Die Gartenlaube (1856)/Heft 48

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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ferdinand Stolle
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Entstehungsdatum: 1856
Erscheinungsdatum: 1856
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[645]
Herr Klein.
Vom Verfasser der „neuen deutschen Zeitbilder.“
(Schluß.)



Gleich hinter Zürich, zum Theil noch zwischen seinen Straßen, breitet sich der See aus, dieser lieblichste aller Seen, der selbst denen des nördlichen Italiens nicht nachsteht. Der Bodensee und der Genfersee sind größer, mächtiger, haben einzelne romantischere Parthieen; der Vierwaldstädtersee ist in allen seinen Parthien wild und romantischer; aber an Anmuth, Lieblichkeit und Freundlichkeit übertrifft sie alle weit der Zürchersee. Und nirgend sieht man ihn mehr in allen seinen Reizen, als auf der Waid bei Zürich. Mit seiner ganzen Ausdehnung lagert er sich bis an die Stadt; von allen anderen Seiten sieht man ihn umgeben von leise ansteigenden Anhöhen, und jede derselben ist bedeckt mit üppigen Reben, mit reichen Obstgärten, mit kräftigen Waldungen, aus denen allen überall freundliche Häuser hervorsehen; und in allen Schluchten zwischen den Anhöhen strömen, wie wunderbare Bäche, die sich dem See vermählen wollten, lange Dörfer mit hellen Häusern, dunklen Kirchthürmen und blühenden Gärten hervor. Die Ufer des Sees selbst aber, unmittelbar am Wasser, sind mit den schönsten, freundlichsten, mitunter den elegantesten und überall weißen Häusern besetzt. Man meint, den ganzen See, soweit das Auge reicht, mit weißen Perlen eingefaßt zu sehen.

Hinter den Anhöhen erheben sich zwei dreifache Ketten von Bergen, die eine höher als die andere. Im fernsten Hintergrunde überragt sie alle, ungeheuern Titanen gleich hoch in die Wolken steigend und strebend, jene ununterbrochene Kette der wunderbarsten Alpengletscher links vom Glärnisch an, der achttausend Fuß hoch steil neben der Stadt Glarus ansteigt, bis rechts zu dem Tiflis hin, der, beinahe elftausend Fuß hoch seinen ewigen Schnee tragend, die Kette schließt.

Der Geheimerath Fischer war bis Zürich nur noch stiller geworden. Er konnte sich immer weniger den Eindrücken der mit jedem Schritte schöner werdenden Gegenden entziehen, und wurde damit auch nur melancholischer, trotz jenen einzelnen Lichtblicken in den elenden Zustand des Volkes.

Fast ähnlich war es mit seinen beiden Töchtern. Auch sie wurden stiller und melancholischer, fast ängstlicher, je näher sie Zürich kamen. Selbst das schelmische und stets unverzagte Fräulein Charlotte ließ zuweilen sehr das Köpfchen hängen. Ein aufmerksamerer Beobachter als der Geheimerath würde unschwer errathen haben, daß die beiden Mädchen irgend einem wichtigen Ereignisse, dessen Ausgang für sie sehr zweifelhaft war, entgegensahen.

Sie waren des Nachmittags in Zürich angekommen, und im Hotel Baur, dem ersten Gasthofe der Schweiz, abgestiegen; sie hatten im Verlaufe des Tages die Stadt besehen, später den Sonnenuntergang auf der „Katy“ im botanischen Garten, und dann in dem stillen Abenddunkel eine Gondelfahrt auf dem See gemacht. Am folgenden Nachmittage fuhren sie zu der Waid hinaus. Die beiden Mädchen schienen diese Fahrt nach dem schönsten Punkte bei Zürich kaum erwarten zu können, und doch wieder schienen sie vor ihr zu erschrecken. Sie zitterten wenigstens heftig als sie in den Wagen stiegen; die blasse Louise konnte sich kaum halten.

Sie kamen auf der Waid an, und sehten sich unter die Kastanienbäume, die das Wirthshaus mit dem Badehause verbinden. Dort gerade hatten sie die wunderschönste Aussicht. Sie gaben sich ihr ganz hin, selbst die zitternde Louise, die sich nur an dem Arme der gleichfalls sehr bewegten Schwester aufrecht halten konnte. Es dauerte lange, ehe sie die Blicke von allen den Schönheiten zurückwenden konnten. Als sie es thaten, wurden die Augen des Geheimeraths auf einmal zornsprühend, und sein Gesicht beinahe blässer, als das der bleichen Louise. Auf der andern Seite unter den Kastanien stand der Kammergerichtsassessor Hartmann aus Berlin.

„Das ist zu arg,“ stammelte vor Zorn der Geheimerath.

„Eine solche Unverschämtheit, uns hierher zu verfolgen!“

„Aber, Vater,“ sagte Fräulein Charlotte.

„Aber, Vater! Schweig; ich will kein Wort mehr hören.

Wir kehren um; auf der Stelle. Wir reisen ab; sofort. Diese naseweisen Kammergerichtsassessoren.“

„Aber, lieber Vater, der Herr Hartmann ist kein Kammergerichtassessor mehr.“

„Was?“

„Er ist seit acht Tagen zum Stadtgerichtsrath in Berlin ernannt“

„Was? Ah, ah! Das ist freilich etwas Anderes. Aber woher weißt Du das?“

„Und er wird auch nie wieder naseweis sein.“

„Ah, ah! Du Schelm! – Also Stadtgerichtsrath? Kein Kammergerichtsassessor mehr!“

Fräulein Charlotte hatte dem neuen Stadtgerichtsrathe schon einen Wink gegeben. Er kam näher.

„Welch’ glückliches Zusammentreffen an dieser schönen Stelle.“

„Herr Stadtgerichtsrath, Herr College muß ich eigentlich sagen, empfangen Sie meine besten Glückwünsche zu Ihrer Beförderung.“

„Herr Stadtgerichtsrath,“ rief Fräulein Charlotte, „Sie sind ja wohl schon seit einigen Tagen hier, und kennen die Gegend. Nennen Sie uns doch die hohen Schneeberge, die dort hinten den Horizont bekränzen.“

„Ich kann sie Ihnen bezeichnen, mein Fräulein.“

„Vor Allem, wie heißt jener hohe Berg in der Mitte der Kette, der, in Gestalt des höchsten Riesengrabes der Welt, vom Fuße bis zur Kuppel mit seinem weißen Schnee bedeckt ist?“

[646] „Das ist der Tödi, mein Fräulein, beinahe zwölftausend Fuß hoch.“

„Und die Doppelspitze rechts neben ihm?“

„Das sind die Scheerhörner. Aber, mein Fräulein, wenn ich Sie eine kleine Strecke weit dort höher den Berg hinauf geleiten dürfte, so würden wir die Gegend noch besser übersehen, und ich würde Ihnen Alles noch klarer bezeichnen können.“

Die Tochter sah fragend den Vater an. Dieser sagte:

„Wenn Sie die Güte haben wollten, Herr College!“

„Es wird mir eine Freude sein, Herr Geheimerath.“

Das Wirthshaus zur Waid liegt nicht völlig auf der Höhe des Berges. Man steigt aber gleich hinter ihm auf einem angenehmen Fußwege zu der Höhe hinan. Der Pfad führt zuerst an einem Föhrenwäldchen, dann an dichter Laubwaldung entlang. Oben auf seiner Spitze ist der Berg ganz mit Wald bedeckt. Auf einem lichten Einschnitt in diesen hat man in der That eine noch weitere Aussicht, als unter den Kastanien am Wirthshause. Dorthin führte der neue Stadtgerichtsrath seine neue Gesellschaft. Den Damen hatte er bald einen leisen Wink gegeben. Er unterhielt sich darauf ausschließlich mit dem Geheimerath.

Oberhalb des Föhrenwäldchens waren die beiden Damen verschwunden. Der Geheimerath bemerkte es nicht. Er war in das Gespräch mit dem „Collegen“ vertieft.

„Ja, ja, ein schönes Land, diese Schweiz, und doch so unglücklich.“

„Unglücklich, Herr Geheimerath?“

„Ich versichere Sie.“

„Aber die Leute hier fühlen sich vollkommen glücklich. Sie beneiden kein anderes Volk und sind der Meinung, jedes andere müsse sie beneiden.“

„Wirklich? Ja, ja. Ich habe schon etwas davon erfahren. Aber das ist ja gerade der tiefste Grad des Unglücks, wenn man dieses nicht mehr fühlt, wenn diese Gesetzlosigkeit, diese Anarchie den Leuten schon zur andern Natur geworden ist. Wo mögen denn meine Mädchen stecken?“

„Die Damen werden einen Augenblick in dem Schatten des Waldes ausruhen wollen.“

„Ich muß mich doch nach ihnen umsehen.“

„Erlauben Sie, daß ich die Damen suche?“

„Wir gehen gemeinschaftlich.“

Sie gingen gemeinschaftlich. Nach einer Weile traten ihnen die beiden Damen unter den Bäumen her entgegen. Beide sahen verstört aus. Louise hatte verweinte Augen; Fräulein Charlotte war sehr blaß. Sie waren, als sie von ihren Begleitern sich getrennt hatten, unbemerkt vom Vater, auf den Wink des Herrn Hartmann, in den Wald gegangen.

Ein junger Mann war ihnen dort bald entgegengetreten. Louise hatte sich ihm in die Arme geworfen, und lange vor Weinen und Schluchzen nicht sprechen können. Auch in den Augen des kräftigen Mannes hatten Thränen gestanden. Fräulein Charlotte hatte sich, mehr nach dem Rande des Waldes hin, auf einen Baumstamm gesetzt, um die Liebenden allein zu lassen und Wache zu halten. Die Liebe findet auch unter den heftigsten Thränen ihre Worte.

„Ich lasse Dich nie wieder, Louise!“

„Nur Augenblicke sind uns zugemessen, Karl!“

„Du bist wieder mein. Nichts reißt Dich aus meinen Armen!“

„Mein Vater ist wenige Schritte von hier!“

„Du bist meine Braut. Du bist es noch, nach Gesetz und Recht. Ein bloßer Eigensinn konnte das Band nicht zerreißen. Du gehörst mir, Louise. Nicht wahr, Du willigst ein?“

„Ich bin Tochter!“

„Louise, ich schwöre Dir, ich lasse nicht wieder von Dir!“

„Schwöre nicht, Karl, ich kann nicht!“

„Ich schwöre es dennoch, bei meinem Leben, bei meiner Seligkeit. Ich habe noch nie einen Schwur gebrochen. Du wirst mein hier, oder ich folge Dir, wohin Du gehst. Jenseits der Grenze erwartet mich der Tod, oder statt dessen ewige Gefangenschaft. Ich folge Dir über die Grenze, bis in Dein väterliches Haus, wenn Du hier nicht einwilligst, die Meine zu werden.“

„Karl, Du bist grausam!“

„Ich habe es geschworen. Ich kann nicht mehr anders.“

Das unglückliche Mädchen mußte laut aufschreien. Fräulein Charlotte eilte herbei. Sie hatte gehorcht, und hatte noch mehr errathen.

„Sie sind ein Wahnsinniger, Thilo,“ sagte sie zu dem jungen Manne.

„Ich bin ein leidenschaftlicher Mensch, ich weiß es. Aber diesmal hat meine Leidenschaft Recht.“

„Sie sind ein Narr, ein Grausamer. Louise hat Recht.“

„Wer ist grausamer? Sie, die sich und mich unglücklich macht?

Oder ich, der ich –?“

„Bei Lichte besehen, Louise, hat er so ganz Unrecht nicht.“

„Auch Du, Charlotte?“

„O, Charlotte, seien Sie unser Engel!“

„Es sei. Laßt mich überlegen; der Vater kommt. Ziehen Sie sich zurück. Laß uns gehen; kein Abschied.“

Sie riß die Liebenden auseinander. Sie trat mit der Schwester dem Vater entgegen. Dieser dachte an die Anarchie und das Unglück der Schweiz, und ahnete nicht das Unglück seiner einen, und die anarchischen Pläne seiner andern Tochter.

Des Abends im Hotel Baur mußte auf Befehl der jüngeren Schwester die ältere sich sehr früh in ihre Schlafstube begeben. Fräulein Charlotte blieb mit dem Vater allein; er war sehr aufgeräumt.

„Es freut mich doch recht, daß er kein Kammergerichtsassessor mehr ist.“

„Auch daß er nicht mehr naseweis sein will?“ fragte die Tochter.

„Hm! Er war wirklich heute liebenswürdig, Einzelnheiten abgerechnet. So wollte er die Schweiz für ein glückliches Land halten. Aber, das wird sich schon geben.“

„Wenn sich nur ein Anderes geben möchte!“

„Was meinst Du, Charlottchen?“

„Das Unglück der armen Louise.“

„Auch das. Habe Du nur noch ein paar Jährchen Geduld.“

„Ein paar Jährchen, noch so klein, sind immer ein paar Jahre. Und wenn es nicht anders mit ihr wird, so liegt sie nach einem Jahre im Grabe.“

„O, o, Charlotte, man muß nichts übertreiben.“

„Vater, wenn Louisens ehemaliger Bräutigam hier wäre?“

„Was? Ich will nicht hoffen.“

„Wenn Louise ihn heute gesprochen hätte?“

Der Vater war leichenblaß geworden. Er sah die Tochter starr an.

„Fahre fort,“ sagte er leise; leise, als wenn er vor innerer Bewegung nicht habe laut sprechen können.

Fräulein Charlotte fuhr fort; aber bebend vor entsetzlicher Angst, von der sie bei dem Anblicke des blassen Vaters mehr und mehr erfaßt wurde.

„Vater, ich muß Ihnen die Wahrheit sagen. Thilo ist hier; Louise hat ihn gesprochen.“

Der Vater sank in seinen Stuhl zurück, und bedeckte sein Gesicht mit beiden Händen.

„Also Ihr habt mich betrogen!“

Die Tochter fiel vor ihm nieder, umfaßte seine Knie, und riß ihm beide Hände vom Gesicht. Sie mußte seine Gesichtszüge, seine Augen sehen. Thränen stürzten aus ihren Augen.

„Vater, verzeihe!“

„Fahre fort.“,

„Verzeihung, mein Vater, Verzeihung!“

„Fahre fort, befehle ich Dir.“

Sie fuhr in steigender Angst fort; sie mußte. „Sie bitten um Ihren Segen, Vater. Sie können nicht von einander lassen.

O, Vater –!“

„Schweig. Kein Wort weiter. – Kein Wort. Geh’ zu Bette.

Morgen früh reisen wir ab. Geh’, ich befehle es Dir.“

Der unerbittliche Punkt des Geheimeraths war noch immer der unerbittliche geblieben.

„Noch ein einziges Wort, Vater!“

„Keins.“

„Es betrifft mich.“

„Sprich.“

„Ich allein habe Sie betrogen, nicht Louise. Seien Sie nicht hart gegen die Unglückliche.“

„Es ist gut.“

Sie ging in die Schlafstube zu der Schwester.

„Es war vergebens, Louise. Und Du darfst auch von dem Vater nicht lassen. Ich hatte Unrecht, und will mit Dir zu Grunde gehen, aber von dem Vater darfst Du nicht lassen.“

[647] Der Morgen fand die Schwestern noch mit verschlungenen Armen und verweinten Augen. Um fünf Uhr stand der Vater schon reisefertig vor ihnen. Eine halbe Stunde später saßen alle drei im Wagen und fuhren aus dem schönen Zürich, um bei Basel wieder die Schweiz zu verlassen und auf dem alten Wege in die Heimat zurückzukehren. Weder dem Herrn Hartmann, noch dem Herrn von Thilo hatten sie von ihrer Abreise eine Nachricht können zukommen lassen.

Aber schon in ihrem ersten Nachtquartiere auf Deutschlands Boden, zu Freiburg im Breisgau, sollten wenigstens die Schwestern erfahren, daß ihre Spur entdeckt und verfolgt sei. Als sie des Abends, den Vater mit einem Fremden im Gespräche über die unglückliche Schweiz an der table d’hôte lassend, in den Gatten des Gasthofes gingen, standen plötzlich beide junge Männer vor ihnen.

„Karl, liebst Du mich so? Du gehst in Dein gewisses Verderben!“

„Ja, so liebe ich Dich!“

„Hartmann, vermögen Sie denn nichts über Ihren Freund?“

„In dieser Sache nichts, theure Charlotte. Er hat sein Wort gegeben.“

„Er ist ein Wahnsinniger!“

„Louise, willst Du mir folgen?“

„Ich kann nicht. Ich kann meinen Vater nicht verlassen.“

„Und ich Dich nicht.“

„Ich beschwöre Dich, Karl!“

„Ich kann nicht anders.“

„Du verdirbst Dich und mich!“

„Bei Gott, ich kann nicht anders.“

„Du bist ein furchtbarer Mensch!“

„Ha, Du liebst mich nicht mehr; das ändert die Sache.“

„Karl, ich sterbe ja ohne Dich!“

„Und ich soll leben ohne Dich?“

Es lag Logik in seinen Worten, wenigstens in der Verzweiflung seiner Leidenschaft. Auch Fräulein Charlotte konnte das nicht verkennen. Aber sie redete ihrer Schwester nicht mehr zu. Keiner wußte einen Rath, und so mußten sie sich trennen.

So reisten sie weiter: der Vater mit seinen beiden Töchtern, und die beiden jungen Männer bald hinter, bald vor ihnen.

Als der Geheimerath von Frankfurt abfuhr, sagte er zu seinen Töchtern:

„Den Rhein von Mainz bis Düsseldorf kennen wir. Er hat auch nur hin und wieder hübsche Parthien, wie ich es schon in Berlin sagte. Dagegen soll es im Nassauischen recht nett sein. Auch ist Kassel keine ganz unebene Stadt. Ich denke, wir schlagen die Route ein.“

Fräulein Charlotte war nicht zweifelhaft darüber, daß der Vater Wiesbaden, Mainz, und überhaupt den besuchteren Rhein vermeiden wollte, wo sein Wiesbadener Abenteuer bekannt geworden sein konnte. Sie sagte aber nichts. Es konnte so auch, indem sie von der großen Straße abwichen, Thilo ihre Spur verlieren. Freilich vermochte sie daran nur mit Beben zu denken; aber der Geächtete war ja unter der Vorsorge eines umsichtigen und entschlossenen Freundes, der vielleicht gar, nachdem die Spur einmal verloren war, ihn zur Rückkehr in die Schweiz bewegen konnte. Die Liebe hatte indeß gewacht.

Der Geheimerath hatte von Frankfurt aus einen Lohnkutscher, genommen. Die Hauderer im lieben Deutschland sind die Eckensteher in Berlin. Sie sind deshalb auch zu Grunde gegangen, wie diese. Auch der Frankfurter Hauderer des Geheimeraths war ein träger Gesell, der viel Geld verdienen, viel trinken, aber wenig fahren wollte. Es war daher später Abend geworden, als er in Königstein ankam, wo Nachtquartier gemacht werden sollte. Er fuhr hier vor dem Gasthofe des Bürgermeisters und Postmeisters, auch Posthalters Heller vor.

Es war viel Bewegung vor und in dem Hause, aber wenig Licht darin; vor dem Hause brannte gar keins, und in dem Gange des Hauses nur eine trübe Oellampe. Man konnte daher von der Bewegung nur mehr hören, als sehen, vor Allem hörte man mehrere Bewaffnete hin- und hergehen.

Der Geheimerath stieg aus. „Können wir hier Zimmer bekommen?“ fragte er Jemanden, der im Dunkeln vor der Hausthür stand.

Der Gefragte war einer der von dem Bürgermeister herbefohlenen Gensd’armen.

„Ich weiß es nicht,“ antwortete der Gensd’arm. „Hier rechts ist die Wirthsstube.“

„Ist denn kein Kellner hier?“

Es meldete sich kein Kellner. Die Bewegung im Hause und die Neugierde mochten ihn anderswo aufgehalten haben.

„Treten wir einstweilen in die Wirthsstube ein,“ sagte der Geheimerath zu seinen Töchtern.

Er öffnete die Thür der Wirthsstube, um als höflicher Vater die Damen zuerst eintreten zu lassen.

Louise wollte eintreten, fiel aber mit einem lauten Schrei zurück in die Arme ihrer Schwester.

„Was ist denn das?“ fragte der Geheimerath.

„Mich dünkt, nichts Unbegreifliches,“ sagte schnell vortretend der fremde Reitersmann. „Diese dicke Wein- und Kneipenluft kann auch weniger zart organisirte Naturen ohnmächtig machen.“

„Ah, Sie da, Herr –?“ rief überrascht der Geheimerath.

Der Fremde hatte schnell den Finger auf den Mund gelegt.

Der Geheimerath beendete seinen Ausruf nicht.

„In der That, eine schlechte Luft da drinnen.“

„Befehlen die Herrschaft Zimmer?“ fragte der Kellner, der unterdeß herbeigekommen war.

„Gewiß.“

„Haben Sie die Güte, mir zu folgen.“

Die Thür der Wirthsstube wurde wieder zugemacht. Der Reiter ging ein paar Mal in der Stube aus und ab. Dann trat er zu dem Polizeidiener, der noch immer steif an der Thüre saß.

„Hier im Hause ist viel Verkehr.“

„Nicht immer,“ sagte der alte Mann mürrisch.

„Auch Extrapostverkehr. Ich sah bei meiner Ankunft zwei Postillone anschirren.“

„Ja.“

„Es wird wohl eine hohe Herrschaft erwartet?“

„Ist mein Dienst nicht; ich bekümmere mich nicht darum.“

„Bei solchem Leben muß der Bürgermeister ein reicher Mann werden. Meinen Sie nicht auch, Herr Polizeidiener?“

„Ich weiß das nicht.“

„Freilich, er verdient das auch. Ein braver Mann. Hat zwölf Jahre als Unteroffizier gedient.“

„Das haben auch andere Leute gethan.“

„Hat sich in den Befreiungskriegen tapfer gehalten, sogar ausgezeichnet.“

„Wissen Sie etwas davon?“ knurrte der Polizeidiener.

„Eigentlich nicht. Das heißt, nicht von ihm. Dagegen habe ich gehört, daß ein anderer Unteroffizier, der gleichfalls hier im Orte wohnen soll, auch zwölf Jahre und gar noch länger gedient hat, daß der in vielen Schlachten sich sehr ausgezeichnet, Wunder der Tapferkeit verrichtet, und eine Menge Orden und Ehrenzeichen erhalten haben –“

„Die er aber nicht tragen darf,“ fiel wüthend der Polizeidiener ein.

„Was? Wer. will ihm das verbieten?“

„Der Bürgermeister, weil der nicht so viele hat.“

„Das ist ja nichtswürdig! Teufel, da fällt mir ein –. Ist es denn wahr, daß dieser nämliche, brave Mann hier nur Polizeidiener sein soll?“

„Ja,“ donnerte fest der Polizeidiener.

„Eine schlechte Versorgung! Hat der Mann vielleicht später etwas verbrochen?“

Der Polizeidiener sprang aus. „Was, Herr? Sie unterstehen sich –“

„Ah, lieber Herr Polizeidiener, Sie sind es wohl selbst?“,

„Ja, ich bin es selbst, und will –“

„Nehmen Sie mir meine Worte nicht übel, lieber, braver, alter Unteroffizier. Ich bin selbst Soldat gewesen, Offizier. Ich habe freilich jene glorreichen Feldzüge nicht mitgemacht, aber um so mehr achte ich jeden alten braven Soldaten aus jener Zeit, und da freut es mich, einen so würdigen Kameraden kennen zu lernen. Wie ist es denn nur gekommen, daß Sie eine so schlechte, und Ihr jetziger Vorgesetzter eine so gute Stelle erhalten hat?“

Der alte Unteroffizier wurde zorniger und knurrte freundlicher.

„Wie das gekommen ist, Herr – Herr –? Sind Sie wirklich Offizier gewesen?“

„So wahr als Sie ein braver Unteroffizier waren. Aber Sie brauchen mir nicht zu antworten, ich kenne solche Geschichten [648] schon. Es gibt brave, ehrliche Soldaten, die nicht kriechen, die immer den Kopf gerade halten, gerade ausgehen –“

„So ist es, Herr Offizier.“

„Keine hübsche Frau haben –“

„Zum Teufel, Herr Offizier, so ist es.“

„Und dann gibt es wieder andere, die –. Soll ich es noch sagen?“

„Ich sehe, Sie wissen Alles.“

„Wenigstens Manches. So zum Beispiel auch, daß Sie hier heute Abend noch einen gefährlichen Verbrecher erwarten.“

Der Unteroffizier sah vor sich hin und schwieg.

„Oder vielmehr, daß Sie meinen, er sei schon hier.“ Der Unteroffizier schwieg immer noch. „Oder eigentlich, daß Ihr kluger Herr Bürgermeister das meint, der Sie vorhin eine Plaudertasche nannte.“

„That er das?“ fuhr der Unteroffizier auf.

„Ich würde es nicht sagen, wenn es nicht wahr wäre. Der kluge, gestrenge Herr meint sogar, daß ich oder jener fremde Handwerksbursch mit dem Zahnweh, oder am Ende, daß wir alle Beide der gefährliche Verbrecher seien.“ Der Polizeidiener schwieg wieder.

„Und darum müssen Sie uns hier bewachen. Ist nicht Alles so?“

„So ist es,“ brummte der Polizeidiener endlich.

„Zum Teufel, und ich werde es Ihrem Herrn Bürgermeister lehren, ehrliche Leute so wie Spitzbuben und Mörder zu behandeln.

Rufen Sie ihn einmal hierher.“

Der Fremde sprach mit Zuversicht, gar mit Stolz. Der Unteroffizier freute sich, daß seinem ehemaligen Kameraden der Kopf entweder gewaschen oder heiß gemacht werden solle. Aber er kannte seine Pflicht und Subordination.

„Ich darf nicht von hier weichen,“ sagte er.

„Pah, Sie fürchten, ich oder der da würde ihnen entfliehen. Wir verlassen Beide die Stube nicht; ich gebe Ihnen mein Ehrenwort darauf.“

„Kann ich mich darauf verlassen?“

„Auf das Ehrenwort eines alten Offiziers?“

Der Polizeidiener verließ nach kurzem Schwanken die Stube.

Der Reiter sprang zu dem Herrn von Thilo.

„Und nun rasch, Mensch. Was willst Du hier. Warum folgst Du Deiner Braut?“

„Ihr Vater hatte unser Verhältniß zerrissen.“

„Der Herr Geheimerath Fischer aus Berlin?“

„Kennst Du ihn?“

„Gewiß. Auch Deine Braut. Es war doch die Blasse von den Beiden?“

„Woher kennst Du sie?“

„Erzähle weiter.“

„Wir trafen uns jetzt in der Schweiz wieder. Der Vater blieb unerbittlich.“

„Ich glaube es. Ach, und ich begreife es auch. Du wolltest sie entführen, und die zarte, liebevolle Tochter konnte sich nicht dazu entschließen, den alten Vater zu verlassen, der so alt noch nicht ist, und da gerieth der Bräutigam in Verzweiflung, wie ein echter Romanenheld, oder was am Ende einerlei ist, wie ein närrischer Barrikadenheld. Mensch, Du bleibst Dir doch immer gleich. Aber ich weiß genug; verhalte Dich nur ganz ruhig, und thue Alles was ich Dir befehlen werde. Widersetze oder besinne Dich keine Sekunde, wenn Du nicht verloren sein willst.“

„Was hast Du vor?“

„Noch eine Frage. Bist Du allein gekommen?“

„Ein Freund begleitet mich, der Stadtgerichtsrath Hartmann aus Berlin. Er besorgt die Reise –“

„Kennt er die Familie.“

„Er liebt die jüngste Tochter.“

„Fräulein Charlotte? Ah, kein übler Geschmack. Und Fräulein Charlotte und Herr Stadtgerichtsrath Hartmann haben auch wohl das edle Geschäft übernommen, auf der Reise die thränenreichen Zusammenkünfte zwischen einem verzweiflungsvollen Narren und seiner sentimentalen Schönen zu besorgen? – Aber wo ist der liebende Stadtgerichtsrath?“

„Er zieht Erkundigungen ein –“

„Teufel, auch ein Polizeispion?! Wohl da oben, bei den Damen? – Doch still; bekomme wieder Zahnweh. Die beiden in Bürgermeister und Polizeidiener verpuppten Unteroffiziere kehren zurück.“

Bürgermeister und Polizeidiener traten ein. Der Reiter ging dem Bürgermeister entgegen. Zwar nicht mehr ungenirt und keck, wie vorher, aber desto befehlender und stolzer.

„Mein Herr, ich hätte ein paar Worte mit Ihnen allein zu sprechen.“

Dieser sah ihn verwundert an. „Mein Herr? Ich bin hier Bürgermeister.“

„Gerade mit dem Bürgermeister wünschte ich zu sprechen. Führen Sie mich in Ihre Amtsstube.“

Der stolze, befehlende Ton imponirte dem Beamten, von dem der Polizeidiener versichert hatte, daß er kein solcher Unteroffizier gewesen sei, wie er, der Polizeidiener. Er führte den Fremden in seine Amtsstube und an seinen Bürgermeistertisch.

„Nun, was wünschen Sie?“ fragte er etwas zweifelhaft.

Der Fremde zog ein Papier aus der Tasche, entfaltete es, hielt es dem Bürgermeister hin und sagte kurz: „Lesen Sie!“

Er las, wurde unruhig, warf einen mißtrauischen Blick auf den Fremden, las nochmals, warf einen untergebenen Blick in Form eines Submissionsstriches auf den Fremden, gab das Papier zurück und sagte leise: „Herr Ober –“

„Still, Herr Bürgermeister, auch nicht leise das Wort ausgesprochen. Ich bin, auch wenn wir allein sind, was das Aeußerliche anbetrifft, nur ein Fremder für Sie. Aber zur Sache. Der Steckbrief hinter dem ehemaligen Assessor von Thilo ist Ihnen überbracht?“

„Ja, Herr –“

„Sie hielten mich oder den armen Handwerksburschen da drüben für den Verfolgten?“

„Ich bitte um Verzeihung, wenn ich –“

„Sie waren vorsichtig, das war in der Ordnung. Nur liefen Sie Gefahr, einen anderen gefährlichen Verbrecher darüber aus den Augen zu verlieren.“

„Darf ich fragen, wie?“

„Er ist bei Ihnen im Hause.“

„Was? Was? Bei mir? Wer?“

„Sogleich. Es ist Ihnen eine Extrapost angesagt!“

„Sechs Pferde, nach Würges.“

„Und zwei Postillone!“

„Sie wissen –?“

„Zu heute Nacht!“

„Bis Mitternacht.“

„Eine vornehme Herrschaft!“

„Fürst Hohenstein, mit Gemahlin und Bedienung.“

Die Augen des Fremden leuchteten. „Ich weiß,“ sagte er kalt.

„Sie wissen –?“

„Sehen Sie sich genau die Dienerschaft des Fürsten an.“

„Wie so?“

„Besonders den Lakeien. Man hat Verdacht, daß der Lakei jener verfolgte Assessor sei.“

„Wie wäre das möglich?“

Der Fürst kommt aus der Schweiz. Jener Flüchtling ebenfalls. Um unerkannt zu bleiben, hat er sich in die Maske eines Bedienten geworfen und dem Fürsten seine Dienste angeboten. Sie begreifen das?“

„Vollkommen.“

„Also scharf aufgepaßt. Und nun zu dem Patron da oben –“

„Bei mir?“

„Bei Ihnen. Haben Sie von einer Diebin Anna Maria Bommert gehört?“

„Die vor einigen Wochen in Wiesbaden –?“

„Dieselbe. Auch von einem Geheimerath Fischer aus Berlin?“

„Den armen Menschen hatte die Person ja gerade angeführt.“

„Schwindel. Der Mensch steckte mit ihr unter einer Decke. Es ist jetzt ermittelt.“

„Ein Geheimerath aus Berlin?“

„Er ist gar kein Geheimerath; aber ein gewandter Dieb, der aus den Criminalgefängnissen, aus der Stadtvogtei zu Berlin ausgebrochen ist. Ein sehr verschmitzter, ein sehr gefährlicher Mensch.“

„Der ist es doch nicht da oben –?“

„Gewiß ist er es.“

„Ha, ich habe zum Glück alle Gensd’armen und Polizeibeamten hier.“

„Ruhig; keine Uebereilung. Der Mensch ist sehr gefährlich;

[649]

Chateaubriand.



eben so verwegen wie verschmitzt. Haben Sie schon von Revolvers gehört?“

„Eine neue Spitzbubengattung?“

„Das nicht, aber ein neues Spitzbubengewehr. Ein Pistol mit sechs Läufen, mit dem man also sechs Mal hintereinander schießen kann, ehe Einer die Hand umdreht.“

„Eine gefährliche Waffe,“ versicherte der Bürgermeister.

„Er führt zwei bei sich. Sie sehen, da muß man vorsichtig sein; da reichen alle ihre Gensd’armen und Polizeidiener nicht aus.“

„Man muß die Bürgerschaft aufbieten.“

„Um ihn aufmerksam zu machen, und jedenfalls Bürgerblut zu vergießen? Ich habe einen andern Rath.“

„Ich bitte darum.“

„Er logirt hier heute Nacht, hält sich auf dieser abgelegenen Straße sicher, und wird ruhig schlafen. Im Schlafe wird er plötzlich überfallen, leise, ohne Geräusch –. Sie haben doch einen Hauptschlüssel?“

„Aber er könnte von innen verriegeln.“

„Desto besser. Dann bleibt er eingeschlossen und wird ausgehungert.“

Dem Bürgermeister schien der Plan des Fremden einzuleuchten. „Ich bleibe vorläufig noch hier,“ fuhr dieser“ fort; „ich gehe, das Terrain zu recognosciren.“

„Und der Handwerksbursch drüben?“ fragte der Bürgermeister.

„Ah, hätte ich doch den Menschen beinahe vergessen. Lassen Sie ihn mit oder ohne seine Zahnschmerzen laufen, wohin er will.“

Der Fremde ging. Er stieg die Treppe hinauf, die zu den im obern Stock gelegenen Fremdenzimmern führte, und fand dort, was er erwartet hatte. Eine männliche Gestalt suchte in das Dunkel einer Ecke zu entschlüpfen. Er ging ihr nach.

„Herr Stadtgerichtsrath Hartmann, ein Wort.“

Der junge Stadtgerichtsrath trat vor. „Mein Herr, warum spioniren Sie mir nach? Wer sind Sie?“

„Herr Hartmann, wenn Ihr Freund Thilo nicht gehängt oder geköpft werden soll, so verhalten Sie sich ganz ruhig und thun Sie pünktlich Alles, was ich von Ihnen fordern werde.“

„Mein Herr, wer sind Sie?“

Zum Teufel, bekümmern Sie sich nicht um mich. Ihr Freund ist in der größten Gefahr, und es gibt nur noch ein Mittel, ihn zu retten. Hat Jemand hier im Hause Sie gesehen?“

„Kein Mensch.“

„Gottlob. Suchen Sie unvermerkt daraus wieder zu entkommen; dann kehren Sie auf der Stelle zurück; aber nicht hierher in den zweiten Stock; Sie bleiben vielmehr hübsch unten, fragen nach dem Postmeister oder Posthalter, geben sich für den Kammerdiener des Fürsten Hohenstein aus, sagen, der Wagen des Fürsten habe draußen eine Viertelstunde vor der Stadt umgeworfen und die Achse zerbrochen, verlangen eine Postchaise mit zwei Pferden nach Mainz, indem der Fürst und die Fürstin sofort weiter reisen müßten, und kündigen Fürst und Fürstin als Ihnen auf dem Fuße folgend an. Haben Sie Alles verstanden?“

„Verstanden Alles, mein Herr, aber begriffen nichts.“

„Teufel, Sie sind Hegelianer; das sollte mich beinahe fürchten machen für die Mission, die ich Ihnen da ertheile.“

„Mein Herr, im Ernst, ich muß vorher –“

„Ihren Freund hängen sehen? Herr, ich beschwöre Sie, gehen Sie. – Noch eins. Haben Sie nicht irgend ein verabredetes Zeichen für Fräulein Charlotte?“

„Aber, mein Herr, wer sind Sie? Was wollen Sie?“

„Haben Sie ein Zeichen, so machen Sie es, und dann schnell, daß Sie fortkommen; die Zeit ist nachgerade verdammt kurz zugemessen.“

Der junge Stadtgerichtsrath pfiff kopfschüttelnd auf einem Finger.

„Verdammt einfach!“ sagte der Andere. „Jetzt gehen Sie.“

Der Stadtgerichtsrath schlich sich fort. An dem Gange öffnete sich eine Thür. Fräulein Charlotte trat in den Gang, leise, vorsichtig.

„Wie unvorsichtig,“ flüsterte sie.

„Gewiß, Fräulein!“

„Herr Klein, Sie?“

„Still, Fräulein. Keinen Namen! Aber Recht hatten Sie. Es kann nicht wohl eine größere Unvorsichtigkeit geben, als mit der Sie dazu beigetragen haben, meinen Freund Thilo –“

„Um des Himmelswillen, mein Herr!“

„Meinen Freund Thilo mitten zwischen Steckbriefe, Gensd’armen, [650] Polizei, Justiz, Galgen und Rad zu führen. Helfen Sie nun auch retten.“

„Wie? In welcher Weise, mein Herr?“

„Daß doch dir Welt immer aufgeregt sein muß. Auch Sie, eine so verständige Dame! Aber es ist nun einmal so. Wo ist Ihre Schwester Loulse?“ „In dem Zimmer dort.“

„Allein?“

„In diesem Augenblick.“ „So benutzen Sie diesen Augenblick. Werfen Sie ihr ihren Shawl um, setzen Sie ihr einen Hut auf, lassen Sie sie Handschuh und Sonnenschirm nehmen, und führen Sie sie zu mir herunter in den Garten des Hauses.“

„Aber zu welchem Zweck?“

„Zum Teufel, um Thilo zu retten!“

„Aber ich sehe nicht ein –“

„Sie sollen nur handeln.“

„Kann ich Ihnen vertrauen?

Der Herr Klein stampfte mit dem Fuße.

„Sehe ich denn aus wie ein Spitzbube?“

„Ja,“ wollte ihm Fräulein Charlotte antworten, aber sie kehrte in das Zimmer zurück. „Wir kommen,“ sagte sie im Gehen.

Der Herr Klein stieg ruhig wieder die Treppe hinab, und ging unten in die Wirthsstube. Dort saß noch der verkleidete Handwerksbursch mit seinem Zahnweh. Es stand auch noch der erst zur Hälfte ausgetrunkene Schoppen Wein des Herrn Klein da. Der alte Polizeidiener war fort, dagegen saß ein Nachtwächter mit seiner langen Pike da, aber fest eingeschlafen. Der Herr Klein leerte seinen Schoppen; dann gab er dem Handwerksburschen einen Wink, und verließ die Stube. Der Herr von Thilo folgte ihm mit seinem Ränzel; er schien nur auf den Herrn Klein gewartet zu haben. Der Herr Klein führte ihn in eine Laube des Gartens hinter dem Hause. Es war zehn Uhr Abends vorbei; eine späte Zeit für das Landstädtchen. Der Garten war leer.

„Hast Du Kleidungsstücke in Deinem Ränzel?“

„Ja.“

„Kleide Dich um, so elegant als möglich. Du bist der Fürst Hohenstein; Du hast hier für zwei Wagen sechs Extrapostpferde bestellt; Du hast draußen vor der Stadt Deinen Wagen zerbrochen; Du bist aber sehr eilig; Du hast deshalb Deinen Kammerdiener Hartmann vorausgeschickt, Dir einen Wagen und zwei Pferde zu bestellen; Du bist ihm zu Fuße mit Deiner Gemahlin gefolgt; Deine Leute kommen später mit Deinem Wagen nach. Du reisest mit Deiner Gemahlin ab, nach Mainz; Du hattest zwar nach Würges gewollt, aber eine unvermuthete Nachricht hat Deinen Plan geändert. Dein Postzettel legitimirt Dich als Fürsten. Kein Mensch wird Dich nach Deinem Paß fragen, noch weniger den Galgenkandidaten in Dir vermuthen. So fährst Du weiter, direkt nach der belgischen Grenze. Drüben bist Du sicher. Du hast doch Alles verstanden?“

„Ja“

„Auch begriffen?“

„Nicht völlig.“

„Also auch ein begriffsloser Hegelianer. – Aber Du bist ja fertig, das ist die Hauptsache. Teufel, Du siehst wirklich aus wie ein junger Fürst, und bist ein Fürstenfeind! Seltsame Ironie des Schicksals. – Ah, da ist auch Deine Gemahlin. Komm zu ihr.“

Fräulein Charlotte führte die zur Reise gekleidete Schwester in den Garten.

„Thilo, nimm. den Arm der Dame; aber keine Umarmung. Fräulein, sind Sie bereit, diesen unvorsichtigen Menschen zu retten?“

„Was soll ich thun?“ fragte die bebende Louise.

„Vor allen Dingen nicht zittern. Sodann mit diesem Herrn in einen Wagen steigen, und mit ihm bis vor das Thor fahren.“

Die blasse Louise wurde mißtrauisch.

„Mein Herr, was ist Ihre Absicht?“

„Meinen Freund zu retten. Ich fahre übrigens mit Ihnen, und führe Sie hierher zurück.“

„Zögere nicht, Louise!“ bat ihre Schwester.

Die blasse Dame legte ihren Arm in den ihres frühern Verlobten.

„So, jetzt voran. Fräulein Charlotte, Sie müssen schon die Güte haben, noch eine Weile hier zurückzubleiben, um später unbemerkt in das Haus zu kommen. Auf Wiedersehen!“

Der Herr Klein verließ mit den Liebenden den Garten; er führte sie in die große Straße des Städtchens, in dieser nach dem Wirthshause zurück. In der Nähe des Hauses sagte er leise:

„Fräulein, Ihren Schleier herunter. Und Du, Thilo, die Reisemütze so tief in das Gesicht, wie möglich.“ Dann sprach er laut und gespreizt: „Ach, Durchlaucht, ich bitte unterthänig, keinen Dank. Es macht mich unendlich glücklich, Ihnen diesen kleinen Dienst erzeigen zu können. Ah, Ihr Wagen scheint schon fertig zu sein. – Herr Bürgermeister, oder vielmehr Herr Postmeister!“

Der Wagen hielt wirklich schon angespannt vor der Thür des Wirthshauses. Der Postillon saß auf dem Bocke; der Stadtgerichtsrath Hartmann stand als Kammerdiener an dem offenen Schlage. Neben ihm stand der Herr Heller, der als Postmeister und Posthalter nicht minder aufmerksam auf den Dienst war, wie als Bürgermeister. Der Herr Hartmann trat wie ein unverfälschter Kammerdiener, den Hut in der Hand, zu seiner Herrschaft.

„Ihre Durchlauchten können sogleich weiter reisen; es ist Alles besorgt.“

Er hob zugleich die Dame in den Wagen, half dem Assessor beim Einsteigen, und schwang sich selber auf den Bock neben den Postillon.

„Fort, Schwager!“

„Habe alleweil den Reisezettel noch nicht; der Herr Bürgermeister haben ihn noch.“

Der Herr Bürgermeister aber hatte mit einem sehr bedenklichen Gesichte den Herrn Klein auf die Seite genommen.

„Die Sache kommt mir verdächtig vor.“

„Haben Sie wirklich Verdacht?“

„Sie selbst machten mich auf den Bedienten aufmerksam.“

„Gewiß. Aber Sie haben ja doch das Signalement. Dieser Kammerdiener ist ein kleines, schmächtiges Kerlchen; der Verfolgte ist ein Riese gegen ihn.“

„Richtig. Aber –“

„Unter der nachfolgenden Dienerschaft wird er stecken. Da werden Sie genau aufpassen müssen.“

„Gewiß, gewiß! Ich meinte auch etwas Anderes. Der Mensch war so sonderbar, so –

„Verlegen?“

„Das nicht im Geringsten, aber so – beinahe frech.“

„Mit Steckbriefen Verfolgte pflegen nicht frech zu sein.“

„Es war eine so eigne Frechheit. Er war so verstockt; er wollte über nichts Auskunft geben; nicht wo der Wagen zerbrochen sei, warum sein Herr die Reiseroute verändert habe; er wollte nicht einmal von dem vorausgekommenen Courier etwas wissen.“

„Die Kammerdiener der vornehmen Herren sind überall grobe Schlingel. Uebrigens hat der Fürst, den ich zufällig auf dem Wege hierher traf, mir über Alles Mittheilung gemacht.“

„Sie kennen den Fürsten also?“

„Ich habe ihn auf dem Wege kennen gelernt.“

Der Bürgermeister machte ein langes Gesicht.

„Sie kennen ihn also nicht? Wenn es Betrug wäre! Dieser, dieser Fürst da ist so ein halber Riese. Alle Donnerwetter, da muß ich –“

„Keine Uebereilung. Was wollen Sie?“

„Ich muß seinen Paß sehen.“

„Teufel, und wenn sein Paß in Richtigkeit wäre? Mit Fürsten ist nicht zu spaßen!“

„Ich bin im Dienst.“

„Uebertriebener Diensteifer hat schon Manchem den Dienst gekostet. Aber wissen Sie was? Ich werde mich unter irgend einem Vorwande bis zum Stadtthore mit in den Wagen setzen. Ich werde es dann schon herausbekommen.“

„Da fällt mir ein Stein vom Herzen,“ sagte der alte Unteroffizier, reichte dem Postillon den Postzettel zu, und kommandirte selbst: „Fort, Schwager!“

Der Herr Klein hatte unterdeß ein paar Worte in den Wagen hineingesprochen, und war dann eingestiegen. Der Wagen fuhr ab.

„Nun, mein Fräulein,“ sagte der Herr Klein zu der Dame, „ein paar ernste Worte mit Ihnen; aber werden Sie mir nicht aufgeregt, wie die Andern. Wollen Sie freiwillig oder gewaltsam entführt werden? Sie haben die Wahl.“

Die blaffe Louise erbebte wieder.

„Die Abrede war, ich sollte nur bis zum Thore mitfahren.“

„Der Mensch denkt, Gott lenkt. Ich bitte um Ihre gütige Antwort.“

[651] „Louise, Du bist frei,“ wollte der Herr von Thilo das Wort nehmen.

„Du schweigst; ich habe allein mit dem Fräulein zu reden. Also, mein Fräulein? Aber vorher eine kurze Geschichte. Ihr Nachbar da kann sein Leben oder seine Freiheit nur retten als Fürst Hohenstein an der Seite der Fürstin Hohenstein. Verlassen Sie ihn, so ist er in demselben Augenblick unrettbar verloren. Das beschwöre ich Ihnen.“

„O, mein Gott!“ rief die arme Louise.

„Freiwillig oder gewaltsam?“

„Karl, mein Karl!“

„Freiwillig oder –?“

„Mein armer Vater!“

„Das heißt freiwillig.“

Die Gemarterte konnte nur noch weinen.

„Weder freiwillig, noch gewaltsam!“ rief Thilo. „Louise, verzeihe mir. Ich war ein Bösewicht, ein Barbar gegen Dich. Ich bin ein Elender!“

„Ein Narr bist Du!“ sagte der Herr Klein.

„Ein Elender, der Dich unglücklich gemacht hat, der Dich seiner Selbstsucht, seinem Hochmuth, seiner Wildheit opfern wollte. Wie konnte ich so lange verblendet sein! Wie konnte ich Dich so martern, Du Gute, Du Engelsseele! Kannst Du mir verzeihen?“

Die Arme schlang ihre Anne um ihn.

„Ich bleibe bei Dir, Karl, ich kann Dich nicht verlassen!“

„Nein, nein, Du mußt fort, zurück zu Deinem Vater.“

„Himmeldonnerwetter über diese hohe Reitschule himmlischer Tugenden!“ rief der Herr Klein. Wollt Ihr endlich vernünftig werden? Was wollen Sie, Fräulein? Entscheiden Sie sich.“

„Sie kehrt zurück. Ich entsage Dir, Louise. Du hast höhere, heiligere Pflichten.“

„Nun wird es gar zu arg,“ sagte der Herr Klein. „Nun noch Entsagungen! Da muß die Polizei sich hineinmischen. Menschenkinder, wohin würden Euch Eure sublimen Tugenden führen, wenn Ihr nicht eine gute Polizei hättet? Fräulein, Sie fahren mit, und Du, Bursch, nimmst sie mit. Keines von Euch hat jetzt eine Wahl mehr. Ich befehle. Dich hängen sie, wenn sie Dich verläßt, und Sie verzehren sich in Gram, wenn er Sie von sich stößt. Damit Holla! – Für Eure zarten Gewissen aber noch Eins. Ihr fahrt bis Brüssel, unter dem Schutze des Tugendwächters da auf dem Bocke. Von Brüssel aus schreibt Ihr an den Herrn Vater in Berlin, versteht sich re integra, stellt Alles zu seinem Befehle, und es wird sich dann mit Hülfe des Fräulein Charlotte und des Herrn da auf dem Bocke, die ein paar vernünftige Leute zu sein scheinen, schon machen. Lebt wohl!

– Postillon, halt!“

Der Postillon hielt; der Herr Klein sprang aus dem Wagen. Der Wagen fuhr zum Thore hinaus. Herr Klein kehrte in die Stadt zurück. Beim Bürgermeister Heller war reges Leben. Der Herr Geheimerath Fischer war, im Schlafrock, ein Licht in der Hand, langsam die Treppe herunter gekommen, um seine Töchter zu suchen. Unten im Hausflur standen die Nachtwächter und der Gefangenwärter; sie waren bis an die Zähne bewaffnet; vor dem verwegenen Berliner Räuber, der aus der Stadtvogtei ausgebrochen war, wichen sie scheu zurück.

„Ah,“ sagte der Geheimerath vergnügt, „hier gilt doch wieder Achtung vor der Autorität. Man sieht, daß man nicht mehr in der unglücklichen Schweiz ist.“

Aber der aufpassende Bürgermeister hatte den Gensd’armen einen Wink gegeben: „Jetzt ist es Zeit. Er ahnt nichts, und scheint sogar unbewaffnet zu sein.“

Der Geheimerath wurde durch die Gensd’armen von hinten ergriffen; von vorn stürzten jetzt auch die Nachtwächter herbei.

„Aber, meine Herren, was ist denn das?“

„Haben wir Dich, alter Spitzbube!“

„Verwahrt ihn fest; er ist sogar aus der Stadtvogtei ausgebrochen.“

„Allmächtiger Gott, ich? Fünfundzwanzig Jahre lang Criminalrichter an der Stadtvogtei in Berlin!“ Er war in Verzweiflung.

Im Galopp fuhren zwei Extraposten bis unmittelbar an die Hausthür. Die eine war mit vier, die andere mit zwei Pferden bespannt.

„Pferde, frische Pferde!“ schrie man. „Wo sind denn die Pferde?

Sie sind ja seit drei Stunden bestellt!“ so riefen die Bedienten.

Aus der eleganten vierspännigen Equipage stieg ein Herr.

„Herr Postmeister, ich bin sehr eilig.“

„Wer sind Sie, mein Herr?“

„Der Fürst Hohenstein.“

Der Fürst war hochgewachsen und hatte ein vornehmes Aussehen.

„Ha!“ ging es hell in dem Bürgermeister auf, „dieser ist der Rechte. Ihr Paß, mein Herr!“

„Ich führe keinen Paß.“

„So sind sie arretirt.“

„Wer, ich?“

„Man kennt Euch Hochverräther, die alle Fürsten vertilgen wollen!“

„Bei Gott,“ sagte der Fürst, wie soeben der Geheimerath.

„Ich, selbst ein Fürst?“

„Das kann Jeder sagen.“

„Aber, Herr, so sehen Sie doch das Wappen meines Wagens an; fragen Sie meine Leute. Und hier, wenn Sie durchaus Geschriebenes wollen, ein Schreiben des Großherzogs an mich.“

In dem Bürgermeister schien es anders hell zu werden. Er sah an dem Wagen das fürstliche Wappen; er sah in dem Schreiben auch ihm bekannte Schriftzüge.

„Aber Postillon, hattet Ihr nicht umgeworfen und den Wagen zerbrochen?“

„Gott bewahre, Herr Postmeister.“

Auch der Bürgermeister stand in Verzweiflung. Der Herr Klein kam um die Ecke.

Vor der Hausthür, in der Thür, im Flur, überall war es beinahe tageshell geworden. Alle Lichter und Laternen des Hauses waren dort versammelt. Jedermann sah den Herrn Klein; der Herr Klein sah Jedermann.

„Herr Klein,“ rief der Geheimerath, „Sie kennen mich, retten Sie mich!“

Der Herr Klein hörte auf den Namen nicht. Der Geheimerath riß sich mit Riesengewalt los. Er stürzte auf den Herrn Klein zu.

„Retten Sie mich, mein Herr! Sie wissen, daß ich der Geheimerath Fischer aus Berlin bin.“

„Mein Herr, ich kenne Sie nicht; ich habe Sie nie gesehen.“

Der Bürgermeister nahm den Herrn Klein auf die Seite.

„Dieser ist der Fürst Hohenstein; ich habe mich überzeugt.“

„Nachdem Sie ihn arretirt hatten?“

„Ja.“

„Man muß sich zuerst überzeugen und dann arretiren.“

„Aber Sie selbst haben mir gesagt –“

„Ich habe Ihnen nichts gesagt.“

„Großer Gott –“

„Haben Sie Schrift oder Zeugen?“

„Aber Sie sind ja –“

„Still. Sie wissen, daß Sie meinen Namen und meine Worte vergessen müssen, so wie Sie sie gehört haben.“

Der Bürgermeister schwieg in neuer Verzweiflung.

„Aber ich will Ihnen beistehen,“ sagte der Herr Klein. „Indeß unter einer Bedingung, die freilich in Ihrem eigenen Interesse liegt. Von der ganzen Geschichte erfährt Niemand weiter etwas. Sir instruiren darnach Ihre Leute. Zudem überlassen Sie mir, verstehen Sie, nur allein jeden ferneren Schritt in der Sache. Wir sind Beide betrogen, und ich werde den Betrügern sofort nachsetzen.“

„Ich verspreche Alles!“ rief der Bürgermeister.

Der Herr Klein wandte sich an den Fürsten:

„Werden Eure Durchlaucht die Gnade haben, ein doppelt zu beklagendes Mißverständniß eines alten, braven, nur zu pflichtgetreuen Beamten, großmüthig zu ignoriren?“

„Gern, mein Herr! Sorgen Sie nur, daß ich Pferde bekomme.“

„Pferde!“ schrie der Bürgermeister seinen Postillonen zu.

Die Pferde waren im Nu da, im Nu vorgespannt; die fürstlichen Equipagen fuhren weiter.

„Hausknecht, mein Pferd!“ sagte Herr Klein zu dem Hausknecht.

„Herr Klein,“ rief der Geheimerath, „so kennen Sie mich doch; befreien Sie mich!“

„Sie, mein Lieber, scheinen von einem beklagenswerthen Mißverständnisse noch nicht befreit zu sein.“ Mit diesen doppelsinnigen Worten schwang der Herr Klein sich auf sein Pferd, und sprengte davon.

Der Geheimerath konnte erst am folgenden Tage aus seinem beklagenswerthen Mißverständnisse befreit werden. Er begriff, da seine älteste Tochter fehlte, den Zusammenhang seines Abenteuers.

Es war zu spät, den Entflohenen nachzusetzen. Er kehrte mit der [652] Jüngeren Tochter auf dem geradesten Wege nach Berlin zurück.

Dort kam ihm der Herr Stadtgerichtsrath Hartmann mit Briefen der Entflohenen aus Brüssel und zugleich mit der Bitte entgegen, ihm, dem Herrn Hartmann, Fräulein Charlotte zur Frau zu geben.

Fräulein Charlotte sagte dabei: „Zwei glückliche Töchter als Bräute, Vater, oder zwei unglückliche Nonnen. Wird Louise nicht Frau Thilo, so muß sie in’s Kloster gehen, und geht sie hinein, so muß ich auch hineingehen.“

Die Logik seiner jüngsten Tochter leuchtete dem Geheimerath wieder ein. Er feierte bald nachher die Hochzeiten seiner beiden Töchter in Brüssel. Von dem Herrn Klein aber durfte ihm Niemand sprechen.


Auch der Schreiber dieser Zeilen hat von Herrn Klein nichts weiter erfahren können. Wer überhaupt dieser Herr war, ob er noch in Amt und Würden, und wie er zu diesen gekommen und in diesen gewirkt – darüber schwebt ein Geheimniß, das vielleicht die Zukunft noch lösen wird.






Ein französisches Dichterleben.
(Mit Portrait Chateaubriand’s.)

Betrachtet man das Leben jenes Mannes, den wir in nachfolgenden Zeilen schildern wollen und der für alle Zeiten einer der ausgezeichnetsten Geister genannt werden wird, so gibt Chateaubriand ebenso wie Goethe das Epos seiner Zeit. Beide haben die Fülle des Nationalsinnes in sich aufgenommen, die ganze Substanz ihres Volkes in sich eingeknetet und Goethe’s wie Chateaubriand’s Werke enthalten allen Reichthum der Welt, alle Kunst des Dichters, alle Weisheit ihres Zeitalters. Beide stehen da, wie die Repräsentanten ihrer Epoche, aber mit der ruhigen Denkerstirn über den schaumspritzenden Wogen dieser Welt.

Francois Auguste, Vicomte de Chateaubriand wurde 1769 zu Saint-Malo in der Bretagne geboren. Die Montmorency’s und die alten Herzöge der Bretagne rechneten sich zu ihren Ahnen, und das alte Blut der Normannen hatte sich in keinem Gliede der Familie jemals verleugnet. Die Familie Chateaubriand’s, welche zu stolz war, dem Hofe zu dienen, war arm; ihre meisten Güter verkauft und nichts als das alte Schloß Combourg gehörte den stolzen Grafen von Chateaubriand.

Der Chevalier, wie Chateaubriand als der Jüngste genannt wurde, kam mit seinem zwölften Jahre auf das College nach Dol. Der Chevalier war ein sonderbarer Kauz; bald heiter, bald träumerisch; bald im wilden Spiel mit den Straßenjungen, dann plötzlich in sich gekehrt, der „Lehrling der Einsamkeit;“ bald lernte er gar nichts, bald setzte er mit seinen fließenden lateinischen Versen das ganze Lehrerkollegium in Verwunderung.

Nachdem der junge Chevalier auch den Kursus auf dem College zu Rennes beendet hatte, galt es, einen Stand zu ergreifen. Der alte Papa kommandirte den Träumer auf die Marine; Chateaubriand kam wieder zurück, und versicherte, daß die Marine nicht für ihn passe. Der Vater kommandirte ihn darauf als Priester in ein Seminar; der Herr Sohn lief aber wieder fort, und sagte dem alten Grafen, daß das Seminar unausstehlich sei. Von nun an lebte der junge Mann im väterlichen Hause; unglücklich, sehnsuchtsvoll und im Widerstreit mit dem Ideal und dem Leben, erstand aus der Tiefe seines Gemüths der Dichter. Die Schwermuth drückte seine glühende Stirn, und der dichterische Schmerz stieg eines Tages so hoch, daß der Schwärmer mit einem Gewehr in den Wald lief, um sich zu tödten.

Eines Tages läßt ihn sein Vater rufen. Der alte Vicomte nimmt feierlich seinen alten Degen von der Wand, überreicht ihn seinem jüngsten Sohne und zugleich das Patent als Unterlieutenant im Regiment Navarra. Mit der Empfehlung, niemals das blanke Wappenschild derer von Chateaubriand zu beflecken, entläßt der alte Herr seinen Sohn, und dieser geht zu seinem Regiment nach Dieppe, in weißer Uniform, weiß gepudert und mit rosigen Wangen.

Im Anfang des Jahres 1789 wird der junge Lieutenant nach Paris gerufen. Malesherbes nahm sich seiner väterlich an, und stellte ihn bei Hofe vor, nachdem er, um courfähig zu sein, zum Hauptmann gemacht worden war. Der junge Chateaubriand fand indessen keinerlei Reiz darin, dem Könige auf der Jagd zu folgen, und ihn beim Lever das Hemd zu wechseln; er zog es vor, mit den literarischen Notabilitäten jener Periode zu verkehren, einem Fontanes, Bertin, Laharpe und Champfort, welcher von seinen Versen meinte, sie seien so übel nicht für einen Edelmann; ja, der jugendliche Dichter, welcher noch keine Ahnung hatte, daß er dereinst der ganzen damaligen gepuderten und mit Schönpflästerchen bedeckten, bleichen, süßlich faden, kalt geistreichen Poesie der Boudoirs den Garaus machen sollte, brachte es zu der Ehre, daß durch große Protektion eine Idylle von ihm in den Musenalmanach aufgenommen wurde.

Die Revolution begann und Chateaubriand, überdies als treuer Schüler Rousseau’s ein Feind der bürgerlichen Gesellschaft, sehnte sich fort aus Paris, nach den Urwäldern hin, in welche Rousseau die Menschen, um glücklich zu werden, hineinjagen wollte. Amerika hatte damals durch Lafayette und Washington einen Glorienschein; zudem hatte es Wälder und Indianer – genug, der Chevalier Chateaubriand beschließt, sich nach Amerika einzuschiffen, die Menschen zu fliehen und die Epopöe des Naturmenschen zu dichten.

Chateaubriand’s erstes Geschäft in Amerika war, Washington einen Brief zu überreichen. Dann reiste er mit großer Eile, um der Civilisation zu entrinnen, über Baltimore, Philadelphia, Newyork und Boston den kanadischen Wäldern zu, wo er überselig war, endlich keine Wege und keine Städte, keine Menschen und Steinhäuser, keine Könige und keine Demagogen mehr zu finden. Das Entzücken über seinen Naturzustand, in welchem er zärtlich die alten Bäume umarmte, ließ seinem ernsthaften holländischen Bedienten bedenklich den Sancho-Pansakopf schütteln und verleitete ihn, nach einigen Wochen seinen Herrn bei den Wilden sitzen zu lassen, um so mehr, als er Rousseau nicht gelesen hatte, und folglich am Naturzustande keinen Geschmack fand.

Chateaubriand begann nun ganz „wild“ zu leben; er aß mit den Wilden, deren Jungfrauen den weißen Fremdling lieben; er raucht mit ihnen das Kalumet und trinkt das „flüssige Feuer;“ er sieht zu, wie ein französischer Tanzmeister den jungen Irokesen Unterricht in seiner Kunst ertheilt, indem er seine Zöglinge immer ces messieurs sauvages et ces dames sauvages titulirt; er schläft endlich auf der Bärenhaut, inmitten rothhäutiger Indianerinnen. Nach einem Jahre solchen Lebens erblickt der junge Mann eines Tages in dem Hause eines Farmers eine englische Zeitung, welche die Beschreibung von der Flucht Ludwig’s XVI. enthält und die Flucht des Adels nach den Grenzen, um Frankreich von da aus wieder zu erobern. Chateaubriand erinnert sich, daß er Edelmann und Offizier ist; er glaubt den Ruf der Ehre zu hören; er verläßt seine geliebte Wildniß, sagt den rothen, ihn liebenden Indianerinnen Lebewohl, und eilt nach Philadelphia, um sich nach Frankreich einzuschiffen. Er hatte in den Wäldern aber vergessen, daß ein civilisirter Mensch Geld haben muß, und der Schiffskapitain mußte seinen Passagier auf sein ehrliches Gesicht mitnehmen.

Schiffbrüchig kam er in St.-Malo an, und nachdem er sich dort verheirathet, ging er nach Paris, um von dort aus die Grenze zu erreichen, da die Emigration damals Ehrensache war. Aber es fehlte an Geld. Ein Notar streckt dem Exlieutenant endlich 12,000 Franken vor; der Chevalier betritt zufällig ein Spielhaus, und verliert sein Vermögen bis auf 1500 Franks. Mit dieser Summe reist Chateaubriand und seine Frau zu den französischen Prinzen nach Koblenz.

Um für den König zu wirken, trat er darauf als gemeiner Soldat in das Regiment der Edelleute, welche Thionville belagerten. Chateaubriand schickte sich als Poet in das Leben, trug seinen Tornister, kochte die Suppe und wusch sein Hemd am nächsten Bach mit aller Eleganz eines Edelmannes und dem Gleichmuth eines Menschen, der vom Niagara kommt, um sich eine Wunde und die Blattern vor Thionville zu holen. Krank, verwundet und auf dem Rückzuge nach dem Rhein, schleppte sich der Chevalier mit; endlich sank er todesmüde in den Ardennen nieder. Vorübergehende Köhler rafften ihn jedoch auf, und lieferten ihn an eine vorbeiziehende Kompagnie ab, mit welcher er nach Brüssel kam. Von da aus ging er, nach dem Tode Ludwig’s XVI., nach London.

In England lernte Chateaubriand die traurigste Noth kennen. Ohne Geld, wohnte er mit einem Freunde zusammen; oft blieben [653] Beide ganze Tage im Bette, weil sie kein Holz zum Heizen hatten; oft fehlte das Mittagsessen und am Tage vermochten sie wegen der Durchsichtigkeit ihrer Kleidungsstücke nicht auszugehen. Nicht dreißig Jahre später war ganz London in Bewegung, als derselbe Mann am 4. April 1822 auf englischem Boden landete; diesmal nicht der arme, unbekannte Flüchtling, sondern der weltberühmte Dichter, der Pair von Frankreich, der Gesandte des allerchristlichsten Königs! – Zu jener Zeit war es auch, wo Chateaubriand’s literarische Laufbahn begann; seine Atala, René, die Natschez und der historische Versuch waren die Früchte jenes Aufenthaltes und der reichen Erfahrungen des jungen Dichters. Der „historische Versuch“ erschien zuerst 1798 zu London und löst mehrere Fragen über die Revolution Frankreichs.

Als Bonaparte im November 1799 das Direktorium gestürzt hatte, da hielt man die Revolution für geschlossen. Der Adel kehrte wieder zu den Ruinen und Herden seiner Schlösser und auch Chateaubriand kam nach siebenjähriger Abwesenheit, 1800, nach Paris zurück. Obgleich Royalist aus Vernunft, erwarb sich der junge Autor doch bald die volle Gunst des Konsuls, um so mehr, als dieser aufrichtig die Bewunderung für jene jetzt weltberühmten Werke „Atala“ (1801), „René“ (1802) und besonders „der Geist des Christenthums“ (1802) theilte. So war es denn nichts Auffälliges, daß der junge Edelmann 1803 zum ersten Gesandtschafts-Sekretair beim Kardinal Fesch in Rom ernannt wurde. Von da aus sollte er als bevollmächtigter Minister nach Wallis gehen, als die Hinrichtung des Herzogs von Enghien bekannt wurde. Chateaubriand schickte darauf seine motivirte Demission an Napoleon und wies alle Anerbietungen zu anderen Würden, sowie die aufrichtige Achtung des großen Kaisers mit männlicher Offenheit zurück, so daß Napoleon von seinem Gegner immer mit Achtung und unverhohlener Neigung sprach.

Der Verfasser „vom Geiste des Christenthums,“ welches Buch damals ganz Europa entzückte, zog sich 1804 in’s Privatleben zurück und sammelte die Mittel zu seiner projektirten Reise nach Jerusalem. Im Juli 1806 trat der Vicomte diese durch seine später erschienenen Werke „die Märtyrer“ und den „Itineraire“ berühmt gewordene Reise an, durchwanderte Griechenland, die Cykladen, die Türkei und gelangte endlich nach Jerusalem, bei dessen Anblick der fromme Schwärmer voller Inbrunst auf die Knien sank. Von Palästina durchwanderte er darauf Egypten und endlich Spanien. In der Alhambra von Granada dichtete er die köstliche Dichtung von dem letzten der Abenceragen, welche erst zwanzig Jahre später erschien und von der das Manuskript jahrelang verpfändet war, gleich einem Edelstein, den die Könige in schweren Zeiten in fremde Hände als Pfand niederlegen. Arm kam Chateaubriand nach Frankreich zurück, wenn auch der Ertrag der „Martyrs,“ die 1809 erschienen und des „Itineraire,“ welches nach zwei Jahren folgte, einen reichlichen Ersatz für die Reisekosten gab.

Die Sonne von Austerlitz fing an zu erbleichen und der kalte Eiswind Rußlands wehte Napoleon den Tod in die Glieder. Da begann die politische Laufbahn Chateaubriand’s, welcher furchtbare Anklagen gegen den gestürzten Cäsar in seiner berühmten Flugschrift „Bonaparte und die Bourbonen“ aufgehäuft und mit der glühenden Beredsamkeit in diesem Pamphlet, wie Ludwig XVIII. sagte, dem Könige eine Armee geliefert hatte. Mit dem unglaublichen Erfolg dieser an Beredtsamkeit erhabenen Broschüre begann der Vicomte eine politische Macht mit dem Dichterruhm zu verweben. Der König ernannte ihn zum Gesandten in Schweden. Bevor aber Chateaubriand sich auf den Weg begeben, hatte der Napoleonische Adler von Elba aus seinen Flug von Thurm zu Thurm mit Zauberkraft bis zu den Thürmen von Notredame gemacht. Auf dem Kirchweiler von Waterloo sang er sein Schwanenlied und erst siebenunddreißig Jahre später sah man ihn stolz auf den Zinnen der alten Tuilerien wieder. Chateaubriand war Ludwig XVIII. nach Gent gefolgt und zog hundert Tage später als Staatsrath mit der Bourbonendynastie wieder nach Paris. Nach seinem heftigen Angriff gegen die Verwaltung des Ministeriums Richelieu wurde er 1816 als Staatsrath entlassen.

Der weltberühmte Dichter war nun genöthigt, selbst seine Bibliothek zu verkaufen und zum Theil, um seinen Lebensunterhalt zu gewinnen, zum Theil, um seinen Groll gegen die herrschende Politik auszulasten, gründete er das Ultrablatt „Les Conservateur.“ Gefürchtet als Oppositionsmann, entfernte man den Vicomte aus Paris, indem man ihm die Gesandtschaft in Berlin 1821 gab, welche er durch seine berühmten Verse auf das Grab der Königin Louise verewigte. Im nächsten Jahre wurde er zum Gesandten am Londoner Hofe ernannt und mit Enthusiasmus von der gebildeten Welt des alten Albions begrüßt.

Die reaktionäre Bourbonenherrschaft genügte schon lange nicht mehr dem genialen Geiste, obgleich er noch kurz zuvor, beim Tode Ludwig XVIII. die berühmte Flugschrift „Le roi est mort, vive les roi“ herausgegeben hatte und selbst ein Mitglied des Ministeriums Billéle bildete. Der verdrießliche Minister des Auswärtigen beschloß sich zu der Partei der Liberalen hinzuschlagen und mit Eclat seine Verdrießlichkeiten mit dem bestehenden Regime an den Tag zu legen. Billéle schlug die bekannte Rentenreduktion vor, Chateaubriand hatte das Septennalitätsgesetz zu vertheidigen. Billéle wurde geschlagen und Chateaubriand dachte gar nicht daran, den Mund in der Deputirtenkammer aufzuthun, um seinen Collegen zu unterstützen. Am nächsten Sonntage wurde der Vicomte abgesetzt, und zwar auf eine höchst unhöfliche Weise. Er brauchte nur zwei Stunden Zeit, um sein Hotel zu räumen und Billéle die Schlüssel zu überschicken. Chateaubriand wurde von nun an eine liberale Celebrität; das mächtige Journal des Débate zog mit klingendem Spiele dem Vicomte nach; die ganze Jugend Frankreichs schaarte sich um ihn, und niemals erlitt die Herrschaft der Lilien wohl einen gewaltigeren Stoß, als mit Chateaubriand’s Entlassung 1824. Noch einmal diente er den Bourbonen als Gesandter in Rom, doch nahm er schon 1829 wieder seine Entlassung, als Polignac Minister wurde.

Die Julirevolution veränderte das Gesicht der Welt. Eine neue Zeit und eine frische Jugend kam überall auf den Thron. Nach einem kurzen Kampf hatte in ganz Europa der Fortschritt der Geister gesiegt. Chateaubriand eilte nach Paris; das Volk erkennt ihn und trägt ihn im Triumph nach der Pairskammer, wo der Gefeierte seine berühmte glänzende Rede zur Verherrlichung der eben gestürzten Dynastie hielt und seine Würde als Pair niederlegt. Das war die sonderbare Antwort, welche Chateaubriand dem Triumphe hielt, den ihm das Volk im Jubel über den Sturz der Bourbonen bereitet hatte. Der Vicomte dachte gar nicht an eine dritte Restauration, sondern prophezeihte vielmehr die Republik; aber er blieb Legitimist aus reiner Gefälligkeit und ahmte Kato nach, indem er sich für eine besiegte Sache erklärte und in die Dürftigkeit seines Privatlebens zurückkehrte. Man hat mit Recht Chateaubriand wie den Januskopf geschildert. Mit dem einen Gesicht sieht er zurück, mit dem andern nach vorwärts; er war ein Universalgeist, an dem eine neue Zeit sich emporgerankt hatte. Mit seinem Kopfe preist er die „Frömmigkeit“ Karl’s X. und rühmt die Tugend der Herzogin von Berry, der er mit galanter Emphase zuruft: „Madame, Ihr Sohn ist mein König!“ Mit seinem Herzen liebt er die Republik und verspricht einen allgemeinen Sieg der Demokratie. Dies hat er deutlich in seinen bekannt gewordenen Fragmenten der Memoiren bewiesen.

Einer der ausgezeichnetsten Geister aller Zeiten, repräsentirt er seine ganze Zeit. Mit den Füßen in dem Boden der alten edelmännischen Königstreue, ragt er mit seinem greisen Haupte bis in die Ideenwelt der neuen Epoche hinein, die er mit vorbereitet hatte. Er war Alles und Alles ganz; Historiker, Dichter und Philosoph; Diplomat, Staatsmann und Publizist; Republikaner aus Neigung, Legitimist aus Pflicht und Royalist aus Vernunft. So starb er, zurückgezogen, im Jahre 1848, nachdem er die neue Zeit noch durch das Victoriageschrei des Volkes gekrönt gesehen. Wie diese neue Zeit wiederum vom Throne gestürzt worden, das war vielleicht eins der Ereignisse von seinen Mémoires d'outr-tombe!

E. Schmidt-Weißenfels.




Eine nicht anerkannte Königin von England.

Es hat wohl kaum je ein Prozeß so großes und allgemeines Aufsehen erregt und zu gleicher Zeit so skandalöse Dinge zu Tage gebracht als der, welcher im englischen Parlamente wegen der ehelichen Verhältnisse des Prinzen von Wales (später Georg IV.) [654] und dessen Gemahlin, Caroline von Braunschweig, verhandelt wurde. In diesen Verhandlungen, wie vor und nach denselben, ist sehr häufig der Name der Mrs. Fitzherbert genannt worden, deren Schönheit und Liebenswürdigkeit Sheridan zu glänzenden Reden begeisterte, und um deretwillen Brougham den Monarchen Großbritanniens öffentlich des Treubruchs und des Verbrechens der Doppelehe anklagte. Die wirkliche Geschichte dieser merkwürdigen und ungewöhnlich unglücklichen Frau blieb aber bis auf unsere Tage in ein geheimnißvolles Dunkel gehüllt. Einige haben sie Prinzessin von Wales genannt, andere aber zu den Unglücklichen gezählt, welche ihre Ehre der Laune eines Fürsten opferten, der von Schmeichlern als „der erste Gentleman in Europa“ gepriesen worden ist. Erst neuerdings erschien eine, so weit es bis heute möglich ist, auf Dokumente begründete Biographie der viel geprüften Frau. An diese Schrift halten wir uns bei der nachstehenden Erzählung.

Marianne (oder Maria) Smythe wurde genau vor hundert Jahren in Brainbridge geboren. Ihr Vater war reich. Sie wuchs in Luxus auf. Als Kind begleitete sie ihre Eltern nach Versailles und sah da eines Tages Ludwig XV. bei Tafel ein Huhn mit den Finger zerpflücken, wie es seine Gewohnheit war. Sie lachte laut über diese Eßmanier des Monarchen, der sich aber nicht erzürnte, sondern die kleine Engländerin mit Bonbons beschenkte. Sie entwickelte sich zu einem ungewöhnlich schönen Mädchen und heirathete in ihrem neunzehnten Jahre einen Herrn Weld, der indeß wenige Monate nach der Hochzeit starb. Drei Jahre später verheirathete sie sich wieder mit einem Thomas Fitzherbert, der auch nicht lange lebte und seiner kinderlosen Wittwe ein jährliches Einkommen von etwa 70,000 Thlrn. hinterließ.

Vier Jahre darauf sah der damalige Prinz von Wales die neunundzwanzigjährige blühende Wittwe zum ersten Mal. Er war dreiundzwanzig Jahre alt und durch seine Lebensweise in ganz Europa bekannt. Wie alle anderen, verliebte er sich in die Schöne und er bot ihr den Platz in seinem Herzen an, welchen vielleicht eben eine Tänzerin inne gehabt hatte. Sie lehnte den Antrag ab. Der Prinz, durch solche Tugendhaftigkeit überrascht, die ihm noch nie vorgekommen war, wurde dringender, schickte auch mehrere seiner beredtesten Freunde, einen Schatz von Geschenken und kostbare Juwelen. Die schöne Wittwe nahm weder die Abgeordneten noch die Geschenke an. Da gerieth Se. königl. Hoheit in Verzweiflung. Abstehen konnte er unmöglich, denn dann wäre es ja um seinen Ruf geschehen gewesen, um den Ruf nämlich seiner Unwiderstehlichkeit. Um neue Mittel und Wege war er nicht verlegen und so ließ er denn der Wittwe seine Hand – eine Heirath – antragen, ein sehr kühner und gewagter Antrag, denn abgesehen davon, daß die Wittwe als eine Bürgerliche zur Gemahlin des Kronprinzen sich nicht eignete, gehörte sie der katholischen Kirche an, und ein Gesetz entzog jedem Prinzen, der eine Katholikin heirathete, die Thronfolge. Trotz allem dem erbot sich der Prinz von Wales wohlbedächtig die Wittwe zu heirathen und die Wittwe schlug den Antrag eben so wohlbedächtig aus.

Das war mehr als die prinzliche Natur zu ertragen vermochte. Daß eine Dame eine Ehe zur linken Hand ablehnte, ließ sich allenfalls begreifen, in keiner Weise schien es aber menschenmöglich zu sein, daß eine Wittwe, eine bürgerliche Wittwe, eine völlig rechtmäßige eheliche Verbindung mit dem Thronerben von sich weise. Der Prinz von Wales begab sich also nach Hause und – erstach sich.

Da jagten denn Wagen über Stock und Stein, daß die Funken stoben, zu der hartherzigen Wittwe und zwei Lords, ein Arzt und ein Stallmeister beschworen sie, sie möge sich doch wenigstens so weit erweichen lassen, um den Prinzen noch einmal zu sehen bevor er sterbe. Sie ahnte nichts Arges und stellte nur die Bedingung, daß eine hochgestellte Dame sie begleite. Die schöne Georgiana von Devonshire ließ sich dazu bereit finden und ehe der nächste Morgen tagte, standen Beide an dem Bett des Prinzen. Da lag er, mit Blut befleckt und hielt in der einen Hand ein Glas mit Branntwein und Wasser, in der andern die zarten Finger der Wittwe Fitzherbert. Nichts konnte ihn heilen als ihre Einwilligung, seine Gemahlin zu werden. Sagte sie „nein,“ so müßte und würde er, flüsterte er, vor ihren Augen sterben. Die geängstigte, bestürmte Frau ließ sich durch gefällige Hände einen Ring der Herzogin Georgiana von Devonshire an den Finger stecken und stammelte das Versprechen, die ihr gebotene prinzliche Hand anzunehmen. Als man sie nach vielen Jahren fragte, ob sie denn geglaubt, daß der Prinz sich wirklich verwundet habe, erklärte sie erröthend, sie habe allerdings Blut an ihm gesehen.

Am nächsten Tage fühlte sie Reue über das ihr fast abgenöthigte Versprechen und sie entfloh nach Holland. Der englische Gesandte unterhandelte damals gerade wegen der Hand der Prinzessin von Oranien für den Prinzen von Wales und so mußte sie nach Frankreich fliehen. Dahin folgten ihr so viel Couriere des Prinzen, daß auf einmal drei von den französischen Grenzbehörden, angehalten und verhaftet wurden, weil man sie für politische Agenten hielt. Wie konnte eine schwache Frau solchen Anstürmungen widerstehen? Sie versprach also wenigstens keinem andern als dem Prinzen ihre Hand zu geben. Das war doch etwas und es kam nun darauf an, sie nach England zurückzubringen. Sie hatte nach jenem Versprechen keinen Grund mehr, dies zu verweigern; sie kehrte nach England zurück und bald darauf wurde sie mit dem Prinzen von Wales getraut.

Die Trauung verrichtete ein protestantischer Geistlicher in Beisein des Oheims und des Bruders der Braut, die Beide als Zeugen sich mit unterschrieben. Es fehlte durchaus keine gesetzliche Formalität, so daß die Ehe nach dem englischen Rechte eine vollständig giltige, eine unauflösliche und beide Theile bindende war.

Bald nach der Trauung schrieb Charles James Fox, damals der Führer der Opposition in dem Parlamente, an den Prinzen, um ihm mitzutheilen, wenn er eine Ehe mit der Wittwe, Fitzherbert eingehe, werde dies ihm vom größten Nachtheile sein und der Prinz antwortete ohne Bedenken: an den Gerüchten, die man in der letzten Zeit böswillig ausgestreut habe, sei ganz und gar nichts begründet. Als dann im Parlamente die Gerüchte zur Sprache kamen, der Prinz habe sich verheirathet, erhob sich Fox, auf diesen Brief gestützt, und erklärte das Reden für Lüge und böswillige Erfindung. Höchst wahrscheinlich glaubte er, was er sagte und war in die wirklichen Verhältnisse nicht eingeweiht. Am Tage nach dieser Rede, erzählt die Fitzherbert selbst, wurde es in ihrem Hause nicht leer von Besuchern, die zu ihr eilten, um ihr die Versicherung auszudrücken, daß sie an solche verläumderische Beschuldigungen nicht glaubten. Wie die Sache zusammenhing, erfuhr sie erst Abends von dem Prinzen selbst. Er faßte ihre Hände und sagte ihr: „was meinst Du, Maria? Fox hat in voriger Nacht im Unterhause erklärt, wir wären nicht Mann und Frau. Kannst Du so etwas begreifen?“ Sie erblaßte und antwortete nichts, aber sie mochte von dieser Zeit an Fox nicht mehr sehen. Als er die Macht in den Händen hatte, erbot er sich, sie zur Herzogin erheben zu lassen, aber sie lehnte es stets ab.

Eines Tages, zwei oder drei Jahre nach ihrer Verheirathung, war sie zum Diner bei dem Herzoge von Clarence (dem spätern Wilhelm IV.) als sie ein Briefchen von ihrem Gemahl erhielt. Er hatte Lady Jersey gesehen und sein Herz an dieselbe verloren. Von diesem Augenblicke an war die arme Fitzherbert gar nichts mehr für ihn. Der Schlag, der sie so schwer und so ganz unerwartet traf, war entsetzlich für sie, doch scheint sie ihn mit großer Seelenstärke ertragen zu haben.

Sehr bald darauf folgte die Vermählung des Prinzen von Wales mit der Prinzessin Caroline von Braunschweig. Man darf wohl annehmen, daß die Kronadvokaten über die frühere Ehe des Prinzen nicht genau unterrichtet gewesen sind, da sie dieselbe keineswegs für ein Hinderniß ansahen. Die Königin Mutter, welche die Wahrheit kannte, meinte ruhig, ihr Sohn müßte es am besten wissen, ob er heirathen könne oder nicht. Der König selbst erklärte noch am Tage vor der Vermählung, er wolle die Verantwortlichkeit übernehmen, dieselbe nicht geschehen zu lassen, wenn sein Sohn, der Prinz, es wünsche; dieser aber lehnte das Anerbieten des Vaters ab und – die Trauung mit der Prinzessin Caroline erfolgte. Die Fitzherbert öffnete unterdeß, auf den Rath ihrer Freunde, ihr Haus der fashionablen Welt. Der ganze Adel, selbst die königl. Familie, erschien bei ihr und „der König hätte sie nicht liebevoller behandeln können, wenn sie seine Tochter gewesen wäre“ – anstatt Schwiegertochter.

Diese Beweise von Achtung von Seiten der vornehmen Welt Englands, die liebevolle Behandlung von Seiten der königl. Familie, dazu gleichzeitig die Vermählung ihres Gatten mit einer Andern unter dem Jubel des Volkes und allerlei glänzenden Hoffesten, geben zusammen ein Bild, für das wir keinen Namen kennen, das aber nur die erste seltsame Scene in dem Drama ist.

[655] Sofort nach seiner Vermählung mit Caroline von Braunschweig vernachlässigte und beleidigte sie der Prinz. Er kehrte zu der Fitzherbert zurück und nahm bei ihr seine Rechte als Gatte in Anspruch. „Sie selbst,“ sagt ihr Biograph, „befand sich nun ihrem Gewissen gegenüber in einer schwierigen Lage,“ und um sich zu beruhigen, sandte sie ihren Beichtvater nach Rom, um den Rath des Papstes in diesem außerordentlichen Falle sich zu erbitten. Er ließ ihr erklären, sie sei dem Prinzen, als ihrem rechtmäßigen Gatten, Gehorsam schuldig. Sie gab demnach eines Tages dem ganzen Adel ein Frühstück und nahm da öffentlich ihre Stellung als Gemahlin des Prinzen ein. Die Tochter des Prinzen von Carolinen – die Prinzessin Charlotte, die, wenn sie nicht schon 1817 gestorben gewesen wäre, 1830 statt Wilhelm’s IV. den Thron von England bestiegen haben würde – wurde wenig Wochen darauf geboren.

Nach jener Wiederaussöhnung lebte sie acht Jahre mit dem Prinzen, acht glückliche Jahre, wie sie selbst dieselben nennt, obgleich das Paar bisweilen so arm war, daß sie zusammen nicht fünf Sovereigns besaßen. Der Prinz blieb höchst hingebend und die Fitzherbert hoffte das Beste von der Zukunft. Plötzlich aber trat wieder eine Veränderung ein. Lady Seymour hatte im Sterben ihre kleine Tochter der Mrs. Fitzherbert übergeben. Die Verwandten des Kindes, strenggläubige Protestanten, wollten dasselbe nicht in dem Hause einer Katholikin lasten und es blieb dieser nur wegen der Erklärung, „das Kind würde da den Vortheil haben, in Gesellschaft der höchsten Person im Lande zu sein.“ Bei diesen Verhandlungen hatte der Prinz Lady Hertford, eine nahe Verwandte des Kindes, kennen gelernt, welche Mrs. Fitzherbert noch einmal aus seinem Herzen verdrängte. Und diese letztere mußte schweigend zusehen, denn sobald sie sich gegen das Verhältniß erklärte, drohete man ihr das Kind wegzunehmen.

Dieses traurige Leben scheint die Frau mehrere Jahre ertragen zu haben, neben Kränkungen aller Art durch den Prinzen, bis die Sache bei einem Diner, das Ludwig XVIII. von Frankreich gegeben wurde, zum Bruche kam. Da sie keinen Titel führte, so war es herkömmlich, daß, wenn sie bei ihrem Gemahl oder er bei ihr speiste, die Gäste ohne Rücksicht auf Rang Platz nahmen. Bei dieser Gelegenheit zeigte man ihr an, die Gäste würden ihrem Range gemäß sitzen. „Und wo werde ich dann sitzen?“ fragte sie den Prinzen. – „Sie wissen sehr wohl, Madame, daß Sie gar keinen Platz haben.“ – „Keinen,“ antwortete sie, „als den, welchen Sie mir geben.“ Er gab ihr keine Antwort und von diesem Tage an sahen sie einander nicht mehr. Erst nach vielen Jahren als er erkrankte und die Aerzte erklärten, er sei in Lebensgefahr, erweichte sich ihr lang erkaltetes Herz und sie schrieb ihm. Er faßte hastig nach dem Briefe, las ihn und schob ihn unter das Kopfkissen. Er gab aber keine Antwort darauf und sie versicherte später oftmals, daß sie nie etwas mehr geschmerzt habe, als sein Schweigen in diesem Falle. Ehe er starb, nahm er indeß eines ihrer Portraits, die er besaß, ein kleines Miniaturbild an einem Bande, hing sich dasselbe um und verordnete, daß man ihn damit begrabe.

Sein Tod scheint keine Aenderung in ihrer Stellung hervorgebracht zu haben. Als sie Wilhelm IV. zu sprechen wünschte, begab er sich selbst zu ihr. Sie zeigte ihm das Trauzeugniß und Briefe von Georg, die es über allen Zweifel erhoben, daß sie wirklich seine Gattin gewesen und bei deren Lesen dem neuen treuherzigen Könige die Thränen über die Wangen liefen, während er seine Verwunderung laut aussprach, daß sie mit solchen Dokumenten in den Händen so schwere Prüfungen habe über sich ergehen lassen. Er erbot sich sie zur Herzogin zu erheben, sie aber erklärte, sie wünsche keine Aenderung. Der König selbst stellte sie seiner Familie vor und sie speiste oft mit derselben. Mit gleicher Herzlichkeit wurde sie von der königlichen Familie von Frankreich behandelt als sie Paris besuchte; kurz, bis zu ihrem Tode wurde sie in den Kreisen, in welchen sie sich bewegte, so angesehen, als habe sie in der That den Titel einer Prinzessin von Wales und einer Königin von England geführt. Daß sie ein Recht auf diese Titel hatte, ist nicht zweifelhaft, denn da jenes Gesetz, das den Thronerben Englands von der Nachfolge ausschließt, wenn er sich mit einer Katholikin vermählt, nicht in Anwendung gebracht worden ist, war Maria (Mrs. Fitzherbert) unstreitig, gesetzlich und moralisch, von 1820–1830 Königin von England. Caroline von Braunschweig selbst soll bei dem Prozesse gesagt haben, sie sei eigentlich gar nicht die rechtmäßige Gemahlin Georg’s.

König Georg IV. starb 1830, Maria 1837. Nach seinem Tode forderten seine Testamentsvollstrecker, der Herzog von Wellington und Sir William Knighton, Mrs. Fitzherbert auf, die Papiere über ihre Ehe mit dem Verstorbenen ihnen auszuliefern. Sie blieb edelmüthig bis zuletzt und gab dem Ansinnen Folge: sie gab alle Briefe ihres Gemahls, so wie viele andere Papiere zurück, die sämmtlich in Beisein des Herzogs von Wellington und dessen Collegen verbrannt wurden. Dann fragte man sie, welche Forderungen sie an das Vermögen des Verstorbenen habe. Keine, antwortete sie. Der Herzog von York (bekanntlich auch ein Bruder Georg’s IV.) hatte für sie einen Jahrgehalt von 6000 Pf. St. erwirkt; von ihrem Gemahle hatte sie durchaus gar nichts bekommen, im Gegentheil, sie hatte ihr Vermögen hingegeben, um ihn in den Tagen der Armuth zu erhalten. Nur vier Papiere ließ sie nicht mit vernichten, nämlich die Zusicherung des Jahrgehaltes; ein Testament des Königs (wahrscheinlich eins aus früherer Zeit); einen Brief Georg’s über ihre Verheirathung und einen Brief des Geistlichen, der sie trauete. Diese Papiere wurden, von dem Herzoge von Wellington und Knighton, als Testamentsvollstrecker des Königs, so wie von den Lords Albemarle und Stourton, den Beauftragten der Mr. Fitzherbert, versiegelt, bei den Banquiers Coutts u. C. niedergelegt und sie selbst unterzeichnete ein Versprechen, jene Papiere „ohne Vorwissen der Testamentsexecutoren des Königs,“ nicht zu veröffentlichen.

Nach ihrem Tode wurde ihre Trauung mit dem Prinzen von Wales von Neuen, bezweifelt und Lord Stourton wollte als Antwort darauf jene oben genannten Papiere veröffentlichen, der Herzog von Wellington protestirte aber heftig dagegen. Wiederum vergingen Jahre und sämmtliche vier Beauftragte starben; dagegen hatte Lord Stourton seinen Bruder, Charles Langdale, als seinen Nachfolger in dieser Sache im Testamente ernannt.

Als vor Kurzem Lord Holland in seinen Memoiren das Andenken an Mr. Fitzherbert schmähete, suchte Langdale sofort um die Erlaubniß nach, jene Papiere zu veröffentlichen, die man ihm indeß wieder verweigerte. Er schrieb darauf nach Briefen der unglücklichen Frau, die sie seinem Bruder selbst gegeben, die Schrift, aus welcher die vorstehenden Mittheilungen geschöpft sind und die unwiderleglich darthut, daß Maria Fitzherbert die rechtmäßige Gattin Georg’s IV. und folglich eigentlich Königin von England gewesen ist. Hoffentlich bringt die Zeit auch bald die Papiere hervor, welche noch unter Siegel liegen.




Das doppeleisengehäusige Doppel-Dampfschiff

der Ost-Dampfschifffahrtsgesellschaft in London.[1]

Als Babylon seinen berühmten Thurm anfing, welcher in Philologie und Sprachen- und Völkerverwirrung breit auseinander bröckelte, hatte es den Höhepunkt seiner Weltgeschichte schon erreicht, und wie sich der Thurm erhob, sank der babylonische Staat. Man hat behauptet, daß die beiden babylonischen Thürme Großbritanniens einer zu Lande, der Krystall-Palast, und einer für’s Weltmeer, dieses doppeleiserne Riesen-Doppel-Dampfschiff, dieselbe Bedeutung trügen.

Wir wissen nicht, wie’s damit steht, da sich die Sache erst in der Zukunft entscheidet; aber Thatsache ist, daß in beiden babylonischen Thürmen Englands viel Sprachverwirrung herrscht, und es in beiden sowohl an Geist, als am Besten, an Geld, fehlt. Letztere


  1. Wir verweisen hier, um Wiederholungen zu vermeiden, auf eine bereits in Nr. 4. Jahrgang 1855. der Gartenlaube gegebene Schilderung des ungeheuern Werkes, und beschränken uns hier hauptsächlich auf Erläuterung der gegebenen Abbildungen des Grundplanes, eines Längendurchschnitts und einer Totalansicht.

[656]

Fischgestalt Schiffskörpers.

Längendurchschnitt
1) Die obern Salons. 2) Der große Hauptsaal. 3) Kapitainswohnung. 4) Dampfschlotte. 5) Dampfkessel für die Schraube. 6) Kohlebehälter. 7) Die vierflügelige Schraube. 8) Maschinen für die Räder. 9) Schraubenschaft. 10) Maschinen für die Schraube. 11) Wasserdichte Querwände. 12) Eiserne Decks für Kräftigung des Vordertheils. 13) Aehnliche für den Hintertheil. 14) Raume für die Ladung. 15)Zimmer für die Beamten. 16) Zimmer für die Matrosen. 17) Dampfkessel für die Rädermaschine.

Das doppeleisengehäusige Doppel-Dampfschiff der Ost Dampfschifffahrtsgesellschaft in London.


klangvolle Sprache ist der klanglosen Zungensprache der Engländer gegenüber noch die einzige verständliche, aber wenn’s an Metall fehlt, womit soll man klingen? Wenn die Kassirer und Banquiers und Direktoren stehlen, wie die Raben, und sich selbst wegstehlen oder fälschen, wie Sadleir, womit soll man sich dann noch verständlich machen, und das Glas und Eisen dieser babylonischen Thürme zusammenhalten? Mit Geist? O, dieser altmodische Artikel wird von den respektabeln Engländern viel gründlicher geleugnet, als von den Materialisten in Deutschland. Sie haben nie Geist, sie geben keinen von sich und nehmen keinen, an. Item es sieht aus, wie Babylonischer Thurmbau in England, und man muß sich überall zurufen: Kopf weg!

[657] Früher hab’ ich an einem andern Orte das Gegentheil vom Krystall-Palaste gehofft: der Babylonische Thurm verwirrte die Sprachen und entzweite die Völker, der Krystall-Palast bietet sich ihnen als erster Tempel zu kosmopolitischer Versöhnung. Ebenso das Ungeheuer von Eisen, das 12,000 Personen auf einmal über die Weltmeere jagen, und also einer Nationalversammlung aller Völker und allen ihren Interessen Raum genug bieten würde. Nun, wir wollen sehen, wer Recht hat, ich, der Frühere, oder ich, der Jetzige. Vielleicht wir alle Beide, was auch so viel heißen kann: Keiner von Beiden.

Jetzt wollen wir aber dies nicht sehen, sondern den auf das Wasser gebauten Schiffsthurm von 680 Fuß Höhe, d. h. nun Länge, oder mehr als einem Achtel von einer englischen Meile. Dazu eine Breite von 83, und eine Tiefe von 83 Fuß mit [658] vier Stockwerken oder „Decks“ mit Salons, deren größter 400 Fuß lang ist, also etwa so lang, wie beide entgegengesetzte Thore in einer kleinen Stadt auseinander liegen. Das Ungeheuer kann außer seinem eigenen Körper, wozu allein 10,000 Tonnen Eisen (die Tonne – 20 Centner) gebraucht wurden, noch 22,500 Tonnen Ladung tragen, in Personen 600 erster Klasse, 1800 zweiter Klasse und 10,000 Mann Soldaten mit all ihrem Gepäck und Lebensmitteln, außerdem aber auch noch alle Lebensmittel zu einer Reise nach und von Australien für sich selbst, d. h. 18,000 Tonnen Kohlen.

Dabei hat es sich vorgenommen, in jedem Wind und Wetter sechsmal so schnell zu laufen, als das schnellste Segelschiff, 15 Knoten die Stunde, oder von und nach Australien in 33 bis 36, von und nach Ostindien in 30 bis 33 Tagen, wozu Segelschiffe in der Regel 150 bis 190 Tage brauchen. Diese Schnelligkeit soll es sowohl seinen doppelten Dampftrieben, einer Schraube von 1000 und einem Räderwerk von ebenfalls 1000 („nomineller,“ in der Wirklichkeit höherer) Pferdekraft verdanken, als auch seiner fischartigen Gestalt, die für Schiffe stets sehr nahe lag, da uns die Fische schon seit Jahrtausenden gezeigt haben, mit welcher Gestalt und Ruderkunst man im Wasser am besten vorwärts kommt, die aber hier dennoch zum ersten Male versucht wird. Die Fischgestalt des Schiffskörpers sieht man deutlich an dem Grundrisse Nr. 3.

Nächst der äußern Gestalt sind die Treibmaschinen von besonderer Wichtigkeit. Vier cylindrische Kolben, jeder von 74 Zoll Durchmesser und einem Stoßkreise von 14 Fuß 6 Zoll Durchmesser (so lang ist eine gerade Linie innerhalb ihres Stoßkreises) treiben in direkter Aktion nach dem oscillirenden Principe die Schaufelräder, jedes von 56 Fuß Durchmesser, so daß also ein großes Haus innerhalb ihres Umfanges stehen könnte, und das größte Riesenwerk von Schmiedeeisen, ein 130 Fuß langer Cylinder dreht die Tausendpferdekraft der vierflügeligen Schraube von 24 Fuß Durchmesser (9 der Cylinder oder Schraubenschaft im „Längendurchschnitt“). Diese treibenden 2000 Dampfpferde (in der Wirklichkeit bis 2300 zu steigern) werden aus 100 Oefen, welche zusammen 10 Dampfkessel glühen, mit ihrem unaufhörlichen Futter versorgt, dessen verbrauchte Dämpfe aus 5 Schlotten oben in die Luft hinausdonnern. Räder und Schraube und Oefen und Dampfkessel können einzeln, in jeder beliebigen Quantität, von einander getrennt und mit einander verbunden, einzeln, halb, drei Viertel, voll, vor- und rückwärts, und außerdem die Räder einzeln und das eine vorwärts, das andere rückwärts treibend (wodurch das Schiff, ohne sich von der Stelle zu bewegen, sich dreht) gebraucht werden.

Die Eigenthümlichkeit der Takelage und des Segelwerks ergibt sich aus der Hauptansicht. Nicht so unmittelbar zu sehen ist das ungeheuere „Flush-Deck“, d. h. die ganze, ununterbrochene Ebene des obersten Decks, auf welchem 10,000 Passagiere bequem spazieren gehen können, ohne sich besonders zu incommodiren. Jeder legt durch einmaliges Auf- und Abgehen eine englische Viertelmeile zurück.

Die doppelte, äußere Eisenhaut des Dampfschiff Ungeheuers haben wir in dem frühern Artikel beschrieben, ebenso die zweite Assecuranz gegen Untergang, die einzeln von einander abgeschlossenen, zehn wasserdichten Abtheilungen im innern Körper mit wasserdichten Querwänden, die so in Größe und Umfang eingerichtet sind, daß wenn nach Füllung aller anderen Abtheilungen nur ein wasserdichter Raum verschont bleibt, dieser eine das ganze Schiff noch über Wasser halten kann. Weitere Sicherheit geben die Fülle von Masten und Segeln, die Schraube und die Räder. Jede dieser drei Flügelarten ist zur Noth allein im Stande, das ganze Ungeheuer über den Ocean hin zu treiben.

Von der Einfachheit und Großartigkeit der Konstruktionen kann man sich durch näheres Ansehen und Vergleichen der innern Theile, offen im Längendurchschnitte und Grundrisse, selbst überzeugen, und verweisen wir deshalb auf diese Abbildung nebst den dazu gehörigen Erklärungstext.

Zwischen der äußern und innern Eisenhaut des Schiffskörpers ist ein leerer Raum von 2 Fuß 10 Zoll im Durchmesser. Er bleibt aber nicht leer, sondern ist bestimmt, das Wasser zum Trinken u. s. w., nöthigenfalls 3000 Tonnen, aufzunehmen. Beide Häute, wie alle andern Bestandtheile des Schiffes, sind durch statisch construirte Balken und Krampen von Schmiedeeisen an und in einander gefügt, so daß das Ganze einem ungeheuern Gewebe von Eisen gleicht, welches für unauflöslich und unzerstörbar durch Sturm und Strandung gehalten wird.

Am untern Deck, 10 Fuß über dem geladenen Schiffe, befinden sich große eiserne Thore, durch welche vierspännige Lastwagen mit Gütern von großem Umfange, z. B. Dampfmaschinen, Eisenbahn-Waggons, Locomotiven u. s. w. hineinfahren können, außerdem 60 andere Thore auf jeder Seite und eine Fülle von Fenstern, die alle wasserdicht geschlossen werden können.

Eine Linie, unter der Hauptansicht hinlaufend, zeigt die Tiefe des Schiffes bei voller Ladung an, 28 Fuß, die sich bei der leichtesten möglichen Ladung um 6 Fuß verringert. Dieser geringe Unterschied ist eine Folge des vollkommen ebenen und geraden Bodens, auf welchem das Schiff läuft, auch eine Neuerung, an die man sich noch nicht gewagt hat, weil man bisher glaubt, daß in dieser Beziehung die hölzerne Tradition für Schiffe auch bei eisernen gelte.

Das gigantische Unternehmen ist natürlich eins auf Actien, à 20 Pfund Sterling, mit einem Capitale von 1,200,000 Pfund, das auf 2,000,000 vermehrt werden kann, wenn sich’s findet. In letzterer Beziehung kann die Compagnie freilich nicht sagen: „Suchet, so werdet ihr finden!“ denn sie thut Ersteres, ohne durch Finden belohnt zu werden. Die großartigen Mausereien und Räubereien von Bank- und Compagnie-Directoren (der eine zugleich „sehr ehrenwerthes Parlamentsmitglied,“ nahm sich aus der „königlich britischen Bank“ blos 70,000 Pfund heimlich mit), das Durchbrennen von Kassirern, der geschäftsmäßig betriebene Schwindel unter den höhern Klassen überhaupt, die tausend Millionen Pfund Kriegsschulden, welche England gemacht hat, erst um Napoleon abzusetzen und auf ewige Zeiten aus Europa zu verbannen, dann um einen Napoleon anzuerkennen und wieder gut zu machen, was Wellington und Blücher bei Waterloo verbrochen haben, und mit ihm als „Civilisation“ gegen Barbarei zu kämpfen – die ewige Finanzkrisis, die ewige Quälerei des Volkes, um aus seinen Taschen die Zinsen der 1,000,000,000 Pfund Sterling Kriegsschulden zu bezahlen und die „obersten Zehntausend“ Englands damit zu füttern, das Alles veranlaßt die bereits sehr verschlossenen Capitalisten, ihre Taschen besonders derb zuzuhalten und den Rock und die Geldtaschen von Unten bis Oben zuzuknöpfen. !

Auch sollen der Erfinder und Baumeister des „großen Oster’s,“ wie das Schiff jetzt genannt wird, Mr. Isambord Kingdom Brunel und die ausführende Firma Scott Russel und Co. technisch in Verlegenheit gekommen sein. Die Maschinen zur Schraube und diese selbst sind in der Anstalt von James Watt und Co. in Birmingham gefertigt worden.

Fertig wird die hübsche Nußschale nun wohl werden, denn es steht schon zu viel Capital auf dem Spiele. Ob aber hernach die Karre gehen wird, ist noch die Frage. Und wo sollen alle 2 Monate 10,000 Passagiere oder Ladungen herkommen? Die finden sich wohl auch. Als erste Ladung schlagen wir Transportation der 10,000 großen Hauptschwindler Englands vor, als zweite die französischen. Erstere wollen aber gern deutsche Bauern für Australien hinein locken, und es besteht schon eine Compagnie mit einer Million Thaler für diesen Zweck, deutsche Bauern für Australien anzuwerben, damit sie den von der Aristokratie und ihren Schwindlern bereits in Beschlag genommenen Grund und Boden Australiens urbar machen und ihm einen hohen Werth verleihen, worauf die deutschen Bauern von diesem Grund und Boden weggejagt oder so besteuert werden sollen, daß für sie selbst nichts übrig bleiben kann.

Man will Deutsche dazu, weil diese in Australien allein durch Fleiß und Ausdauer gedeihen. Es ist deshalb unsere Pflicht, schon jetzt zu warnen, und wir werden diese Warnung wiederholen, so oft wir Gelegenheit dazu haben. Mögen wenigstens Diejenigen, die trotz alledem ihr Glück dort zu finden hoffen, sich vorsehen und nicht Kontrakte und Anerbietungen unterzeichnen, die ihre Selbstständigkeit und damit ihre ganze Zukunft gefährden.



[659]
Photo-Galvanographie.
Die neue Erfindung von P. Pretsch aus Wien in London.

Wir wissen, daß die Sonne Maler und die Elektricität Bildhauer geworden. Photographie und Galvanoplastik, welch’ junge, himmlische, zukunftreiche Kunstindustrieen! Sie heißen: Bildung, Schönheit, Lebensfreude in den Häusern und Hütten alles Volkes, Gebilde des Genius und der Wissenschaft, der Kunst und Poesie an allen Wänden, ein schöneres, interessanteres Leben auf dieser lieben Erde überhaupt, eine größere, allgemeiner zugängliche Fülle von Lebensbefriedigung und edlerem Genuß. Das himmlische Licht und der durch alles Leben still und schrankenlos hindurchzuckende Blitz sind als Künstler auf Erden noch jung, noch Anfänger. Man sieht’s ihnen aber schon an, daß was aus ihnen wird und wir mit ihnen. Wie wenn sie trotz Gewerberath und sonstiger weiser Leitung ein Kompagniegeschäft anfingen? Daß sie bluts- und charakterverwandt sind und schon einzeln und in Verbindung fast alle Wunder der Natur thun oder wenigstens die nöthige Beleuchtung (wenn auch nicht immer für uns) dazu liefern, ist bekannt genug. Aber wir meinen: Kompagnons so recht industriell durch Menschen. Nun das Neueste ist, daß sie’s schon sind. Sie haben mit Herrn Paul Pretsch, früherem Faktor der berühmten Wiener Staatsdruckerei, ein Kompagniegeschäft in London, 8 Holloway Place, Holloway Road, Islington, angefangen und eine ganze englische Kompagnie zur industriellen Ausführung dieser merkwürdigen Kombination von Photographie und Galvanoplastik als „Photo-Galvanographie“ gegründet. Sie nennt sich Patent Photo-Galvanographic Company „Patentirte Photo-Galvanographische Kompagnie“ und druckt jedes photographische Bild in genauen Wiederholungen des Originals, wie man Bücher druckt, jedes Bild überhaupt und zwar so, daß die gedruckten Kopieen noch unter der Lupe, dem Mikroskope genaue Wiederholungen des Originals bleiben. Wie wichtig dies nach einer Seite ist, davon gab die Anstalt schon einen schlagenden Beweis. Prinz Albert schickte ihr eine Originalzeichnung Raphael’s, die nur einmal vorhanden ist und deshalb einen fabelhaften Kunstwerth hat und respektive gar nicht mit Geld bezahlt werden kann. Die Anstalt vervielfältigte diese Handzeichnung durch den Pretsch’schen photogalvanographischen Druck so, daß das Original von Niemandem mehr herauszufinden war. Nur durch ein Zeichen auf der Rückseite war es zu erkennen.

Man kann mit der Erfindung von Pretsch den neuerdings aufgetretenen Naturdruck ohne Weiteres als Typographie gebrauchen und, was bisher nur durch Vermittelung des Holzschnitts, des lithographischen Steins, der Kupfer- und Stahlplatte mühsam, zeitraubend, kostbar und niemals ganz genau im Einklange mit dem Original durch den Druck vervielfältigt werden konnte, unmittelbar photographisch-typographisch vervielfältigen. Photographisch, man muß bedenken, was das heißt, namentlich bei Vervielfältigung von Gegenständen der höheren Kunst und tieferen Wissenschaft, wo es auf halbe Haarbreite von Linien und auf Hundertstel und Tausendstel einer Linie ankommt, wie in der Physiologie, Pathologie u. s. w. unter dem Mikroskope.

Der photogalvanische Druck vervielfältigt also, wie die Buchdruckerkunst, aber er druckt zugleich photographisch. Sogar die feinsten Nuancirungen der Farben werden durch bloße Druckerschwärze in Form der feinsten Abstufungen von Licht und Schatten wiedergegeben.

Die Erfindung ist das Ergebniß einer Jahre lang fortgesetzten Reihe von Experimenten in der Wiener Staatsdruckerei, wo Herrn Pretsch Mittel ungewöhnlicher Art zu Gebote standen. Merkwürdiger Weise wollte man sich nur in Wien nicht auf die große Frucht dieser Studien und Versuche einlassen, so daß Herr Pretsch, überzeugt von der Wichtigkeit und dem schönen Kulturwerth seiner Erfindung, sich veranlaßt fand, auszuwandern, wie eine ungeheuere Anzahl anderer deutschen Erfinder, deren Schöpfungen dann später in Deutschland, sehr oft unter englischen, amerikanischen, französischen Namen, mit Staunen begrüßt werden. Es ist im Sinne formeller Patent-Bureaux keine eigentliche Erfindung, weshalb sich auch z. B. Preußen geweigert hat, das in England, Belgien, Holland, Frankreich u. s. w. patentirte Verfahren des Herrn Pretsch für den „Staat der Intelligenz“ zu patentiren. Der feine Chemiker oder wissenschaftliche Photograph ist nämlich allerdings im Stande, mit großer Mühe, Sorgfalt, Vorsicht u. s. w. ein photographisches Bild nachzudrucken, aber blos als wissenschaftliches Kuriosum, ohne Werth und Ausführbarkeit für das praktische Leben. In der Anstalt von Pretsch druckt man aber solche Bilder wohlfeiler und leichter und in beliebiger Anzahl leichter, als Holzschnitte oder Lithographien. Das ist der himmelweite, praktische Unterschied.

Außerdem ist die Erfindung auch technisch durchaus „neu und eigenthümlich,“ um in der Patent-Bureausprache zu reden. Herr Pretsch, stets von der Idee geleitet, daß die typographische Vervielfältigungskunst, die eigentliche Schwingenkraft der Buchdruckerkunst, auch auf Werke der Kunst, der Photographie ausdehnbar sei, versuchte zunächst durch Aetzungen auf Metalle und Steine zu einem Ergebnisse zu kommen, aber ohne die Noth dabei, für verschiedene Tinten auch verschiedene Aetzungen wiederholen zu müssen, zu überwinden. Dabei kam er auf die Idee von der Möglichkeit einer photographischen Erzeugung von Relief- und Intaglio- Theilen (vertieften und erhabenen) auf einer zum Drucken anwendbaren Oberfläche, statt bloßer Licht- und Schattenparthieen. So gab er die Aetzungen mit Säuren auf und suchte photographische d. h. für das Licht empfindliche Flächen durch chemische Substanzen zu gewinnen, in welchen das Licht wirkliche Kupferstecherarbeiten verrichten könne. Diese chemischen Substanzen und deren Verhältnisse hat er gefunden. Wir haben eine Menge dieser blos von Licht und Elektricität geätzten Platten in allen möglichen Größen und für die verschiedensten Kunstgegenstände Abdrücke davon und die Originale gesehen und beide letztere durch scharfe Lupen mit einander verglichen. Diese Vergleiche unter dem Vergrößerungsglase erregen Erstaunen über die Graphirkunst der beiden großen Kompagnons: Licht und Elektricität. Köpfe und Figuren, wie Stecknadeln groß, werden auf den Originalen wie auf den Kopieen zu den herrlichsten, in jeder Linie, jeder Gesichtsmuskel klaren Gestalten. Das können zehn Schwertgeburth’s nicht in zehn Jahren in Kupfer stechen, was Sonne und Elektricität hier umsonst in zehn Tagen thun. Diese galvanographischen Platten, Kalotypen, unter dem bloßen Auge fein ausgeführten Sepia-Zeichnungen ähnlich, übertreffen Alles, was der höchste Künstler mit der feinsten Hand erreichen könnte.

Die vorbereitenden Prozesse zur Gewinnung photogalvanischer Platten sind ähnlich, wie die für den photographischen Prozeß auf Glas. Eine Glasplatte wird mit einer gallertartigen chemischen Mischung von Silber, Jod u. s. w., deren Verhältnisse wir des preußischen Patent-Bureaus wegen im Interesse des Erfinders nicht näher angeben, überzogen und getrocknet. Dann wird die so bekleidete Platte mit dem zu kopirenden Bilde in Verbindung gebracht und dem Lichte ausgesetzt, welches ein feines, schwaches Bild von letzterem auf erstere überträgt. Durch eine Waschung der Platte mit Borax tritt das Bild im Relief hervor. Mit Weingeist gewaschen und mit feinem Kopallack überzogen, in eine adstringirende Flüssigkeit getaucht und der Hitze ausgesetzt, entwickelt sie das Bild im vollen Relief und kann nun für Erzeugung der eigentlichen Druckplatte gebraucht werden. Auf galvanischem Wege gewinnt man nun leicht die verlangte Kupferplatte intaglio und von dieser zurück die Reliefplatte. Für den Druck von ungewöhnlich viel Exemplaren und wenn es außerordentlich schnell gehen soll, lassen sich leicht zwei, drei, vier bis fünf Platten machen und so mit jedem Drucke fünf Exemplare erzeugen, alle genaue Wiederholungen des Originals. Kurz man gewinnt Holzschnitte, Kupferplatten für den Druck ohne die Kosten und die Zeit, welche diese vermittelnden Künste in Anspruch nehmen und zwar Platten, an denen die feinsten aller Künstler jedes Atom des Originals genau wiedergeben.

Man kann auch gleich vom ersten Ueberzuge ein Intaglio- oder eingelichtetes Bild erhalten, statt des Reliefbildes. Das Verfahren dafür ist sehr einfach. Durch Auftragung von Druckerschwärze auf das Intagliobild kann man es sogleich auf Stein oder Zink übertragen und dann damit in gewöhnlicher Weise drucken.

Die bisher gedruckten photogalvanographischen Bilder, obgleich noch den ersten wirklichen Anfang repräsentirend, sind überraschend schön und machen an den Schaufenstern Londons überall, oft zum Schaden des sich drängenden Verkehrs, den fesselndsten Eindruck [660] und zwar mit dem bedeutenden Vorzüge vor andern Aufsehen erregenden Neuigkeiten, daß sie destomehr Bewunderung erregen, je sachverständiger oder kunstgebildeter Jemand ist. Man sieht: es ist ein photographisches Bild und zugleich, daß es gedruckt ist und hält es anfangs für unerhörte Meisterstücke von Mezzo oder Aquatinten-Manier, wobei man sich immer noch nicht erklären kann, wie es möglich war, erstens, so etwas zu drucken, zweitens, die feinsten Nuancen und Eigenthümlichkeiten der wirklichen, im Raume ausgedehnten und von Licht und Schatten modulirten Natur auf eine bloße Papierfläche zu fesseln.

Ein anderer, nicht unbedeutender Vorzug dieser gedruckten Photographieen, und zwar vor den Originalen selbst, ist der, daß die Empfindlichkeit der letzteren für Luft, Licht, Sonne, Feuchtigkeit u. s. w., wodurch sie leicht erblassen oder dunkeln, bei den gedruckten wegfällt, ohne daß sie den Originalen sonst im Geringsten nachstehen. Photographen wissen außerdem, daß mehrere positive Bilder von ein und demselben negativen nie ganz gleich in Schattirung werden. Durch die typographische Vervielfältigung photographischer Bilder sind die Uebelstände mit einem Male gehoben.

Auch die Schnelligkeit, womit die photogalvanographischen Platten vervielfältigt oder erneuert werden können, ist ein wichtiger Vorzug dieser Erfindung. In drei Tagen bis drei Wochen (je nach Größe, Umfang u. s. w.) wird eine Platte fertig, die von dem höchsten Fleiße und der feinsten Kunst menschlicher Hand nur in Monaten, in Jahren auf eine verhältnißmäßig ganz grobe Weise ungefähr dem Originale nachgeahmt werden könnte, während hier Licht und Elektricität den photographischen Prozeß, wodurch die Original-Photographien entstehen, nur eben genau wiederholen, so daß nur die gewöhnliche Hand des Druckers diese in’s Beliebige vervielfältigen kann.

Endlich lassen sich, wie sich das in Folge der photographischen Kunst von selbst versteht, Bilder aller Größen in jedem beliebigen verkleinerten Maßstabe genau wiedergeben, die umfangreichsten Raphael’schen Kartons auf Platten für ein Taschenbuch, von wo man sie wieder durch Vergrößerungsgläser ausdehnen und die feinsten Nuancen der Originale studiren kann.

Die Kompagnie, welche sich zur technischen und industriellen Ausbeutung der Erfindung gebildet hat, gibt jetzt eine Reihe Hefte unter dem Titel: „Photographic Art Treasures“ (Photographische Kunstschätze) in Folio heraus. Das erste Heft, 4 Abdrücke enthaltend, (á 5 Schillinge oder 1 Thlr. 20 Sgr.) ist erschienen und wird durch Buch- und Kunsthändler in Deutschland bereits zu haben sein. Wichtiger und von ausgedehnterem Werthe sind die Gelegenheiten, welche die Kompagnie Buchverlegern und Kunsthändlers, Kattundruckern u. s. w. bietet, ihre Werke oder Muster durch den photogalvanographischen Prozeß zu illustriren oder respektive Platten machen zu lassen. Wer Bücher oder Zeitschriften mit Illustrationen herausgibt, kann sie sich entweder in beliebiger Anzahl von der Kompagnie selbst drucken oder sich die Platten dazu machen lassen. Auch Platten für galvanische Versilberung und Alles, was zur Elektrotypie gehört, Notendruck u. s. w. werden durch diese Erfindung an Schönheit, Wohlfeilheit und Zugänglichkeit zunehmen.

Erst wenn diese neue Licht- und Elektricitäts-Typographie eine solche Ausdehnung in Kunst und Literatur gewonnen, wird man sie gehörig schätzen und würdigen können und ihre Schönheit wirken sehen bis in Kreise hinab, die bis jetzt von keinem Strahle des Schönen erwärmt und erheitert werden.




Blätter und Blütlhen.





Literarisches. Wer hätte wohl jetzt bei der herannahenden Weihnachtszeit die Frage

Was soll ich für ein Buch kaufen?

nicht schon oft gehört, und ihre Schwierigkeit bei der Fülle der neuen Erscheinungen, den Anpreisungen, den Weihnachtsanzeigen und Beilagen mit und ohne Illustrationen nicht schon oft selbst erprobt oder doch beklagen hören. – Vielleicht dürfte Manchem mit dem Hinweis auf eine Sammlung von Handbüchern gedient sein, die sich die Aufgabe stellen, Jedem mit weniger Mühe die Lösung, nach den verschiedensten Richtungen und Zwecken hin, zu ermöglichen – es sind dies die bei Gustav Mayer in Leipzig erschienenen Wegweiser, nämlich:

Schwab und Klüpfel’s Wegweiser durch die deutsche Literatur, circa 1700 Titel systematisch geordnet und mit kurzen Kritiken versehen. 2. Auflage. 3/4 Thlr.

– – – Erster Nachtrag dazu circa 700 Nr. 2/3 Thlr.

– – – Zweiter Nachtrag dazu circa 1100 Nr. 1 Thlr.

Mit Ausschluß der rein fachwissenschaftlichen Literatur führen diese Handbücher, deren letztes bis zu den neuesten Erscheinungen reicht, das Beste aus dem Gesammtgebiete unserer Literatur vor, und leiten die Wahl des Lesern vermittelst der sehr praktischen Anordnung ohne Mühe bis zu dem speciellen Zweck, den er sich gesetzt.

Das was die Schwab’ und Klüpfel’schen Arbeiten auf dem Gesammtgebiete erstreben, will der Bernhardische Wegweiser durch die Volks- und Jugendschriften mit circa 1400 Nr. 2/3 Thlr., sowie der so eben erschienene Erste Nachtrag dazu mit circa 1600 Nr. 24 Ngr. auf den beiden besonderen Gebieten erreichen, die nur zu oft als Aushängeschilder für nichtsnutzige Produkte gemißbraucht werden, und bei denen, da es sich hier meist darum handelt, Lehrstoffe für Andere an Jahren oder Bildung unreife zu wählen, Vorsicht doppelt wünschenswerth erscheint.





Aus Genf wird ein interessanter Fund berichtet.

Es handelt sich nämlich um ein bis jetzt noch ungedrucktes Manuskript von Aug. v. Platen, das unter dem Titel: „der Sieg der Gläubigen, ein geistliches Nachspiel“ in nächster Zeit von Karl Vogt veröffentlicht werden wird. Platen schrieb das Werkchen im Jahre 1817 bei Gelegenheit des bairischen Konkordats. Er las es in einer Abendgesellschaft vor, in welcher sich Schelling befand, der den jungen, damals kaum zwanzigjährigen Dichter dazu bestimmte, so viel an seinem Stücke zu ändern, daß daraus die „neuen Propheten“ entstanden, die sich im dritten Bande seiner Schriften finden. Das Manuskript soll nun in seiner ursprünglichen Gestalt veröffentlicht werden. – Ein Unternehmen, was mit vollen Backen als etwas Neues, Ausgezeichnetes und Echt-Deutsches in allen Zeitungen ausposaunt wurde, scheint trotz allen Anstrengungen keinen Boden zu gewinnen und nirgend anzusprechen. Wir meinen die Gerson’sche Modezeitung, ein Blatt, das sich nur durch die Geschmacklosigkeit seiner Abbildungen und durch die Langweiligkeit seines Textes auszeichnet. Die Artikel des Redakteur Klein allein sind geistreich und haben ein gewisses pikantes Interesse wie Alles, was dieser Autor schreibt.






Soeben erschien bei Ernst Keil in Leipzig: Supplemente zu F. Stolle’s ausgewählten Schriften.
Erster Band:
Der Weltbürger.
Historischer Roman aus den Jahren 1830–1832.
1. Theil. Preis 1/4 Thlr.

Um den vielfach ausgesprochenen Wünschen zu genügen, der billigen Volks- und Familienausgabe von Stolle’s Schriften auch die in den erschienenen 24 Bänden noch fehlenden Werke des beliebten Dichters, namentlich aber den „Weltbürger“ einzuverleiben, hat sich die Verlagshandlung veranlaßt gesehen, zu der ausgewählten Sammlung

Supplemente

erscheinen zu lassen, deren erster Band soeben versandt wurde.

Die Subscribenten auf die 24 früheren Bände der Stolle’schen Schriften sind gebeten, diesen Supplementen eine gleich freundliche Theilnahme zu bereiten.




Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.