Saal, wo er sie der fürstlichen Familie vorstellte. Die Ceremonie war kurz, und es blieb ein Jeder bald sich selbst überlassen. Henriette schloß sich einem Kreise bekannter Damen an, und Ludwig suchte den Oberförster von Wildau auf, den er am Pharaotische kennen gelernt hatte.
Ludwig von Nienstedt erregte unter den Damen Aufsehen. Die junge Männerwelt war nur schlecht vertreten, und um den Mangel an flinken Tänzern einigermaßen auszugleichen, hatte der Fürst sein Offiziercorps zum Balle befohlen, das aus einem Major, einem Kapitain und drei Lieutenants bestand. Die Lieutenants allein waren Tänzer. Der Major, ein Mann mit rothen Haaren und Pockengruben, war zu klein und zu dick, und der Kapitain war zu lang und zu mager.
Der Ball war belebt, und ungeachtet der Anwesenheit des Hofes nicht steif. Die Ungezwungenheit des Badelebens machte sich auch hier bemerkbar.
Ludwig sah nach der Tanzordnung: eine Quadrille, eine Polka und ein Galopp gingen dem zweiten Walzer voran. Schon wählte er unter den Damen; um das Engagement Hennriette’s später nicht auffällig zu machen, wollte er die Quadrille mittanzen: da trat einer der Ballgäste, ein Mann von einigen vierzig Jahren, zu ihm:
„Herr Baron von Nienstedt?“
Ludwig verneigte sich.
„Sie erlauben mir eine Frage,“ fuhr der Gast fort.
„Fragen Sie?“
„Gehören Sie der Familie von Nienstedt an, deren Besitzthum im W.schen lag?“
„Ja.“
„Man glaubte die Familie ausgestorben –“
„Sie sehen, daß der einzige Sohn Ludwig aus Indien zurückgekehrt ist.“
„Ihre älteste Schwester, Herr Baron, war meine Braut. Der Tod verhinderte leider eine Verbindung, die zu den glücklichsten der Erde gehört haben würde.“
„Und wer giebt mir die Ehre –?“
„Friedrich von Heiligenstein, der Gutsnachbar Ihres Vaters. Ich erinnere mich, Sie als Knaben von zwölf Jahren gesehen zu haben –“
„Und ich erinnere mich, daß meine Schwester Adelheid mit großer Vorliebe von Ihnen sprach.“
„Adelheid!“ rief Friedrich von Heiligenstein mit einem Seufzer. „Sie war schön und gut, ein liebenswürdiges Wesen. Sie haben eine so große Aehnlichkeit mit Ihrer Schwester, Herr Baron, daß Ihr Anblick die Wunden wieder aufreißt, die in einem Zeitraume von sechzehn Iahren kaum verharrschen konnten. Reichen Sie mir die Hand – wir sind uns nicht fremd, obgleich wir uns kaum kennen!“
Ludwig reichte dem Gaste die Hand, und dabei sah er ihm in das freie, ehrliche Gesicht. In diesem Augenblicke traten die Paare zur Quadrille an. Henriette stand dem Baron gegenüber, Henriette in ihrer ganzen strahlenden Schönheit. Ihre Züge verriethen eine recht innige Freudigkeit, und Ludwig hatte allen Grund zu glauben, daß sein Erscheinen auf dem Balle das angebetete Wesen in diese Stimmung versetzt habe, und daß er sich ein günstiges Resultat von der beabsichtigten Unterredung mit ihr versprechen dürfe.
Die Musik begann, und die Tänzer führten die ersten Pas aus. Wie eine Sylphe schwebte die reizende Henriette dahin. Der arme Baron vergaß den Herrn von Heiligenstein, der neben ihm stand, und mit einer Art Rührung in seinen Zügen forschte. Wie ungezwungen und graziös war jede Bewegung der Tänzerin. Ihr zarter, elastischer Körper schwebte nur auf den Spitzen des kleinen, gewölbten Fußes. Das rosige Gesicht mit den geschweiften Brauen an der mattweißen Stirn, mit den langbewimperten seelenvollen Augen, der schön geschnittenen Nase, dem feinen, blühenden Munde und dem runden, koketten Kinne verklärte das anmuthigste Lächeln von der Welt. Jetzt reichte sie die zarte Hand, die ein weißer Handschuh bis an das Gelenk eng einschloß, dem Tänzer. Bei dieser Gelegenheit sah Ludwig den runden, vollen Arm, der von den feinen weißen Spitzen des halblangen Aermels wie von einer Wolke umgeben ward. So schwebte sie an ihm vorüber, und dabei sandte sie ihm ein Lächeln und einen Blick zu, die ihm tief in die Seele drangen. Herr von Heiligenstein rief den Entzückten zur Wirklichkeit zurück.
„Tanzen Sie, Herr Baron?“
„Jetzt nicht, mein Herr.“
„So bitte ich um die Freundlichkeit, mir ein Viertelstündchen der Unterredung zu schenken.“
„Sie sehen mich bereit; seit ich den heimathlichen Boden wieder betreten, habe ich noch keinen Freund meiner Familie gesprochen. Es ist erklärlich, wenn ich mich nach Nachrichten über die letzten Jahre derselben sehne.“
Arm in Arm traten die beiden Männer in eine Nische; hier ließen sie sich auf dem Sopha nieder, von wo aus sie den Saal und die Tanzenden übersehen konnten, ohne in ihrer Unterhaltung gestört oder belauscht zu werden.
So ein tüchtiges Reitergefecht, wo es Mann gegen Mann geht, die Trompeten schmettern, die Säbel klirren, die muthigen Rosse wiehern, einzelne Pistolenschüsse dazwischen knallen, ist doch für den Soldaten ein schöner Augenblick, und je häufiger man Gelegenheit hatte, selbst ein Kämpfer in einem solchen zu sein, desto mehr steigert sich die Lust daran. Auf Algeriens Boden hatten wir uns unzählige Mal mit Kabylen und Hajuten, den braunen Wüstensöhnen des marokkanischen Reiches, herumhauen müssen, hier in diesem Feldzuge gegen die Russen war uns aber bisher noch keine rechte Gelegenheit dazu geworden. Was fluchten und wetterten da Manche der alten, langgedienten Reiter meiner Escadron und meinten, es sei eine Schande, daß sie ihre Säbel mit so besonderer Sorgfalt scharf geschliffen hätten, ohne daß ihnen nur noch eine Gelegenheit geworden, einen einzigen tüchtigen Hieb damit zu thun. Mit jubelnder [6] Freude ward daher der Befehl begrüßt, daß wir uns nach der Krim einschiffen sollten, denn dort mußten wir sicher mit russischer Kavallerie zusammenkommen, und konnten derselben zeigen, daß wir Chasseurs d’Afrique unser Soldatenhandwerk gut verständen, und dem alten Rufe der französischen Tapferkeit keine Schande machten.
Eine englische Fregatte nahm uns in Varna, diesem verdammten Nest, auf, um uns mit sammt unseren Rossen nach der Krim zu bringen. Die Einschiffung von 140 maurischen Hengsten, unter denen viele böse Pferde waren, die so von dem Transport aus Algerien her eine große Abneigung gegen Alles, was einem Schiffe nur ähnlich sieht, zeigten, dazu noch bei ziemlich stürmischem Wetter und hochgehender See, ist keine kleine Arbeit. Meine Chasseurs zeigten aber einen solchen Eifer, und die englischen Matrosen, die dabei helfen mußten, eine so große Geschicklichkeit und Kaltblütigkeit, daß die ganze Einschiffung von Statten ging, ohne daß ein einziges Pferd uns dabei verunglückte. Den besonders bösen Hengsten wurden die Augen mit einer Kappe verhüllt, Maulkörbe, die von Stricken geflochten waren, angelegt, daß sie nicht beißen konnten, ein[WS 2] Hinterfuß kreuzweis durch einen starken Riemen mit dem einen Vorderfuß gefesselt und so das Thier in das Boot, was uns an die Fregatte hinanruderte, geschoben. Einzelne kleine Unfälle kamen hierbei freilich vor, und an Biß- und Quetschwunden und blauen Flecken, welche manche Reiter erhielten, war kein Mangel, sonst aber ging Alles ohne Unfall von Statten. Auf der Fregatte selbst war ein Hebezug an der einen Rae angebracht, von dem ein Seil bis in das Boot hinunter ging. Dem Pferde wurden nun zwei starke breite Gurte um den Leib gelegt, eine Winde auf dem Verdeck des Schiffes von einem Dutzend rüstiger Matrosen gedreht, und im Nu schwebte das Pferd hoch oben in der Luft und wurde auf diese Weise, ohne daß es den mindesten Widerstand leisten konnte, in den Raum des Fahrzeuges hinuntergelassen. Hier waren Ställe gezimmert worden, der Boden mit fußhohen weichen Sand belegt, und so konnten es denn unsere Rosse schon einige Tage aushalten. Angreifen thut übrigens jede Seereise die Pferde ungemein, viel mehr, als wenn man sie noch so sehr am Lande gebraucht.
Welche tüchtige Seeleute die Engländer übrigens sind, und wie groß die Ordnung und strenge Disciplin am Bord ihrer Schiffe ist, konnten wir so recht bei Gelegenheit dieser Ein- und Ausschiffung unserer Pferde und während der vier Tage, die wir bei der Ueberfahrt von Varna nach Balaklava am Bord der Fregatte zubrachten, bemerken. Bei Gott, es war wirklich eine wahre Freude, mit anzusehen, wie fleißig und ausdauernd diese braven Burschen in ihren rothwollenen Hemden arbeiteten und besonders auch, welche große Liebe für die Pferde sie an den Tag legten. Dabei war eine auffallende Ruhe und Ordnung auf der ganzen Fregatte und es wurde nicht der zehnte Theil so viel hin und her gerufen, und die Mannschaft sprang lange nicht so oft in und aus dem Takelwerk, wie auf dem großen französischen Handelsschiff, was uns aus Algier bis nach Varna gebracht hatte. Merkwürdig gut vertrugen sich unsere Chasseurs mit den englischen Matrosen, und es herrschte eine so warme Freundschaft zwischen denselben, wie ich solche in Algier zwischen dem Soldaten unseres Landheeres und den Matrosen der Flotte niemals gefunden habe. Zwar war die gegenseitige Conversation nur sehr mangelhaft, da unsere Leute kein Englisch, die Engländer aber wieder kein Französisch sprechen konnten, und beschränkte sich auf einige Phrasen, unter denen das „à votre santé, bon camerade“ die häufigste war; aber dies that der warmen Freundschaft sonst weiter keinen Abbruch.
Arm in Arm wanderten Chasseurs und Matrosen häufig umher, und wer nur noch einen Tropfen Rum oder Wein in seiner Feldflasche hatte, der theilte denselben gewiß mit seinem neuen Freunde. Auch jetzt hier in dem Lager vor Sebastopol hat diese auffallend gute Kameradschaftlichkeit zwischen den englischen Matrosen und unseren Chasseurs d’Afrique noch keinen Abbruch erlitten. Erstere, die hier mehrere Batterien bedienen, besuchen uns häufig in unseren Zeltlagern, und haben besonders ihre Freude an den maurischen Hengsten unserer Leute.
Da unsere Hengste mit ihren Reitern ja fast beständig in Algerien zusammen bivouakiren, und maurische Rosse, wenn man sie nur einigermaßen gut behandelt, gewöhnlich eine große Gelehrigkeit und dabei Anhänglichkeit an ihre Reiter zeigen, so können von denselben Viele Kuststücke machen, wie man solche sonst nur im Circus der Kunstreiter sieht. Dies gewährt nun den englischen Matrosen das größte Vergnügen, wenn sie solche Kunststücke abgerichteter Hengste mit ansehen können. Oft ein paar Dutzend dieser stämmigen Burschen mit ihren breiten, von Sturm und Wetter gerötheten Gesichtern, eine Pelzkappe auf dem krausen blonden Haar, die Hände in die weiten Taschen ihrer plumpgeformten blauen Friesjacken, eine kleine, schwarzgerauchte Pfeife im Munde, stehen gaffend und staunend umher, und machen ihrer Freude in brüllendem Gelächter oder lautem, stürmischem Jubelruf Luft, wenn irgend so ein gelehriger Hengst frei herum galoppirt, auf Commando seines langjährigen Reiters Sachen apportirt, sich todt stellt und plötzlich wieder aufspringt, und was dergleichen müßige Spielereien mehr sind. Kommen aber Chasseurs von uns in die englischen Batterien, die von den Matrosen bedient werden, so drängen sich ihnen von allen Seiten neue Freunde, ihre Rumflaschen in der Hand, entgegen, und es wird ihnen so viel und so herzlich zugetrunken, daß sie nur zu oft in stark schwankenden Schritten diese Orte der unbegrenzten Gastfreundschaft wieder verlassen konnten.
Auf der englischen Fregatte selbst, auf welcher wir die Ueberfahrt machten, waren wir fünf Offiziere meiner Escadron zu Mittag stets die Gäste des commandirenden Kapitains, eines noch ziemlich jungen und dabei sehr liebenswürdigen Mannes. Die Tafel war stets mit dem größten Glanze servirt, das Tischzeug feinster Damast, die Bestecke schweres Silber, und auch die fünf bis sechs Gänge, die des Kapitains Koch bereitet hatte, ließen nichts zu wünschen übrig. Als Wein wurde vortrefflicher Bordeaux, dann Portwein und zuletzt Champagner servirt, und sprachen wir der Flasche ziemlich stark zu, so daß unsere Diners häufig von vier Uhr Nachmittags bis acht Uhr Abends währten. Was soll man auf einem Schiffe als bloßer Passagier auch wohl anders beginnen, als möglichst viel schlafen und dann recht lange bei Tische sitzen. Trotz dieser sehr guten Bewirthung, die wir Alle hatten, denn auch unsere Leute, die während der Ueberfahrt auf Kosten der englischen Regierung verpflegt wurden, hatten das beste Rindfleisch, Reis, Brot und Kaffee vollauf, waren wir Alle sehr erfreut, als wir in dem Hafen von Balaklava die Anker warfen.
Ungleich geschwinder wie das Einschiffen ging das Ausschiffen unserer Pferde von Statten, und besonders auch unsere Soldaten, die gar nicht erwarten konnten, den Boden der Krim zu betreten, beeilten sich dabei auf eine Weise, wie ich solche nie vorher gesehen habe. Die Pferde wurden einfach in das Meer hineingelassen, und mußten dann einige 50 bis 60 Schritte schwimmen, bis sie an das Ufer kamen, was auch ohne die mindesten Unfälle geschah. Wie neubelebt waren aber die Pferde, als ihre Hufe nun erst den festen Boden berühren konnten, tanzten muthig umher, und bliesen schnaubend die Nüstern auf, gleich als wollten sie die milde und sonnige und dabei doch so frische und belebende Oktoberluft der Krim in vollen Zügen einathmen, Und auch meine Chasseurs waren so munter und ausgelassen und sangen und jubelten, daß es für einen Offizier eine wahre Freude war, sich unter so kriegsmuthigen Leuten zu befinden. So wie ein Boot das Land berührte, und die Dreinsitzenden heraussprangen, thaten sie dies gewiß nicht, ohne in den lauten Jubelruf: „vive l’empereur“ auszubrechen, dem häufig dann noch ein nicht minder begeistertes: „en avant pour la gloire et l’honneur de la France“ folgte. Am Ufer aber wimmelte es von mannigfachen Zuschauern, die neugierig dem Schauspiel unserer Ausschiffung zusahen, und laut ihre Freude über unsere zierlichen und muthigen und dabei wieder so frommen und gelehrigen afrikanischen Hengste äußerten. Französische Soldaten aller möglichen Waffengattungen, untermischt mit englischen Infanteristen, Kavalleristen und Artilleristen bildeten den Haupttheil der Zuschauer; dann aber auch zahlreiche Matrosen der vielen englischen und französischen Kriegs- und Handelsschiffe, und Gott weiß, was für Leute noch sonst alle sich hier zusammengefunden haben mochten. Die Franzosen begrüßten uns mit einem lauten „vivent les braves chasseurs d’Afrique“ und bezeugten uns auch sonst ihre große Freude, daß wir endlich angekommen waren, da an Reiterei bisher ein großer Mangel beim Heere war, und auch die Engländer jubelten und riefen ein Hurrah über das andere. Besonders unsere Pferde schienen den Engländern sehr zu gefallen, und sie standen stets in dichten Kreisen darum herum, streichelten sie, gaben ihnen Brot zu fressen und gar häufig konnte man ein „very good, very good“ von denselben hören. Als mein [7] „Ali“, ein prächtiger Rapphengst, obgleich schon über 12 Jahre alt, den ich einst von einem Beduinen aus der berittenen Leibwache Ab-del-Kader’s gekauft hatte, an das Land gebracht war, und das schöne edle Thier an der Hand seines Führers herumtanzte, und den Schweif fast gerade in der Luft trug, kam ein Offizier der englischen Husaren zu mir, und bot auf der Stelle 200 Napoleonsd’ors, wenn ich ihm den Hengst überlassen wollte, was ich aber lachend abschlug, da er mir für keinen Preis feil sein wird.
Auf so heitere und belebte Weise betraten wir zuerst den Boden der Krim unweit Balaklava, und konnten diese Landung zugleich als ein gutes Vorzeichen der weiteren günstigen Ereignisse, die uns dort noch begegnen würden, ansehen. Da in der engen und von Menschen aller Art überfüllten Stadt kein Unterkommen für uns war, so marschirten wir sogleich aus derselben fort und schlugen ungefähr 1/4 Meile davon unser erstes Bivouak auf. Es war ein sehr lustiges Bivouak, was mir stets unvergeßlich bleiben wird, und wenn nur alle ferneren Bivouaks, die wir noch in der Krim verbringen sollten, diesem ersten gleichen, könnten wir schon zufrieden sein, Aber – es sollte bald ein ganz gewaltiger Unterschied kommen! An Lebensmitteln und guten Getränken, die wir zuletzt noch am Bord der Fregatte mit echt englischer Freigebigkeit auf zwei Tage erhielten, war kein Mangel, und ebenso hatte der gefällige Kapitain derselben, der überhaupt nichts wie Güte und Freundlichkeit für uns war, unseren Leuten gestattet, sich einen kleinen Vorrath an Kohlen vom Schiffe mit fortzunehmen, sobald er erfahren, daß wir gleich ein Bivouak beziehen sollten. Um übrigens diesem englischen Fregattenkapitain wieder einen kleinen Beweis unserer Freundschaft zu geben, so hatten wir Offiziere der Escadron später einen echten Damascener-Säbel aus Constantinopel kommen lassen und hatten ihm denselben überreicht.
Die erste Nacht, in der wir bivouakirten, war prächtig, sternenklar und dabei von einer Milde, die ganz an das Klima von Algerien im Herbste erinnern konnte. Um ihre kleinen Kohlenfeuer, auf welche sie bisweilen dürres Gras oder Reisig, die sie sich zusammengesucht hatten, warfen, daß die Flammen hoch in die dunkle Nacht hineinloderten, hatten sich die Chasseurs gelagert und brieten das gute englische Fleisch, was sie erhalten, an den Ladstöcken ihrer Karabiners und machten aus dem Rum einen so starken Punsch, wie er in Algier zu den Seltenheiten gehörte, und ließen dabei jene alten vielgeliebten Soldaten- und Lagerlieder in mehr lauten wie gerade harmonischen Chören in die Nacht hineinschallen. Um uns herum standen unsere treuen Rosse und wieherten vor Freude, daß sie wieder auf dem weichen Erdboden und nicht mehr im engen Schiffsraume standen, und wälzten sich oft mit sichtlichem Behagen auf dem Rasenboden umher, was sie im Schiff, wo sie so eng an einander standen, daß sie sich nicht legen konnten, hatten entbehren müssen. Wir Offiziere, die wir mehrere Besuche von uns näher befreundeten Kameraden anderer Regimenter unserer Armee erhalten hatten, lagerten um ein besonders großes Wachtfeuer. Pierré, mein gewandter Kammerdiener und Koch in einer Person, hatte uns mit seiner unvergleichlichen Feldkochkunst, die er in einem zehnjährigen Campagneleben in Algerien genugsam erprobt, vortreffliche Hammelfleisch-Cottelets auf dem Roste gebraten, dann aus Reis, Zucker und einem Glase eingemachter Himbeeren eine Mehlspeise bereitet, und war später eifrig beschäftigt, einen großen Feldkessel voll sogenannten schwedischen Punsch, dessen Recept der schlaue Bursche sich von dem Koche des englischen Fregattenkapitains zu verschaffen gewußt hatte, mit der großen Geschicklichkeit, die er in allen solchen schätzenswerthen Dingen besaß, in beständiger angenehmer Wärme zu erhalten. So ein guter schwedischer Punsch, wenn die Ingredienzien dazu echt sind, ist das vortrefflichste Getränk, was man in einer kühlen Nacht auf dem Bivouak nur genießen kann, und die Bereitung desselben ist nicht die schlechteste Frucht, welche unser jetziges inniges Bündniß mit den Engländern uns gebracht hat. Ebenso lustig und durch und durch kriegsmuthig wie unsere Leute, wenn auch wohl nicht stets auf so geräuschvolle Weise, waren wir Offiziere daher auch an unserem Bivouakfeuer und verbrachten die erste Nacht auf krim’schem Boden auf die angenehmste Weise.
Ein merkwürdiger Vorfall, der mir unvergeßlich bleiben wird, ereignete sich übrigens noch in dieser Nacht. In meiner Escadron diente gewiß über zwölf Jahre schon ein kleiner gewandter, rothköpfiger Irländer mit einem unaussprechlichen Namen, daher er auch nur Jean-Jean genannt und zuletzt auch so in allen Listen eingetragen wurde. Dieser Jean-Jean war vor dem Feinde der beste Soldat von der Welt und hatte schon wiederholt in größeren und kleineren Gefechten die glänzendsten Beispiele des größten persönlichen Muthes und dabei einer seltenen Körperkraft und Gewandtheit gezeigt. So geht noch in der Escadron die Erzählung herum, daß er einst im Gefechte zu Pferde einem Kabylen den Kopf mit seinem Säbel so glatt herunter gehauen habe, wie es der geschickteste Scharfrichter nicht besser vermocht. Auch sonst war er im Dienst anstellig und zuverlässig und ein vortrefflicher Pferdewärter, so daß der fuchsrothe Hengst, den er ritt, mit der Treue eines Hundes ihm überall hin folgte. Bei diesen so sehr guten Eigenschaften wäre er schon längst zum Korporal befördert worden, wenn er nicht die üble Gewohnheit gehabt hätte, dem Branntwein bisweilen zu stark zuzusprechen und dann im trunkenen Zustande allerlei Händel anzufangen. Nicht allein hatte er sich dadurch die Ansprüche auf die Galons des Korporals für immer verscherzt, sondern auch wiederholt schon strenge Strafen zugezogen, was aber niemals geholfen hatte, obschon er oft Besserung versprochen.
Als meine Escadron nun den Befehl erhielt, sich in Algier einzuschiffen, lag Jean-Jean gerade ziemlich verletzt im Hospital. Er hatte sich aus Freude bei der Nachricht, daß unsere Escadron mit gegen die Russen marschiren sollte, einen starken Rausch angetrunken, und war in diesem Zustande in den Stall zu den Pferden gegangen, dort seiner Gewohnheit nach die Trunkenheit auszuschlafen. Statt sich aber bei seinem Hengste, der ihn kannte und ihm nichts that, hinzulegen, hatte er sich versehen, war zu einem äußerst bösen Rosse gekommen und von diesem in der Dunkelheit arg zerbissen und zerschlagen worden, so daß er über und über bepflastert im Hospital lag. Obgleich es mir nun verdrießlich war, gerade einen so erprobten Feldsoldaten zurücklassen zu müssen, wollte ich ihn doch in diesem Zustande natürlich nicht mitnehmen, Jean-Jean, der eine gar zähe Natur hatte, und schon einen tüchtigen Puff aushalten konnte, kam aber zu mir gehumpelt, den linken Arm noch in der Binde, die Nase ganz mit einem großen Pflaster bedeckt, und bat so inständig, ihn doch jetzt gleich mitzunehmen, und versprach mit allen möglichen französischen und irländischen Flüchen und Betheuerungen eine so gründliche Besserung, daß ich endlich nachgab und ihn sogleich mit an Bord des Transportschiffes nahm. Hier besserte er sich denn auch von Tage zu Tage mehr, und als wir in Varna an das Land stiegen, war Arm und Fuß so weit wieder hergestellt, daß er vollkommen allen Dienst verrichten konnte. Nur seine Nase blieb von dem Biß des Hengstes für immer breit und gequetscht, was zwar seiner so schon nicht sonderlichen Schönheit großen Abbruch that, sonst aber weiter für den Dienst nicht schadete.
Wir waren jetzt kaum einige Stunden in unserem Bivouak bei Balaklava eingerückt, als ein englischer Husar zu mir kam und mich nach seinem Bruder frug, der in meiner Escadron dienen sollte. Den Jean-Jean mußte der meinen, denn niemals sah ich zwei so große Aehnlichkeiten wie zwischen diesem englischen Husaren und dem Genannten. Ganz die kleine, untersetzte Gestalt, das breite, sommersprossige Gesicht mit den brennendrothen Haaren und dem schlau-behaglichen Ausdruck der kleinen wasserblauen Augen. Wäre dem Jean-Jean seine Nase noch ganz gewesen, ich hätte ohne Weiteres geglaubt, er sei dieser englische Husar, der sich mit solcher Vermummung einen Scherz habe machen wollen.
In demselben Augenblick kam aber auch dieser, der mit seinem Hengste nach einem kleinen Bache gegangen war, denselben dort zu tränken, wieder zurück, und die beiden Zwillingsbrüder, denn solche waren es, die sich seit einem Dutzend Jahren nicht mehr gesehen hatten, begrüßten sich zwar auf sehr herzliche, dabei aber doch ungemein komische Weise. Die Nacht blieb dieser englische Husar, der übrigens auch schon ein langgedienter, und wie es schien, ungemein tüchtiger Soldat war, bei seinem Bruder am Bivouakfeuer sitzen, und das edle Bruderpaar feierte die Freude des Wiedersehens dadurch, daß Beide zusammen sich einen tüchtigen Rausch antranken, so daß die übrigen Chasseurs sie auf ein Strohbund trugen, damit sie denselben dort einträchtig neben einander ausschlafen konnten. In Betracht der mildernden Umstände, unter denen dies geschah, drückte ich für diesmal ein Auge bei diesem Vergehen zu und schenkte dem Jean-Jean die Strafe, die er sonst sicherlich dafür bekommen hätte.
Warum ist wohl an so vielen Menschen kein gutes Haar? und warum stolziren trotz Eau de Lob und Klettenwurzelöl doch noch so viele junge Platto’s und Perrücklese in der Welt umher? und gleicht, der vielen Grau- und Kahlköpfe wegen, das gefüllte Parterre eines Theaters aus der Vogelschau nicht einer Schneelandschaft im Mondenscheine? Nur deshalb, weil die Haut- und Haarpflege noch sehr in Argen liegt und die Haare bei Vielen vorzeitig altern und absterben, grauwerden und ausfallen. Darum und weil man sich um die Haarverhältnisse gar nicht kümmert, können auch die vielen Beutelschneider mit angeblich haarwuchsfördernden Mitteln und Kuren so leicht ihr Pfeifchen schneiden. Zu spät, wie bei vielen andern Leiden fühlen die Meisten gewöhnlich erst beim Dünnwerden ihrer Haare die Verpflichtung, für diesen Schmuck Sorge zu tragen. Ich sage „Schmuck,“ trotzdem daß es heutzutage beim männlichen Geschlechte bald dahin gekommen sein wird, für altmodisch zu gelten, einen Kopf voll nichtergrauter Haare zu besitzen. Wer diese Ansicht theilt, braucht vorliegenden Aufsatz nicht zu lesen, wer aber sein Haar lieb hat, der lese und folge.
Am ganzen Körper, mit Ausnahme weniger Stellen (wie der Lippen, Hohlhand, Fußsohle, der beiden vorderen Finger- und Zehenglieder) wachsen Haare aus der Haut, meistens schief hervor, nur an verschiedenen Stellen und bei verschiedenen Personen, Altern, Geschlechtern und Raçen in verschiedener Menge, Farbe, Länge und Stärke. Man findet sie entweder lang und weich wie das Kopfhaar; oder kurz, dick und starr wie die Augenwimpern, Lider-, Nasen- und Ohrenhaare; oder kurz und äußerst fein wie die fast farblosen Wollhaare an den übrigen, scheinbar unbehaarten Körperstellen. Merkwürdig ist die Bartlosigkeit oder Bartarmuth der meisten mongolischen und amerikanischen Völker; der über den ganzen Körper stark verbreitete Haarwuchs bei den maldivischen Stämmen (unter denen die Ainos, die Bewohner der Kurilen, das haarigste Volk der Erde sind); die ungemeine Krausheit der Kopfhaare bei den Negern und die ungemeine Länge dieser Haare bei den Cafusos und Papuas. Unter den kaukasischen Völkern kommt ein starker Haarwuchs besonders den Juden und Südeuropäern, ein spärlicher den Nordländern zu. Bisweilen findet eine übermäßige Haarbildung, ebenso wie Kahlheit auch als angeborner Fehler statt, der sich entweder am ganzen Körper oder nur an einzelnen Stellen zeigt. – Was die Anzahl der Haare auf einer bestimmten Fläche betrifft, so findet sich nach der Farbe derselben keine unbedeutende Verschiedenheit, denn man fand auf einer Stelle von 1/4☐″ 147 schwarze, 162 braune und 182 blonde Haare. Bei einem mittelmäßig behaarten Manne standen auf 1/4☐″ am Scheitel 293, am Kinn 39, am Vorderarme 23, am Schenkel 13 Haare. v Interessant ist die Anordnung der Haare in gebogenen Linien, welche an verschiedenen Stellen verschieden entweder nach bestimmten Punkten oder Linien zu convergiren, oder von solchen nach zwei oder mehreren Richtungen divergiren, wodurch eine Menge Figuren (Ströme, Wirbel, Kreuze) gebildet werden.
Die Haare sind solide, runde oder etwas abgeplattete, gefäß- und nervenlose, ziemlich feste Fäden aus Hornstoff (von eiweißähnlichem Stoffe gebildet) und Fett mit etwas Eisen- und Manganoxyd, welche der Fäulniß Jahrtausende widerstehen (denn die Mumienhaare sind ganz unverändert) und eine sehr große Elasticität besitzen. Wenn sie trocken und warm sind, werden sie (im todten wie im lebenden Zustande) durch Reibung elektrisch, breiten sich aus und sprühen selbst beim Menschen unter Knistern Funken. Sie sind ferner sehr hygroscopisch (wasseranziehend), bald trocken und spröde, bald feucht und weich, je nachdem sie viel oder wenig Flüssigkeit aus der Haut und der Atmosphäre aufgenommen haben. Nach der verschiedenen Menge von Feuchtigkeit, welche sie enthalten, werden sie mehr oder weniger lang, worauf sich ihre Anwendung zu Hygrometern (Feuchtigkeitsmessern) gründet. Ihre Farbe, welche vorzugsweise an das Fett des Haares gebunden zu sein scheint, geht vom Weißen durch alle Nüançen des Weißgelben, Röthlichgelben, Braungelben bis in's Rothe, Tiefbraune und Schwarze. In der Regel zeigt sich eine Uebereinstimmung zwischen der Farbe der Haare und der der Augen und dem Teint der Haut. Im höheren Alter, doch auch schon in den mittlern Lebensjahren, werden die Haare weiß und zwar in der Regel die dunklen früher als die blonden. Bei Negern sind weiße Haare viel seltener als bei Europäern, während bei den Mandanan, einem nordamerikanischen Stamme, eine große Menge Individuen von Jugend an ein silbergraues oder ganz weißes Haar besitzen. Bei den weißhaarigen, unter allen Menschenraçen vorkommenden Kakerlaken (Albinos, Dondos, Blafards, weißen Negern), welche man früher für eine besondere Menschenraçe hielt, obschon sie nur von Geburt an Kranke (an Weißsucht, Leucopathie, Albinoismus Leidende) sind, fehlt der Farbstoff nicht nur im Haar, sondern auch in der Haut und im Auge. Der letztere Umstand bewirkt, daß die Kakerlaken gewöhnlich das Tageslicht nicht ertragen und nur im Dunkeln gut sehen können.
An jedem Haare unterscheidet man zwei Theile; einen aus der Haut hervorragenden Theil, den Haarschaft, welcher allmälig in ein immer dünner werdendes Ende (die Spitze) ausläuft, bei schlichten Haaren gerade und rundlich, bei gelockten wellenförmig gebogen und etwas abgeplattet, bei krausen und wolligen Haaren spiralig gedreht und ganz platt oder leicht gerinnt ist; und einen in der Haut steckenden, runden und geraden Theil, die Haarwurzel, welche nach unten zu immer weicher wird und in eine knopfförmige ausgehöhlte Anschwellung, die Haarzwiebel, den Haarknopf, endigt. Die ganze Haarwurzel wird von einem eignen 1–3‴ langen Sacke eng umschlossen, welcher aus einer flaschenförmigen Einstülpung der Leder- und [9] Oberhaut besteht und Haarbalg oder Haarsäckchen genannt wird. Auf dem geschlossenen Grunde dieses Säckchens, in welches gewöhnlich eine oder mehrere Talgdrüsen einmünden (s. Gartenl. 1854 Nr. 44), erhebt sich eine warzen- oder hügelförmige Hervorragung, der Haarkeim oder die Haarpapille, welche sehr gefäßreich und die eigentliche, das Wachsthum unterhaltende Bildnerin des Haares ist. Auf dieser Papille sitzt die Haarzwiebel mit ihrer Aushöhlung hutförmig auf. Aus dem Blute des feinmaschigen Haarröhrchennetzes des Haarkeimes wird der Haarstoff zuerst als flüssige Materie ausgeschieden, in welcher sich dann Bläschen (Zellen) bilden, die nach oben zu zum Theil allmälig zu Plättchen und Fasern umgewandelt werden und so endlich die Rinden- und Marksubstanz, sowie das Oberhäutchen des Haares bilden. – Die Rinden- oder Fasersubstanz bildet den äußeren, bedeutendsten und gefärbten Theil des Haares, ist längsgestreift und aus starren, platten, geraden, zugespitzten Fasern (Haarfasern), die aus spindelförmigen Haarplättchen zusammengesetzt sind, gebildet. An dieser Substanz, welche äußerlich mit dem dünnen, durchsichtigen und aus ganz platten, eckigen, dachziegelartig über einander liegenden Plättchen zusammengesetzten Oberhäutchen des Haares fest überzogen ist und durch dieses eine ringförmige Querstreifung erhält, – sieht man stets dunkle Flecken, Pünktchen und Streifen, welche theils von Häufchen aus Farbekörnchen (in den Haarplättchen), theils von winzig kleinen, mit Luft erfüllten ovalen Hohlräumen (Bacuolen) und spindelförmigen Kernen herrühren. Am untern Theile der Haarwurzel werden die hornigen Haarplättchen immer weicher und gehen endlich in längliche und rundliche Zellen über, die sich in dem flüssigen, vom Blute des Haarkeims ausgeschiedenen Haarstoffe bildeten. Die Spitze des Haares besteht nur aus Rindensubstanz mit seinem Oberhäutchen. Die Lufträume der Rinde finden sich erst am Schafte oder am oberen Theile der Wurzel. – Die Marksubstanz, welche die Mitte des Haares einnimmt und nicht selten stellenweise ganz fehlt, besteht aus reihenweise an einander gelagerten rundlichen, kernhaltigen Zellen (Markzellen), die mit Flüssigkeit oder Luftbläschen , sowie zum Theil mit Fett- und Farbstoffkörnchen erfüllt sind. In der Nähe der Zwiebel sind diese Zellen ohne Luft, die vielleicht erst später in Folge der theilweisen Verdunstung des flüssigen Inhaltes dieser Zellen eingenommen wird.
Einige Zeit nach der Geburt fallen die meisten, und in manchen Fällen sämmtliche Wollhaare aus und werden durch neue ersetzt. Dieser totale Haarwechsel kommt dadurch zu Stande, daß (wie bei den Milch- und bleibenden Zähnen) in den Haarbälgen der Wollhaare selbst neue Haare entstehen, die allmälig die alten verdrängen, so daß also zu dieser Zeit zwei Haare in einem Balge stecken, von denen das spätere das frühere von seinem ernährenden Boden abhebt und aus dem Balge herausdrängt. – Die einmal gebildeten Haare wachsen kürzere oder längere Zeit fort (und zwar vom Haarkeime aus durch Entwicklung neuer Zellen aus der vom Blute abgesetzten Ernährungsflüssigkeit, von welchen später die mittleren zu Markzellen, die äußeren in Rindenplättchen und Fasern, die äußersten zu Oberhautschüppchen sich umgestalten), erreichen eine, je nach Ort und Geschlecht bestimmte Länge und bleiben dann im Wachsthum stehen. Werden sie aber abgeschnitten, so wachsen sie wieder nach und treiben so lange fort, als man sie ihre bestimmte Größe nicht erreichen läßt. Die Haare besitzen sonach, wie alle Horngebilde, ein beschränktes Wachsthum. So kann bei einem Manne, der 60 Jahr alt und dessen Haupthaar, ohne abgeschnitten zu werden, etwa 21/2 Fuß lang wird, durch Abschneiden das Haar auf 21 Fuß Länge gebracht werden, wenn man nämlich die abgeschnittenen Portionen zusammenrechnet. – Das fertig gebildete Haar, obschon gefäßlos, ist doch kein todter Körper. Es ist von Flüssigkeit durchzogen und verwendet dieselbe zu seiner Ernährung. Diese Flüssigkeiten stammen aus den Gefäßen der Haarpapille und des Haarbalges, steigen wahrscheinlich vorzüglich von der Wurzel aus, ohne daß besondere Kanäle für sie da wären, durch die Rindensubstanz in die Höhe und kommen in alle Theile der Haare hinein. Haben diese Säfte zur Ernährung des Haares gedient, so dunsten sie höchst wahrscheinlich von der äußern Oberfläche desselben ab und werden durch neue ersetzt; die Einölung des Haares durch den Hauttalg verhindert wahrscheinlich die zu starke Verdunstung des Haarsaftes. Vielleicht nehmen die Haare auch von außen Flüssigkeiten in Dunstform auf. Die Bildung von Luft in der Marksubstanz und in der Rinde dürfte die Folge von einem Mißverhältnisse zwischen der Zufuhr von Flüssigkeit vom Haarbalge aus und dem, was abdunstet, sein, es ist gleichsam ein Austrocknen des Haares. Das Ausfallen der Haare beruht gewiß in vielen Fällen ebenfalls auf nichts anderem, als auf einem Mangel an der nöthigen Ernährungsfeuchtigkeit. Auch das Weißwerden, das vorzüglich von Entfärbung der Rinde, weniger des fast ungefärbten Markes abhängt, kommt gewiß in vielen Fällen durch eine solche Austrocknung zu Stande, weshalb auch weiße Haare, wenn sie abgeschnitten oder ausgerissen werden, ohne Farbe wieder wachsen. Man hat ebenso Fälle von schneller Ergrauung der Haare, wie auch von schneller Wiederfärbung grau gewordener Haare. Da die Bälge verloren gegangener Haare lange bestehen bleiben, so ist eine Neubildung von Haaren an kahlen Stellen auch noch nach längerer Zeit nicht unmöglich; es giebt Fälle, wo alsdann anders gefärbte Haare, als die verloren gegangenen, wieder wuchsen. – Aus Allem geht deutlich hervor, daß die Haarpapille auf dem Grunde des Haarsäckchens für das Leben und Wohlbefinden des Haares von der allergrößten Wichtigkeit ist und daß man nur von dieser aus auf das Haar einzuwirken vermag. Deshalb stehen die Haare aber auch weit mehr unter dem Einflusse des allgemeinen Gesundheitszustandes, als man gewöhnlich glaubt. Bei guter Gesundheit sind die Haare stark und sitzen fest in der Haut, bei geschwächter gehen sie leicht aus. (Ueber die Krankheiten und Pflege des Haares später.)
Der Engländer J. H. Lewes (gesprochen: Luis), gehört zu den vielen wahrhaft gebildeten Familien Englands, welche die klassische deutsche Literatur lieben und studiren, und deren ewige Schönheit dem englischen Publikum immer mehr aufschließen, aber zu den Wenigen, die sie genau kennen und würdigen. Neben ihm ragen besonders Thomas Carlyle (Carleil), der den Engländern unsern Goethe zuerst in Uebertragungen und enthusiastischen Abhandlungen aufschloß, die Familie Howitt und Bulwer (mit einer Biographie Schiller’s) hervor. Auch der berühmte Humorist Thackeray, der in seiner Jugend in Weimar lebte und mit Goethe und dem Hofe mehrmals in persönliche Berührung kam, verdankt dem deutschen Einflusse viel in seinem ausgebildeten, den englischen Conventionalismus versöhnenden Humor. Viele englische Familien der höchsten Stände lassen ihre Kinder deutsch erziehen, z. B. Lord John Russel und eine Menge Andere seines Kreises. Keine gebildete englische Dame existirt mehr ohne Original-Citate aus dem Faust; keine anständige englische Schule mehr ohne Deutsch. In Amerika sind die Deutschen und die deutsche Literatur zum Theil schon weiter und tiefer eingedrungen. Ihre besten Dichter, Longfellow, Dana u. s. w. sind deutsche Dichter, die aus Deutschland geschöpft, in Deutschland selbst studirt haben und deutsch sprechen, als wär’s ihre Muttersprache. Kein der Civilisation sich aufschließendes Land ohne Deutsche. Die Deutschen, zu Hause beengt und unfähig, sich selbst schönere Lebensformen zu schaffen, sind gleichwohl oder vielmehr gerade deshalb zu den Lehrern der Menschheit, zur Verwirklichung einer alle Nationen und Zonen umfassenden Kultur bestimmt. Sie arbeiten daran zu Hause und unter allen Heiden der Welt. Ihre Wissenschaft, ihre Poesie breiten sich stets zu Gütern der Menschheit aus, wie sie bereits mit aller Welt in der kindlichsten, allgemein verständlichen Sprache reden – durch ihre Spielsachen, mit denen das englische, das amerikanische, das indische, australische, russische, das weiße, braune, gelbe, rothe und selbst das schwarze Kind des gebildeten Negers beschenkt wird, an denen es seine Fingerchen im Zerbrechen üben, seine Phantasie, seine Sprache gemüthlich lallend und plaudernd lernt.
Die Deutschen werden nie groß und berühmt als „Nation“ werden, wie der Schmetterling nicht zu besondern Ehren kommt [10] als auf dem Blatte klebende Raupe; ihr Ruhm, ihre Größe ist die Welt, die in ideellen und materiellen Verkehr vereinigte Familie aller Nationen. Sie sind im besten Wesen und Wirken „Haupt“ – „Kosmos,“ sie haben „das Pulver erfunden,“ die Buchdruckerkunst, das Dampfschiff; sie haben immer für die ganze Welt gearbeitet, trotz aller Patente, Potentaten, Polizei und Schutzzölle. Sie sind die Rothschilde der Idee und Erfindungen, nur daß sie nicht so pfiffig damit wuchern, wie die materiellen Rothschilde.
Der höchste und schönste Ausdruck, die mächtigste, durch alle Welt leuchtende Personification der deutschen Herrschaft über die Welt ist das Dioskuren-Paar Schiller und Goethe. Die triviale Frage: wer ist größer? beantwortet sich dadurch, daß sie zusammen Eine Größe, die höchste, edelste Manifestation der Idee Mensch sind. Kein Volk der Erde hat ein so ewig schönes, unsterblich leuchtendes Doppelgestirn aufzuweisen, als dieses Freundschaftspaar, zugleich der vernichtendste Vorwurf für unsere modernen „ersten Größen,“ die immer ihren Rivalen gleich vernichten möchten, weil jeder solcher Heros meint, er sei schon für sich allein beinahe zu groß.
Niemand unter den vielen Biographen und Buchmachern Goethes hat die Schönheit und welthistorische Bedeutung dieser Freundschaft Goethe’s und Schiller’s so schön erkannt und so warm gepriesen, als Lewes. Er arbeitete zehn Jahre an der Biographie Goethe’s, den er an Ort und Stelle, aus unveröffentlichten Quellen, aus den Mittheilungen der Wenigen, die ihn persönlich sahen und kannten und ihn überlebten, so genau studirte und erkennen lernte, wie wohl kaum der beste Goethekenner in Deutschland.
„Keine Geschichte liefert etwas Aehnliches,“ sagt Lewes, „als diese Freundschaft zwischen Schiller und Goethe. Sie waren Rivale, Naturen vielfach einander entgegengesetzt, Häupter feindlicher Lager und nur durch das Höchste in ihren Charakteren und Bestrebungen vereinigt. Auf den ersten Blick sah man ihre tiefe Verschiedenheit. Goethe’s schönes Haupt trug den Ausdruck ruhiger, siegender Majestät des griechischen Ideals, Schiller’s, die wehmüthige Schönheit eines der Zukunft zugewandten Christen. Die massive Braue und großen Augenpupillen, wie sie Raphael dem Christkinde auf seinem besten Madonnenbilde „di San Sisto“ gab, die starken und schön proportionirten Glieder und tief ausgeprägten Gesichtszüge, allerdings gefurcht von der That des Gedankens und dem Leiden der Leidenschaft, aber zugleich beweisend, daß Gedanke und Gefühl den starken Helden nicht zu besiegen vermochten, eine gewisse Kraft der Gesundheit durch die braune Haut scheinend, und jenes oft beschriebene, nicht zu beschreibende Etwas, das aus dem Gesichte leuchtete – Alles vereinigte sich in Goethe zu dem stärksten Gegensatze zu Schiller mit seinen scharfen Augen, der engen Braue – innig und energisch – seinen unregelmäßigen Zügen, gefurcht durch Leiden und Denken, abgeschwächt durch Krankheit. Der Eine sieht, der Andere blickt. Beide sind majestätisch. Der Eine hat die Majestät der Ruhe, der Andere des Conflictes und Kampfes. Goethe’s Gestalt ist massiv, ehrfurchtgebietend, er erscheint viel größer als er ist; Schiller’s Körperform ist ohne Proportion, er ist lang, erscheint aber viel kleiner. Goethe hält sich steif aufrecht (in der Regel mit auf dem Rücken überschlagenen Händen); der langhalsige Schiller hat einen Gang wie ein Kameel (wie Tieck zu Rauch sagte), Goethe’s Brust gleicht dem Torso des schönsten griechischen Heros, des Theseus, Schiller’s ist eingesunken und hat eine Lunge verloren.“
Der äußerliche Contrast zeigt sich in deren Dichtungen: Schiller, der Titanenkampf des Willens, des Freiheitsgefühls gegen Natur- und Lebensfesseln, Goethe in der Natur und in den natürlichen Bedingungen aller Dinge, deren Vernunft, Nothwendigkeit und Schönheit erkennend. Aber die Freiheit Schiller’s und die Schönheit des natürlich Vorhandenen sind blos zu erreichen, zu genießen durch die Kunst, die Poesie. Das ist ihre Vereinigung, ihre Freundschaft, ihr inniges, edles Aufeinanderwirken bis zu Schiller’s Tode. Goethe hatte damit, wie er an Zelter schrieb: „die Hälfte seines Daseins verloren.“ Die große, stolze Sonne ging von Schiller’s Tode an langsam, ruhig und klar unter, unter von 1805 bis 1832. In Schiller war ihm „ein neuer Frühling gekommen.“ Goethe’s Meisterwerke, Goethe’s vollendete Dichtungen fallen in seine Schiller-Periode von 1794 bis 1805.
Goethe’s natürliche, glückliche Organisation, die schönste und gesundeste, die Hufeland je gesehen, und gesunde Lebensweise trugen ihn weit über die Gräber der edeln und lieben Seelen hinweg, die er, die ihn geliebt. – „Er stand regelmäßig um sieben Uhr auf, zuweilen früher, nie später, nach einem langen, gesunden Schlafe, denn er hatte, wie Thorwaldsen, „Talent zum Schlafen,“ das nur durch sein Talent für anhaltende Arbeit übertroffen ward. Bis elf Uhr arbeitete er ohne Unterbrechung. Jetzt genoß er eine Tasse Chokolade und arbeitete fort bis ein Uhr. Um zwei Uhr Mittagessen. Sein Appetit war ungeheuer. Auch wenn er über Mangel an Appetit klagte, aß er mehr als jeder andere Mann. Puddings, Süßigkeiten und Kuchen waren stets willkommen. Er saß lange beim Wein, heiter plaudernd mit diesem oder jenem Freunde beiderlei Geschlechts, denn er aß nie allein. Er trank täglich seine zwei bis drei Flaschen Wein, aber nicht wie Schiller in der Nacht zum Arbeiten, sondern zur Erholung nach dem Essen. Im Uebrigen lebte er sehr einfach. Wenn andere, weniger bemittelte Familien Wachskerzen brannten, ging er nicht von seinen zwei ärmlichen Talglichtern ab. Abends ging er oft in’s Theater, wo er regelmäßig ein Glas Punsch trank. Blieb er zu Hause, sah er stets Freunde und Freundinnen um sich. Von dem Abendessen zwischen acht bis neun Uhr genoß er nur etwas Salat oder Eingemachtes. Um zehn Uhr ging er durchweg zu Bett.“
Das Leben, die Liebenden und Geliebten, die ihn auf seinem langen, glorreichen Lebenswege begleiteten, und wie er sie in Poesie feiernd erhob – das Alles, besonders das specifische Material seines Lebens und Liebens, des Erlebten in seiner Poesie (er „machte“ nie Gedichte) ist von Lewes mit großer Genauigkeit, Klarheit und Liebe entwickelt und nachgewiesen worden. Dabei ziehen alle Sterne der deutschen goldenen Literatur-Periode, die mit ihm in verschiedene Berührung kamen, selbst englische und französische Größen – Byron, W. Scott, Bulwer, Carlyle, Thackeray, der große Napoleon u. s. w., mit ihm an uns vorüber. Könige und Fürsten huldigen ihm. Napoleon sah ihn öfter nach der Schlacht bei Jena und sagte von ihm allein: „Das ist ein Mann, voilà!“ und frug sehr oft: „Was meinte le Goeth dazu?“ Das giebt eine Menge charakteristische Anekdoten, die aber Lewes nicht, wie viele deutsche Goethographen, alle mit in sein Buch zusammenfegt: er wählte blos neue und zur Sache gehörige. Wir machen auf Einige aufmerksam, die ihn und den „alten Herrn“ charakterisiren. Als Platina in der Naturwissenschaft aufstieg, schickte man von Rußland eine Platte davon an den Chemiker Dobereiner in Jena. Goethe, damals ein passionirter Mineralog, bekam sie erst zur Ansicht, und gab sie trotz aller Bitten und Beschwerden Dobereiner’s nicht wieder heraus, so daß dieser sich endlich an den Großherzog selbst wandte.
„Laß den alten Esel zufrieden,“ sagte er. „Die Platte giebt er nun doch nicht wieder heraus. Werde um eine andere nach Rußland schreiben.“
Einmal bringt der Großherzog den König von Baiern mit zu ihm und dieser einen Orden für die Brust Goethe’s. Der König bittet, ihn als ein Zeichen seiner tiefsten Verehrung anzunehmen. „Wenn mein allergnädigster Souverain es erlaubt,“ versetzt Goethe; darauf der Großherzog:
„Alter Kerl, schwatz’ kein dummes Zeug.“
Wir erfahren auch genauer, warum Goethe mitten in der Demüthigung seines Großherzogs und Deutschlands und in der „Erhebung“ Deutschlands kein politischer Dichter ward. Der Hauptgrund ist, weil er ein Dichter war, der specielle, weil in der Politik, am Wenigsten in der deutschen, keine Poesie liegt, weil Deutschlands Pathos nicht Politik, nicht abschließende Nationalität, sondern Kosmopolitik, die Freiheit, das Wissen, die Humanität, die Kultur für’s ganze Erdenrund ist. Dabei kommt folgende Anekdote vor.
Nach dem Abzug der Franzosen reibt sich ein Philister in Jena die Hände und sagt freundlich schmunzelnd: „Nun bin ich die französische Einquartirung los, nun habe ich endlich Platz für die Russen.“
Nachdem alle Liebenden und Geliebten vor ihm dahin geschieden, naht auch dem 82jährigen Greise endlich freundlich der Tod. Kurz vorher war er noch einmal nach Ilmenau hinausgegangen, wo er vor vielen Jahren in eine Wand geschrieben:
„Ueber allen Gipfeln ist Ruh,
In allen Wipfeln spürest du
Kaum einen Hauch;
Die Vöglein schweigen im Walde,
Warte, nur balde
Ruhest du auch!“
Er trocknete sich die Thränen und rief: „Ja, warte nur, balde ruhest du auch.“
„Am folgenden Morgen“ – so schließt das Werk von Lewes, – „am 22. März 1832 versuchte er etwas im Zimmer auf- und abzugehen, doch fühlte er sich zu schwach. Er setzte sich in seinen Lehnstuhl und plauderte heiter mit Ottilie (der Wittwe seines einzigen Sohnes) von der Heilkraft des kommenden Frühlings. Ottilie saß vor ihm und hielt ihm beide Hände. Er begann zu phantasiren. „Sieh,“ rief er, „welch’ lieblicher Mädchenkopf – mit schwarzen Locken – in glänzenden Farben – dunkler Hinterwand!“ Jetzt sah er ein Stückchen Papier am Boden und fragte, wie man Schiller’s Briefe so nachlässig umherliegen lassen könne (Schiller im letzten Augenblicke). Jetzt schlief er und träumte von Skizzen, die er beim Erwachen wieder sehen wollte. Seine Sprache wurde undeutlicher. Das letzte vernehmliche Wort war: „Mehr Licht!“ Die Nacht des Endes trat heran, und er, dessen ewige Sehnsucht „mehr Licht“ gewesen, widmete ihr den letzten Athem. Er fuhr dann fort, sich durch Zeichen auszudrücken, schrieb Briefe mit dem Zeigefinger in die Luft und – schwächer – auf die Decke, die seine Füße verhüllte. Halb zwölf Uhr rückte er sich bequemer im Lehnstuhle. Die Wächterin legte den Finger auf ihre Lippen zum Zeichen, daß er schlafe. Wenn es Schlaf war, so war’s ein Schlaf, in welchem ein Leben von dieser Welt schied. Er erwachte nicht wieder.“
Er wird nie sterben. Die neue Biographie hat seine unsterblichen Schöpfungen vielen Millionen aufgeschlossen.
Unter allen den Resten des Alterthums, die der mütterliche Schooß der Erde geborgen und vor der Zerstörung durch den Fanatismus christlicher Eiferer oder die Rohheit barbarischer Völker geschützt hat, ist nichts in solchem Grade geeignet, die Theilnahme des Beschauers zu erregen, als die Ruinen der im Jahre 79 nach Christi Geburt durch einen furchtbaren Ausbruch des Vesuvs verschütteten, jetzt durch die seit 1748, freilich mit ächt neapolitanischer Trägheit, fortgesetzten Ausgrabungen in ihrem dritten Theile wieder an das Tageslicht gerufenen Stadt Pompeji. Denn hier breitet sich vor unsern Blicken das reiche und mannigfache Bild des häuslichen sowohl als öffentlichen Lebens eines durch Handel reichen und von kunstsinnigen Bürgern bewohnten römischen Städtchens aus dem ersten Jahrhunderte unserer Zeitrechnung aus; und auch der Nichtgelehrte, der die Herrlichkeit und geistige Tüchtigkeit des Alterthums weder aus seiner Geschichte, noch aus den von ihm hinterlassenen Schrift- und Bildwerken kennt, wird beim Anblicke dieser wohl ummauerten Stadt mit ihren schön gepflasterten Straßen und Plätzen, zierlichen Wohnhäusern, säulenreichen Tempeln und weiten Theatern, nicht blos von kalter Bewunderung ergriffen, sondern belebt unwillkürlich diese öden Räume mit Gestalten und fühlt sich heimisch in der Umgebung einer vor Jahrtausenden untergegangenen Kultur. Da stört ihn plötzlich der gellende Pfiff einer Locomotive in seinen Träumen: der von Neapel kommende Bahnzug ist an der Station Pompeji angelangt, und ich steige mit meinen Lesern aus dem Eisenbahnwagen, um sie von Gegensatz zu Gegensatz, aus dem unruhigen Treiben des neunzehnten Jahrhunderts zu dem mitten in seinem Gange aufgehaltenen und gleichsam zu Stein erstarrten Leben des Alterthums zu führen.
Die Strecke, die wir durch des Dampfes Kraft in 11/2 Stunden von Neapel aus durchflogen haben, gehört zu den schönsten Gegenden der Welt, Die Bahn läuft durch eine ununterbrochene Reihe blühender Städtchen: Portici, Resina (unter dessen Häusern eine andere alte Stadt, Herculanum, in den Banden zu Felsen erstarrter Lava schmachtet), Torre del Greco und Torre dell’ Annunziata; zur Linken hat man den hohen Kegel des Vesuvs, über dessen Spitze immer ein leichtes weißgraues Wölkchen schwebt, zur Rechten den herrlichen Meerbusen von Neapel, den im Süden das Felseiland Capri, weiter westlich die bedeutend größere Insel Ischia, deren Spitze, der Epomeo, auch einst ein jetzt erstorbener Vulkan, hoch in die Wolken ragt, und daneben das lange und schmale Procida abschließen: über sich den tiefblauen, durch keine Wolke getrübten Himmel des Südens. Während im Alterthum Pompeji unmittelbar am Ufer des Meeres lag, ist dieses jetzt in Folge der durch den vulkanischen Ausbruch bewirkten Erhöhung des Bodens um eine bedeutende Strecke zurückgewichen. Schon der Bahnhof ist eine Viertelstunde vom Strande entfernt, und eben so lange Zeit braucht man noch, um von hier aus zu den mit Gebüsch bewachsenen Höhen zu gelangen, unterhalb deren die bis jetzt aufgedeckten Ruinen sich ausbreiten. Die Kruste, welche man hinwegräumen mußte, um zu diesen zu gelangen, und welche noch 2/3 der Stadt birgt, besteht aus abwechselnden Lagen von feiner schwärzlicher Asche und Bimstein und hat eine Dicke von ziemlich zehn Ellen. Die Grabungen wurden nur in den ersten Jahren nach der Entdeckung, und dann unter der Herrschaft Murat’s mit Eifer betrieben; die jetzige Regierung läßt fast nur, wenn fürstliche oder sonstige hohe Personen zum Besuch anwesend sind, nach denen dann meist die in ihrer Gegenwart aufgedeckten Häuser benannt werden, graben: für alle anderen Besucher ist die Stelle, wo gegraben wird, unzugänglich,
Werfen wir nun, um ein Gesammtbild zu erhalten, von der Höhe an der Südseite einen Blick auf die unter uns liegende Stadt, so erblicken wir ein Netz von größentheils geraden, in rechtem Winkel einander durchkreuzenden Straßen, hier und da unterbrochen durch freie von Säulenhallen oder Mauern umgebene öffentliche Plätze. Schnell schweift der Blick über die meist kleinen, die Straßen zu beiden Seiten abschließenden Privathäuser, die jetzt öde mit ihren nackten Wänden, ohne Dach und Fach, wie ausgebrannt dastehen: aber hier und da bleibt er haften auf den ihrer Kronen beraubten Säulenstümpfen, die noch Zeugniß geben von der Herrlichkeit der Tempel, deren Dächer sie stützten, auf den Theatern, deren steinerne Sitzreihen leer und an vielen Stellen ausgebrochen, sich über einander erheben, endlich auf den doppelten, einen Erdwall einschließenden Ringmauern, die nach griechischer Weise aus großen Bruchsteinen ohne Mörtel erbaut, aber schon im Alterthume vielfach mit Mauerwerk aus kleinern, durch Mörtel verbundenen Steinen ausgebessert, durch Brustwehren und Thürme vertheidigt, die Stadt an allen Seiten, mit Ausnahme der Südseite, auf der wir stehen, umschließen, und in ihrer ganzen Ausdehnung offen gelegt sind, während noch der größere Theil der von ihnen umschlossenen Gebäude unter Weingärten und Maulbeerpflanzungen versteckt liegt.
Steigen wir nun von unserm Standpunkte auf einem Hügel der Südwestseite in die Stadt hinab, so durchwandeln wir zuerst eine breite, aber nicht lange Straße, die, wie alle Straßen der Stadt, mit großen, vieleckig behauenen Lavaplatten gepflastert, zu beiden Seiten mit Rinnsteinen und erhöhten Trottoirs für die Fußgänger versehen ist. Zu unserer Rechten treffen wir, nachdem wir an einigen kleineren Gebäuden vorüber geeilt sind, die lange Seitenmauer eines großen Gebäudes; eine Thür in derselben ladet uns ein„ das Innere zu betreten. Wir befinden uns in einem weiten, an drei Seiten von Mauern umgebenen, an der Vorderseite in fünf nur durch Säulen getrennten Zugängen geöffneten Raume, dessen Inneres durch vier Reihen von gewaltigen Säulen, die mit den drei Wänden und den Säulen der offenen Vorderseite parallel laufen, in drei Schiffe getheilt ist. An die beiden langen
[12][13] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt. [14] Wände lehnen sich Halbsäulen von geringerm Umfang, an der Rückwand erhebt sich ein erhöhter Platz mit sechs Säulen, die einst das ihn schirmende Dach trugen. Kurz, wir sind in dem Raume, wo öffentlich und vor allem Volk Gericht gehalten wurde im Alterthume, in der sogenannten Basilika. Auf dem erhöhten Sitze saß der Richter, vor ihm standen Kläger und Verklagter, in den geräumigen drei Schiffen, geschützt vor der Sonnenglut des Sommers, wie vor den Regengüssen des Winters, die Menge des Volkes, vor deren Augen und Ohren die Rechtspflege geübt ward, öffentlich und mündlich. Aber jetzt ist das Dach eingestürzt, das Marmorpflaster des Fußbodens zerbrochen, von den Säulen stehen nur noch Stümpfe gleich den Knorren gefällter Eichen; tiefe Stille liegt über dem öden Raume, und nur Inschriften flüchtig eingeritzt in die mit farbigem Stuck überzogenen Wände sprechen in todter Sprache verständlich zu dem kundigen Beschauer.
Treten wir durch die offene Vorderseite heraus, so bietet sich unsern Blicken ein prächtiges Schauspiel dar: denn vor uns liegt ein weiter, regelmäßiger Platz in Gestalt eines länglichen Vierecks, rings umgeben mit Trümmern von Säulen, die einst bedeckte Säulengänge bildeten, hinter welchen sich großartige öffentliche Gebäude und Tempel erhoben, die auch in ihren Ruinen noch unsere Bewunderung erregen. Hier und da erblicken wir zahlreiche Fußgestelle, auf welchen einst Statuen der Götter oder von der Nachwelt geehrter Menschen standen, die jetzt entweder zertrümmert oder nach Neapel fortgeschafft sind, um dort in den Räumen des reichen bourbonischen Museums dem Kunstfreunde Genuß und Belehrung zu gewähren. Dieser Platz ist das Forum, d. h. der Marktplatz, der Mittelpunkt alles bürgerlichen und geschäftlichen Lebens und Treibens der alten Stadt. In den ihn umgebenden Säulengängen brachten die Bürger den größten Theil des Tages geschäftig oder lustwandelnd zu. Vor Allem zieht ein Gebäude unsere Aufmerksamkeit auf sich, das sich an der Nordseite des Platzes auf hohem Unterbau, zu dem eine breite, durch eine Plattform in der Mitte unterbrochene Treppe emporführt, erhebt. Es ist ein Tempel, geweiht dem höchsten Gotte des Alterthums, dem Jupiter. Steigen wir die Treppe hinauf, so fesseln uns weniger die Ruinen des Tempels, von dem nur noch Säulenreste und die mit bunten Farben geschmackvoll bemalten Wände des innern Gemachs, in dem einst die Bildsäule des Gottes sich den Blicken der gläubigen Menge zeigte, erhalten sind, als der Ueberblick, den wir von diesem hohen Standpunkte aus, wie über die Ruinen der Stadt überhaupt, so namentlich über die bedeutenden, den Marktplatz umgebenden Gebäude haben.
Was ist das zu unserer Rechten für ein weiter, von Mauern, hinter denen sich Säulen, zum Theil noch in ihrer ganzen Höhe und mit dem Schmucke des Kapitäls (Säulenknaufes) prangend, erheben, umschlossener Raum, in dessen Mitte ein hoher Unterbau mit Freitreppe, vor der ein Altar sieht, noch Reste eines von Säulen gestützten Baues zeigt? Auch dies war ein Tempel, geweiht, wie es scheint, der Göttin der Liebe und Anmuth, der Venus. Daß auch das Haus der Göttin anmuthig war, davon zeugen noch die zierlichen Malereien, die seine Wände schmücken.
Nachdem wir die den Marktplatz umgebenden Gebäude überschaut, lassen wir unsern Blick etwas weiter über die Ruinen schweifen. Da fesseln ihn zwei Bauwerke in Hufeisenform, die zu unserer Linken ziemlich am Ende des aufgegrabenen Theiles der Stadt liegen, und unsere Neugierde treibt uns eilig, herabzusteigen, und nachdem wir den Marktplatz überschritten in örtlicher Richtung auf jene Gebäude, in denen wir schon Theater ahnen, zuzugehen. Wir schreiten rasch durch mehrere Straßen zwischen Privathäusern, meist mit Kaufläden im Erdgeschoß, hindurch und über einen dreieckigen, von Mauern umschlossenen Platz, in dessen Mitte auf einer in fünf langen Stufen gegliederten Terrasse zwei kolossale Säulenstümpfe uns entgegenstarren, hinweg, und treten von dem Hügel, an den sich die halbkreisförmigen, über einander sich erhebenden Sitzreihen für die Zuschauer anlehnen, ein in den obersten Rang, das Paradies des Theaters von Pompeji, den ein gewölbter Gang von dem mittleren für die Bürgerschaft bestimmten Range, der bei Weitem die meiste Anzahl von Sitzreihen enthält, sondert. Ein anderer Gang scheidet wieder von diesen den untersten, aber vornehmsten Rang, der die Ehrenplätze für die Beamten und vornehmsten Bürger enthielt. Ein großer Theil der steinernen Sitzstufen, namentlich aus den obern Reihen fehlt jetzt; doch läßt sich aus den erhaltenen noch mit Sicherheit berechnen, daß die drei Ränge zusammen Sitze für etwa 5000 Zuschauer enthielten. Vor den Enden des durch die Sitzreihen gebildeten Hufeisens zieht sich ein langer, schmaler Streifen hin, die Bühne, auf welcher die Schauspieler, deren das Alterthum nie eine so große Anzahl verwendete, wie unsere neuern Theaterstücke, auftraten. Dahinter erblicken wir noch Reste von Steinbauten, die den Hintergrund der Bühne und bei den meisten Stücken zugleich die Hauptdecoration bildeten. Dazu kamen dann noch einige einfache auf drehbare Hölzer gemalte Seitendecorationen. Die Decoration der Decke aber bildete der herrliche Himmel Unteritaliens selbst mit seinem reinen Blau; denn die Schauspiele des Alterthums wurden nicht in bedeckten, erstickenden Räumen und beim trügerischen Lichte der Lampen, sondern im Glanze der Sonne und unter dem freien Himmel aufgeführt; die Sitze der Zuschauer, die man bei den Römern mit Segeltüchern zum Schutze vor der Sonnenglut zu überspannen pflegte, waren, wie wir es hier in Pompeji sehen, wenn es irgend möglich war, so angelegt, daß sie den Sitzenden die freie Aussicht auf das Meer, diese ewig wandelbare und ewig neue Schaubühne der Natur, und den Genuß des im Süden unendlich wohlthätigen kühlenden Seewinde gestatteten.
Unmittelbar neben dem eben betrachteten Theater liegt ein zweites, ringsum von hohen Mauern im Viereck umschlossenes Theater, das, obgleich weit kleiner, doch unsern Augen einen gefälligern Anblick gewährt als das vorige; denn die in zwei Ränge getrennten Marmorsitze der Zuschauer, 1500 an der Zahl, liegen noch alle in unverrückbarer Festigkeit an ihrer Stelle und scheinen jeden Augenblick zu erwarten, daß die Zuschauer eintreffen und auf ihnen Platz nehmen werden. In der That ein prächtiger Anblick, diese wie Marmorgürtel hinter einander aufsteigenden Sitzreihen, die beinahe zwei Jahrtausende überdauert haben und mindestens eine noch ebenso lange Dauer versprechen, und die, wenn auch nicht so bequem wie die sammetgepolsterten Sperrsitze unserer Theater, doch noch der späten Nachwelt Zeugniß geben von der Kraft und Tüchtigkeit des Volkes, das von ihnen herab den Worten und Gesängen seiner Dichter – denn Dichter und Componist waren im Alterthum, wie auch noch im Mittelalter, immer eine Person – lauschte.
Hinter der Bühne des großen Theaters sehen wir einen sehr geräumigen, von theilweise noch wohl erhaltenen Säulen, die einst bedeckte Gänge bildeten, umgebenen Hof; hinter diesen Gängen laufen ringsumher zweistöckige Gebäude, deren obere durch die Verschüttung zerstörte Stockwerke in der neuesten Zeit wieder hergestellt und wohnlich gemacht worden sind. Diese Gebäude sind in eine Menge kleiner zellenartiger Gemächer getheilt, die im Alterthume die Gladiatoren beherbergten, d. h. Menschen, die öffentlich zur Belustigung des Volkes unter einander mit allerhand Waffen kämpfen mußten, bis einer todt oder doch kampfunfähig auf dem Platze blieb. Oft stellte man auch wilde Thiere ihnen als Gegner zum Kampfe gegenüber. Begeben wir uns nach flüchtiger Durchmusterung der Gemächer dieser „verthierten Söldlinge" nach dem Schauplatze jener grauenvollen Kampfspiele, deren Nachklänge wir noch in den Stiergefechten Spaniens und des südlichen Frankreichs zu erkennen haben. Es ist dies das im südöstlichsten Winkel der alten Stadt gelegene Amphitheater, bis zu welchem wir eine gute Viertelstunde weit über die noch unter der Erd- und Aschendecke schlummernden Theile der Stadt hinwegschreiten müssen. Dieses Gebäude ist unter allen Denkmälern Pompeji’s am Besten erhalten und macht, besonders wenn man im Innern unten auf dem Kampfplatze stehend an den Reihen der rings umher noch in ungestörter Fügung über einander hinlaufenden Sitzstufen emporschaut, einen großartigen Eindruck. Die Form des Ganzen, so wie auch des von den Sitzreihen der Zuschauer umgürteten und tiefer als diese liegenden Kampfplatzes ist die eines länglichen Kreises, die man mit dem mathematischen Ausdrucke eine Ellipse nennt; an den beiden Enden der großen Axe derselben befindet sich je ein breiter Zugang zum Kampfplatze. Betrachtet man das Gebäude von außen, so sieht man rings umher zwei Reihen übereinander sich erhebender Bogen, innerhalb deren gewölbte Gänge hinter den Sitzreihen umherlaufen. Auf diesen Wölbungen ruhen die steinernen Sitzstufen, die recht wohl Raum für 15,000 Zuschauer darbieten. Offenbar strömten, wenn solche Kampfspiele Statt fanden, nicht blos die Bewohner der Stadt, sondern auch der Umgegend von weit und breit zusammen, um sich an dem blutigen, aber als Modesache mit unglaublicher Leidenschaft begehrten Schauspiele [15] des gegenseitigen Mordens gemeiner Menschen und edler Thiere zu ergötzen.
Selbst auf die Gefahr hin, meine Leser durch unsere allzu lange Wanderung zu ermüden, muß ich sie doch noch bitten, mir vom Amphitheater ans außerhalb der Stadtmauern über mit Buschwerk und Maulbeerbäumen bewachsene Höhen nach der entgegengesetzten, nordwestlichen Ecke der Stadt zu folgen. Wir betreten hier eine außerhalb der Stadt gelegene Straße, die man wegen der vielen an ihren beiden Seiten errichteten Grabmäler die Gräberstraße genannt hat. Es war nämlich eine schöne Sitte des Alterthums, besonders der alten Römer, ihre Todten an den Heerstraßen zu bestatten, damit jeder vorübergehende Wanderer auf dem Denkmale den Namen des Verstorbenen lesen und ihm ein frommes „Ruhe sanft“ zurufen möge. Zwischen diesen Grabmälern, unter denen wir auch die Ruinen zweier einstmals zierlich eingerichteter und mit Malereien geschmückter Landhäuser und einiger andern Gebäude bemerken, gelangen wir zum Stadtthore, das, in seinen obern Theilen verfallen, uns einen Haupteingang, dessen Breite fast der der Straße gleichkommt, und zu beiden Seiten desselben zwei überwölbte, auf die Trottoirs der Straße führende Pförtchen zeigt. Das Ganze ist aus kleinen mit Mörtel verbundenen Steinen erbaut und mit feiner Tünche überzogen. Wir treten wieder ein in die Stadt und wandern zwischen den Ruinen unbedeutender Häuser, unter denen mehrere sich noch deutlich als Schenken und Wirthshäuser zu erkennen geben, hindurch nach einem einzeln stehenden Bogen, der den Eingang zu einer der breitesten Straßen der Stadt, welche nach der Nordseite des Marktplatzes hinführt, bildet. In dieser Straße zieht ein ausgedehntes, an seinen vier Seiten von vier Straßen begrenztes Gebäude unsere Aufmerksamkeit auf sich, das außer einer Anzahl nach den Straßen herausgehender Gemächer, die zu Kaufläden dienten, eine für eine alte Stadt eben so wie für die orientalischen Städte der Gegenwart ganz unentbehrliche Anlage enthält; ich meine die öffentlichen Bäder, die im Alterthume außer ihrer eigentlichen Bestimmung zugleich die Stelle unserer Kaffeehäuser und Kasinos vertraten. Ziemlich in der Mitte des Ganzen findet sich ein offener, zu Spaziergängen bestimmter Hof, an welchen sich dann eine Anzahl Gemächer anschließen, die mit Wölbungen verschiedener Art überdeckt, an den Wänden mit mehr oder weniger zierlichen Gemälden und erhabenen Arbeiten (Reliefs) in Stuck verziert, den verschiedenen Zwecken geselliger Unterhaltung, des Auskleidens und des Badens in kaltem und warmem Wasser dienten. In dem für das kalte Bad bestimmten Zimmer ist ein großes Bassin von weißem Marmor, in welches man auf zwei Stufen hinabsteigt, angebracht. Zu den warmen Bädern diente eine viereckige, ebenfalls aus weißem Marmor gefertigte Wanne. Alle diese Räumlichkeiten, neben denen man auch noch die Vorrichtungen zur Heizung bemerkt, waren für die Männer bestimmt; hinter ihnen befinden sich ganz ähnliche, aber etwas kleinere Gemächer zum Gebrauche der Frauen.
Doch wir sind des langen Umherwanderns und des vielen Schauens müde, und würden gern zu unserer Erquickung selbst in die viereckige Wanne steigen, wäre nicht das Wasser versiegt und das Feuer erloschen. Es bleibt uns also nichts übrig, als schleunig nach dem Wirthshause an der Eisenbahn zurückzukehren, und uns dort bis zur Ankunft des Zuges von Nocera, der uns nach Neapel zurückführen wird, in anderer Weise zu restauriren.
Brehm, in seinem vortrefflichen „Reiseskizzen aus Nord-Ostafrika“ erzählt folgendes Abenteuer: „Eines Tages landeten wir bei der Birket mit den Nilpferden und Schlangenhalsvögeln. Wir jagten dort den ganzen Tag über und wollten mit Einbruch der Dunkelheit noch einige Pelekane, von denen eine zahlreiche Gesellschaft Nachmittags angekommen war, erlegen. Ich hatte zwei Stück geschossen, Tomboldo jagte auf der anderen Seite. Mein Nachhauseweg führte mich durch ein dorniges, schon wieder von dem Urwalde in Besitz genommenes Baumwollenfeld. Einer meiner Nubier begleitete mich und trug Büchse und Beute. Wir hatten fast das Ende der Birket erreicht, als mich der Nubier auf drei dunkle, hügelartige Gegenstände aufmerksam machte, welche ich bei Tage gesehen zu haben mich nicht erinnerte. Die Nacht war so dunkel, daß ich nur Umrisse erkennen konnte. Ich hielt sie für Erdhaufen und ging sorglos auf sie zu. Das Wuthbrüllen eines Hippopotamus belehrte mich über meinen Irrthum: drei aus dem Wasser herausgetretene Nilpferde, welche wir den ganzen Tag über gereizt hatten, standen in einer Entfernung von kaum fünfzig Schritten vor mir. „Hauen aaleïna ja rabb“[2] rief der Nubier schaudernd, „flieh Effendi, rette Dich, Du bist verloren, wenn du einen Augenblick länger weilst.“ Und weg warf er die erlegten Pelekane, die Büchse und die Jagdtasche und war mit einigen Sätzen im Gebüsch verschwunden. Daß uns die Ungethüme bemerkt hatten, war augenscheinlich. Sogleich nach dem ersten Gebrüll bewegten sie sich nach uns zu; der Nubier hatte recht, es blieb uns nur die Flucht übrig! Waffen besaß ich nicht, denn meine Gewehre waren keine Waffen und ohne Waffen ist der Mann kein Mann mehr. Ich stürzte dem Nubier auf dem Fuße nach. Die Dornen der Büsche zerfetzten mir die Kleider, zerkratzten mir die Haut, die stacheligen Zweige peitschten mich in’s Gesicht, der ganze Körper schmerzte, – ich achtete es nicht! Hinter mir her stürmte das wüthende Thier, es kam näher und näher, die Todesangst lieh mir Kräfte, aber wie lange noch? Verzweifelnd eilte ich in der eingeschlagenen Richtung weiter, es gab für mich keine Hindernisse, ich sprang durch die furchtbarsten Dornhecken ohne Bedenken hindurch. Meine Lage war schauderhaft. Vor mir dunkle Nacht, dicht hinter mir mein entsetzlicher Feind, ich wußte nicht mehr, wo ich mich befand, ich wußte Nichts mehr von mir selbst. Da, Himmel! – ich stürzte! Aber ich fiel weich, ich lag im Wasser! Gottlob, ich war im Strome und wenige hundert Schritte vor mir schimmerte das freundliche Feuer unseres Schiffes. Rasch durchschwamm ich die schmale Bucht, welche mich von der Halbinsel trennte, an der unsere Barke angelegt hatte, ich betrat sie und war gerettet! Oben an dem wohl zwanzig Fuß hohen Uferrande, über welchen ich herabgestürzt war, stand das brüllende Ungeheuer. An allen Gliedern zitternd und ganz entkräftet kam ich an der Barke an.
Tomboldo kehrte später zurück und war, achtlos seinen Weg verfolgend, noch näher als ich an ein Nilpferd herangekommen und von diesem ebenfalls verfolgt worden. Er hatte, vor ihm flüchtend, dieselbe Richtung eingeschlagen als wir, war dabei aber fast in noch größere Todesgefahr gerathen. Das Nilpferd ist ihm schon bis auf wenige Schritte nahe gekommen, da bleibt er mit einem Fuße in den Dornen hängen und fällt zu Boden. Sein Gewehr entladet sich, ohne ihn zu verletzen, die ihm nachjagende Bestie stutzt einen Augenblick, er rafft sich auf und erreicht ebenfalls das Ufer. Kopfüber stürzt er sich in die Fluthen und schwimmt nach der erwähnten Halbinsel herüber. Dort angelangt, fällt es ihm ein, daß er fast aus der Scylla in die Charybdis gekommen wäre: er hatte erst vor wenig Stunden drei Riesenkrokodile in derselben Bucht, durch welche er und ich eben geschwommen waren, gesehen. In höchster Aufregung kam er bei uns an. „Brüder“, rief er den Matrosen und übrigen Dienern zu, „betet heute zwei Rakaat[3]“ mehr, danket Gott mit mir für meine Errettung! Ich will Euch, wenn ich erst mit Hülfe des Barmherzigen in Charthum angekommen sein werde, einen großen Sack voll Datteln, „Karahme“, (zum Opfer) geben. La il laha il Allah, Mahammed rassuhl Allah! Der Arm des Todes griff nach mir – aber – èl hamdu lillabi – Allah heribm! Sallah el nebbi ja achuana – Preis’t den Propheten, meine Brüder – Allah kerihm! Gott ist barmherzig!“ –
Auch eine Trauung. Vor circa vierzehn Tagen lief durch alle Zeitungen eine Notiz über die beiden österreichischen Flüchtlinge Kudlich, wovon der jüngere die Schwester Vogt’s, des bekannten Naturforschers und Parlamentsmitgliedes, geheirathet hat und später nach Amerika auswanderte. Indeß nur Wenigen dürfte das Nähere dieser Heirath bekannt sein. Hans Kudlich hatte, ziemlich entblößt, Aufnahme im Vogt’schen Hause in Bern gefunden, und verliebte sich in die Tochter Louise. Aber was hatte er? Was war er? Er hatte noch nicht einmal seine juristischen Studien beendet, und hätte er sie beendet gehabt, was hätte es ihm gefruchtet? Die Rechtswissenschaft ist an die Scholle gebunden. Er beschloß daher, sich einer kosmopolitischen Wissenschaft zuzuwenden, sattelte um, studirte Medicin an der Hochschule zu Bern und Zürich, und erwarb sich in kurzer Zeit alle medicinischen Grade. Darauf bat er um die von anderer Seite nicht unbestrittene Hand Louisens, welche ihm bewilligt wurde. Aber siehe da, es fehlten ihm alle Papiere, ohne welche auch in der Schweiz eine Trauung unmöglich ist, die blos bürgerliche so gut wie die kirchliche. So wäre er also durch seine revolutionären Sünden nicht blos zum Exil, sondern mittelbar auch zum Cölibate verdammt? – Da lud sich der Vater Vogt eine Anzahl ehrenwerther Freunde ein, nahm die Brautleute bei der Hand, legte die beiden Hände in einander und sagte: „Da habt Ihr Euch und obendrein meinen väterlichen Segen!“ – Und damit war Alles in Ordnung. In Amerika werden sie leicht nachgeholt haben, was ihnen an äußeren Formen fehlte.
Steppenbild. Nicht allein die Fieber der Regenzeit, die Musquitos, noch andere Feinde bedrohen Menschen und Thiere in den Steppen Afrika’s. Mit Sonnenuntergang hat der Nomade seine Heerden in der sicheren Serieba eingehördet. Dunkel senkt sich die Nacht auf das geräuschvolle Lager herab. Die Schafe blöcken nach ihren Jungen; die Rinder, welche bereits gemolken
[16] wurden, haben sich niedergethan. Eine Meute wachsamer Hunde hält die Wacht. Mit einem Male läutet sie hell auf, im Nu ist sie versammelt und stürmt in einer Richtung in die Nacht hinaus. Man hört den Lärm eines kurzen Kampfes, wüthende, bellende Laute und grimmiges, heißeres Gebrüll – sodann Triumphgeläut – eine Hyäne umschlich das Lager, mußte aber vor den muthigen Wächtern der Heerden nach kurzer Gegenwehr die Flucht ergreifen. Einem Leoparden würde es nicht besser gegangen sein. Urplötzlich scheint die Erde beben – in nächster Nähe brüllt ein Löwe. Dreimal – so sagen die Eingebornen – kündet er mit donnernder Stimme seine Ankunft, dann nähert er sich der Serieba. In dieser offenbart sich die größte Bestürzung. Die Schafe rennen gegen die Dornenhecken, die Ziegen schreien laut, die Rinder rotten sich mit lautem Angstgestöhn zu wirren Haufen zusammen, das Kameel sucht, weil es gern entfliehen möchte, alle Fesseln zu zersprengen. Und die muthigen Hunde, welche Leoparden und Hyäne bekämpften, heulen laut und kläglich und flüchten sich zu ihrem Herrn. Dieser aber wagt sich nicht hinaus in die Nacht; er wagt es nicht, nur mit seiner Lanze bewaffnet, einem so mächtigen Feinde gegenüberzutreten und läßt es geschehen, daß er mit einem gewaltigen Satze die oft zehn Fuß hohe Dornenmauer überspringt und sich ein Opfer auswählt. Ein Schlag seiner furchtbaren Pranken betäubt ein zweijähriges Rind, das kräftige Gebiß zermalmt die Wirbelknochen des Halses und damit den Lebensnerv des widerstandsunfähigen Thieres. Dumpf grollend liegt der Räuber auf seiner Beute, die großen Augen funkeln hell vor Siegeslust und Raubbegier. Dann tritt er seinen Rückweg an. Er muß zurück über die hohe Umzäunung und will auch seine Beute mit sich nehmen. All’ seine ungeheure Kraft ist erforderlich, mit dem Rind im Rachen den Rücksprung auszuführen. Aber er gelingt und nun schleppt er die schwere Last mit Leichtigkeit seinem, vielleicht eine Meile entfernten Lager zu. Alles Lebende am Lager athmet freier auf, es schien durch die Furcht gebannt zu sein. Der Hirt ergiebt sich gefaßt in sein Schicksal, er weiß, daß der Löwe seiner Heerde immer auf dem Fuß folgt, mag er sich wenden wohin er will. Der Verlust, den er durch den König der Wildniß erleidet, ist ebenso groß als die Steuer, welche er in untadelhaften Viehstücken dem Könige des Landes geben muß. Zwei Könige fordern Tribut von ihm, er muß beiden gerecht werden; beider Forderungen sind unabwendbar. Er ist froh, wenn ihn der Himmel noch vor größerem Unheil bewahrt.
Ich bin erst durch vielseitige Versicherungen der Eingebornen und eigene Anschauung überzeugt worden, daß der Löwe wirklich ein derartiges Kraftstück auszuführen vermag, wie den oben erwähnten Zaunsprung. Man hat mir am blauen Flusse eine Serieba von mindestens acht Fuß Höhe gezeigt, über welche ein Löwe mit einem Rind im Rachen gesprungen war. Wenn sich meine Leser ein Bild des Löwen der Wälder Ost-Sudahn’s machen wollen, bitte ich sie, die halberwachsenen, halbverkrüppelten Exemplare, welche man in Menagerieen sieht, nicht zum Maßstabe zu nehmen.
Man könnte das Gebrüll des Löwen einen Ausdruck seiner Kraft nennen; es ist einzig in seiner Art und wird von keiner Stimme eines anderen lebenden Wesens übertroffen. Die Araber haben ein sehr bezeichnendes Wort dafür: „raad,“ donnern. Beschreiben läßt es sich nicht. Tief aus des Löwen Brust scheint es hervorzukommen, es scheint diese zersprengen zu wollen. Furchterregend schlägt es an jedes Ohr. Die heulende Hyäne, der brummende Panther, die blöckende Heerde verstummt; der gurgelnde Affe klettert zu den höchsten Aesten der Baumwipfel hinauf; die Gazelle entflieht in eiligem Laufe; das beladene Kameel zittert, gehorcht keinem Zuruf seines Treibers mehr, wirft seine Lasten, seinen Reiter ab und sucht sein Heil in eiliger Flucht. Und selbst der Mensch, der sowohl Ausgerüstete, jedes Thier geistig so hoch Ueberragende, fragt sich, ob wohl seine moralische Kraft der höchsten Potenz der physischen die Spitze bieten könne.
„Der Mann, der nie gebebt in seinem Leben,
Der fühlet hier zum ersten Mal sein Herz erbeben.“
Tod unter Flötenspiel. Der Medicinalrath Dr. Froriep in Weimar war in früheren Jahren bei dem verstorbenen König Friedrich von Würtemberg Leibarzt gewesen. Dieser Fürst, der in den letzten Lebensjahren an übermäßiger Leibesstärke litt, war ein gestrenger, eigenwilliger Herr; es konnte deshalb nicht leicht sein, in seiner Nähe mit einem Schimmer von Selbstständigkeit zu existiren. Froriep brachte dies zu Stande. Geachtet und beachtet stand er dem Fürsten zur Seite, der ihn stets verschonte, wenn er rechts und links seine Schläge austheilte. Er endete seine Praxis am Bette seines fürstlichen Patienten auf eine höchst komische Weise. Der König lag im Sterben; Froriep, der mehrere Nächte gewacht hatte, suchte, vom Schlaf bezwungen, einen entfernt stehenden Armsessel auf und streckte sich darauf aus. Kaum wurden jedoch die Polster von ihm berührt, als ein in ihnen verborgenes Flötenspiel zu tönen begann, und die Melodie: „Blühe, liebes Veilchen“ vortrug. Der Arzt sprang auf, allein der musikalische Stuhl war nicht zum Schweigen zu bringen, und der mit dem Tode ringende König mußte in Begleitung der kleinen Arie aus dem Leben gehen.
Das Pfennig-Magazin vor Jahren einst das verbreitetste Blatt in Deutschland, ist mit Ende dieses Jahres schlafen gegangen.
A. S. in L. Den gerührtesten Dank für Ihren guten Rath. Nur einen halben Bogen Gedichte jede Woche und für jedes Gedicht Einen Louisd’or wünschen sie, und dafür sollen die Leser der Gartenlaube 15 Sgr. mehr zahlen.
O glaube mir, der manche lange Jahre
An dieser harten Speise kaut,
Daß von der Wiege bis zur Bahre
Kein Mensch den alten Sauerteig verdaut!
Glaub’ unser einem, dieses Ganze
Ist nur für einen Gott gemacht!
H. in H. Der Artikel ist recht gut gemeint, eignet sich aber doch nicht zum Abdruck. Uebrigens ist nun einmal der Weltlauf so.
P. in L. Wiederholt benachrichtigen wir Sie, daß die Nachlieferung von Defekten nicht unsere Sache ist. Sobald Sie auf einem Postamt abonnirt, ist dieses auch verpflichtet, sämmtliche Nummern des Quartals zu liefern. Unregelmäßigkeiten sind sofort der höhern Postbehörde anzuzeigen.
T. in Z. Besten Dank für schnelle Uebersendung. Der Aufnahme wird hoffentlich nichts entgegenstehen.
K. in F. Ihrem Verlangen können wir beim besten Willen nicht nachkommen. Sie scheinen überhaupt von der technischen Herstellung einer Zeitschrift, von so großer Auflage wie die Gartenlaube, keine rechte Vorstellung zu haben. Die redaktionellen Schwierigkeiten, die Herstellung der Illustrationen, der Satz der Manuscripte und die Correctur lassen wir ganz unberührt, aber vergessen Sie nicht, daß wöchentlich 100,000 Bogen gefeuchtet, jeder einzelne Bogen satinirt, d. h. zwischen zwei Zinkplatten gepreßt werden muß, daß jeder dieser Bogen zwei Mal die Druckpresse zu durchlaufen und bedruckt, dann wieder in die Glättpresse zu legen und zu pressen ist, und erst dann weiter in die Hände des Buchbinders übergeht, der die Auflage zu falzen hat. Das ist keine Arbeit von drei bis vier Tagen, wie Sie glauben, obwohl (die Autoren, Correctoren, Setzer, Zeichner, Holzschneider und Papierfabrikaten ungerechnet) 40 Menschen unausgesetzt oft Tag und Nacht an jeder Nummer arbeiten. Sie werden begreifen, daß Ihre Wünsche unausführbar sind.
A. K. in D. Sie wollen die Laufbahn eines Schriftstellers einschlagen. Sie träumen eine goldene Zukunft, hoffen auf Anerkennung, Auszeichnung und Reichthum. Lieber Herr, wenn es noch Zeit ist, so kehren Sie um, Sie wissen nicht, was es heißt, sein Brot mit der Feder zu verdienen und ahnen wohl schwerlich die Berge von Hindernissen, die sich Ihnen in den Launen des Publikums und der Buchhändler entgegenstemmen. Es ist ein hartes – hartes Brot! Vor einigen Wochen sandte mir ein bekannter Autor sein neuestes Buch zur Besprechung. Er bat um einige empfehlende Worte. „Ich habe,“ schrieb er, „dieses Buch mit so viel Kummer und unter so viel Thränen ausgearbeitet, daß ich wohl Hoffnungen darauf zu setzen berechtigt bin.“ Armer Mann – wer kennt und was fragt das Publikum nach Deinen Thränen! Und ein eben so oft genannter Schriftsteller meldete wieder: „Ich schreibe diese wenigen Zeilen im Bett – matt und frierend! Ich schäme mich nicht, es Ihnen zu gestehen, daß ich seit drei Tagen das behagliche Gefühl einer warmen Stube nicht gehabt. Meine Mittel sind zu Ende. Ich habe fleißig gearbeitet, zwei Manuscripte im Pulte, zwei verkauft, aber wohin ich auch komme, vertröstet man mich auf die nächste Ostermesse oder entschuldigt sich beim meinen Offerten mit Krieg und theuern Zeiten. Können meine Kinder bis nächste Ostermesse warten? Geehrter Herr, ich wende mich in meiner Noth an Sie – wenn Sie einen kleinen Posten, wenn auch nur mit geringem, aber sicherm Einkommen zu vergeben haben, um meinen armen Kindern Brot etc. etc. ......“
Sehen Sie, lieber Herr, das ist die Kehrseite. Sie kennen nur die glänzende Kritik in den Zeitschriften, die papiernen Ehrenbezeugungen, die leuchtende Glorie um das Haupt eines gefeierten Tagesschriftstellers – das Elend, die Noth und die Thränen, die sich oft hinter diesem Glanz verstecken – die sehen Sie nicht. Wenn es noch Zeit ist – kehren Sie um!
- ↑ Wir haben diese schöne Vogelansicht von Pompeji mit Erlaubniß des Verlegers dem Prachtwerke von Overbeck: „Pompeji in seinen Gebäuden, Alterthümern und Kunstwerken“ entnommen, auf das wir unsere Leser, so wie alle Kunstfreunde überhaupt hiermit aufmerksam machen. Es ist das Ausführlichste und durch seine schönen Illustrationen auch das Instruktivste, was noch über Pompeji erschienen. D. Red.
- ↑ Zu Deutsch: „Hilf uns, o Herr!“
- ↑ Eigentlich Rakaaaht, Plural von „Rakaah“.