Die Gartenlaube (1856)/Heft 44

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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ferdinand Stolle
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Entstehungsdatum: 1856
Erscheinungsdatum: 1856
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[589]
Manöverbild.
Von Ernst Keil.

Es war eine finstere Nacht. Wir hatten am Tage viel manövrirt, und uns wacker mit dem Feind herumgeschossen, der durch unser furchtbares Feuer, das freilich die Reihen nicht lichtete, glücklich aus seiner Stellung getrieben worden war. Wir wußten indeß nicht, ob der Feind in der Nacht einen neuen Angriff wagen würde, die Scharte auszuwetzen, und waren gezwungen, durch eine starke Vorpostenkette unser Lager vor jedem Ueberfall zu schützen. Unglücklicherweise traf unser Bataillon das wenig angenehme Loos, die Kette zu bilden, und kaum hatten wir uns von der Anstrengung des Tages ein wenig erholt, als auch schon der Signalist wieder „Sammeln“ bließ, und das Bataillon, an der Spitze „der Alte auf der Hippel“, zur Beiwacht ausmarschirte.

Allen meinen damaligen Kameraden in der Festung E–t wird der „Alte auf der Hippel“ noch im frischen Gedächtniß leben. Er war Bataillonschef und nebenbei Bataillonsquäler. Unser Bataillon war das geplagteste und am meisten gequälte in der ganzen Garnison. Der Alte wollte fortwährend exerciren und Parademarsch üben, und frug dann weder nach Sonnenschein oder Regen, Kälte oder Hitze. Die Leute konnten stürzen vor Müdigkeit und Anstrengung, es kümmerte ihn nicht, wenn der Parademarsch oder eine Schwenkung weniger gut als gewöhnlich gingen. Seinen Namen hatte er von seinem Pferde erhalten, das alt und steif, wie er, wie ein Ziegenbock (in der Bauernsprache: „Hippel“ genannt) vor den Reihen des Bataillons herumtanzte. Wenn der Alte räsonnirte und fluchte und mit dem Degen in der Luft herumfocht, stand die alte Hippel ruhig wie ein Sägebock und rührte sich nicht. Der älteste Mann im Bataillon konnte sich nicht entsinnen, die Hippel stutzen gesehen zu haben. Der Alte hatte noch zwei bessere Pferde im Stalle stehen, er ritt aber nur die Hippel, die kaum das Ohr hob, wenn das ganze Bataillon feuerte.

Was die Hippel geduldig war, war der Alte ungeduldig. Er lobte nie das Bataillon, er nannte es das „schlechteste, maladroiteste“ im ganzen Regiment. Kein Gewehrgriff war ihm recht, keine Bewegung prompt genug, kein Marsch nach dem Reglement. Er richtete sich sogleich in den Bügeln in die Höhe, schlug seine Schenkel mit der flachen Hand und rief mit kreischender, näselnder Stimme: „Haalt – haalt! Aber, meine Herren Kapitains, das jeht nicht, die Leute haben keinen Schritt, kein Tempo – Donnerwetter, ich sehe Bayonnettwackeln im Bataillon – das jeht ja nicht! Ruhe im Bataillon, drei Tage Mittelarrest – wer sich muckt! Wart, ich will Euch kriegen! Aa–achtung!“ dabei hob er sich noch mehr in den Bügeln seiner bockbeinigen Rosinante. „Stillstand! Wer rührt sich!“

Todtenstille rings umher. Unter Fluchen, Schreien und Donnerwettern kommandirte er dann das Bataillon, das ihn weder fürchtete noch liebte, und ihn nur um seiner Exercirwuth willen haßte. Man ließ ihn räsonniren, exercirte wie gewöhnlich und hütete sich, seine Aufmerksamkeit durch Gewehrwackeln oder Kopfbewegungen zu erregen, welche Fehler er sogleich mit drei Tage Mittelarrest bestrafte. Die Feldwebel hatten bei jedem Exerciren im Bataillon vollauf solcher Strafen zu notiren, die dann gewöhnlich eben so rasch wieder ausgestrichen wurden, wie sie notirt waren. Oft aber erinnerte sich der Alte andern Tags der diktirten Strafe, und befahl dann dem Kapitain, streng darauf zusehen, daß seine Befehle befolgt würden, worauf dann freilich der unglückliche Gewehrwackler drei Tage bei Wasser und Brot feiern mußte.

Ich wurde der Feldwache des Lieutenants L. zugetheilt, eines blutjungen Offiziers, der kaum acht Tage die Epaulettes trug. Der Unteroffizier Sommer, mein alter Freund, war mit mir. Wir hatten auf Befehl des Lieutenants ein großes Feuer angeschürt, das hell aufloderte und die nächste Gegend grell beleuchtete. Die Mäntel unter uns, den Tschako als Kissen, lagerten wir im Kreise in den verschiedenartigsten Gruppen; einige aßen, andere rauchten, wieder andere spielten Karte oder erzählten sich Erlebnisse der jüngsten Zeit. Unter den Letzteren waren auch wir, der Unteroffizier Sommer und meine Wenigkeit, die wir etwas abseits vom großen Haufen lagerten, und bei einer guten Cigarre die Zeit mit Plaudern und Träumen todtschlugen. Sommer schien heute besonders mild und sanft gestimmt, und strich einmal über das andere seinen langen Schnurrbart, wie seine Gewohnheit war, wenn er eine lange Geschichte aus seinem vielbewegten Kriegerleben erzählen wollte.

Die Nacht war indeß immer dunkler geworden, und die kalte Luft fing nach und nach an, lästig zu werden. Wir versuchten zu schlafen, und wickelten uns in unsere Mäntel. Der Lärm um und neben uns verhinderte es. Sommer ward unruhig.

„Wollen wir ein wenig promeniren?“ fragte er leise.

Ich gab meine Einwilligung, und bezweifelte nur, daß der Lieutenant die Erlaubniß zum Austreten geben werde.

„Ah Spaß,“ renommirte Sommer, „so ein junges Offizierchen schlägt einem gedienten Unteroffizier, dem zwei Kreuze auf der Brust liegen, nichts ab. Sind alle nicht taktfest im Felddienst und brauchen unser eins. Geben Sie Acht!“

Nach wenigen Minuten schon kehrte er mit der Erlaubniß des Lieutenants zurück. Wir Übergaben unsere Mäntel einem Mann unserer Abtheilung, und gingen dem Walde zu; keiner sprach ein Wort.

„Hm,“ begann endlich Sommer, „es ist doch halt alles Spielerei dieses Exerciren und Manövriren, Bivouakiren und Schikanieren! [590] Es ist kein Ernst dahinter, kein Trieb, kein freier Wille! Da schlafen sie ruhig, die blutjungen Burschen, keiner denkt an den Tod, keiner seines letzten Stündleins, es sind Soldaten, und statt von Schlacht und Blut, träumen sie vom Liebchen und der Schenke im heimatlichen Dorfe. Anno zwölf und dreizehn – wir lagen auch manche Nacht so, Manchem war es die letzte, und am Morgen fuhr ihm so ’ne verfluchte Bohne zwischen die Rippen, daß er das Aufstehen auf immer vergaß. ’S war ein ernstes Spiel damals – ich kann’s doch net vergessen! Und ich habe mir damals oft solch eine Bohne gewünscht, ich war des Bischen Lebens überdrüssig und wäre gern in’s große Lager gerückt – ’s that’s aber halt net, und ich bin ein alter Knabe beim Trommelfell geworden, den sie mal ruhig auf den Kirchhof neben einen Schneider oder Handschuhmacher einscharren. Ich wollt’, es würde bald zum Abmarsch geblasen.“

„Aber Alter,“ fiel ich ein, „was schwatzt Ihr wieder für dummes Zeug. Es geht Euch doch wohl hier, das ganze Regiment liebt Euch, der Oberst hat freiwillig Traktamentszulage bewilligt, was fehlt Euch noch?“

„Hm, ja, zu essen und zu trinken habe ich, der König läßt seine braven Soldaten nicht verhungern, und es fällt wohl auch sonst noch etwas ab, was zum guten Leben gehört, aber hier, junger Freund,“ und dabei pochte er mit der Faust auf die Stelle, wo sein Herz hämmern mochte, „hier, junger Freund, da ist noch so ein alter Mahner, der braucht kein Fleisch und keinen Schnaps, und zehrt doch mehr, als der zahnlose Mund. Das pocht und hämmert und spricht in der Nacht und am Tage – o ich möchte mir halt manchmal die enge Uniform aufreißen und das Bayonnett zwischen die Rippen rennen, daß ich nur Ruhe hätte in meinen alten Tagen.“

„Aber Sommer,“ frug ich erstaunt, „was ficht Euch an, – was ängstigt Euch?“

Er strich seinen Schnurrbart rechts und links und schwieg lange. Ich fühlte, wie ihn der Frost schüttelte; er schnallte die Kuppel vom Knopfe los, öffnete seine Uniform ein wenig und holte tief Athem.

„Still,“ sagte er endlich, „ich will’s Ihnen erzählen, ehrlich und wahr, wie’s zuging, erleichtert mir’s doch selbst das Herz. Es ist halt eine einfache Soldatengeschichte, wie so viele, der böse Kasus dabei ist nur, daß sie just mir passiren mußte.

„Sehen Sie, es war Anno 13, wir lagen am Rhein, drüben auf der andern Seite der alte Marschall Vorwärts, der bei uns war, drängte rasch dem nahen Frankreich zu. Ich war damals noch Husar, ein junges feuriges Blut. In meiner Sektion stand noch ein anderer junger Bursch, ein lustig Sachsenblut, dem ich herzlich gut war. Wir hatten neben einander schon in manchem Treffen gefochten, Einer hatte dem Andern das Leben gerettet, wir lagen in einem Zelt, wir schliefen neben einander und wußten es auf dem Marsche immer so einzurichten, daß wir ein Quartier erhielten. Mein Kamerad war halt ein guter Bub’, aber leichtsinnig. Er hatte eine alte Mutter daheim, die wohl nicht viel zu brocken und zu beißen hatte, der schickte er regelmäßig jeden Monat sein erspartes Traktament, und das war Recht! Er hatte aber auch eine Braut zu Haus’, die lange Briefe mit der Feldpost schrieb, voll Thränen und Sehnsucht, die vergaß er, und lief jeder Schürze nach, die ihm begegnete, und scharmirte mit allerlei Gesindel, und das war nicht recht! Ich ermahnte ihn oft, und redete ihm in’s Gewissen und sagte: „Donnerwetter,“ sagte ich, „bleib’ ein ehrlicher Kerl, und betrüg’ mir das Mädel nicht!“ Er aber lachte und sang: „Ander Städtel, ander Mädel!“

„’s war also Anno 13, und wir standen drüben über’m Rhein. Mein Freund und ich hatten wieder ein Quartier zusammen, und das war bei einem ehrlichen Schenkwirth. Der Schenkwirth hatte eine hübsche Tochter, die meinem Sachsen besonders in die Nase stach, das Mädchen wollte aber nichts von ihm wissen, und patzte ihn mehrmals tüchtig ab. Das schreckte meinen Kameraden, der dergleichen schon aus seiner Praxis gewohnt war, nicht ab. Eines Abends – ich hatte eben mein Schwarzchen abgefüttert – da hörte ich plötzlich aus der Kammer der Jungfer ein Geschrei nach Hülfe. Ich stürze die Treppe hinauf, trete die Thüre, die verschlossen war, zusammen, wie ein morsches Brett und finde – Donnerwetter, ’s macht mich jetzt noch wüthend – finde meinen Freund mit dem Mädchen, wie er ihr Gewalt anthun will. Im Nu hatte ich ihn gepackt, und so sehr er sich auch sträubte, zu Boden gewürgt, das Mädchen entfloh. Der Bursche wollte nach und schäumte vor Wuth, ich hielt ihn aber gepackt, den unvernünftigen Menschen, bis er mir versprach, das Mädchen in Ruhe zu lassen. Als ich das arme Kind in Sicherheit glaubte, ließ ich los. Er sprang auf und stellte sich kerzengerade vor mir hin.

„Du hast mich beleidigt,“ sagte er kalt, seine Augen aber sprühten Tod und Teufel.

„Im Gegentheil,“ antwortete ich, „Du hast mich und das ganze Regiment beleidigt, indem Du eine ehrlose Handlung begehen wolltest. Du solltest mir’s Dank wissen, daß ich Dich abhielt.“

„Was gehen Dich meine Liebschaften an?“ schnautzte er. „Wer gibt Dir das Recht, mich zu hofmeistern? Ich kann thun und lassen, was ich will, wenn ich nicht im Dienste bin, und Du sollst mich am wenigsten daran hindern.“

„Hier ist von keiner Liebschaft die Rede,“ antwortete ich eben so kurz, „sondern von einer Schandthat. Du wolltest das Mädchen unglücklich machen, und das thut nur ein ehrloser Kerl!“

„Teufel, eine neue Beleidigung! Das duld’ ich nicht, und Du wirst als ordentlicher Husar wissen, was Du zu thun hast!“

„Ganz gut,“ sagte ich, „Pistolen oder Säbel?“

„Pistolen – in einer Stunde an der feindlichen Vorpostenkette!“

Bon,“ sagte ich und ging zu meinem Schwarzchen, das ich noch einmal recht tüchtig abfütterte. Dann schrieb ich einen Brief an meine alte Mutter, worin ich für alles Liebe und Gute tausendmal dankte, den letzten Traktamentsthaler einlegte und den Ring meines verstorbenen Vaters. Dann putzte ich meine Sattelpistolen, nahm Abschied von meinem Schwarzchen und ging.

Mein Nebenmann in der Sektion folgte mir als Sekundant.

„Ich traf meinen Gegner schon auf dem Platze. Die Entfernung ward abgemessen, zehn Schritte und ein Sprung, dann wurde geladen. Ich versuchte noch einmal, den alten geliebten Kameraden zu besänftigen, ’s war halt doch kein Spaß, auf einen zu schießen, den man so herzlich lieb gehabt, er wies aber jede Annäherung zurück und bestand darauf, zu schießen. Trotzig wandte nun auch ich mich ab, und stellte mich auf den Platz.

„Unterdeß hatten die feindlichen Vorposten uns bemerkt, und etwas Feindliches vermuthend, begannen sie, ein lebhaftes Gewehrfeuer auf uns zu richten. Die Sekundanten zogen bedenkliche Gesichter, wenn ihnen die Kugeln an dem Tschako vorüberpfiffen und riethen zu einem andern Platze. Ich war kurz gefaßt. Rasch zog ich meinen Säbel, band mein weißes Taschentuch daran und ging auf den feindlichen Vorposten zu. „Kann ich Euren Offizier sprechen,“ rief ich im holperigen Französisch, dessen Erlernung mir manchen Schweißtropfen auf dem Gymnasium gekostet. Sogleich trat ein Kapitain vor, ich salutirte dann und sprach: „Herr Kapitain, mein Kamerad und ich haben eine Ehrensache auszufechten, dürften wir Sie wohl bitten, eine kurze Zeit das Feuern einzustellen, bis die Sache abgemacht ist?“ Der Kapitain klatschte in die Hände, „ah, bravo – bravo, camarade!“ rief er, und das Feuer hörte sogleich auf. Ich salutirte, stellte mich wieder an meinen Platz und sagte ruhig: „Nun schieß, Bernhard,“ so hieß nämlich mein Kamerad.

„Dieser war halt doch sehr bleich, er zielte aber ruhig. Ich sah, daß er mein Herz suchte, und nahm Abschied vom Leben. Es ist doch etwas ganz Närrisches, so steif und starr in die Mündung zu schauen, aus der die Todtenkugel fliegt. Ich zitterte nicht, aber das Blut gefror mir in allen Adern. Da knackte der Zeiger, es blitzte, donnernd durchkrachte der Schuß den Wald – ich stand. Ich schüttelte mich, wie einer, der eben Prügel bekommen.

„Die Reihe des Schießens war jetzt an mir. Ich verzichtete auf den Schuß und bat, die Sache ruhen zu lassen. Die Sekundanten und selbst mein guter Kamerad aus Sachsen bestanden aber darauf, daß ich schießen müsse, und so hob ich denn mein Pistol und zielte. Oder vielmehr ich zielte nicht, ich wollte nicht treffen. – Gott ist mein Zeuge! – ich schloß die Augen, um das Ziel nicht zu sehen, und änderte absichtlich die Richtung des Pistols, als ich abdrückte. Aber der Herr da oben, der Alles in seiner Gewalt hat, lenkt auch die Kugeln, und die meine traf den armen Kameraden hart unter dem vierten Knopf zwischen die Rippen. Er wankte und stürzte zusammen. Ich warf das verruchte Pistol zur Erde und stürzte zu dem Getroffenen, um ihm den letzten Liebesdienst zu erweisen. Er konnte noch sprechen. [591] „Sei ruhig, Kamerad,“ sagte er leise, „Du bist ohne Schuld. Mir ist recht geschehen! Ich hab’s verdient und Dir vergebe ich!“ – Er schwieg eine Weile erschöpft. „Hier nimm die Uhr,“ sagte er dann – „ich schenke sie Dir – vergiß mich nicht! Das Geld hier schicke meiner alten Mutter, und grüße sie von ihrem Sohne. Lebt Alle wohl! Kamerad,“ fuhr er leise fort, und zog mein Ohr an seinen Mund, daß die Sekundanten nicht hören sollten, was er sprach, „und wenn Du heim kommst nach meinem Städtchen, da grüße mir mein Aennchen und sag’ ihr nicht, warum ich gestorben. Leb’ wohl! Leb’ wohl! … Ade, Aennchen!“ „Er zuckte noch einmal und war nicht mehr. Wir begruben ihn still und unter vielen Thränen, denn er war immer ein guter Kamerad gewesen, auf den man sich verlassen konnte, und schlichen düster in unsere Quartiere. Kaum dort angekommen, tönte auch schon die Lärmtrompete, das Regiment mußte aufsitzen, wir stürmten eine feindliche Batterie, ich sprengte immer voraus, und verdiente mir das Kreuz hier, aber den Tod, den ich suchte, fand ich nicht. Als wir heimkehrten, kaum die Hälfte von denen, die ausgerückt waren, fehlten die beiden Sekundanten, und auch von meinem armen Kameraden aus Sachsen hieß es, er liege draußen vor der Batterie. Ich wußt’s halt besser, schwieg aber, und sonst war Keiner mehr, der mich verrathen konnte.

„Das Geld habe ich redlich an die Mutter besorgt, und auch noch einen Thaler von meinem Ersparten hinzugelegt. Die Uhr trage ich heute noch. Es war ein ehrlicher Kampf, wie er unter Soldaten sein muß, und ich hatte mein Möglichstes gethan, ihn zu verhindern. ’S war aber doch mein bester Freund, den ich niedergeschossen, und ich konnte das brechende Auge nicht vergessen und den letzten Gruß, und fand keine Ruhe bei Tag und Nacht. Die Braut ist halt auch gestorben in Gram und Jammer, seine und meine Mutter liegen längst begraben, ich allein, die alte morsche Eiche, kann nicht absterben und muß ewig fortleben. O junger Freund, hinter der blau-rothen Jacke, da steckt viel Jammer und viel Elend begraben.“ –

Der Alte schwieg jetzt und strich sich wieder den Bart. Ich schwieg auch, weil ich nicht wußte, was ich sagen sollte. Still und lautlos schritten wir durch die friedliche Nacht, jeder mit seinen Gedanken beschäftigt. Plötzlich, als schämte er sich seiner Rührung, nahm des Alten Antlitz einen andern Ausdruck an, er fuhr einige Male mit der flachen Hand über die Augen, und nicht lange, so pfiff er wieder ein lustig Soldatenlied.“

Das ist so die echte Soldatenmanier!

Während Sommer so erzählt hatte, waren wir unbemerkt durch ein Gebüsch verdeckt über die Postenkette hinausgeschritten und längs derselben hingegangen, ohne an das Verbot zu denken, sich weiter als fünfzig Schritte von der Feldwache zu entfernen.

Die Nacht war so dunkel, daß wir vergebens nach dem Pfade suchten, der uns glücklich und unbemerkt durch die Wachen geführt hatte, nirgend war ein betretener Weg, und so blieb uns denn am Ende nichts übrig, als auf gut Glück dem hellen Scheine zuzuschreiten, den das Feuer der Feldwache durch die Nacht warf.

„Dumme Geschichte, die ich da mit meinem Erzählen angerichtet,“ brummte der Alte in den Bart. „Wenn uns ein Posten erwischt, sind uns drei Tage Mittelarrest so sicher, wie Amen in der Kirche.“

Vorsichtig, das weiße Lederzeug, das uns verrathen konnte, mit den dunkeln Sacktüchern bedeckend, schritten wir langsam vorwärts, rechts und links nach den gefürchteten Posten spähend. Wir hatten Beide den Tschako abgenommen. Ein mannshoher Graben, der nach der Richtung des Feuers hinlief und glücklicherweise ausgetrocknet war, nahm uns schützend auf; leise, ohne ein Wort zu sprechen und nach jedem Tritte horchend, bewegten wir uns weiter.

„Halt! Wer da?“

Wir standen wie die Mauern. Zwanzig Schritte vor uns schlug ein Posten an.

„Legen Sie sich platt auf die Erde nieder,“ flüsterte Sommer. „Ruhig – um Gotteswillen kein Geräusch!“

„Wer da? Antwort oder ich schieße!“ tönte es wieder.

„Ruf in’s Teufels Namen,“ knirschte Sommer. – „Ein Dummkopf, wer hier Antwort gibt.“

Wir hörten den Hahn spannen und den Nebenposten rasch zur Feldwache laufen, um das Vorgefallene zu melden. Hier galt es raschen Entschluß.

„Das Koppel festgehalten,“ flüsterte Sommer wieder; „wir müssen auf den Knien vorwärts rutschen. Der Posten ist verteufelt munter! Nehmen Sie sich zusammen – hier gilt’s! Der Posten darf uns nicht sehen! Sind wir ’mal durch die Kette, richten wir uns sorglos in die Höhe und geben uns für eine Schleichpatrouille aus. Haben Sie Feldgeschrei?“

„Nein, ich war ausgetreten, als es gegeben ward.“

„Teufel, das ist dumm, ich weiß es eben so wenig! Doch vorwärts, biegen Sie die kleinen Büsche ohne Geräusch zurück und machen Sie Bahn. Die Pantalons werden freilich den Rest kriegen.“

Auf den Knieen, mit Händen und Füßen arbeitend, jeden Augenblick die Haut an dem Reisig blutig ritzend, rutschte ich langsam der Kette zu, Sommer hinter mir, von Zeit zu Zeit einen leisen Fluch in den Bart murmelnd. Der Graben machte eine kleine Biegung, wodurch wir uns weiter von den Posten entfernten und mehr gedeckt waren, Sommer stieß bereits einige Jubeltöne aus und mahnte zur Eile. Plötzlich hielt er inne und horchte.

„Verdammt! ich höre Pferdegetrappel,“ flüsterte er. „Ruhig, keinen Schritt weiter! Den Kopf auf den Boden! Haben Sie das Lederzeug noch bedeckt?“

„Die Brust, ja.“

„Gut, so legen Sie sich auf den Rücken, damit uns die Musketierfarbe nicht verräth! Haken Sie das Bandelier aus!

So! Und nun schieben Sie die Tasche vor – zum Teufel aber leise – und nehmen Patronen und Regenpfropfen heraus, damit uns das Klappern nicht verräth! Still, sie kommen!“

Als wenn ich im Sarge läge, so steif und starr streckte ich mich im Graben und sah die Sterne an, die jetzt freundlich über uns blinkten. Das Herz hämmerte unter der Uniform, als läg’ ich im Fieber. Jeden Augenblick kamen die Reiter näher, ich fühlte, wie die Erde unter den Tritten ihrer Pferde dröhnte und zitterte. Sommer lag ganz ruhig und hatte sogar das Fluchen eingestellt.

Jetzt waren die Reiter ganz in unserer Nähe und hielten wenige Schritte vom Graben. Es waren, wie ich aus einem flüchtigen Seitenblick bemerken konnte, ihrer drei, tief in Mantel gehüllt. Mit näselnder Stimme gab der Eine mehrere Befehle, die der Zweite jedesmal mit einem: „Sehr wohl – sehr wohl“ beantwortete.

„Der Alte auf der Hippel,“ flüsterte Sommer neben mir.

„Na, das wird eine saubere Geschichte.“

Das schien mir auch so, und eine leise Ahnung von Standrecht und Mittelarrest fuhr mir durch den Kopf.

In demselben Augenblicke lief ein Käfer über meine Wange und suchte, wahrscheinlich in dem falschen Wahne, meine Nase sei ein gutes Nachtquartier, das eine meiner beiden Nasenlöcher zu gewinnen. Ich schüttelte mit dem Kopfe, pustete, blies mit Mund und Nase zugleich, nichts half, das teuflische Thier blieb trotz aller Anstrengung an meiner Nasenspitze, hakte mit seines langen Füßen in die tiefsten Gründe meiner Riechinstrumente hinein und – ich konnte mir nicht helfen, der Reiz war zu heftig – ich nies’te.

„Oho, was ist denn das? Donnerwetter, wer liegt hier,“ kreischte der Alte auf der Hippel. „Ordonnanz absitzen! Festhalten die Kerls! Was machen die Bestien hier? Tschako oder Mützen?“

Die Ordonnanz stieg ab und wir standen auf. Wie ich aus dem Graben gekommen, meinen Tschako aufgesetzt und das Lederzeug wieder in die vorschriftsmäßige Lage gebracht, weiß ich heute noch nicht, doch stand ich bald neben Sommer, der sich ebenfalls aus dem Graben herausgewunden, kerzengerade ohne ein Wort zu sprechen.

„Tschako!“ referirte die Ordonnanz. Das Armeekorps war nämlich in zwei Abtheilungen formirt, wovon die eine, mit Mützen bekleidet, den Feind vorstellte. Wir trugen Tschako’s.

„Donnerwetter!“ fluchte der Alte, „hier über der Postenkette Tschako’s! Wer sind die Kerls! Stillgestanden! Handballen auswärts! Sechs Wochen strengen Arrest, wer sich rührt! Wart, ich will Euch kriegen! Von welchem Bataillon?“

„Zweiten Bataillon, fünfte Kompagnie, Herr Oberstwachtmeister,“ meldete Sommer kerzengerade und steif, wie ein Wegweiser.

„Donnerwetter, von meinen Leuten! Das ist ja eine verfluchte Affaire! Fünfte Kompagnie, Hauptmann Müller – na, wart – wart – Euch will ich strietzen, daß die Haare ausfallen. Wie heißt Ihr ?“

„Sergeant Sommer und der Freiwillige K.“

[592] „Da muß ja eine alte Bulle platzen! Unteroffizier Sommer, ein gedienter Mann – Feldzug mitgemacht und solche Extravaganzen mit dem Freiwilligen hier, der Sonntags mit der goldenen Kette herumläuft und mich nicht sieht, wenn ich die Straße herunterkomme. Na, wart! Euch will ich kriegen! Soll schon Ordnung kommen in’s Bataillon! Lieutenant H., merken Sie sich beide Namen und erinnern Sie mich morgen, daß ich dem Oberst Meldung mache. Verfluchte Geschichte das! Was thaten denn eigentlich die beiden Vögel hier?“

„Wir gingen spazieren, Herr Oberstwachtmeister.“

„Spazieren! Auf allen Vieren mit Lederzeug und Tschako, als Kommandirte einer Feldwache? Donnerwetter, das ist ja ein verfluchtes Spazierengehen! Liegen im Graben, so lang sie sind; besehen sich Mond und Sterne und gehen spazieren? Das ist ja eine ganz neue Erfindung! Wart, ich will Euch ’s Spazierengehen vertreiben! Morgen Meldung, übermorgen Standrecht, Abends in’s Loch bei Wasser und Brot, da könnt Ihr Mond und Sterne begucken, so viel Ihr wollt und auch spazieren gehen! Rechts um!“ commandirte er streng. Unteroffizier Sommer hängt sogleich ab und meldet sich beim Lieutenant seiner Feldwache als Arrestant. Ich will ein Exempel statuiren! Der Freiwillige ist ebenfalls Arrestant und wird bis auf Weiteres in’s Spritzenhaus des Dorfes gesteckt. Unteroffizier Sommer wird das gehörig dem wachthabenden Offizier melden. Vorwärts! Marsch!“

Als ob wir Parademarsch üben wollten, so steif und gestreckt gingen wir ab. Keiner sprach ein Wort, so lange die Stimme des Alten auf der Hippel noch zu hören war, so tiefen Eindruck hatte die unangenehme Ueberraschung auf uns gemacht. Ich hatte alle Ursache die Vorwürfe von Seiten Sommers zu fürchten und wollte natürlich nicht beginnen.

„Verfluchtes Geniese,“ platzte endlich Sommer heraus. „Bringt uns um die ganzen Manöverfreuden! Schöne Aussicht das, am Tage ’zu marschiren und Abends und an allen Ruhetagen bei Wasser und Brot im Spritzenhaus zu campiren! Wünsche viel Vergnügen! Muß auch der Gott sei bei uns gerade den Alten auf der Hippel herbeiführen, wo wir nur noch wenige Schritte bis zur Kette hatten! Wird das ein Lärmen werden, wenn’s morgen heißt: der alte Sommer hat Arrest! Da wollt’ ich doch, daß ein …“

Ein schwerer Fluch fuhr unter dem Hängebart des Alten heraus. Ich suchte ihn zu besänftigen und mit der Hoffnung zu trösten, daß der Major morgen seine Befehle schon vergessen und die ganze Sache von unserem Hauptmanne, der ihm und mir wohl wollte, vertuscht werden würde, er hörte aber nicht und räsonnirte und fluchte, bis wir an die Feldwache kamen. Kerzengerade wie eine Gliederpuppe ging er auf den Lieutenant los, salutirte und sagte: „Herr Lieutenant, ich melde mich als Arrestant.“

Der Angeredete fuhr erschrocken auf. „Unteroffizier Sommer, was soll das heißen?“

„Zu Befehl, Herr Lieutenant, ich sagte die Wahrheit. Der Herr Oberstwachtmeister haben beordert, daß ich abhängen und als Arrestant auf der Feldwache bleiben soll. Der Freiwillige K. ist ebenfalls Arrestant und wird bis auf Weiteres in’s Spritzenhaus gebracht. So lautet meine Ordre.“

„Gut, gut,“ sagte der Lieutenant ängstlich. „Gefreiter Wagner, bringen Sie den Arrestanten sogleich dorthin und melden Sie dem schließenden Unteroffizier: ein Mann Arrestant von der fünften Kompagnie. Mein Gott, was ist denn vorgefallen?“ wandte er sich an Sommer, der sich seines Lederzeuges schon entledigte.

Ich konnte nicht hören, was Sommer antwortete, da der Gefreite Wagner bereits sein Gewehr zur Hand genommen und mich zum Abmarsch mahnte. Ich drückte dem alten Sommer verstohlen die Hand und ging. Im Spritzenhause angekommen, fand ich mehrere Leidensgefährten aus allen Gattungen des Armeecorps, Musketiere, Husaren, Kürassiere und Kanoniere. Eine notdürftige Streue, die kaum den Boden bedeckte, stellte unser Nachtlager vor, das indeß immer noch angenehmer war, als die kalte Beiwacht, wo man fror und bei dem besten Willen nicht schlafen konnte. Die Anstrengungen des Tages, das natürliche Bedürfniß des Schlafes, die wohlthätige Wärme, die meine Glieder erweichte, wiegten mich trotz der harten Unterlage und dem kolossalen Schnarchen meiner Nachbarn bald in einen süßen Schlummer, der mich den Alten auf der Hippel, Manöver und Arrest vergessen ließ. Ich schlief als ob ich drei Wochen kein Bett gesehen.

Es mochte ungefähr vier Uhr Morgens sein, als sich die Thüre öffnete und eine Stimme rief: „Freiwilliger K. von der fünften Kompagnie, X. Infanterieregiments?“

„Hier!“ schrie ich und taumelte vom Lager auf.

„Aus dem Arrest entlassen,“ referirte der schließende Unteroffizier. „Sollen sogleich abmarschiren mit dem Gefreiten.“

Ich war wie aus den Wolken gefallen, rieb mir die Augen und wußte nicht, ob ich gehen oder bleiben sollte.

„Machen’s geschwind,“ mahnte plötzlich derselbe Gefreite, der mich gestern hierher transportirt und jetzt seinen Kopf zum Thore hereinsteckte: „machen’s geschwind, der Herr Hauptmann und Unteroffizier Sommer erwarten Sie bereits. Die Kompagnie versammelt sich.“

Im Trabe eilten wir dem Sammelplatze der Kompagnie zu. Auf halbem Wege kam mir schon der Unteroffizier Sommer entgegen, übergab mir mein Gewehr, das spiegelblank geputzt war, reinigte mein Lederzeug mit Schachtelhalm von Schmutz und Schmarren und machte das fidelste Gesicht von der Welt.

„Aber Sommer,“ frug ich erstaunt, „sagt mir um Gotteswillen …“

„Still, Freundchen – später, später! 's wird Alles gut! Nur Courage, der Alte auf der Hippel fährt ab! Der wird sich ärgern! Keine Angst, treten’s halt ohne Furcht in die Kompagnie ein, der Hauptmann erläßt Ihnen die Abmeldung aus dem Arrest! ’S war eine verfluchte Geschichte das – aber Glück – Glück muß der Soldat haben, sonst hört Alles auf! Geben’s Acht, ’s passirt heute was, halten Sie sich straff, Kopf hoch, Brust heraus – nur Courage!“

Wir waren kaum auf dem Appellplatz angekommen und in die Kompagnie eingetreten, als auch schon die drei andern Kompagnien anrückten und das Bataillon nach der Ebene abmarschirte, wo das ganze Regiment vereint heute exerciren sollte. Der Alte auf der Hippel ritt zu weit vom Bataillon ab, um mich oder Sommer zu erkennen, der Hauptmann that nicht, als ob er um die Sache wüßte, und so kamen wir unangefochten auf dem Sammelplatze an, wo sogleich Regimentsfront formirt wurde. Der Morgen war prachtvoll und ich, trotz meines leeren Magens, in der fröhlichsten Stimmung.

Nicht lange, so sahen wir am Flügel des ersten Bataillons mehrere Reiter mit Federhüten, bei deren Annäherung sogleich: „Stillstand – Gewehr auf!“ kommandirt ward. Es war unser Brigadegeneral nebst Suite, ein allgemein beliebter und von den Soldaten fast vergötterter Mann. Streng im Dienst, ein tüchtiger Soldat, litt er durchaus keine Unordnung in der Brigade, sie mochte noch so gering sein, war aber auf der andern Seite wieder mild und leicht versöhnt, und vorzüglich ein Freund des gemeinen Mannes, den er bei allen Gelegenheiten gegen die Anmaßungen der Offiziere in Schutz nahm. Man erzählte sich viele Beispiele im Regiment, wo seine Fürsprache allein die Strafbaren von langem Arrest gerettet hatte.

Als der General in unsere Nähe kam, räusperte sich der Alte auf der Hippel, hob sich in den Bügeln und „Aa–ach–tung! – präsentirt’s Gewehr!“ schallte es die Fronte herab. Der General ritt einige Schritte, besah sich die Stellung des Bataillons und winkte: „Achtung: Gewehr auf Schulter!“ Der General winkte noch einmal. – „Gewehr ab! Rührt Euch!“ näselte der Alte und ritt mit gesenktem Degen zum General.

„Unteroffizier Sommer und Freiwilliger K. von der fünften Kompagnie!“ rief es plötzlich vor der Front des Bataillons.

Als ob mich ein Blitz getroffen, so fuhr ich zusammen. Die Feldwache, die Grabengeschichte, der Alte auf der Hippel, der Arrest, Alles fiel mir wieder ein und trieb mir das Blut in die Wangen. Ich fürchtete nicht ohne Grund vom General vor dem ganzen Regiment ausgescholten zu werden, und sah schon die höhnischen Gesichter meiner Kameraden, die dem Freiwilligen, der so manchen Vorzug genoß, von Herzen diese Strafe gönnten.

„Muth – Donnerwetter, Muth,“ flüsterte mir Sommer zu, der steif, wie ein Nürnberger Holzgrenadier mit aufgenommenem Gewehr an mir vorüberstrich; „machen ja ein Gesicht als ob’s zum Schaffot ginge. Pfui Teufel, schämen Sie sich!“

Ich schämte mich wirklich, nahm mein Gewehr auf und keck mit echt soldatischem Anstand marschirte ich vor der Fronte, meinem Freunde Sommer nach, an die Stelle, wo der General und alle Offiziere versammelt hielten.

[593]

Victor Emanuel, König von Sardinien.




Der General besah uns einige Augenblicke prüfend, kommandirte dann: „Gewehr ab!“ und wandte sich an den Major: „Sind das die beiden Leute, welche gestern Abend die Postenkette überschritten haben?“

„Zu Befehl, Herr General,“ näselte der Alte boshaft. „Ich traf Beide, als sie eben …“

„Schon gut, ich kenne den Hergang der Sache und weiß auch die Veranlassung. Ich wünsche, Herr Major, daß diese Leute diesmal mit der gehabten Strafe wegkommen und daß ihnen das Geschehene auf keine Weise nachgetragen wird. Von Euch,“ wandte er sich zu uns, „hoffe ich, daß dergleichen nicht wieder vorfällt; das nächste Mal tritt die ganze Strenge des Gesetzes ein. Verstanden? Eintreten! Gewehr auf! Kehrt!“

In meiner ganzen Militaircarriere habe ich kein besseres „Kehrt“ gemacht, als damals. Kaum einige Schritte vom General entfernt, fing auch Sommer schon wieder an zu jubeln. „Haben’s bemerkt, wie sich der Alte auf der Hippel ärgerte,“ flüsterte er leise, ohne den Kopf auch nur um einen halben Zoll zu wenden. „Dem ist eine große Freude in’s Wasser gefallen! Prächtiger Kerl, der General! ’s war mir halt ein wenig bange – aber Glück, wie gesagt, Glück muß der Soldat haben, sonst hört Alles auf.“

Andern Tages, – es war eine Ruhetag – als wir Beide, Sommer und ich, bei einer leidlichen Flasche Wein in der Schenke des Dorfes saßen, erfuhr ich endlich die Ursache unserer schnellen Befreiung. Der Offizier der Feldwache, derselbe, der dem alten Sommer die Erlaubniß zum Austreten gegeben hatte, war der Sohn des Brigadegenerals und das einzige Kind des wackern Herrn, mithin sein Augapfel. Dem neugebackenen Lieutenant war die Affaire mit dem Arrest sehr fatal, er fürchtete nicht mit Unrecht, wegen der gegebenen Erlaubniß zum Austreten einen derben Verweis vom Major oder Oberst und hielt es für das Gerathenste, der Sache zuvorzukommen, ehe sie zum Ausbruch kam. Er berichtete, noch in derselben Nacht, sobald er abgelöst war, seinem Vater die ganze Geschichte und bat diesen, den Befehl zu unserer Befreiung zu erlassen, und die Sache möglicher Weise rasch zu unterdrücken. Der Papa war anfangs etwas aufgebracht über das dienstwidrige Benehmen seines Söhnchens und gar nicht Willens, den Bitten des Herrn Lieutenants zu willfahren, einige gut angebrachte Schmeichelworte besänftigten indeß den alten Haudegen bald wieder und machten ihn zu Allem bereit.

„’S war eine verfluchte Geschichte, das,“ schloß Sommer seine Erzählung, „der Alte auf der Hippel hatte uns halt eine hübsche Suppe eingebrockt und wenn der Herr Lieutenant nicht der Sohn eines solchen Vaters waren, säßen wir jetzt, statt beim Weine, hinter einer alten Spritze und schluckten Wasser, wie die Fische. Aber merken Sie sich meine Rede: Glück muß der Soldat haben, Glück und eine kleine Portion Leichtsinn, sonst hört Alles auf!“



[594]
Schutz vor der Cholera.

Die Cholera scheint faulenden Auswurfstoffen (s. Gartenlaube 1856. Nr. 38), und zwar denen der Menschen, zu entstammen, wenigstens durch dieselben weiter verbreitet zu werden. Dies ist die von Professor Pettenkofer in München in Folge vieler und genauer Beobachtungen und Untersuchungen aufgestellte Ansicht, die zum Heile der Menschheit in das große Publikum gebracht zu werden verdient. – Vorerst beachte man: daß diese Krankheit, – welche bald mit, bald gegen den Wind wandert, in allen Klimaten, bei den verschiedensten Temperatur- und Feuchtigkeitsgraden der Luft und bei der verschiedensten Beschaffenheit des Trinkwassers auftritt, sowie alle Klassen und Geschlechter heimsucht, – in ihrer Verbreitung überall (in Indien, Rußland, Europa) ganz auffallend den Verkehrswegen folgt, daß sie regelmäßig mit dem Zuge nicht nur der Karawanen und Kriegsheere, sondern auch der Schiffe und Eisenbahnen geht; daß sie immer erst von Hafen- und Stapelplätzen der Inseln später in’s Innere derselben eindringt; daß sie stets nur auf Inseln ausbricht, welche von Schiffen aus cholerakranken Gegenden besucht werten, und nicht auch auf jenen, welche zu dieser Zeit keine solchen Besuche erhalten. Kurz, Pettenkofer hat deutlich nachgewiesen (an 253 Aufsehern des Münchener Glaspalastes), daß sich der Einfluß des persönlichen Verkehrs auf die Entwicklung einer Orts-Epidemie auch bis in’s kleinste Detail verfolgen und finden läßt.

Es ist nun aber auch Thatsache, daß selbst der lebhafteste Verkehr an manchen Orten keine Cholera-Epidemie hervorruft, während sie hinwiederum oft an Orten ausgebrochen ist, deren Verkehr mit cholerakranken Gegenden äußerst gering war. Diese Thatsache läßt sich durch eine andere Thatsache sehr leicht erklären; es schließt nämlich Felsengrund der Häuser das Entstehen einer Ortsepidemie aus. Leider ist in keinem früheren Berichte über die Cholera Rücksicht auf den Baugrund der Häuser der einzelnen ergriffenen Orte genommen worden, und deswegen standen dem Prof. Pettenkofer zu seinen Betrachtungen nur die Resultate der Epidemien in Bayern zu Gebote. Diese sind aber so zahlreich, so klar und übereinstimmend, daß man mit P. die volle Ueberzeugung hegen kann, daß in der ganzen Welt kein Ort, dessen Häuser auf Felsengrund gebaut sind, aufzufinden sein wird, wo die Cholera als Epidemie aufgetreten wäre. In einzelnen Häusern kann hier allerdings manchmal die Cholera vorkommen (besonders in Folge mangelhafter Reinlichkeit), aber nie wird eine Ortsepidemie daraus entstehen. – Wie es nun eine Bodenbeschaffenheit gibt, welche die Entwicklung einer Ortsepidemie absolut hindert, so gibt es auch Verhältnisse des Bodens, in deren Folge eine Epidemie constant sich schneller oder langsamer, heftiger oder gelinder entwickelt, einen kürzern oder längern Verlauf nimmt. So ist im Allgemeinen ein Vorrücken der Krankheit von tieferen und feuchteren Stellen nach höheren und trocknern unverkennbar. Ebenso spricht es sich deutlich aus, daß an tieferen und feuchteren Stellen die Entwickelung heftiger und der Verlauf rascher ist, als an höher und trockner gelegenen, wo die Entwickelung gelinder, aber der Verlauf sehr in die Länge gezogen erscheint. Aus Allem dürfte hervorgehen, daß im Boden selbst die Entwickelung des Giftes, welches die Cholera erzeugt, stattfindet. Gleichzeitig soll auch über diesen Stellen das atmosphärische Ozon (eine Art Sauerstoff) aus dem Luftkreise verschwinden; dieses örtliche Verschwinden ist aber nur durch Ausströmen von Stoffen aus dem Erdboden erklärlich, welche sich mit dem Ozon vereinigen, das Ozon verbrauchen. Mangel an Ozon kann weder Cholera erzeugen, noch sein Vorhandensein dieselbe verhindern.

Wenn nun aber, wie deutlich ersichtlich ist, ein bestimmter Boden mit menschlichen Wohnungen die Verbreitung der Cholera unterhält, so muß die Frage aufgeworfen werden: was bringt der Mensch bei seinem persönlichen Verkehr in den Boden? Seine Excremente (Harn und Koth), nichts anderes, und diese können sich, wie früher schon besprochen wurde, recht leicht bei ihrer fauligen Zersetzung und bei schlecht eingerichteten Abtritten und Abtrittsgruben in lockerem Boden als krankmachende Stoffe weiter verbreiten. Auch als materielle Träger zur Verbreitung der Cholera dürften Harn und Koth und zwar jener Personen anzusehen sein, welche entweder an Symptomen der Cholera leiden oder aus epidemisch von der Krankheit ergriffenen Orten kommen. Wie nun solche Excremente eine Epidemie hervorrufen können, ist zur Zeit allerdings noch Sache der Vermuthung. Pettenkofer denkt sich dies so: die cholerakeimtragenden Excremente, welche in das poröse, bereits mit fauligen Auswurfstoffen durchzogene Erdreich einsickern, ändern sich durch die feine Vertheilung, welche sie hierbei erleiden, und durch den stetig fortgehenden Fäulniß- und Verwesungsproceß in einer Art und Weise um, daß sich außer den gewöhnlichen Gasarten hierbei ein Choleragift (Miasma) entwickelt, welches sich dann mit den übrigen Ausdünstungen in den Häusern verbreitet. Diese Entwickelung scheint schneller und vehementer einzutreten bei feuchterem und mehr verunreinigtem Boden, als bei trockenem und reinerem. Das Material, woraus der poröse Boden besteht, ist jedenfalls ganz gleichgültig, denn man trifft die Cholera sowohl auf Kalksand, als auch auf Quarzsand an. Es handelt sich beim Boden blos um seine Porosität und Oberfläche, welche von Feuchtigkeit und verwesenden Substanzen bis zu einer gewissen Tiefe umgeben ist. Wie tief eine solche Erdschicht zu sein habe, darüber fehlen noch nähere Anhaltspunkte, jedenfalls scheint sie aber mehr als 10 Fuß betragen zu müssen. Ebenso ist es gleichgültig, aus welcher Substanz der felsige, vor Cholera schützende Boden besteht, wenn er nur so weit dicht ist, daß er eine rasche und weitere Durchsickerung verhindert. Die Dichtigkeit eines Sandsteinlagers von 20 bis 30 Fuß Mächtigkeit genügt bereits. So ist auch sandiger Mergel viel unempfänglicher, als alle andern nicht compacten Bodenarten. – Das Cholera-Miasma verliert bereits in sehr geringer Entfernung vom Orte seiner Entwickelung durch Verdünnung mit Luft wesentlich an Kraft. Wie lange ein Mensch wohl dem Einflusse des Miasma’s und in welchem Grade ausgesetzt sein muß, um bei vorhandener Disposition ergriffen zu werden, läßt sich nicht bestimmen. Wahrscheinlich kann ein sehr kurzer, vorübergehender Aufenthalt an einem inficirten Orte nicht viel schaden, während ein längeres ununterbrochenes Verweilen daselbst wesentliche Bedingung zum Erkranken ist. Besonders scheint die Zeit des Schlafens den verderblichen Wirkungen nicht blos des Choleramiasma’s, sondern aller Miasmen, am günstigsten zu sein. Im Schlafe scheint unser Organismus entschieden viel weniger Widerstandskraft als im Wachen zu haben. Von 100 Choleraerkrankungen erfolgen meist 90 zwischen Nachts 11 Uhr und Morgens 6 Uhr. Es wird somit der Ort, wo man schläft, jedenfalls zuvörderst zu beachten sein und dann erst der Ort, wo man sich während den Tages am meisten aufhält. Uebrigens vergesse man ja nicht, daß sich nicht blos im Erdboden, sondern auch an andern, mit fauligen Excrementstoffen imprägnirten Orten (Abtritt, Nachtstühle, Kübel und selbst unreine Wäsche) das Choleramiasma entwickeln kann.

Ansteckend, d. h. von Person zu Person übertragbar, ist die Cholera nicht. Was haben die Cholera-Cordons, was hat in den Cholera-Quarantäne-Anstalten alles Desinficiren und Räuchern von Kleidern und Waaren genützt? Nichts! Wie kommt es, daß die ersten exquisiten Cholerafälle eines Ortes so häufig Personen betreffen, die weder mit Kranken noch Fremden den mindesten Verkehr hatten? Diejenigen, welche sich mit vernünftiger Anstrengung ihrer Kräfte ausschließlich der Pflege Cholerakranker widmen, sind der Cholera nicht mehr preisgegeben, als diejenigen, welche sich in ihren Zimmern auf das Sorgfältigste einschließen. Zum Heile der Menschheit ist auch niemals der Glaube an Ansteckung (Contagiosität) in der Cholera Volksglaube geworden. Vor Cholerakranken scheue man sich nicht, wohl aber vor dem Boden eines epidemisch ergriffenen Ortes.

Wenn nun wirklich die alleinige Verbreitung der Cholera durch die Excremente der Menschen geschieht (indem sich bei der Zersetzung flüssiger Excrementtheile in feuchtem porösem Boden oder Stoffen schädliche Gase entwickeln), so muß man sich natürlich nach Mitteln umsehen, einer solchen Verbreitung Einhalt zu thun. Da nun die Entleerung dieser Stoffe doch stets stattfinden wird, so bleibt nur die Unschädlichmachung (Desinfection) derselben übrig. Diese besteht aber darin, daß man die Zersetzung der Excremente verhindert und zwar durch Beimischung von Substanzen, welche die Processe der Gährung und Fäulniß hindern. Unter [595] diesen Substanzen steht der Eisenvitriol und die schweflige Säure obenan (s. Gartenlaube 1856. Nr. 38. – Es entsteht ferner die Frage, wann der rechte Zeitpunkt für Anwendung der Desinfection sein würde. Pettenkofer ist der Ueberzeugung, daß jede Desinfection in einer Stadt, wo sich die Krankheit bereits als Epidemie zeigt, erfolglos sein muß, da keinerlei Desinfection das schon aufgenommene Gift wieder aus dem Leibe der Menschen jagt und überhaupt die bereits in den Boden ausgesickerten und zersetzten Stoffe erreicht. Eine Desinfection, welche nützen soll, muß früher vorgenommen werden, ehe die Cholera den Ort erreicht. Ja, sobald sich in Italien, Frankreich oder Rußland Ortschaften epidemisch ergriffen zeigen, sollten in jedem Orte Deutschlands, der für Cholera empfänglich ist, die sorgfältigsten Desinfectionsmaßregeln getroffen werden, besonders dort, wo Fremde möglicherweise ihre Excremente deponiren könnten.

Möchten doch die Menschen, durch die Pettenkofer’schen Untersuchungen angeregt, ihre ganze Aufmerksamkeit auf die Verwesung menschlicher Auswurfstoffe richten, um nicht blos der Cholera, sondern sicherlich auch andern gefährlichen epidemischen Krankheiten (Typhus) Einhalt zu thun. Es müssen durchaus, zumal in menschenreichen Städten, baldigst Anordnungen getroffen werden, um das Eindringen und Ausbreiten von Stoffen im Erdboden zu verhindern, deren Zersetzung bei großer Vertheilung das Leben auf so heimtückische und unvermeidliche Art gefährden kann. Es sollte wenigstens der Zersetzung der Excremente, so lange bis diese gänzlich aus der Nähe menschlicher Wohnungen fortgeschafft werden, durch Desinfection gesetzlich Einhalt gethan werden müssen. Wann[WS 1] werden aber die Zeiten kommen, wo der Mensch für seine und seines Nebenmenschen Gesundheit auf vernünftige Weise Sorge tragen wird? (Weiteres über die Cholera s. Gartenlaube 1854. Nr. 35.)

Bock.




Ausflüge in technisch-chemische Werkstätten.
Von C. Müller.
Nr. 3.

Wer je durch die preußische Provinz Sachsen, durch die Herzogthümer Anhalt und Braunschweig oder durch gewisse Theile Böhmens, Mährens und Schlesiens gereist ist, und seine beobachtenden Blicke über die üppigen Fluren gleiten ließ, dem können unmöglich die großen Flächen Landes entgangen sein, welche dort mit Runkelrüben und Cichorie bepflanzt sind und die oft zu einem Drittel des ganzen Ackerareales betragen. Was hier als ziemlich unscheinbare Pflanze schon während des Wachsthumes Tausenden von Menschen lohnende Arbeit gibt, erfordert nach der Ernte fast eine noch größere Summe von Arbeit, um als Zucker und als Kaffeesurrogat in den Handel zu kommen. Während nun der Werth des letzteren Produktes, und gewiß nicht mit Unrecht, vielseitig angefochten wird, hat sich dagegen der Rübenzucker ein Ansehen und eine Bedeutung erworben, die durch die Zolltabellen des Zollvereins, Oesterreichs, Frankreichs und Belgiens, sowie durch die immerwährende Zunahme der Zuckerfabriken trotz der Steuererhöhungen deutlich genug zu ermessen sind; denn während beispielsweise im Laufe des Jahres 1845 im Gebiete des Zollvereins in 96 Fabriken 4,446,469 Centner Rüben auf Zucker verarbeitet wurden, zeigten die Zolllisten von 1853 238 Fabriken mit einer Verarbeitung von nahe an 22 Millionen Centner Rüben! In der That sehen unsere Zuckerdosen den Colonialzucker immer seltener und manche Hausfrau, die aus alter Vorliebe den Kaufmann um „aber ja indischen“ Zucker bittet, und ihren Gästen bemerklich macht, wie es doch ein großer Unterschied zwischen diesem, dem ihrigen, und dem Rübenzucker sei, präsentirt doch vaterländisches Produkt, an dem vaterländische Wissenschaft und Industrie ihre Aufgabe so glänzend gelöst haben, daß selbst geübte Zungen sich nicht mehr auskennen. Keine Industrie aber hatte wohl mit mehr Hindernissen und Feinden zu kämpfen, als diese, und wenn schon anerkannt werden muß, daß ohne den großen Schutz, der ihr im Anfange vom Staate zu Theil wurde, eine solche Entwickelung nie möglich gewesen wäre, so hat sich doch andrerseits die Meinung des Herrn von Liebig und anderer ausgezeichneter Männer, daß mit dem Schutz auch die Industrie fallen werde, nicht bewährt und sich im Gegentheile erwiesen, daß selbst bei völliger Gleichstellung in der Besteuerung mit dem Rohrzucker die Vortheile für die Landwirthschaft groß genug sind, um die Konkurrenz mit Erfolg bestehen zu können.

Sei dem nun wie ihm wolle, da wir einmal Rübenzucker essen müssen, so wird es wohl den Freunden und Freundinnen der Süßigkeit nicht uninteressant sein, sich näher mit der Darstellung dieses Zuckers bekannt zu machen, und ich lade sie daher Alle ein, mich auf dem heutigen Spaziergange nach einer Rübenzuckerfabrik zu begleiten.

Wir erblicken bei der Annäherung an unser Ziel auf den Feldern, so wie endlich auf dem Hofe der Fabrik große kegelförmige oder längliche Haufen von Rüben mit Erde bedeckt, welche hier geschützt vor dem nachtheiligen Einflüsse der Luft und des Lichtes lagern, bis die Reihe der Verarbeitung auch an sie kommt.

Der hohe Kamin belehrt uns, daß auch hier die Dampfkraft eine bedeutende Rolle spielt, und zwar thut sie dies nicht allein als bewegende Kraft, sondern auch die sämmtlichen Heizungen geschehen durch Dampf; nur in seltenen Fällen findet man noch freie Feuerungen, so wie Göpelwerke oder Wasserräder als Triebkraft. Die ersten Operationen, welche die Rüben zu erleiden haben, sind das Waschen und Putzen; ersteres geschieht in einem großen Lattencylinder, der fast bis zur Hälfte im Wasser liegt und sich mit mäßiger Bewegung um seine Axe dreht. Die Rüben, welche am hinteren Ende eingeworfen werden, fallen am vorderen rein gewaschen und von aller anhaftenden Erde befreit heraus, um von Frauen und Mädchen geputzt, d. h. aller grünen oder fauligen Stellen, sowie der dünnen Wurzeläste befreit zu werden, welche, da sie wenig Zucker aber viel Säuren und Salze enthalten, dem Safte nachteilig sein würden. Die so gereinigten Rüben unterliegen nun gewöhnlich der Versteuerung, d. h. sie werden gewogen und der Fabrikant hat von jedem Centner derselben im Zollverein 6 Ngr., in Oesterreich 12 Kr. Steuer zu zahlen, als Entschädigung für den der Staatskasse entgehenden Eingangszoll auf Rohrzucker. Haben die Rüben dieser Pflicht genügt, so eilen sie ihrem Ende unaufhaltsam entgegen, denn sie kommen nunmehr vor die Reibe, einem mit Sägezähnen bewaffneten Cylinder, der sich in einer Geschwindigkeit von 6–800 Mal in der Minute um sich selbst dreht, und werden durch dieselbe in einen feinen Brei verwandelt. Eine besondere mechanische Vorrichtung, der sogenannte Pousseoir drückt die durch einen Knaben eingeworfenen Rüben gegen den Reibcylinder, auf welchem, sowohl zur Vermeidung der Erhitzung als auch zur Verdünnung des Rübenbreies, beständig etwas Wasser ausfließt.

An den vor der Reibe befindlichen Preßtischen sehen wir die Arbeiter beschäftigt, den Brei in leinene oder wollene Tücher einzuschlagen und diese sogenannten Kuchen mit starken Blechen abwechselnd zu schichten, um sie dann in den dahinter befindlichen hydraulischen Pressen ihres Saftes zu entledigen. Betrachten wir uns die hydraulischen und bramak’schen Pressen etwas näher, denn sie gehören unstreitig zu den interessantesten physikalischen Instrumenten, welche der Industrie dienen und sind überall da im Gebrauch, wo es sich um Hervorbringung eines bedeutenden Druckes handelt.

Der Druck dieser Pressen wirkt in senkrechter Richtung, d. h. von unten nach oben und wird durch zwei Pumpen hervorgebracht, welche durch ein eisernes Rohr a beständig Wasser in den hohlen Cylinder b drücken; im letzteren bewegt sich luftdicht ein Stempel c, welcher natürlich durch das eindringende Wasser aufwärts geschoben wird und in Folge dessen die zwischen den Preßplatten d u. e aufgeschichteten Kuchen von Rübenbrei zusammenpreßt.

Der Grundsatz, worauf die Konstruktion dieser Pressen beruht, ist der, daß Flüssigkeiten einen empfangenen Druck gleichmäßig nach allen Seiten fortpflanzen; in Folge dessen ist der Druck, welchen der Stempel c ausübt, ein viel größerer als derjenige,

[596]

Hydraulische Presse.

welcher durch die Pumpen auf das Wasser wirkt und zwar ist die Verstärkung stets gleich dem Verhältniß der Quadrate der Durchmesser der drückenden Flächen zu einander. Z. B. der Kolben jener Pumpen, welche das Wasser eindrücken, habe 2 Zoll im Durchmesser und wirke mit einer Kraft von 500 Pfd., so wird, wenn der Stempel in der Presse 15 Zoll im Durchmesser ist, der durch ihn ausgeübte Druck gleich 28,125 Pfd. betragen, denn (2 x 2) 4 : (15 X 15) 225 = 500 Pfd. : H = 28,125 Pfd.

Beträgt nun auch in der Wirklichkeit der Druck stets etwas weniger, da die Reibung ihr Theil der Kraft beansprucht, so ist man doch dadurch in den Stand gesetzt, eine große Gewalt zu brauchen, so daß die Kuchen die Presse ziemlich trocken verlassen. Man benutzt diese Rückstände als Viehfutter, und zwar meist für Mästung, welche dann gewöhnlich einen bedeutenden Nebenzweig für die Zuckerfabriken bildet.

Man hat vielfach versucht, das Pressen ganz zu umgehen, und den Saft auf bequemerem Wege durch die sogenannte Maceration zu gewinnen, wobei der Rübenbrei mit Wasser ausgelaugt wurde; nur wenigen Fabriken ist es indeß bis jetzt gelungen, auf diese Weise ein günstiges Resultat zu erzielen, viele sind zu den Pressen zurückgekehrt.

Der von den Pressen ablaufende Saft gelangt durch eine Rinne nach den Scheidepfannen, große kupferne Kessel von 6–800 Quart Inhalt, welche der Bequemlichkeit halber gewöhnlich tiefer als dir Pressen stehen. Hier wird der Saft zunächst auf 60–65° erwärmt und dann eine gewisse Menge Kalkbrei darunter gerührt und die Erhitzung bis zum Siedepunkte fortgesetzt. Dieser Kalkzusatz hat einen doppelten Zweck, denn erstlich werden dadurch die im Rübensafte enthaltenen Säuren abgestumpft und als unlösliche Kalksalze niedergeschlagen, dann aber bemächtigt sich der Kalk auch eines großen Theiles der schleimigen Bestandtheile und scheidet sie als Schaum und im Bodensatze ab. Nach einiger Ruhe wird die klare Flüssigkeit von Letzterem abgezogen und in die Verdampfpfannen gebracht, um hier bis zu einem gewissen Grade von Concentration eingekocht zu werden. Ist dieser erreicht, so leitet man den Saft in eine andere Pfanne, in welche eine eiserne Trommel als Gasometer eingehängt ist. Aus einem besonderen Apparate treibt man hier Kohlensäure in den Saft und bringt beide durch ein besonderes Rührwerk zu größerer Berührung. Die Kohlensäure verbindet sich hier mit dem im Safte noch gelösten Kalke zu kohlensauren Kalk, welcher als feines weißes Pulver zu Boden fällt. Der abermals abgelassene Saft kommt nun auf die Filter, große, bis 20 Fuß und darüber hohe Cylinder von 3 Fuß Durchmesser, welche mit verkohlten und gekörnten Knochen gefüllt sind.

Unter allen Kohlenarten besitzt nämlich die Knochenkohle am meisten die Eigenschaft, vegetabilische Farbstoffe, Schleim und verschiedene Salze aus ihren Lösungen auszuziehen und förmlich zu verschlucken, eine Eigenschaft, die sie ihrer bedeutenden Porosität zu verdanken hat.

In diesem Falle nun entzieht die Knochenkohle dem heiß durchlaufenden Safte den größten Theil seiner Farbe, sowie etwa noch vorhandenen Kalk und Schleim. Der Saft kommt vom Filter von Neuem in eine Vordampfpfanne, um noch weiter eingedickt zu werden und wenn der bestimmte Grad erreicht ist, abermals zu weiterer Reinigung auf ein neues Filter, worauf er den Namen Klärsel erhält und zum Versieden reif ist.

Die in den Filtern enthaltene Knochenkohle beladet sich nach jedesmaligem Gebrauch natürlich mit all’ den Unreinigkeiten, welche sie den Zuckersäften entzieht und würde nicht mehr zu benutzen sein, wenn die Chemie nicht Mittel gefunden, ihr dieselben wieder zu entziehen und ihre früheren Eigenschaften zurückzugeben, welche Operation man die „Wiederbelebung“ nennt. Sehr verdünnte Salzsäure löst nämlich den aufgenommenen Kalk; eine Art Gährung, welcher man die Kohle unterwirft, zerstört die aufgenommenen organischen Stoffe und nach tüchtigem Waschen mit reinem Wasser, Durchtreiben von Wasserdampf und Wiederabtrocknen, glüht man die Kohle in verschlossenen eisernen Cylindern aus, worauf sie wie frischgebrannte Knochen von Neuem zu gebrauchen ist.

Das Versieden des Klärsels geschieht jetzt ziemlich allgemein in sogenannten Vacuumpfannen, während man früher sich auch hierzu freier Feuerungen bediente. Die Einrichtung dieser „Apparate“ wie sie auch oft blos genannt werden, beruht auf dem Erfahrungssatze, daß der Siedepunkt der Flüssigkeiten um so niedriger ist, ein je geringerer Druck auf ihnen lastet; es siedet z. B. reines Wasser am Meeresspiegel bei einer Temperatur von 100° C.; auf dem Gipfel des Montblanc, wo natürlich der Druck der darüber liegenden Luftschichten weit geringer ist, bedarf es dazu nur 84° C. Das Klärsel, eine viel dickere Flüssigkeit als das Wasser, hat auch schon darum einen höheren Siedepunkt, der mit fortschreitender Concentration so sehr steigt, daß davon bedeutende Nachtheile für den Zuckersaft entstehen würden. Um also den Siedepunkt möglichst herabzudrücken, benutzt man die Vacuumpfannen, d. h. verschlossene Kochpfannen mit einer Vorrichtung zur Verdünnung der Luft und zur Fortschaffung, der entwickelten Dämpfe. Die Kochapparate a sind sich im Wesentlichen Alle gleich und besitzen außer den nöthigen Dampfheizröhren h, und i, die im Innern schneckenförmig gewunden im Safte liegen, zwei Rohre oder Ventile zum Zu- und Ablassen des Saftes f und g, zwei sich gegenüber befindliche Glasplatten b zur Beobachtung der kochenden Masse, einen Hahn o zum Zulassen von Luft oder Butter, wenn ein zu stürmisches Kochen dies nöthig machen sollte, ein


Vacuumapparat.

[597] Thermometer c und ein Barometer d zur Beobachtung der im Apparate herrschenden Temperatur und des Luftdruckes, und endlich die sogenannte Sonde e, eine Vorrichtung zum Probenehmen.

Die Vorrichtung zur Verdünnung der Luft ist gewöhnlich eine doppelwirkende Luftpumpe, welche durch ein Rohr l mit der Condensation n in Verbindung steht, in welche Letztere von oben ein Rohr m hineinreicht, dessen Ende durchlöchert ist und welches dazu dient, die entwickelten Dämpfe durch Einspritzung von kaltem Wasser sofort wieder abzukühlen.

Sehen wir jetzt wie dieser complicirte Apparat in Betrieb gesetzt wird:

Man läßt zunächst die Luftpumpe gehen, worauf in Folge des im Innern des Apparates entstehenden luftverdünnten Raumes der zu verkochende Saft durch k hereinsteigt bis es genug ist und der Hahn des Zugangsrohres geschlossen wird. Der Saft wird nun erhitzt und die Luftpumpe, welche beständig fortarbeitet, unterhält den luftverdünnten Raum. Der Letztere würde indessen durch die aus dem Apparate kommenden Dämpfe bald verschwinden, träte nicht beständig (durch k) kaltes Wasser in den Condensator, welches dann, sowie die dadurch wieder zu Wasser verdichteten Dämpfe mit der Luft zugleich durch die Luftpumpe ausgelaugt wird. Auf diese Weise wird es möglich, den Zuckersaft bei einer Temperatur von 50–60 Grad[WS 2] zu verkochen, während das Barometer von seinem gewöhnlichen Standpunkte bis auf 4 Zoll herabfällt.

Der Saft wird in diesem Apparate soweit eingekocht, daß gegen das Ende der Kochung bereits die Krystallbildung beginnt, worauf er in eiserne oder kupferne Reservoire abgelassen wird, von denen man ihn bei gehöriger Abkühlung in die Formen bringt. Nach dem völligen Erkalten füllt der Zucker in kleinen zusammenhängenden Krystallen den ganzen Raum, während in den Zwischenräumen die Melasse oder der Syrup sich aufhält. Um diesen daraus zu entfernen, bringt man die Formen mit dem Zucker auf Böden, in denen mindestens eine Temperatur von 35–40 Grad herrschen muß, wodurch der Syrup dünnflüssiger wird und durch unten befindliche Oeffnungen abfließt, um gesammelt und von Neuem zur Zuckerabscheidung eingekocht zu werden.

Der so gewonnene Zucker ist nun der sogenannte Rohzucker, der gewöhnlich noch raffinirt wird. Dieses Raffiniren besteht einfach in Wiederauflösen des Zuckers in reinem Wasser oder schon zweimal filtrirtem Safte, worauf, um alle trübenden Theile abzuscheiden, Rindsblut oder Eiweiß zugesetzt wird, welches beim Erhitzen sich wieder abscheidet und die Verunreinigungen einschließt. Jetzt läßt man die Flüssigkeit durch ein Filter mit Knochenkohle laufen und kocht sie endlich ein, wie wir dies bereits vorher gesehen haben.

Um die raffinirten Zucker bis in die Spitzen weiß zu bekommen, ist es nöthig, den anhängenden Syrup vollständig zu entfernen, welches durch eine besondere Operation, die man das Decken nennt, erreicht wird.

Zu diesem Behufe wird weißer Zucker in soviel Wasser gelöst, daß dadurch ein Syrup entsteht, welcher nur in kleinen Portionen aus die noch in den Formen befindlichen Zuckerhüte aufgegossen wird. Beim Eindringen verdrängt er den andern Syrup und reinigt auf diese Weise den Zucker davon bis in die äußerste Spitze. Der Zucker wird jetzt vollkommen ausgetrocknet, verpackt und versendet, um die nach Süßigkeit lechzende Welt zu befriedigen. Wie verschieden dieser Bedarf oder vielmehr der Verbrauch an Zucker ist, geht aus folgender für das Jahr 1850 berechneten Uebersicht hervor:

es kamen auf jeden Einwohner

im Zollverein jährlich 5 Pfd. Zucker
in Frankreich 6 1/2 " "
in Spanien 3 1/2 " "
in Holland 14 1/2 " "
in Belgien 7 " "
in Rußland nicht ganz 1/2 " "
in Irland 4 1/2 " "
in England mit Schottland 21 " "
in den vereinigten Staaten 14 1/2 " "
auf der Insel Cuba 56 " "

Während nun der Zucker seinem Verbrauche entgegengeht, unterliegt die Melasse, nachdem sie durch 3 oder 4maliges Einsieden ihres sämmtlichen krystallisirbaren Zuckers entledigt worden ist, einer ferneren Verarbeitung, indem sie an die Brennereien verkauft und hier zu Spiritus verbrannt wird.

Eine der großartigsten Rübenzuckerfabriken ist die der Herren Robert & Komp. zu Sclowitz in Mähren. Das kolossale Quadrat von Gebäuden nebst dem unmittelbar zur Fabrikation benutzten Raume umfaßt eine Fläche von 15 österreichischen Joch d. i. circa 30 Magdeburger Morgen. Dem Rübenbau ist durch Vertrag mit einer Domaine eine Fläche von 1000 Joch gesichert, wozu noch über 200 Joch eigne und gepachtete Aecker kommen. Ungeachtet der sorgfältigen Kultur, welche 350–400 Centner Rüben vom Joch liefert, beschäftigt diese Rübenquantität die Fabrik doch nicht genügend, indem dieselbe täglich über 3000 Centner Rüben zu verarbeiten im Stande ist. Das Kesselhaus der Zuckerfabrik enthält in einer Reihe 18 Dampfkessel in Summa zu 9000 Pferdekräften. Die Triebkraft liefern 12 Dampfmaschinen von 6–20 Pferdekräften, wovon mehrere kleine nur zur Saft- und Wasserhebung dienen. Die ganze Fabrik, welche natürlich mit eigner mechanischer Werkstätte, so wie eigner großartiger Melassenbrennerei versehen ist, wird durch 400 Gasflammen erleuchtet.




Erinnerungen aus dem Jahre 1806.
Die Schlacht bei Jena und Auerstädt.
I.
Einen Tag vor der Schlacht.

Viele unserer Vorfahren hatten die löbliche Gewohnheit, Alles das aufzuzeichnen, was sie Merkwürdiges selbst erlebt, oder was sich in ihrer Umgebung Bemerkenswerthes zugetragen hatte; und solche Chroniken sind für die Geschichte einzelner Städte und Landschaften sehr wichtige Quellen geworden, indem man aus denselben oft Einzelheiten kennen lernt, welche außerdem gänzlich unbekannt geblieben sein würden. Die nachfolgende Schilderung, welcher der Verfasser jedoch weit entfernt ist, eine solche Wichtigkeit beizulegen, möge man auch als ein Stück Chronik ansehen. Der zum fünfzigsten Male wiederkehrende 14. Oct. rief ihm jetzt wieder das Andenken an jene Zeit zurück.

Der Würfel war gefallen und der Krieg zwischen Frankreich und Preußen hatte begonnen. Der Großherzog von Berg forcirte am 8. Oct. den Uebergang über die Saale bei Saalburg gegen das preußisch-sächsische Corps; am 9. Oct. schlug der Fürst von Ponte-Corvo die Sachsen und Preußen unter Tauenzien bei Schleiz, und am 10. Oct. der Marschall Lannes den Vortrab des Fürsten von Hohenlohe unter den Befehlen des Prinzen Louis von Preußen bei Saalfeld, wobei dieser selbst blieb. So war am 12. die preußische Armee in ihren Stellungen schon überflügelt und hatte bereits ihre Magazine verloren.

Ich war damals auf der Domschule zu Naumburg, und uns jungen Leuten bot sich ein lebendiges, mannigfaltiges Schauspiel. Preußisches Militär von den verschiedensten Waffengattungen rückte ein oder zog durch; Magazine wurden angelegt, Feldbäckereien begannen ihr Geschäft. Wir bewunderten die streng-disciplinirten Leute in ihrer steifen Dressur; nur ihre Uniformröcke vom gröbsten blauen Tuche mit ihren schmalen Schwänzen, welche einen gewissen Hintertheil des Körpers fast ganz unbedeckt ließen, wollten uns nicht besonders gefallen, noch weniger aber, als wir bei näherer Bekanntschaft mit den Soldaten erfuhren, daß ihre Westen nur ein Schein von Westen waren, indem sie, ohne Hintertheile, als Lappen an die Röcke angenäht saßen. Das nannte man den preußischen Pfiff! Die Stimmung der Bevölkerung war überhaupt den Preußen nicht ganz günstig, vermuthlich weil sich die Sachsen noch der Drangsale erinnerten, welche ihr Land durch die Preußen im siebenjährigen Kriege erlitten hatte.

[598] Wenn es bisher nun schon gar Manches zu sehen gegeben hatte, so war dies doch Alles nichts gegen den Glanz, welchen das Eintreffen des Königs von Preußen in Naumburg der Schaulust bot. Dies geschah bereits am 30. Sept., denn die Zurüstungen zum Kriege waren schon getroffen, ehe die eigentliche Kriegserklärung erfolgt war.

Naumburg war jetzt mit preußischen Truppen überfüllt, namentlich standen die Garden an dem Orte des königlichen Hauptquartiers. Alles war voll Hoffnung auf den Sieg der preußischen Waffen; denn noch umstrahlte der Ruhm des siebenjährigen Kriegs die Heere Friedrich’s des Großen und der kurze Feldzug in der Champagne hatte ihn nicht verlöschen können, obgleich er unglücklich ausgefallen war.

In langen Reihen standen da die gewaltigen Gardisten mit ihrem riesigen Flügelmanne und passirten unter den Augen des ernst, ja fast finsterblickenden Königs auf der Jacobsgasse die Musterung. Der alte Herzog von Braunschweig, der Generalissimus der Armee, und der greise Feldmarschall von Möllendorf veraugenscheinlichten noch in ihren Uniformen das Bild des vergangenen Jahrhunderts. So hatten die Heerführer des siebenjährigen Krieges ausgesehen. Aber das schaulustige Publikum durfte sich nur aus der Ferne die Sache betrachten; denn streng wurde Jeder zurückgewiesen, welcher sich dem Kreise zu nahen wagte, in welchem sich der König und die beiden alten Kriegsfürsten befanden. – Der König wohnte auf dem alten Schlosse am Markt, welches einst die Residenz der Herzöge von Sachsen-Naumburg gewesen war.

Wurde aber unsere Neugier bei solchen großen Schaustellungen sehr beschränkt, so hielten wir uns desto mehr an die Einzelheiten. Alles und Jedes mußte unsere Privatmusterung passiren und es gab stets reichlichen Stoff dazu. Auch die Unterhaltungen mit den Herren Preußen hatten für uns Schüler manches Lehrreiche und wir erkundigten uns nach Dem und Jenem genauer, was wir gesehen oder gehört hatten. An die Herren Offiziere aber wagten wir uns natürlich nicht; denn diese sahen sehr stolz und hochfahrend aus, und so ein unbärtiger Primaner hatte damals noch eine heilige Scheu vor den adligen Männern, gekleidet in zweierlei Tuch. Dagegen machten uns die sogenannten Junker vielen Spaß, welche, aufgebläht wie kalkuttische Hähne, mit ihren Korporalstöcken einherspazirten und mit überschlagender Stimme ihr Kreuzmillionendonnerwetter herauskrähten, sich aber vielleicht im nächsten Augenblicke oft gefallen lassen mußten, daß ein alter Feldwebel sie haranguirte: Himmelelement, Junker, Sie soll doch gleich das Wetter auf den Kopf schlagen, was ist das für eine Wirtschaft u. s. w? – Mit wahrem Ingrimm sahen wir indeß, wie diese kaum hinter den Ohren trocken gewordenen, eben aus dem Kadettenhause entlassenen adligen Bürschchen alte, graubärtige Soldaten an ihren Ohren oder ihrem greisen Barte zerrten, oder gar, wenn sie zu bemerken glaubten, daß der Eine oder der Andere nicht ganz genau die Linie hielt, ihn mit ihren Stöcken an die Schienbeine schlugen, daß ihm vor Schmerz die Thränen aus den Augen traten. Wenn es sich nun beim Ausmarsche zutrug, daß so ein Junkerlein, von der einen Seite auf’s Pferd geholfen – (denn viele hielten sich Pferde und hatten Bediente, da ihre hochadlige Abkunft sie dazu natürlich bevorrechtete) – die Balance verlor und auf der andern wieder herunter segelte, so konnten wir uns natürlich eines schadenfrohen Lachens nicht enthalten, hätten auch von Herzen gewünscht, daß ein Korporalstock sie für ihre Ungeschicklichkeit bezahlt haben möchte.

In all’ dem kriegerischen Tumulte trat aber ein leuchtendes, schönes Bild vor die Augen Derer, welche so glücklich waren, es zu schauen: die holdselige Gestalt der von ihrem Volke angebeteten Königin von Preußen. Die hohe Frau pflegte nämlich Spazierfahrten nach einem in der Nähe der Stadt an der Saale liegenden Orte zu machen, welcher die „nackte Henne“ hieß und vielleicht noch so genannt wird. Freundlich herablassend erwiederte die Königin Louise die ehrfurchtsvollen Begrüßungen der ihr Begegnenden. Der so unpoetisch klingende Name jenes Ortes, welcher sich rühmen konnte, die hohe Frau öfters zu empfangen, liegt, wie gesagt, an der Saale, etwa eine gute halbe Stunde von Naumburg. Damals führte eine Fähre über den Fluß. Hinter dem Gasthofe erheben sich Anhöhen, welche linkshin, wenn man der Stadt den Rücken zuwendet, nach Freiburg zu steiler werden und mit Weinbergen geziert sind, welche in guten Jahren kein eben schlechtes Product liefern. Oben auf der Höhe von Freiburg befindet sich der sogenannte Edelacker, welchen Landgraf Ludwig von Thüringen von seinen Edelingen einst hatte beackern lassen, um sie wegen ihrer Erpressungen und Mißhandlungen wehrloser Unterthanen zu züchtigen. Das Thal, in welchem die Saale fließt, erweitert sich nach dieser Seite hin allmälig und verengt sich wieder bei Schulpforta. Jetzt zieht sich die Eisenbahn durch dasselbe. Nach der andern Seite öffnet sich ebenfalls ein freundliches Thal, das an beiden gegenüberstehenden Seiten von Anhöhen begrenzt wird, so daß sich, wenn man das Gesicht der Stadt zuwendet, ein reiches Panorama bietet. Die Burg Goseck, oben in dem Theile des Saalthals nach Weißenfels zu, und schräg gegenüber, aber näher liegend, die Ruinen der alten Schönburg auf bewaldeter Höhe bieten einen höchst romantischen Schmuck der lieblichen Landschaft.

Einen etwas erhöhten Punkt, dicht am Ufer der Saale in der nächsten Nähe des Gasthofs hatte sich die Königin erkoren; er war ihr Lieblingsplatz, auf dem sie stets ausruhte. Er erhielt deshalb den Namen „Louisenplatz“ und wurde mit Pappeln umpflanzt. Ob er vielleicht in der Folgezeit noch einen andern Ausschmuck erhalten hat, weiß ich nicht, da bei weitem mehr als ein Menschenalter verstrichen ist, seit ich Naumburg nicht wieder gesehen habe; doch vermuthe ich es gewiß nicht ohne Grund, da solche Traditionen durch die Zeit geheiligt werden. Noch immer schwebt mir das Bild der holdseligen Königin vor Augen; ich sah sie mehrmals, aber das Gesicht mit einem weißen Tuche verbunden, indem sie, wie man sagte, gerade häufig an Zahnschmerzen litt, und doch so mild und freundlich auf die ihr Begegnenden schaute.

Der König brach nach einigen Tagen mit seinen Garden auf und verlegte sein Hauptquartier zuerst nach Weimar und von da, am 13. Oct., nach Auerstädt. Allein es folgten noch stets Durchmärsche einzelner Truppenabtheilungen durch Naumburg. Zuletzt kam ein Corps Pontonniers, und die Pontons wurden auf dem weiten Platze vor dem Schützenhause aufgefahren. Da gab es wieder etwas zu schauen, denn solche Maschinen waren Keinem von uns je noch zu Gesichte gekommen. Allein die Schildwachen hielten eben so streng, wie es früher bei der Parade in der Stadt geschehen war, Alles fern, was sich nahen wollte, diese Pontons sich genauer anzusehen, wie wenn es gegolten hätte, die Geheimnisse einer Festung vor neugierigen Blicken zu hüten, welche die schwächsten Punkte ausspähen wollen, wo sie sich am leichtesten angreifen läßt.

In dem Hause meiner Eltern lagen ein paar solche Pontonniers, und so benutzte ich die Gelegenheit, wo Einer derselben Schildwache zu stehen hatte, um meine Neugier zu befriedigen. Es war der Nachmittag eines Sonntags. Die Nachricht von dem unglücklichen Gefechte bei Saalfeld war durch einige flüchtige Sachsen und Preußen nach Naumburg gelangt, jedoch wagte man kaum öffentlich davon zu sprechen. Auch verbreitete sich bereits die Sage, daß die Franzosen bei Hof ständen und die Preußen auch dort hätten zurückweichen müssen. Da diese Gerüchte immer lauter geworden waren, so theilte ich sie dem mich begünstigenden Pontonnier mit.

„Ach! jehn Sie mich weg!“ war seine Antwort, „das ist eine infamige Lüge. Unser König hat enen Cordon jezogen, wo keene Maus durch kann. Und wenn die Franzosen auch kämen – laßt sie man kommen! Wir sein auch da! Sechs solcher Kerrels zum Morgenbrote! Wofür hätten wir denne so lange Bajonnette?“

Und so renommirte der Held weiter fort. Aber da erhob sich auf einmal um die Stadt her auf der Heerstraße, welche dort an den Wallgräben und Spaziergängen sich vorüber zieht, ein gewaltiger Staubwirbel. Trainknechte mit ihren Pferden kamen im vollen Jagen gesprengt, und auf den Schießplatz zu. Die Pontons wurden eiligst fortgefahren und mein Preuße lief, was er laufen konnte, um aus seinem Quartiere seine Sachen zu holen und sich mit den Anderen auf die Flucht zu begeben. „Die Franzosen kommen! Sie sind schon eben über dem Buchholze! Ein Bauer hat sie gesehen und ist mit Noth und Mühe ihnen entgangen!“ so lautete die neue Schreckenskunde.

Ich eilte zurück in die Stadt. Von dem Thurme der St. Wenzel’s- oder Stadtkirche (im Gegensätze zu andern Kirchen, dem Dome u. s. w. so genannt) mußte man sehen können, was draußen auf den Höhen passirte, das wußte ich, und so wurde, ohne lange zu überlegen, der Thurm erstiegen. Und da sahen [599] denn meine eigenen Augen, daß die Aussage des Bauers auf Wahrheit beruhte.

Südlich von der Stadt erhebt sich nämlich eine Anhöhe, deren oberster Theil mit Wald bewachsen ist, welcher das Buchholz heißt. Dort oben erblickte ich nun zuerst schwarze Massen, welche unbeweglich schienen, allein bald durch das Blitzen der Waffen, und als sie langsam weiter vorwärts rückten, sich als ein starkes Corps Infanterie verriethen, an dessen Flanken jedoch sich auch einige Reiterei zeigte. Nicht lange währte es, so trennten sich ein paar Reiter von ihrem Corps los und jagten nach der Stadt zu. Mittlerweile hatten einige jener von Saalfeld versprengten Preußen und Sachsen die kühne Idee gehabt, das Salzthor zu schließen, durch welches der Feind zunächst einrücken mußte, und sich mit geladenen Gewehren dahinter zu postiren. Der erste sich nähernde französische Husar erhielt einen Schuß und ergriff die Flucht; allein man eilte dem Verwundeten nach und nicht gar weit von der Stadt wurde er von seinen Verfolgern eingeholt und bezahlte sein Wagniß mit seinem Leben. Die Behörden hatten wahrscheinlich von dem tollkühnen Unternehmen der Flüchtlinge Kenntniß erlangt und so wurde das Thor wieder geöffnet.

Ich war noch immer auf meinem Beobachtungsposten geblieben und erfuhr dieses Ereigniß erst später.

Da der erste Franzose nicht zurückkehrte, so setzten sich, wie ich bemerkte, zwei bis drei andere Reiter in Bewegung und diesmal gelangten sie ungefährdet zur Stadt. Bald darauf sah ich den Einen derselben mit dem Säbel im Munde und die gespannte Pistole in der Hand ventre à terre über den Marktplatz und nach dem entgegengesetzten Thore zu sprengen. An den Windmühlen, wo die preußischen Heumagazine aufgethürmt lagen, angelangt, machte er Halt, sah sich nach allen Seiten hin um und jagte dann eben so schnell wieder zurück, um zu rapportiren.

Nun rückten die Franzosen der Stadt schnell näher. Es war, wie man bald erfuhr, das Davoust’sche Korps, die sogenannte Löffelgarde, so genannt, weil die Soldaten auf ihren Hüten fast alle dieses unter den civilisirten Nationen zum Essen nothwendige Utensil trugen. Dieses Korps war, wie es hieß, gegen 60,000 Mann stark, doch war diese Angabe wohl etwas übertrieben.

Der Unfall, welcher den ersten abgesandten Reiter betroffen hatte, hätte der Stadt sehr zum Verderben gereichen können und nur mit großer Mühe und mit bedeutenden Geldkosten war es, wie man später sagte, der Behörde gelungen, die Wuth der Franzosen zu beschwichtigen, welche den Tod jenes Mannes den Bürgern zur Last legen wollten, welche in ihrer Bestürzung doch nicht im Geringsten an einen so wahnsinnigen Widerstandsversuch gedacht hatten.

Ehe noch die feindlichen Schaaren in Masse angerückt waren, hatte ich meinen Beobachtungsposten verlassen und war glücklich in meinem elterlichen Hause angelangt, wo man meinetwegen in großer Angst geschwebt hatte.

Jetzt folgten böse Tage.

Das französische Heer lagerte theils auf den Höhen vor der Stadt, theils in deren unmittelbarer Nähe. Da wegen der Menge an eine regelmäßige Einquartierung der Soldaten gar nicht zu denken war, so erhielt nur ein Theil des Offizierkorps Quartiere in der Stadt. Es war Nacht geworden. Ueberall brannten in der Vorstadt dicht vor den Häusern Wachtfeuer, zu welchen eingerissene Ställe und die Bäume der Allee das Material lieferten. Nachdem die Soldaten sich so vorläufig eingerichtet und jeder Einzelne einen Lagerplatz gefunden hatte, fingen sie aber an, durch die Stadt zu streifen, um in die Häuser einzubrechen und zu plündern. Wildes Geschrei ertönte von allen Seiten. Wo diese Herumstreifer Platz fanden, da nahmen sie sich nun selbst Quartier, und wenn die Hauseinwohner nicht gemißhandelt sein oder vielleicht gar ihr Leben einbüßen wollten, mußten sie Alles hergeben, was sie hatten. – Das Haus, welches meine Eltern bewohnten, lag ebenfalls in der am meisten bedrohten Gegend der Vorstadt. Die Thüre wurde von uns verbarrikadirt, und die Fensterladen des untern Stockes fest verschlossen. In dem zweiten hielten wir uns auf, aber auch hier wurden die Fenster durch Decken und Teppiche dicht verhängt, so daß vom brennenden Lichte von außen nichts zu sehen sein konnte. Da das Haus alt und unscheinbar war, so erschien es auf diese Art als ein unbewohntes und wir entgingen in der That der Einquartierung und Plünderung. Zwar donnerten einige Male Kolbenstöße gegen die Hausthüre, allein da sie fest war, so widerstand sie und die ungebetenen Gäste zogen weiter, um anderswo sich Eingang zu verschaffen, wo sie sich mehr versprachen als in einem verlassen scheinenden Hause.

Unser sehr einfaches Abendbrot genossen wir stehend hinter dem Ofen an der sogenannten Röhre, d. i. an dem Raume, welcher im Winter dazu dient, den Kaffee u. s. w. warm zu halten und wohin wir eine kleine Lampe gesetzt hatten, welche auf die nächste Umgebung einen matten Schimmer warf. An Schlafengehen war unter solchen Umständen gar nicht zu denken.

Die Nacht und der folgende Tag vergingen uns unter Angst und Sorge bei kaum nothdürftiger Kost, da man nicht wagte, Feuer anzuzünden, um nicht durch den Rauch aus dem Schornsteine das Haus als ein bewohntes erkennen zu lassen. Am Dienstage war eine Art von Ruhe eingetreten; es war geplündert worden, was zu plündern war und die Soldaten waren im Besitze der Stadt, in der sie es sich so wohl sein ließen, als sie nur immer konnten.

(Schluß folgt.)





Neapel und seine Zustände.

Nach dem Urtheile von Reisenden, die alle Schönheiten der Erde sahen, gibt es nichts Herrlicheres auf dieser Welt, als an einem warmen, tiefblauen und goldglühenden Abende zwischen den Vorgebirgen Miseno und Campanella und den Inseln Capri, Ischia und Procida in den Golf von Neapel hineinzusegeln und den den blauen und goldenen Himmel abspiegelnden Hafen eingerahmt vor sich zu sehen mit farbigen Bergen und helllachenden Villen aus dunkelm Laube, dem stolzen Häuser- und Palastmeere Neapels. Die Neapolitaner meinen, wenn sich der liebe Gott einmal einen recht guten Tag machen wolle, so lege er sich an sein offenes Himmelsfenster und blicke herunter auf sein schönes Napoli. Und wohl ist es schön und wunderbar. Aber es ist eine Schönheit, die „fernt.“ Die herrlichste Lage in der Mitte des himmlischen Hafens hinauf, die warme, klare, in blauen, rothen und goldenen Hauchen auf Bäumen und Bergen spielende Luft, der in ein großes Gesammtbild verschwebende alte, mittelalterliche Glanz geben dieser unglückseligsten Stadt den bezauberndsten Anblick aus der Ferne. Aus der Ferne! Die schönste und volkreichste Stadt Italiens mit mehr als 50,000 Häusern und einer halben Million Bewohnern ist der Centralpunkt der äußersten Konsequenzen eines unglücklichen Regierungssystems, nach allen Seiten starrend von Bayonnetten von grausamen Eisenbayonnetten der Schweizersoldaten, der jetzt bewaffneten Lazzaronihefe und stechender Polizei- und Spionenblicke. Was waren die Berliner giftig und witzig, als sie ein paar Dutzend Wasserkonstabler auf die Spree bekamen! Hier im himmlischen Hafen von Neapel und um das ganze Königreich beider Sicilien schwärmt eine ganze Flotte von Polizei mit blaßrothen Flaggen, um auf materielle und ideelle verbotene Waaren zu fahnden. Und verboten ist fast Alles. Unter einer Doppelreihe stechender Blicke landet der Fremde und wird sofort von einer kleinen Polizeiarmee umringt, die sich seiner Person und aller seiner Sachen bemächtigt. Beide werden ingrimmig und genau untersucht und alles Verdächtige weggenommen. Bücher namentlich werden immer weggenommen, vor ein geistliches Tribunal gebracht und von da in der letzten Zeit nie zurückgegeben, schon deshalb nicht, weil unzählige Tausende von Büchern im Zollhause liegen, welche das geistliche Zolltribunal nicht bewältigen, nicht censiren kann, weil es nichts davon versteht. Blos einmal bekam ein Engländer den bei 25 Jahre in Eisen verbotenen „Don Juan“ von Byron ohne nähere Untersuchung mit der gelehrten Bemerkung wieder: „Lexikon!“

Von welcher Seite und mit welchen Augen man es auch

[600]

Neapel von Seeseite.
Castello dell’ Uovo. Königliches Residenzschloß. Castello nuovo. St. Elmo.

[601] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt. [602] betrachte, Neapel gibt den Eindruck einer großen “Stadt im vollsten Sinne des Wortes. Nichts ist unscheinbarer als die Front, welche Neapel nach der Straße von Capua macht, und gleichwohl wird man auch auf dieser Straße schon von weitem gewahr, daß man eine Weltstadt vor sich hat; ein solches Gewimmel des Verkehrs, wie es sich auf diesem breiten stattlichen Pflaster bewegt, kann nur von einem Orte ausgehen, der durch Volksmenge und Reichthum einen Platz einnimmt, wie er nur wenigen Städten der Erde gegeben ist. Kaum hat man das Thor hinter sich, und wäre es auch das der entlegensten Vorstadt, so vervielfältigen sich die Kennzeichen des großstädtischen Lebens, Kennzeichen, welche oft weder einen Namen haben, noch sich beschreiben lassen, die aber trotz ihrer schwer greifbaren Natur für ein geübtes Auge untrüglich sind. Wer den Toledo, den Schloßplatz und Chiaja durchwandert, dem wird, wenn er an das vielleicht einmal gesehene Rom zurückdenkt, „die Hauptstadt der Welt“ (so lieben die Römer ihre Heimat zu tituliren) vorkommen wie „ein hinter der Kultur der Zeit zurückgebliebenes Dorf“ Rom ist eine ehrwürdige Matrone, welcher man eigentlich nur aus Dankbarkeit, oder wohl gar blos aus alter Gewohnheit den Hof macht; Neapel ist das jugendlich-üppige Weib, falsch aber schön, mit lügnerischen Rosenwangen angethan, trotz des fressenden Giftes in seinen Adern.

Von der Seeseite her, oder von irgend einem Punkte seines eigenen Ufers aus gesehen, erscheint Neapel noch weit größer, als es ist. Von Posilipo bis Torre del Greco in einer Ausdehnung von wenigstens vier Stunden, zieht sich um den Rand des Golfes eine Kette von großen und kleinen Ortschaften, welche untereinander und mit Neapel so eng zusammenhängen, daß kein Zwischenraum die verschiedenen Ortsgebiete auch nur errathen läßt; der ganze ungeheure Halbkreis, vom Fuße des Camaldulenserberges bis zum Fuße des Vesuv, bildet für das Auge nur eine einzige prächtige Stadt. In der Ebene, welche zwischen diesen beiden Bergen an das Meer stößt, liegt die Hauptmasse des eigentlichen Neapel, während Vorstädte, Landhäuser, Lustschlösser und Kastelle bis zu einer beträchtlichen Höhe des Camaldulenserberges hinaufsteigen.

Der Kern der Stadt, das alte Neapel, ist eng gebaut und finster, aber von geradlinigen Straßen durchschnitten, reich an stattlichen Wohngebäuden und selbst in seinen entlegensten und ärmsten Theilen ohne Spur jenes Anstrichs von Verfall und Verödung, welcher wenigstens fünf Sechstheile Roms charakterisirt. Die entferntesten Winkel der Stadt sind belebt, überall herrscht die Bewegung und der Lärm des Verkehrs oder des Müßigganges; die Ruhe, die Stille, die Einsamkeit haben innerhalb der Mauern Neapels keine Stätte. In den jüngern Stadttheilen gibt es einige Straßen und Plätze, in welchen Eleganz und Geschmack mit einer seltenen architektonischen Pracht vereinigt sind; was aber Neapel vor allen Städten der Welt voraus hat, das ist seine Riviera die Chiaja – eine endlose Reihe von Palästen nach dem Meer zugekehrt, von welchem sie durch die köstlichen Anlagen der Villa Reale getrennt sind, eines öffentlichen Spazierganges, dessen Schönheit Bewunderung erregen würde, auch wenn er nicht der einzige wäre, den Neapel besitzt. Wenn man die Länge der Pariser Rue Tivoli verdoppelt, wenn man die sternenartige Einförmigkeit ihrer Häuser durch geschmackvolle Mannigfaltigkeit ersetzt, wenn man überdies die Seine zum Meere erweitert und auf der andern Seite einen prachtvoll decodierten Felsenberg aufgepflanzt, alsdann hat man ein Bild, welches der Chiaja einigermaßen ähnlich sieht. Ein endloser Strom von Wagen und Rossen braust über die wohlgeformten blanken Lavaplatten dahin, welche die ganze Breite der Chiaja wie aller andern neapolitanischen Straßen ausfüllen, die vergoldete Jugend, zahlreicher und prunkhafter als an jedem andern Orte, trägt früh und spät ihre feinen Gesichter und ihren Müßiggang zur Schau, von den benachbarten Höhen grüßt ein tausendfarbiger Frühling in die glänzende Stadt herunter, und der Himmel lächelt der Welt und den Menschen mit der Miene göttlicher Seligkeit.

Der Schloßplatz und noch einige andere Palaststraßen sind prächtig. Auch der Largo di Monte Oliveto hat seine Schönheiten, seinen Springbrunnen und eine Bronzestatue Karl’s II., nicht minder der, Heiligegeistplatz (Largo dello Spirito santo) mit einem halbrunden, reich mit Statuen geschmückten Prachtbau zu Ehren Karl’s III. Auf dem größten von allen, Largo del Mercato, zeigt man noch jetzt die Stelle, wo der letzte des berühmten deutschen Kaisergeschlechts der Hohenstaufen, Konradin, enthauptet ward. „Das Glück war niemals mit den Hohenstaufen,“ singt Raupach. Sie hatten das Unglück, in Neapel und sonst von Bourbonen verdrängt, und das noch größern, von Raupach besungen und von Herrn von Raumer in endloser Gelehrsamkeit und unausstehlicher „Klassicität“ beschrieben zu werden.

Die Hauptmerkwürdigkeiten Neapels bestehen neuerdings in Festungen, Gefängnissen, Kirchen und Klöstern, in eingekerkerten Bibliotheken hier von 150,000, dort von 100,000, anderswo von 50,000 Bänden, mit berühmten alten Manuskripten und Büchern, die aber Niemand an’s Tageslicht ziehen darf, weil darin, in Büchern vor Jahrhunderten und Jahrtausenden geschrieben, etwas Mißliebiges stehen könnte. Der Hauptfortifikationen gibt es sechs, darunter besonders die sechseckige Sternenschanze St. Elmo, von einem Hügel oben die ganze Stadt mit Kanonenaugen überwachend, mit in Felsen gehauenen Schlupfwinkeln, Gräben, Minen, die bis weit in die Stadt hineinlaufen sollen, Kasernen, Pulver- und Kugelfelsenkellern, kurz mit Allem, was zur Aufrechthaltung der „Ordnung und Ruhe“ nöthig ist. Auch die neue Festung (Castello nuovo) am Hafen und neben der Wohnung des herrschenden Bourbonen, und das auf einer Erdzunge weit in den Hafen hinausdrohende Castello nuovo und andere Festungen in der Nähe und Ferne gegen Feinde von Innen und gegen Feinde von Außen sind nicht schlecht mit Schweizern, Kugeln, Kanonen, Felsenwänden und schwarzen, drohenden Löchern versehen. Und das Alles in einer Gegend, die von Gott dazu gemacht scheint, nur Glück und Freude zu sehen.

Aber die Menschen, nur mit dem Blicke der Trauer können sie jenen tausendfarbigen Frühling und das Lächeln des Himmels erwiedern, und ihr Herz verschließt sich krampfhaft gegen die freundliche Ansprache der Natur. Ich spreche nicht von dem gedankenlosen Pöbel, nicht von den Sclaven des Herkommens und der Selbstsucht, ich spreche nicht von Diplomaten, Schweizerofficieren und andern Spekulanten, – ich spreche von Leuten, welche es nicht verstehen, ihr kostbares Ich und seine Genüsse loszulösen von dem Schicksale ihrer Umgebung, von Leuten, die am wenigsten gelernt haben, fremden Jammer auszubeuten zu eigenem Gewinn, ich spreche, wie gesagt, von Menschen, die diesem Namen keine Schande machen. Wer menschlich empfindet, der kann nur trüben Auges in die Pracht dieser Scenerie hineinschauen, der athmet die neapolitanische Frühlingsluft nur mit beklemmter Brust. In diesem paradiesischen Lande, welch ein unglückliches Volk, unglücklich durch ein verhaßtes Regiment, unglücklicher noch durch die eigene Entartung!

Entartung ist indessen wahrscheinlich nicht das rechte Wort, denn seit die Geschichte die Neapolitaner kennt, waren es immer so ziemlich die nämlichen Leute, schlechte Soldaten, schlechte Bürger, schlechte Arbeiter und bei großer Feinheit des Geistes und vielen liebenswürdigen Eigenschaften Menschen von unzuverlässigem Charakter und mehr als zweifelhafter Sittlichkeit.

Ist es das Blut, welches in ihren Adern fließt, ist es die Sonne, die über ihren Häuptern scheint, ist es ein geschichtliches Verhängniß – die Neapolitaner waren von jeher ein bedauernswerthes und gering geachtetes Volk, heute die Beute des ersten besten Eroberers, morgen die Sclaven eines einheimischen Despoten, unabhängig von fremder Herrschaft nur für kurze Augenblicke, bürgerlich frei niemals, aber unablässig gequält von dem ohnmächtigen Verlangen nach einer Nationalexistenz und nach einem gesicherten Rechtszustande. Welches europäische Volt hätte nicht einmal in Neapel geherrscht! Am heutigen Tage sind die Schweizer die Meister von Neapel; drei oder vier schweizerische Regimenter behaupten gegen Millionen Neapolitaner das Gesetz des Absolutismus, welches ohne ihren Schutz von einem Tage zum andern wie Glas zertrümmert werden würde.

Die Neapolitaner haben sich in einzelnen Fällen ausgezeichnet gut geschlagen, aber sie sind nichtsdestoweniger kein tapferes Volk, und der Mangel an Herzhaftigkeit ist allem Anschein nach die nächste Quelle alles ihres Unglückes. Vergebens beruft man sich zur Abwehr jenes Vorwurfs auf den wilden Aufstand gegen die Spanier, auf die wüthende Vertheidigung gegen Championnet – auch der Hindu, das sanfteste, friedfertigste aller menschlichen Wesen, kann durch die Verzweiflung zu einer Gegenwehr aufgestachelt werden, welche dem Heldenthumne ähnlich steht, aber der [603] Hindu ist kein tapferer Mann, und darum war sein Land und seine Freiheit von jeher die Beute des ersten Räubers, der die Hand danach ausstreckte. Ein berühmter Neapolitaner, selbst einer der wackersten Soldaten dieser Tage, und ein Patriot, wie ich deren meinem eigenen Vaterlande viele wünschen möchte, der General Pepe, wendet in allen seinen Schriften die rührendste Beredtsamkeit auf, um seine Landsleute von dem schmählichen Verdachte der Feigheit zu befreien, der in den Augen von ganz Europa auf ihnen liegt; aber die Thatsachen kommen immer von neuem, das herrschende Urtheil, welches Pepe ein unbegreifliches Vorurtheil nennt, aufzufrischen und zu bestärken. Nochmals weise ich darauf zurück, einige tausend Schweizer genügen, um den Thron eines Königs zu halten, welcher von der großen Mehrzahl des neapolitanischen Volkes mehr als nicht geliebt ist.

Die Bevölkerung der Hauptstadt besteht der Masse nach aus Menschen von unansehnlichem Wüchse, unter denen die männliche Schönheit nicht häufig, und die weibliche ganz ungewöhnlich selten ist. Die Männer der höheren Stände stellen sich im Allgemeinen recht vortheilhaft dar, und wie schon oben bemerkt, gibt es unter ihnen viel Leute von sehr feiner Miene, während die Frauen bis in die höchsten Kreise der Aristokratie hinauf mit jeder Art von körperlichen Reizen sehr kärglich ausgestattet sind.

Ueber die Vertheidigungskraft Neapels läßt sich wenig sagen. Die Stadt selbst, an ihrem Golfe, hat eine keineswegs gute strategische Lage; es kann leicht bedroht werden, ohne dagegen Vorsichtsmaßregeln treffen zu können. Eine Flotte vor Neapel genügt, um dasselbe zu vernichten oder die Regierung zum Nachgeben zu zwingen. So geschah es 1793. Als im Jahre 1805 Joachim Murat zu Lande den Oesterreichern gegenüberstand, erschien der Kommodore Campbell vor Neapel und zwang die Regentin zur Uebergabe der Flotte. Hat sich die Flotte Neapels seitdem auch vergrößert, so bietet doch der Hafen durch seine geringe Ausdehnung zu wenig Schutz, und zudem sind alle Marineetablissements bei Neapel oder bei Castellamare dem Feuer des Feindes preisgegeben. Die Küstenvertheidiguug durch Batterien ist gering; ein Inbrandstecken nicht allein der Stadt, sondern auch der Schiffe selbst ist sehr leicht auszuführen. Der Umstand, daß alles Kriegs- und Marinematerial in und um Neapel angehäuft ist, muß für die Vertheidigung des Landes ungemein schädlich sein, weil der Fall dieses einen Platzes jeden weitern Widerstand bricht. Man wollte diesem Uebelstande durch Herrichtung des kleinen Averner- und des Lucrinersees zu Militairhäfen abhelfen; allein diese Arbeiten können, als noch nicht weit genug vorgeschritten, für jetzt noch von keinem Nutzen sein. Die vorliegenden Punkte des Golfs bieten viel eher dem Angreifer Anhaltepunkte als dem Vertheidiger. Die Befestigungsarbeiten auf Capri, der südlichen vorspringenden Insel, sind unbedeutend und vermögen das Eindringen einer Flotte in den Hafen ebenso wenig zu hindern wie die Inseln Ischia und Procida. Die Vertheidigung zu Lande (einen Angriff von Seiten des Volks angenommen) ist nur dann möglich, wenn sie sich auf die Hauptstadt stützt, unmöglich aber, wenn diese selbst von der See her bedroht ist; denn sie ist der Mittelpunkt der Vertheidigung und ihr Verlust liefert alle Vertheidigungsmittel in die Hände der Angreifer. Die Vertheidigungswerke des ganzen Königreichs sind an sich von keiner großen Bedeutung, obgleich in letzter Zeit unendlich viel gethan ist, alle Küsten mit Kanonen und Batterien bespickt sind und das Land von Soldaten wimmelt, aber es reicht nicht aus, nicht einmal gegen das Volk des Festlandes, so sehr übrigens das Land selbst einer nationalen Vertheidigung fähig wäre. Man denke an die häufigen und raschen Wechsel der Schicksale des Königreichs schon in den frühesten Zeiten, die bei richtiger Vertheilung des Materials und bei Erweiterung der Operationsbasis nach Tarent und Otranto nicht möglich gewesen wären.




Blätter und Blüthen



Griechische Ehen. Der französische Arzt Weynard macht uns in seiner unterhaltenden Beschreibung einer Fahrt von Marseille nach Sebastopol mit folgendem Original bekannt:

„Einer der Dalmatier oder, genauer, Ragusaner, die auf unserem Dampfschiffe dienten, ein schöner junger Mann von herkulischer Gestalt, erhielt am Piräus, dem Hafen von Athen, Erlaubniß, an das Land zu gehen. Diese Vergünstigung, welche allen seinen, mit dem Ausladen der Güter, Einnehmen von Kohlen u. s. w. beschäftigten Kameraden verweigert wurde, hatte er seiner Eigenschaft als Gatte und Vater zu danken. In der That wäre es auch allzuhart von dem Kapitain gewesen, wenn er diesen armen, von Wind und Wetter umhergetriebenen Ehemann jetzt, wo ein glücklicher Ungefähr ihn in die Nähe seiner Lieben brachte, erbarmungslos hätte am Bord halten wollen. Jubelnd eilte der schmucke Ragusaner einem weißen Häuschen zu, das er uns bereits auf den Höhen als das seine bezeichnet hatte. Vielleicht sollte er Frau und Kind zum letzten Male umarmen! Als ich von meinem kurzen Ausfluge nach Athen zurückkehrte, fand ich ihn am Strande, auf das Boot wartend, das uns auf das Schiff bringen sollte. Er war jedoch nicht mehr allein. In Gesellschaft eines auffallend schönen jungen Weibes lehnte er an der Laffette einer alten Kanone. Ein munterer kleiner brauner Junge saß auf seinem rechten Arme und mit dem linken hielt er seine Frau umschlungen, die bitterlich weinte, während er mit vorgebeugtem Haupte ihr süße Trostesworte zuflüsterte. Es währte nicht lange, so kam unser Boot, und ich setzte mich ein, ohne es zu wagen, den traurigen Abschied des armen Matrosen zu unterbrechen, der in seinem Schmerz nicht nur unser Schiff, sondern die ganze Welt vergessen zu haben schien. Der Bootsmann jedoch, ungeduldig über den Aufenthalt, mahnte ihn etwas rauh an seine Pflicht. Er mußte gehorchen und wir stießen vom Lande, während das junge Weib, vom Schluchzen schier erstickend, rettungslos am Ufer stehen blieb. Das Kind an die Brust gedrückt, verfolgte sie uns mit den Augen, bis wir hinter den Fahrzeugen auf der Rhede verschwanden. Es verletzte mich etwas, als ich aus meiner Runde am selben Abend den Ragusaner mitten unter den Sorglosesten und Lustigsten des Vorderkastells traf. – Ich hatte den Vorfall bereits vergessen, als sich zwei Tage darauf bei unserer Ankunft in Constantinopel derselbe Ragusaner vor dem Offizier der Wache präsentirte, mit der Bitte, landen zu dürfen. – „Und wozu?“ frug der Lieutenant. – „Um meine Frau und Kinder zu umarmen.“ – „Ei, sieh doch! Die Frau Gemahlin sind ja in Piräus.“ – „Verzeihen Sie gütigst, sie ist in Galata.“ – „Nun, dann laß sie nur dort. Unverschämtheit! Ich verbiete dir, das Schiff zu verlassen.“ – Der Matrose ging ohne Murren wieder an seine Arbeit, und ich lachte mit dem Offizier über die plumpe Lüge. Zwei Stunden nach dem mißlungenen Versuche kehrte nichtsdestoweniger der Ragusaner zum Angriff zurück. Er wiederholte seine Bitte. Er wünsche seine Frau und Kinder zu sehen, und zum Beweis der Wahrheit seiner Aussage berief er sich auf das Zeugniß eines Commis unseren Schiffsagenten, der soeben an Bord gekommen war. Der Commis bestätigte auch, daß er eine Frau mit 3 oder 4 Kindern in Galata habe. – „Aber sind Sie auch gewiß,“ frug der Lieutenant, „daß sich dieses Weib und diese Kinder gegenwärtig in Galata befinden? Es sind ja noch nicht 3 Tage her, daß er in Piräus die Pflichten eines Familienvaters erfüllte.“ – „Nun, so hat er eben dieselben Pflichten auch hier zu erfüllen,“ erwiederte der Commis, „denn erst vor 5 Minuten sah ich seine Frau. Sie weiß, daß Ragusaner auf unserem Schiffe dienen und bat mich, wenn ihr Mann am Bord sei, ihm die Erlaubniß zum Landen auszuwirken. Da ist er, ich kenne ihn. Er sprach die Wahrheit, und ich bitte Sie, den armen Teufel gehen zu lassen.“ – „Nun, der Merkwürdigkeit halber will ich es gerne gewähren. Ich wußte wohl, daß hier zu Lande die Vielweiberei üblich sei, aber nicht, daß sie in dieser Weise getrieben wird.“ – Der triumphirende Ragusaner ging, eine zweite Reihe seiner Gatten- und Vaterpflichten zu erfüllen. Der Zufall wollte diesmal nicht, daß ich seine Frau No. 2 zu sehen bekäme, allein ich verlor nichts beim Warten. Wir trafen gegen zwei Uhr nach Mittag vor Varna ein. Unser Bigamist präsentirte sich abermals vor dem Wacht-Offizier mit dem alten Gesuch von Piräus und von Stambul. – „Was! Du bist auch hier verheirathet, zum dritten Male?“ – „Ja, Herr Lieutenant, wenn Sie erlauben.“ – „Na, Glück auf mein hübscher Bursche!“ – Und der Sultan des Vorderkastells zog zum dritten Male mit fliegenden Fahnen aus. Diese Art von Verbindungen sind im Mittelmeere als „Griechische Ehen“ bekannt und nicht ungewöhnlich. Sie gelten zwar nicht als gesetzlich, allein die Religiosität der griechischen Mädchen verlangt es doch von ihren Matrosenliebhabern, daß sie sich bei einer ordnungsmäßigen Trauung mit ihnen hinter dem Brautpaare in die Kirche stehlen, wo sie dann die am Altare vorgehende religiöse Ceremonie auf ihr eigenen Verhältniß beziehen.






„Aus Herders Nachlaß“ heißen drei dicke Bände, die eben bei Meidinger in Frankfurt erschienen sind. Sie enthalten einen Schatz interessanter, zum Theil wichtiger Briefe von Goethe, Schiller, Klopstock, Herder, Claudius, Jean Paul u. s. w. von hohem Werth als Beiträge zur Kenntniß der merkwürdigen letzten Hälfte des vorigen Jahrhunderts, so wie der Personen, die hervorragend in derselben auftreten. Eine erquickliche Frische athmen namentlich die hundert Briefe Goethe’s, unter denen sich auch einer in derben Knittelversen über die Berufung Herder’s als Generalsuperintendent nach Weimar befindet.

Aus dem 3. B. (Briefwechsel Herder’s mit seiner Braut) lernen wir die Zeit der schwärmerischen Empfindsamkeit und zwei neue Freundinnen Goethe’s kennen. Auch erfahren wir, daß an diese zwei seiner Gedichte gerichtet sind, die man bis jetzt, weil man sie nicht andern deuten konnte, auf Lotte Buff (Werther’s Lotte) in Wetzlar bezogen hat. Es sind Lila, Fräulein von Ziegler, Hofdame bei der Landgräfin von Homburg und Uranie, Fräulein von Roussilon, Hofdame der verwitweten Herzogin [604] von Zweibrücken (in Darmstadt). Ueber die erstere schreibt Herder’s Braut Caroline Flachsland am 6. Febr. 1772: „ich habe mit einem Mädchen meines Alters das Bündniß der schönsten Freundschaft mit Thränen geschlossen. Sie ist das empfindungsvollste, edelste, schönste Herz als ich je ein Mädchen gesehen, das erste, das ich so mit meiner ganzen Liebe umfasse. Sie hat mir an meinem Geburtstage ein blaues Herzchen an einem weißen Unschuldsbande zum Band unserer Freundschaft geschickt. Wir haben uns einige Tage vorher in Merk's Stube kennen gelernt oder vielmehr gesehen. Wie zwei Kinder, die sich lange nicht gesehen, haben wir einander umarmt und so den ganzen Tag über geschwärmt. Beim Abschied war sie zum Ersticken bewegt, während ich weinen konnte; ihre Augen schienen, wie die einer Sterbenden, in den Himmel zu wollen. Merk sagte mir, er habe sie mit dem äußersten Zittern die Treppe hinuntergeführt. Sie ist ein süßes schwärmerisches Mädchen, hat ihr Grab in ihrem Garten gebaut, einen Thron in ihrem Garten, ihre Lauben und Rosen, wenn’s Sommer ist, und ihr Schäfchen, das mit ihr ißt und trinkt. Wir werden uns oft schreiben … Sie lebt sehr einsam in Homburg und das macht ihr das Herz so gepreßt und voll, daß sie sich an jeder guten Seele, die sie findet, ordentlich wie anklammert. So ging es ihr mit einem Herrn von Rathsamhausen, Hofmeister beim Erbprinzen in Darmstadt. Er ist ein ehrlicher guter Mann mit recht viel Empfindung, aber wegen des armen Mädchens war er sehr verlegen, weil sie den Weg der Liebe ging und er sie doch niemals heirathen kann. Die arme Lila!“ – Als Goethe Anfang April 1772 in Darmstadt war, wurde ihm von dem „Lilamädchen“ erzählt und als er gegen Ende des Monats wiederkam, fand er die süße Schwärmerin auch da. Im Mai darauf sah er sie nochmals und er las die Geschichte des armen Lefebre in „Tristram Shandy’“ vor. Sie gab der Freundin Blümchen aus ihrem Garten, die diese in Norik’s „empfindsame Reisen“ legte. – „Wenn Goethe,“ schreibt sie an Herder, „von Adel wäre, so wollte ich, daß er sie vom Hofe wegnähme, wo sie auf unverantwortliche Weise verkannt wird. Aber so geht’s nicht. Sie wären einander werth.“ Einige Tage später schickte sie Herdern die Gedichte Goethe’s „Elysium“ und „Morgenlied“ und setzte hinzu: „sie beziehen sich fast ganz auf die Zeit, wo er Uranien und Lila zum ersten Male sah.“ Er selbst hatte sie an Lila geschickt und zwar von Wetzlar aus. Sie passen vollkommen zu der schwärmerischen Empfindelei, von der wir so viel hören.

Als Lila wieder von der Freundin scheiden und nach Homburg zurückkehren mußte, hatte sie den Muth nicht, Abschied zu nehmen. „Sie schickte mir,“ schreibt Herder’s Braut, „eine Blume, die französisch Lilas heißt. Ich habe sie etliche Male ganz allein in unserem Hause gesprochen. Wir saßen beisammen auf einem Sopha und erzählten uns die Geschichte unserer Herzen. Herr von Reutern, ein Lievländer, war der erste Freund ihres Herzens. Sie sah und lernte ihn kennen vor dritthalb Jahren in Homburg; sie liebte sein empfindungsvolles, freundschaftliches Herz, mit dem er ihr von einem verstorbenen Freunde und seiner noch lebenden Mutter erzählte, und so kam Sympathie und Liebe zusammen; sie trennten sich unbestätiget und ungewiß und – er schreibt nicht an sie, um, wie er in einem Briefe an ihre Freundin sagt, ihre Ruhe nicht zu stören. Jetzt und schon seit guter Zeit ist die arme Lila ruhig und sie sagt mir, daß sie sich nun nicht entschließen könnte, nach Lievland zu gehen. Ein jedes empfindsame Herz wird von dem Engelsmädchen angesteckt und mich dünkt, Goethe denkt ernsthaft darüber nach.“ Allerdings scheint selbst Merk's Frau diese Schwärmerin wie Uranien gefürchtet zu haben, wenigstens schreibt Herder’s Braut: „die gute Frau lebt wieder auf, da Fräulein von Roussilon und Ziegler nicht mehr hier sind und ihr Mann jetzt wieder mehr mit ihr lebt. Sie hat aufrichtig gestanden, daß es ihr wehe gethan, daß er so oft bei ihnen gewesen.“

„Meiner Freundin Lämmchen ist todt,“ meldet die Flachsland im Novbr. „Dafür bat sie jetzt einen treuen Hund. Hätte doch ihr Herz einen treuen Freund, der es verdiente. Da nagte den halben Sommer über ein Deutschfranzos, ein Berliner, eine fade Kreatur, ein Deutscher, der kein Deutsch spricht, Herr von Boden genannt, an ihrem Herzen um Liebe. Das gute Mädchen fühlte nichts, war ihm aber herzlich gut und beinahe, wären Merk und ihre Freunde nicht gewesen, hätte sie ihm ihr Herz gegeben, ohne daß sie es selbst gedacht hätte, wie. Sie hat einmal Reutern geliebt, liebt ihn noch und kann keinen andern Mann mehr ganz lieben. Ein junger schöner reicher Mensch aus Zweibrücken liebt sie schon von ihrem 15. Jahre an, sie ihn nicht; er ist darüber krank, elend und in ihrer Abwesenheit todtkrank an einer Auszehrung gelegen. Ich habe ihn aus lauter Mitleiden lieb, recht lieb und habe für ihn bei ihr gebeten – denn er muß gewiß eine schöne Seele haben, aber sie kann nichts für ihn thun.“

Uranie war immer krank, so daß Herder’s Braut einmal schreibt: „die gute Seele hätte wohl ein anderes Schicksal verdient, als ihr Leben krank am Hofe zu verseufzen. Fast den ganzen Winter 1773 war sie krank und im März lag sie in einem Anfall von Miserere darnieder.“ Das letzte, was wir von den beiden zarten Seelen erfahren, ist eine Stelle in einem Briefe vom April 1773: „Lila ist seit einiger Zeit hier an dem Krankenbett der sterbenden Uranie. Es neigt sich seit gestern sehr zu Ende; sie kämpft seit fünf Wochen mit Leben und Tod und hat viel gelitten.“

Goethe war bekanntlich im Frühjahr 1773 nach Wetzlar gegangen und hatte dort sein Herz an Charlotte Buff verloren. Er kam zwar nach seiner Flucht von dort noch manchmal nach Darmstadt, aber Car. Flachsland schreibt am 17. April 1773: „er ist rückhaltender, als jemals.“





Eine neue Aktiengesellschaft. Die Spielbanken von Wiesbaden und Ems, welche am 27. d. M. geschlossen wurden, gingen mit diesem Tage aus den Händen der bisherigen Pächter Simons und Chabert in diejenigen einer Aktiengesellschaft über, an deren Spitze die in Berlin und Karlsruhe ansässigen Herren von Haber stehen. Die gegenwärtigen Pächter erhalten eine Abstandssumme von 1,200,000 Gulden, während der Staat von der beregten Gesellschaft außer dem Jahrespacht im Betrage von 105,000 Gulden eine Viertelmillion Gulden, wie man sagt, zur freien Disposition empfängt. Außerdem zahlt die Gesellschaft der hiesigen Theaterverwaltung eine jährliche Beisteuer von 10,000 Gulden und endlich für Musik circa 50,000 Gulden. Trotz der immensen Höhe dieser Ausgaben ist es jedoch den Bemühungen des Herrn von Haber nicht gelungen, von der Regierung die Ermächtigung zur Einführung des Winterspiels zu erzielen, und die einzige Vergünstigung, welche ihnen in Berücksichtigung des erhöhten Pachtgeldes gewährt worden, besteht darin, daß die hiesigen Spielsäle statt am 1. Mai, schon am 1. April eröffnet werden können. Der Vertrag erlischt übrigens mit dem Jahre 1872. – Zur Schande Deutschlands, wo sich eine solche Aktiengesellschaft bilden konnte, sei gefragt, wie viel sie verdienen, d. h. wie viel sie durch das nichtswürdige Mittel des Spiels ihren Mitbürgern ablocken muß, am bestehen zu können und auch gute Dividende zu zahlen?






Nutzen der verschiedenen Farben. Daß die Haare, die Haut und unsere Kleider schlechte Wärmeleiter sind, braucht wohl nicht erst gesagt zu werden. Alle Körper leiten die Wärme, manche aber schneller, manche langsamer. Letztere machen die schlechten Wärmeleiter aus. Die Verminderung der Leitungsfähigkeit der schlechten Wärmeleiter ist nur aber bedingt durch die Farbe den Körpern. Wie die Lichtstrahlen von weißen, glänzenden Körpern zurückgeworfen werden und nicht leicht in dieselben eindringen, so ist es auch mit den Wärmestrahlen, die schwer in weiße glänzende Körper eindringen oder aus ihnen strahlen. Ein glänzend polirter silberner Theekessel braucht viel mehr Zeit, ehe er sich erhitzt, als ein anderer, während heißes Wasser in demselben sehr lange seine hohe Temperatur behält. So ist es auch mit weißen Kleidern, Bäumen, mit weißer Rinde. Der Schnee schützt durch seine weiße Farbe die Pflanzen, die er bedeckt; streut man Kohlenpulver darauf, so erfrieren sie. Die ersten Blüthen sind weiß, weil sie dieser Farbe wegen den Einwirkungen der Kälte besser widerstehen, als wenn sie anders gefärbt wären. Das Haar des Menschen wird weiß im Alter, damit es die Kopfwärme nicht leicht entweichen lasse (?), die Natur gibt manchen Thieren im Winter ein weißes Kleid, blos um sie kräftiger vor der Kälte zu schützen. Die Nordländer haben meist blondes Haar aus gleichem Grunde, und kleiden sich weiß. Weiter nach Süden wird das Haar dunkler; in Spanien bereits herrscht das schwarze Haar, und die Bewohner den Landes kleiden sich meist in dunkle Farben, um der Wärme ihres Körpers leichter durch dieselben einen Ausgang zu verschaffen. Darum gab die Natur den Bewohnern des heißen Afrika’s sogar eine schwarze Hautfarbe. Allerdings leidet ein Schwarzer, wenn er den Sonnenstrahlen unmittelbar ausgesetzt ist, mehr als ein Weißer, weil seine schwarze Haut die Wärmestrahlen leichter durchdringen läßt, aber er mag Schutz suchen, der Weiße würde in solcher Glut umkommen, weil seine weiße Farbe die Hitze im Körper zurückhält. Die Sieger kleiden sich dagegen weiß, um das Eindringen der Wärme von Außen einigermaßen abzuhalten und aus gleichem Grunde viele, ohne es zu wissen, kleiden sich so unsere Damen im Sommer.



Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: Wenn
  2. Vorlage: 50–50 Grad