Die Gartenlaube (1856)/Heft 47
Wenn man von Frankfurt am Main nach dem Norden reisen will, ohne die neueren großen Straßen, Eisenbahnen u. s. w., zu berühren – man kann manchmal seine Ursachen dazu haben – so nimmt man seinen Weg von Frankfurt nach dem Städtchen Königstein am Abhange des Taunus, wo man zugleich eine sehr schöne, großartige Schloßruine findet, und von dieser aus eine der schönsten Aussichten hat, die der Taunus in so reicher Fülle darbietet. Man gelangt von da weiter auf der alten Poststraße über Limburg, Wetzlar, Gießen, Marburg, Kassel zu seinem nördlichen Ziele.
Es war im Sommer des Jahres 1852, als der Bürgermeister und zugleich Postmeister und Posthalter zu Königstein Herr Heller, des Abends noch etwas spät in dem Bureau saß und behaglich seine Pfeife rauchte. Er war ein „zwölf Jahre gedienter Unteroffizier,“ der auch die „Befreiungskriege“ mitgemacht hatte. Nach Beendigung seiner zwölf Jahre hatte er eine „Civilversorgung“ erhalten; anfangs eine kleine, bis er zuletzt zu jener doppelten, eigentlich dreifachen, avancirt war. Daneben hatte er die Erlaubniß, Gastwirthschaft zu führen, was aber kein Amt war, keinen Gehalt und keinen Titel abwarf, und daher als eine Civilversorgung nicht betrachtet wurde. Er saß in seinem Bureau; man konnte fragen: in welchem der drei Bureaus für jene drei Posten? Allein er hatte mit Erlaubniß seiner hohen Vorgesetzten nur ein einziges Bureau, in welchem jeder der drei Posten seine besondere Ecke und seinen besondern Tisch hatte. Er versah alle seine Geschäfte allein, und so mußte er denn auch natürlich in allen drei Ecken und an allen drei Tischen arbeiten. Indessen machte ihm das keine große Beschwerde, denn alle seine drei Posten waren ja eben „Civilversorgungen.“ Die meiste Zeit brachte er daher auch, wenn die Gastwirthschaft ihn nicht in Anspruch nahm – für die er aber einen Kellner hatte – zwar in seinem Bureau zu, aber in keiner jener drei Ecken, sondern in der vierten, die er für neutrales Gebiet erklärt hatte, und in der er mithin außeramtlich thun konnte, was er wollte, also auch rauchen. Er war übrigens noch eine große, starke, magere Unteroffiziersfigur, hatte aber gleichwohl schon den Anfang dazu gemacht, sich ein kleines, spitzes Bürgermeisterbäuchlein zuzulegen.
Er saß auf seinem neutralen Gebiete und rauchte. Um ihn her war es still, sowohl in seinem Bureau, in seiner Gaststube, als in der Straße des Städtchens. Die Landstraße von Frankfurt nach dem Norden war schon längst durch die neuen Verkehrsstraßen veraltet, und wurde sehr selten mehr befahren. Reisende, die den Königstein besehen wollten, kamen nur aus den Städten und Bädern in der Nähe, Frankfurt, Wiesbaden, Schwalbach u. s. w., und kehrten gleich nach Sonnenuntergang zu den Orten zurück, aus denen sie hergekommen waren. Die Bewohner des Städtchens hatte der Bürgermeister Heller mit zwölf Jahre gewohnter Strenge an Ruhe und Ordnung gewöhnt.
Plötzlich wurde die Stille des Abends unterbrochen. Der Galopp eines Pferdes ließ sich hören; er kam die Straße herauf, von Frankfurt her. Vor dem Hause des Bürgermeisters und Postmeisters, auch Posthalters, hielt er mit einem Male und mit einem lauten, weithin schallenden Peitschenschlage an. Der Bürgermeister – dies war sein vornehmster und deshalb im Verkehre sein einziger Titel – wurde neugierig; aber er blieb auf seinem neutralen Gebiete sitzen; er konnte ja noch nicht wissen, ob überhaupt, oder in welcher seiner amtlichen Eigenschaften er werde in Anspruch genommen werden. In Anspruch sollte er genommen werden.
Nach wenigen Sekunden trat Jemand rasch in das Zimmer. Es war ein kleiner, beweglicher Mann in großen, weiten Reiterstiefeln, die bis über die Knie hinaufreichten, enganliegenden gelbledernen Beinkleidern, strohgelber Weste, blauem kurzen Reitrocke, und kleiner blauer Kappe mit breiter silberner Borde; in der behandschuheten Hand trug er eine große schwere Reitpeitsche. Das ganze Aeußere des Mannes verrieth einen Reisecourier, wie reisende Herrschaften sie früher sehr häufig vorausschickten, um Extrapostpferde, Quartier und andere Nothwendigkeiten und Bequemlichkeiten der Reise vorher zu bestellen. Die neuere Art des Reisens auf Eisenbahnen und in Dampfboten, noch mehr der Telegraph haben sie meist entbehrlich gemacht. Durch Königstein ging weder Eisenbahn, noch Dampfschiff, noch eine Telegraphenlinie.
„Guten Abend, Herr Bürgermeister,“ grüßte der Courier.
„Alle Donnerwetter, Scheerer, wie sieht man Sie denn einmal wieder?“
„Nicht wahr? Schlechte Zeiten, Herr Bürgermeister.“
„Ja, ja, sehr schlechte Zeiten, Herr Scheerer.“
„Kein Verkehr, kein Leben mehr in der Welt.“
„Diese verdammten Eisenbahnen, diese einfältigen Telegraphen –“
„Und vor Allem, Herr Scheerer, diese verdammte Revolution, die ist Alles daran Schuld.“
„Gewiß, gewiß. Aber ich bin eilig, Herr Bürgermeister. Sechs Pferde Extrapost, vier für den herrschaftlichen Wagen und zwei für die Dienerschaft.“
[634] Der Bürgermeister war schon aufgestanden, hatte seine Pfeife weggelegt, und sich an den Posthaltertisch gesetzt.
„Für wen?“ fragte er.
„Für Se. Durchlaucht den Fürsten von Hohenstein.“
„Wie viel Personen?“
„Der Fürst, die Fürstin, Kammerdiener, Kammerfrau, Jäger und Lakei.“
„Wann?“
„Heute Nacht noch. Vor Mitternacht wohl nicht.“
„Heute Nacht schon?“
„Die Herrschaft ist eilig; sie hatte in Heidelberg eine Trauernachricht bekommen.“
„Schön, Herr Scheerer. Notirt. Soll Alles besorgt werden.“
„Gute Nacht, Herr Bürgermeister.“ „Gute Nacht, Herr Scheerer. Keinen Schoppen?“
„Ist schon draußen bestellt. Ich trinke ihn beim Aufsteigen.
Ich bin sehr eilig.“
Er ging. Schon nach einer halben Minute hörte man ihn weiter galoppiren. Er mußte auch seinen Schoppen im Galopp getrunken haben. Der Bürgermeister klingelte. Ein Knecht trat ein.
„Sechs Pferde Extrapost und zwei Postillone. In anderthalb Stunden muß Alles bereit sein.“
Der Knecht ging wieder. Der Bürgermeister wollte aufstehen und sich auf sein neutrales Gebiet zurückverfügen, als wieder der Galopp eines Pferdes laut wurde. Er blieb sitzen; er konnte ja noch einmal als Posthalter fungiren müssen. Das Pferd kam wieder aus der Richtung von Frankfurt und hielt wieder vor seiner Thüre. Gleich darauf trat auch Jemand in das Bureau. Diesmal war es aber ein Gensd’arm. Der Bürgermeister stand auf und setzte sich an seinen Bürgermeistertisch.
Der Gensd’arm übergab ihm ein versiegeltes Schreiben, und wollte sich sofort wieder entfernen.
„So eilig, Herr Schulze?“
„Heute Abend ist der Teufel los, Herr Bürgermeister. Von Frankfurt, von Höchst, von Gattersheim, von aller Welt ist die Gensd’armerie in Bewegung gesetzt. Ich muß schnell weiter nach Würges.“
„Was gibt es denn, Herr Schulze?“
„Sie werden es in dem Schreiben da schon lesen. Gute Nacht, Herr Bürgermeister.“ „Gute Nacht, Herr Schulze.“
„Eine schöne gute Nacht, das. Hole der Teufel alle Revolution.“
„Ja wohl, ja wohl,“ seufzte der Bürgermeister.
Der Gensd’arm galoppirte weiter, ohne einen Schoppen zu trinken. Der Bürgermeister erbrach das Schreiben, und las es. Seine kleinen grauen Augen leuchteten, wichtig, vergnügt, ärgerlich, ingrimmig, alles zu gleicher Zeit. Er zog wieder die Klingel, aber eine andere. Jeder seiner Tische hatte eine besondere Klingel.
Ein Polizeidiener trat ein. Es war eine eben so große, kräftige, magere Figur wie der Bürgermeister, hatte auch eben so kleine graue Augen und einen eben so großen grauen Schnurrbart wie dieser. Aber es fehlte ihm jegliche Ahnung eines spitzen Bauches, und sein Gesicht war nicht wichtig, nicht befehlend, und nicht ingrimmig, sondern sehr melancholisch. Er war gleichfalls ein zwölf Jahre gedienter Unteroffizier, und in seiner Civilversorgung. Aber er hatte es nur bis zum Polizeidiener gebracht, weil er nur nothdürftig lesen und schreiben konnte. Er selbst gab freilich einen andern Grund an; denn er haßte seinen Vorgesetzten, der doch eben nur Unteroffizier gewesen war, wie er.
„Polizeidiener!“
„Herr Bürgermeister?“ knurrte der Polizeidiener, der den Unterschied der Civilversorgung einmal anerkennen mußte.
„Bestelle Er sofort die beiden Gensd’armen des Ortes, zwei Nachtwächter und den Gefangenwärter hierher. Sie sollen eilig sich einfinden; die Gensd’armen völlig bewaffnet, der Gefangenwärter mit seinem Säbel, die Nachtwächter mit ihren Piken.“
„Auch mit ihren Hörnern?“ fragte etwas höhnisch der Polizeidiener.
Der Bürgermeister besann sich. „Auch mit ihren Hörnern,“ sagte er dann sehr wichtig. „Man kann nicht wissen!“
Der Polizeidiener verließ das Zimmer, um die Befehle seines Vorgesetzten auszurichten.
Der Bürgermeister machte noch einmal Miene, sich auf sein neutrales Gebiet zurückzuverfügen; er besann sich aber. Eine gewisse innere Unruhe schien ihn in der stillen, einsamen Bureaustube nicht mehr zu dulden. Er nahm seine Pfeife, zündete sie wieder an, verließ die Stube, und wandte draußen im Gange sich zuerst links nach seinem Familienzimmer hin, kehrte aber fast in demselben Momente um, indem eine Uhr im Gange neun schlug, und um diese Zeit seine Frau sich zu Bette legte, und nahm einen anderen Weg. Gerade seinem Bureau gegenüber, auf der andern Seite des Ganges, lag die Gaststube des Gasthofes; denn Gasthof, Polizeiamt, Postamt, das Alles hatte er in einem und demselben Hause vereinigt. Er ging in die Gaststube.
In dieser befand sich nur ein einziger Gast. Es war ein junger Mann, am Ende der zwanziger oder im Anfange der dreißiger Jahre stehend. Es schien ein Handwerksbursche zu sein; er trug eine Blouse von grauer Leinwand; ein Knotenstock und ein Ränzel lagen neben ihm. Der Mensch schien Zahnschmerzen zu haben; er hatte das Gesicht mit einem breiten, schwarzseidenen Tuche umwunden, und außerdem eine Hand fest auf Mund und Backe gedrückt. Von seinem Gesichte konnte man so nur wenig sehen. Er saß auf einer Bank, die Ellnbogen auf den Tisch vor ihm gestützt. Einen Schoppen Wein und ein Stück Brot, die vor ihn, standen, hatte, er kaum angerührt. Er schien etwas tiefsinnig vor sich hinzublicken, als der Bürgermeister eintrat; er veränderte auch bei dessen Eintreten weder Stellung noch Blick.
Der Bürgermeister sah ihn sehr scharf und prüfend an, gar mit einer gewissen Unruhe. Er trat dann näher an ihn heran.
„Woher des Weges, Landsmann?“ fragte er barsch.
Der Fremde blickte kaum auf. „Von Usingen,“ antwortete er kurz.
„Und wohin weiter?“
„Ist es nöthig, daß ich darauf Antwort gebe?“ antwortete der Fremde, beinahe noch barscher, als der Bürgermeister.
„Ich denke. Ich bin zugleich der Bürgermeister hier.“
„Nach Frankfurt. Wollen Sie auch meinen Paß?“ Die Worte wurden nicht minder barsch gesprochen.
„Hat Er Zahnweh?“ fragte der Bürgermeister.
„Wie Sie sehen.“
„Das ist ein grober Kerl, der ist nicht gefährlich,“ murmelte der Bürgermeister zwischen seinen gesunden Zähnen. Er wandte sich von dem groben Menschen ab, und ging still rauchend in der Stube umher.
Nach einer Weile hörte man wieder auf der Straße den Gang eines Pferdes; aber es war diesmal kein Galopp, sondern ein höchstens etwas rascher Schritt. Der Bürgermeister horchte. Das Pferd hielt vor seinem Hause.
„Alle Donnerwetter, was ist denn heute Abend los?“
Er horchte weiter; er hörte aber nur ein paar Worte draußen, die er nicht deutlich verstehen konnte, und denen die Stimme seines Hausknechtes gleichfalls unverständlich antwortete. Gleich darauf trat ein Fremder in die Gaststube. Es war ein junger Mann in Reisekleidung mit einem feinen, klugen Gesichte und einem ungenirten Wesen. Er sah gleich bei seinem Eintreten sich rasch und lebhaft in der Stube um.
„Der Herr Wirth?“
„Der bin ich.“
„Auch Bürgermeister hier? Herr Bürgermeister Heller?“
„Ich bin der Bürgermeister Heller.“ .
„Einen Schoppen Wein, wenn ich bitten darf, Herr Bürgermeister.“
Den Bürgermeister hatte das kecke, sogar etwas befehlende Wesen des Fremden vom ersten Augenblicke an geärgert.
„Rufen Sie den Kellner,“ sagte er zornig, „dort ist die Klingel.“
Der Fremde ließ sich durch den Zorn nicht irre machen. „Ei,“ sagte er freundlich lachend, gar höflich, „wenn der Herr zu Hause ist, ziemt es sich nicht für die Gäste zu klingeln.“
Dem zwölf Jahre gedienten Unteroffizier war der Sinn dieser Worte wohl zu fein. Vielleicht gerade darum aber, und da doch der Fremde höflich gesprochen hatte, besann er sich kurz und verließ die Stube, das Verlangte zu besorgen.
Sofort stellte der fremde Reiter sich vor den fremden Handwerksburschen. Er schlug die Arme übereinander, sah mit seinen lebhaften Augen den Zähnekranken durchdringend an, und blieb so stumm vor ihm stehen.
[635] Der Handwerksbursche hatte bei dem Eintreten des Reiters nur ein wenig und verstohlen aufgeblickt. Fast in demselben Momente hatte er den Blick wieder gesenkt. Aber er hatte seitdem seinen Gesichtszügen nicht wehren können, den Ausdruck einer großen Unruhe anzunehmen und zu behalten. Das schwarze Tuch und die vor das Gesicht gedrückte Hand konnten diese kaum verbergen. Er wagte auch anfangs nicht, dem durchbohrenden Blicke des mit den gekreuzten Armen stumm vor ihm stehenden Reiters zu begegnen.
Auf einmal aber erhob er sich entschlossen, und stellte sich dicht dem Reiter gegenüber; es war eine hohe, imposante Gestalt.
Er sah den Reiter gleichfalls durchbohrend an, aber mit blitzenden, zornigen Augen.
„Ja,“ sagte er, „Du irrst Dich nicht, ich bin es. Nun, was willst Du?“
„Aber, Mensch,“ erwiederte der Andere, „wie kommst Du hierher? Wie kannst Du es wagen?“
„Ich habe gewagt. Wage auch Du nun.“
„Du traust mir nicht, Thilo!“
Der Andere lachte. „Du hast Dich in eine Lage gebracht, daß Dir kein Mensch mehr traut.“
„Du verkennst mich. Ich bin kein Verräther.“
„So sprechen alle Verräther.“
„Und Ihr seid sogleich mit dem Worte Verräther bei der Hand.“
„Bist Du keiner?“
„Schrei nur nicht so, Mensch.“
„Man kennt Dich hier noch nicht?“
„Man könnte Dich kennen lernen. Mensch, daß Du, zum Tode verurtheilt, nach der Schweiz zurückkehren konntest, war schon ein Wagestück. Aber daß Du auch nach Deutschland kommst, das ist Tollkühnheit, das ist mehr als Tollkühnheit. Die geheimen Steckbriefe kündigen Dich schon seit gestern an. Ich wollte ihnen nicht glauben; ich konnte es nicht begreifen. Jetzt kann ich nicht begreifen, wie Du bis hierher hast kommen können, ohne zehn Mal gefangen zu werden. Wenn ich darüber nachdenke, wie Du weiter oder zurück, wie Du aus der Mausefalle, in der Du sitzest, wieder herauskommen willst, so steht mir der Verstand völlig still. Auf zehn Meilen in der Runde ist jetzt kein Gensd’arm und kein anderer Polizeimensch, der nicht auf Deinen Fang wartet. Du kannst keine zehn Schritte weit gehen, ohne daß sie Dich haben.“
Der anscheinende Handwerksbursch Thilo war etwas unruhig geworden. „Was bist Du denn eigentlich jetzt?“ fragte er, zugleich mißtrauisch.
„Zum Teufel, bekümmere Dich um Dich.“
„Was willst Du von mir? Mit mir?“
„Still! Der Wirth kommt zurück. Setze Dich wieder; habe wieder Zahnweh.“
Der Bürgermeister öffnete schon die Thür. Er brachte den Wein selbst. Der vermeintliche Handwerksbursch Thilo hatte sich in seiner frühern Lage wieder auf die Bank gesetzt. Der Reiter ging pfeifend in der Stube umher. Er schenkte sich ein Glas Wein ein, trank es aus, und stellte sich vor den Bürgermeister.
„Also der Herr Bürgermeister Heller?“ fragte er in seiner kecken, beinahe unverschämten Weise.
Der Bürgermeister blickte zornig, aber auch zugleich neugierig auf den bald so frechen, bald so fröhlichen Fremden. Aus Neugierde hatte er auch wohl selbst den Wein hereingebracht.
„Ich sagte es Ihnen schon,“ antwortete er kurz.
„Früher Unteroffizier gewesen?“
„Ja,“ antwortete der Bürgermeister, noch kürzer und mit wieder steigendem Aerger. Er haßte die Erinnerung an einen früheren Stand, den sein Polizeidiener mit ihm gemein hatte.
Der Andere fuhr unbekümmert fort. „Der jetzige Dienst ist wohl schwerer?“
„Leicht ist er nicht.“
„Und das soll eine Versorgung für einen braven, alten Soldaten sein.“
„Was soll man machen?“
„Richtig; man muß leben. Ihr alter Polizeidiener hat es noch schlechter.“
Der Bürgermeister wurde roth vor Zorn, aber zugleich neugieriger, einem Menschen gegenüber, der seine Verhältnisse so genau zu kennen schien, und der ihm völlig fremd war.
„Er lebt aber auch,“ sagte er.
„Die Polizei macht Ihnen hier wohl am meisten zu schaffen?“
„Es geht.“
Der Fremde lachte. „Gut geantwortet. Es geht auch, wenn der Teufel los ist.“
„Was wollen Sie damit sagen?“
„Ist seit heute Abend nicht der Teufel bei Ihnen los, lieber Herr Bürgermeister Heller?“
Der Bürgermeister stutzte; er sah den fremden Reitersmann neugieriger, mißtrauischer an.
„Also wirklich!“
„Was ist wirklich? Was wissen Sie, Herr?“
„Ich? Nichts. Aber horch, ich höre Waffen! Ah, ah, Sie haben Ihre Gensd’armen schon hierher bestellt. Ich sagte es ja; heute Abend ist bei Ihnen der Teufel los.“
Man hörte wirklich in dem Gange vor der Stube ein leises Geräusch, wie von Waffen. Gleich darauf steckte der alte Polizeidiener sein graues Gesicht durch die Thür.
„Herr Bürgermeister, sie sind da!“
„Plaudertasche!“ brummte der Bürgermeister.
Er verließ verlegen und zornig die Wirthsstube. Der Reiter wandte sich an den Handwerksburschen.
„Es gilt Dir, Thilo, dem zum Tode verurtheilten ehemaligen Kammergerichtsassessor von Thilo, einunddreißig Jahre alt, großer, schlanker Figur, Gesicht oval –“
Der ehemalige Kammergerichtsassessor von Thilo unterbrach ihn. „Ich bin in Deiner Gewalt. Es bleibt sich gleich, ob ich Dir vertraue oder nicht.“
„Vertraue!“
„Werde ich wirklich schon mit Steckbriefen verfolgt?“
„Gewiß.“
„Bin ich in Gefahr?“
„In der größten, die ich kenne.“
„Willst Du und kannst Du mich retten?“
„Ob ich will? Keine Frage. Ob ich kann? Zum Teufel, das ist eine verzweifelte Frage. Von hier, von diesem alten Bürgermeister kann ich Dich leicht befreien. Aber wohin dann? – Doch laß hören. Was machst Du hier? Was hast Du vor? Wohin willst Du?“
„Ich folge meiner Braut.“
„Der Galgen ist Deine Braut, bestenfalls das Zuchthaus.“
„In diesem Augenblicke bin ich ihr eigentlich voraus.“
„Gott gebe, daß es wahr sei.“
„Spotte nicht, ich bin in einer verzweiflungsvollen Lage.“
„Das weiß Niemand bester als ich. Wer ist Deine Braut?“
„Sie muß jeden Augenblick hier eintreffen.“
„Und dann?“ Der ehemalige Kammergerichtsassessor wollte antworten, als der alte Polizeidiener eintrat. Die beiden Fremden schwiegen und nahmen die Miene an, als ob sie kein Wort mit einander gesprochen hätten, einander gar nicht kannten.
Der Polizeidiener warf zunächst einen Blick auf die Fenster der Stube, als wenn er sich vergewissern wollte, ob sie zugemacht seien. Sie waren zu. Dann nahm er einen Stuhl, stellte diesen an die Eingangsthür der Stube und ließ sich darauf nieder. Er saß so, daß Niemand zur Stube ein oder aus konnte, ohne über seine ausgestreckten Beine zu schreiten. Er warf finstere, grämliche Blicke auf die beiden Fremden. Es konnte diesen kein Zweifel darüber sein, daß sie seine Gefangenen seien, deren Bewachung ihm sehr strenge anbefohlen sein müsse. Der Herr von Thilo wurde unruhiger.
Der Reiter mußte auf einmal laut auflachen. Er nahete sich dem Polizeidiener, dessen finsteres Gesicht über das freche Lachen noch ingrimmiger wurde.
In demselben Augenblicke hörte man draußen einen Wagen rasch fahren, und gleich darauf vor dem Hause halten.
Der Polizeidiener warf neugierige Blicke nach dem Fenster, und als er sich überzeugte, daß er so nichts sehen könne, horchte er neugierig nach dem Gange vor der Stube. Man hörte dort fremde Stimmen. Die beiden Fremden wechselten unterdeß Blicke.
„Ist sie das?“ fragten die Augen des Reiters.
„Sie ist es!“ antworteten die des Andern.
Sie suchten zugleich ängstlich einen Ausweg aus der Stube; es bot sich keiner dar.
Unmittelbar darauf öffnete sich die Thür des Zimmers. Es erschienen in dieser, halb noch in dem nur dunkel erleuchteten Gange, [636] mehrere Personen, voran eine junge Dame mit einem sehr blassen, leidenden Gesichte. Sie blickte in die Stube, sie sah den Herrn von Thilo, sie sah den Reiter, sie sah den Wache haltenden Polizeidiener, und fiel mit einem lauten Angstschrei einer andern, hinter ihr stehenden jungen Dame in die Arme.
Der Geheimerath Fischer hatte mit seinen beiden Töchtern von Frankfurt aus seine Reise den Rhein hinauf nach der Schweiz fortgesetzt. Er war merkwürdiger Weise, je näher er der Schweizer Grenze kam, munterer, besserer Laune geworden. Von der Anna Maria Bommert hatte er nichts mehr gehört; auch in die Zeitungen hatte die fatale Geschichte keinen Eingang gefunden. Er selbst sprach gleichfalls nicht davon. Es beschäftigten ihn andere Gedanken.
„Ah,“ sagte er sehr vergnügt, „ich bin doch neugierig auf dieses unglückliche Land. Welch’ eine grauenvolle Verwirrung muß dort herrschen! Was sage ich? Verwirrung? Gesetzlosigkeit, Anarchie. Wie kann es auch anders sein? Eine Republik ist schon an sich ein Zustand der Anarchie.“
„Aber, Vater!“ bemerkte Fräulein Charlotte.
„Aber, Vater! Was hast Du wieder?“
„Dann müßten Sie sich ja fürchten, einen unterwühlten Boden zu betreten, oder gar in einen offenen Krater sich zu stürzen.“
„Das ist eben das Sonderbare, Charlottchen. Wir können ruhig hinkommen, den Fremden thun sie nichts. Sie fressen sich nur unter einander auf, wie echte Wölfe der Demokratie.“
Sie kamen nach Basel. Der Geheimerath war doch mit einigem Herzklopfen über die Rheinbrücke gefahren; er hatte dann an den Straßenecken nicht ohne Besorgniß sich umgesehen, ob er nicht einem wilden demokratischen Wolfsgesichte begegne, ob er nicht gar Zeuge sein müsse, wie plötzlich ein harmloser Bürger von ein paar Wühlern überfallen, erdolcht und ausgeplündert werde. Er sah von alledem nichts. Er fuhr durch stille und ruhige Straßen, in denen nur das Geräusch und die Bewegung des geschäftigsten und ordentlichsten Verkehrs herrschte.
Der Geheimerath schüttelte den Kopf. Er blieb den folgenden Tag in Basel, und fand nur dieselbe ruhige und ordentliche Geschäftsthätigkeit. Er wurde still, beinahe verstimmt. Doch tröstete er sich zuletzt damit, einmal, daß Basel unmittelbar an der deutschen Grenze gelegen, eigentlich nur eine deutsche Stadt, und zum Andern, daß es, wenngleich eine Republik, doch eine aristokratische Republik sei, die im Grunde von einer Monarchie sich nicht im Prinzip, sondern nur in einem gewissen Zahlenverhältnisse unterscheide.
Er fuhr von Basel nach Schaffhausen; meist auf deutschem Gebiete, und erfuhr daher auf dieser Tour wenig von der Schweiz. Bei Schaffhausen sah er nur den Rheinfall und das schöne Hotel Webern. In Schaffhausen selbst sah er gar nichts. Von Schaffhausen fuhr er aus dem Dampfschiffe den Rhein hinauf, über den ganzen Bodensee bis Rorschach. Das war eine herrliche Fahrt. Seinen beiden Töchtern ging das Herz auf in allen den Herrlichkeiten des wundervollsten Wechsels von Milde, Anmuth, Wildheit und Schauerlichkeit der Ufer des Rheins; dann der reizendsten, romantischen Parthien des Untersees; der Großartigkeit des Obersees, mit seiner ungeheuern, kaum übersehbaren Wasserfläche, seinen schönen Städten, dem ehrwürdigen alten Constanz, dem eleganten Friedrichshafen, dem freundlichen Lindau, dem in der, herrlichsten Natur gelegenen Bregenz; endlich der erhabenen Aussicht auf die hohen Gletscherketten bis tief in Graubünden hinein. Aber nur den Töchtern des Geheimeraths ging das Herz auf. Er selbst blieb kalt bei allen diesen Schönheiten, oder er redete es sich wenigstens ein. „Pah, was ist es denn nun?“ sagte er, als er den Hochsäntis sah; „eine rauhe und roh geformte Steinmasse; was kann man sich denn dabei denken?“ Und beim Anblicke der Schneeberge rief er aus: „Unnatürlich! Ich liebe das Unnatürliche nicht. Solche Schneefelder gehören nach Rußland, nicht in die Schweiz.“
Nur einmal war ihm auch wohl geworden, und er verleugnete es nicht. Es war noch auf dem unteren Bodensee, Als das Dampfschiff dort unter dem unendlich lieblichen und reizenden Arenenberg hinglitt, ließ er mit vollem Entzücken das Auge auf dem sanft aus dem See ansteigenden Berge haften, auf seiner dunkeln Waldung, seinem weiten Parke und auf dem aus Wald und Park hervorleuchtenden, weit den See und das Land bis tief in Baden und Würtemberg hinein beherrschenden Schlosse.
„Ha,“ rief er, „dort hat er geweilt, dort hat er den ersten Keim empfangen für seine nachherigen großen Thaten, der Mann, der die Demokratie auf das Haupt geschlagen hat, dem Europa und die Kreuzzeitung die Wiederherstellung der Ruhe und Ordnung verdanken.“
Später wurde er freilich wieder stiller; und als er in Rorschach den Schweizer Boden wieder betreten hatte, und jeder Schritt, ihn weiter in immer neue Schönheiten des schönen Landes hineinführte, da wurde er zu Zeiten fast melancholisch; da war eine Vergleichung mit den Pichelsbergen und dem Thiergarten gar nicht mehr möglich, wie der Bodensee sich nicht hatte mit dem Rummelsburger See vergleichen lassen. Dabei sollte ihm noch ein Anderes schwer aus das Herz drücken. Fast in jedem Dorfe sah er ein großes, Helles, sehr sauber gehaltenes Gebäude, das sich vor den andern Häusern auszeichnete.
„Das ist gewiß ein Edelsitz?“ fragte er.
„Nein!“ wurde ihm zur Antwort. „Das ist das Schulhaus der Gemeinde.“
„Und jenes dort?“ frug er in St. Gallen, auf ein großes, glänzendes Gebäude zeigend, das auf einer reizenden Anhöhe reizend gelegen – „welcher Fürst hat sich dies Schloß gebaut?“ „Kein Fürstenschloß,“ hieß es wieder, „es ist das Armenhaus.“ – Er fragte dann nicht mehr.
In dem schönen Toggenburg lebte er aber wieder auf. Nicht über die Schönheit der Gegend, aber über etwas Anderes. In dem Gasthofe zu Herisau traf er einen wohl und gebildet aussehenden Mann, der, wie er erfuhr, aus der Nachbarschaft zu einer Sitzung des Obergerichts des Kantons herübergekommen war. Er erkundigte sich bei ihm mit Hast nach den Rechtszuständen des Kantons.
„Sie sind sehr gut geordnet,“ erwiederte ihm der Mann. „Alle Welt ist mit der Rechtspflege zufrieden; ein Beweis ist, daß das Obergericht, das höchste Gericht des Landes, an welches alle Appellationen gehen, fast gar nichts zu thun hat.“
Schon darüber mußte der Geheimerath bedenklich den Kopf schütteln. Aber noch mehr stieg sein Erstaunen, als er erfuhr, daß in der Schweiz eigentlich gar kein Gesetzbuch existire, daß das Volk alljährlich seine Regierung und seine Richter aus seiner Mitte wähle und von diesen Recht sprechen ließ.
„Unstudirte Leute,“ sagte er spöttisch, „ein Käsehändler Richter – Oberrichter, was bei uns in Berlin Ober-Tribunalrath ist – Charlottchen, es ist doch ein elendes Land!“
Er hatte dabei nur eine Furcht: dieses Elend möge blos im Kanton Appenzell bestehen. Zu Basel und Schaffhausen hatte er nicht daran gedacht, nach den Rechtszuständen sich zu erkundigen.
Wohin er jetzt kam, fragte er darnach. Er hörte, daß dieselben Zustände völlig so in den Kantonen Schwyz, Uri, Unterwalden, Zug und Glarus sich finden. Aber in den größeren Kantonen? Er kam nach Zürich. Auch dort war es so, nur mit einem kleinen Unterschiede. Die Richter wurden nicht alljährlich, sondern nur alle vier Jahre aus dem Volke gewählt.
Aber er sollte in Zürich etwas erleben, was ihn Gesetz und Richter und Recht und Rechtspflege und alle andern Zustände der Schweiz vergessen ließ. –
Ein schöner Punkt bei dem schönen Zürich ist der Uetliberg, das „Uetli“ oder „Huntli.“ Man hat dort eine weite, eine erhabene Aussicht über die ganze Gegend, über den größten Theil der Ostschweiz, weit, tief in Deutschland hinein, auf die sämmtlichen Gletscher der Ostschweiz und des Berner Oberlandes.
Schöner als das Uetli ist für mich die „Waid“ bei Zürich. Man übersieht auf diesem kleineren, aber nähern Berge nur die Gegend bei Zürich; aber man übersieht sie mit einem wundervollen Gesammtüberblick und dem klarsten Einblick in alle die reizenden Einzelnheiten dieser lieblichsten und anmuthigsten aller Gegenden, die mein Auge bisher erblickt hat. Zu unseren Füßen liegt das Limmatthal mit seinem kraus sich windenden Flusse und dem kraus fast überall ihn umschließenden Buschwerke; mit seinen vielen Dörfern, Fabriken und einzelnen Häusern, seinen Chausseen und weißen Landstraßen, die breit und bequem sich von Dorf zu Dorf ziehen, mit seinem Schienenwege, der sich mitten durch sie alle hindurch nach dem schönen Baden zieht. Das Thal wird begrenzt durch die lange Albiskette, dessen höchster Punkt jenes Uetli, mit seinem hübschen Hause gerade vor uns sich erhebt. Links, die Limmat hinauf, liegt die Stadt Zürich in ihrer ganzen Ausdehnung vor uns, mit ihren alten und großen Kirchen, mit ihren hohen, schönen Thürmen, mit den großartigen und geschmackvollen, schloßähnlichen [637] Landhäusern, die von jedem schönen Punkte der Umgebung – und jeder Punkt bei Zürich ist ein schöner – freundlich, manchmal auch wohl mit etwas aristokratischem Stolze herabblicken. Rechts von der Stadt schießt aus enger Gebirgsschlucht die wilde Siehl hervor, um sich gleich unterhalb der Stadt mit der Limmat zu vereinigen. Aber es ist eine sehr spröde Vereinigung, als wenn zwei harte Köpfe zusammen in das Ehejoch gespannt wären. Noch eine ganze Meile weit fließen in demselben Bette die beiden Flüsse neben einander her, ohne ihre Wellen mit einander zu vermischen, links das gelbe Wasser der wilden, trotzigen Siehl, rechts die grünen Wellen der stolzen und heftigen Limmat. Erst vor Baden vertragen sie sich mit einander; sie müssen ja endlich wohl in dem engen Bette.
Lebensbilder aus dem englischen Parlamente.
Unter den Equipagen, Reitern und Reiterinnen, die sich zu Tausenden im Hydepark herumtreiben, so lange die season, die Parlamentsperiode, dauert, bemerkt das Volk öfter einen Mann mittleren Alters, etwas ungeschickt und plebej im Sattel, mit einer unter den unzähligen kahlen Gesichtern frappant und scharf hervorstechenden Physiognomie, überhängender Braue, inhaltvoller Stirn, spekulativer Nase und seltsam lockig auslaufendem rothen Haar.
„Look, that's Mr. Wilson of the Treasury“ – Sieh, das ist Mr. Wilson vom Staatsschatze – sagen die Leute. Blos Mr. Wilson, Staatsschatzsekretair, Sohn eines Posamentiergeschäfts. Nicht alle Herrschaften unter diesen Auserwählten sind Lords und Ladies. Im Gegentheil gibt’s viele hinausgeschmuggelte und importirte Grisettenwaare darunter. Nicht alle Staatsstellen besetzt man aus den „obersten Zehntausenden.“ Die Aemter und Stellen, welche Arbeit und Kenntniß verlangen, übergibt man gern tüchtigen Arbeitsbienen aus den untern Klassen, damit die angestellten Dronen aus den höchsten Klassen ihre höheren Gehalte und ihre Gehaltlosigkeit mit desto mehr Ruhe genießen können. Muster einer solchen Arbeitsbiene, eines solchen Talentes von Unten ist Mr. Wilson. Geboren 1805 in der kleinen Manufakturstadt Hawik am Teviotflusse, Sohn eines kleinen Posamentiers, wurde er durch den Vater in die Religion und prosaische Lebens und Sittenstrenge der Quäker eingeführt. Die Quäker zeichnen sich außer durch Röcke mit einer Reihe Knöpfe auch durch breitkrämpige
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Hüte aus, welche sonst kein gewöhnlicher Hutmacher vorräthig hält, so daß mancher Quäker in Verlegenheit kommt, wenn er mit der luxuriösen Idee herumgeht, sich einen gläubigen neuen Hut anzuschaffen. Unter solchen Umständen erscheint es nicht auffallend, daß Posamentier und Vater Quäker, der sich den Luxus einer Frau und mehrerer Söhne angeschafft hatte, auf den Gedanken kam, einen Sprößling in der verwahrlosten Hutmacherkunst unterweisen und breitkrämpige Hüte machen lernen zu lassen. So ward unser Wilson ein Hutmacher, erst zu Hause, wo seine Wiege stand, dann in Newcastle und in London.
Während er nun so viele hirnlose Köpfe mit „Angströhren“ und Breitkrämpern bedeckte, dachte er immer, es sei gut, sich selbst nicht blos etwas auf, sondern auch in den Kopf zu bringen. Mit Schrecken halte er nämlich sehr oft beim Verkauf eines neuen Hutes bemerkt, daß der Hut eigentlich auf Nichts, auf einen bloßen [638] Schein und Schemen von Kopf gesetzt werde. So dachte er denn in seinem ziemlich geräumigen Kopfe: darin steckt etwas und hat noch viel mehr Platz! Ich will meinen Kopf nicht blos, wie andere Herren, auf den Schultern tragen, damit sie eine Stelle haben, wo sie einen Hut anbringen, sondern den Kopf um des Kopfes, um meinetwillen als Vorrathskammer und Kunstwerkstatt für die Schmiede meines Glückes. Also er lernte, er studirte, er schrieb, er dachte, er rechnete und sah dann, daß andere Leute unter ihren und seinen Hüten nicht denken und die Politiker und Staatsmänner besonders falsch rechnen. Das schrieb er auf und ließ er drucken. So entstanden seine Flugschriften: „Einfluß der Korngesetze“ (1840), „Fluctuationen des Geldes und Handels und der Industrie“ (1841), „Die Staatseinnahme oder was sollte der Schatzkanzler thun?“ u. s. w.
Endlich gründete er 1843 sogar eine fortlaufende Controle und Nachrechnung, das erste journalistische Organ für die neue, noch gänzlich mißverstandene und mißverwaltete Wissenschaft und Kunst der National-Oekonomie, der Staats- und Volkswirthschaft, den Oekonomisten: „The Economist,“ eine Wochenschrift, durch welche Wilson bald eine gefürchtete und geehrte Größe im Lande und sogar Parlamentsmitglied ward. Der ausgebrochene Streit der falsch und in Defekten gegen die Wilson’schen richtig Rechnenden, der Protektionisten und Schutzzöllner gegen die Freihändler, mit einigen Siegen der Letzteren, verschaffte den Wählern von Westbury die Ehre, Mr. Wilson für’s Parlament gegen die falschen oder absichtlichen Schwindelrechner durchzukämpfen (1847). In andern Ländern erfreute sich die neue Wissenschaft, daß auch in der Politik 2 mal 2 blos 4 ist, nicht solcher bescheidenen Siege, wie in England. England entging dadurch den Krämpfen von 1848, unter welchen das übrige Europa sich verrenkte. Aber die „obersten Zehntausend“ wußten, nachdem sie etwas Dampf durch die Sicherheitsventile abgelassen, auch wieder gehörig zu schließen; denn sie waren und sind nie Willens, wirklich richtig und offen zu rechnen und Rechnung abzulegen. Was aber mit den „Oekonomisten“ anfangen? In England steckt man gefährliche Leute nicht ein, sondern stellt sie an; man schießt ihnen nicht das Lebenslicht aus, sondern „etwas vor“ und wie die nobeln Künste sonst sich prakticiren lassen. Jedenfalls befinden sich Regierende und Regierte wohler dabei. Nicht der gewaltigste Tyrann der Erde könnte seinen Sklaven mit Gewalt so viel Geld auszapfen, als die Engländer an ihre zehntausend obersten Müssiggänger und Schwindler freiwillig und mit Patriotismus zahlen. In verschiedenen Ländern des übrigen Europa wäre ein Posamentiersohn und Hutmacher Wilson lebenslänglich eingesteckt worden, in England ward Mr. Wilson durch eine Sekretairstelle im Controleamte bestraft. Die Minister trafen hier, wie in den meisten ähnlichen Fällen, zwei Fliegen auf einen Schlag: sie machten sich einen mächtigen Feind zum Freunde und gewannen einen tüchtigen Arbeiter in ihre Bureaux voller hochgebornen Faullenzer und Herren, die ihren Kopf blos tragen, damit sie auch eine Stelle haben, wo ein Hut angebracht werden kann.
Mr. Wilson ließ nun, wie das Volk, freiwillig fünf gerade sein, während im übrigen Europa der strenge Befehl, daß fünf gerade sei, im Geheimen immer noch so allgemein und hartnäckig ketzerisch bezweifelt wird. Mr. Wilson blieb ein respektabler Mann und Oekonomist, und rettete den Freihandel öfter vor tückischen Angriffen, aber er ward auch Finanzsecretair des Staatsschatzes, und hatte darin stets so viel zu thun, daß er sich nicht gegen jeden Schwindel und jede kleine Freiheit der Nicht-Oekonomisten, d. h. mittelbar auch gegen sich selbst, auflehnen konnte. Wem der Herr oder Palmerston ein Amt gibt, dem gibt er auch Verstand, welchen Mr. Wilson schon vorher im bevorzugten Grade besaß. Dieser Verstand-Beamteter ist allerdings denn auch „danach.“ Einem geschenkten Gaul, sieht man nicht in’s Maul. Der „geschenkte“ Beamtenverstand sagt immer zu dem Gewissen: Kerl, verdirb mir die Karriere nicht und halt lieber dein beißendes Maul! Denkst du nicht an Weib und Kind und sonstige Angehörige! – Das Gewissen wird durch solche Erinnerungen gerührt, und läßt fortan fünf gerade sein. Und das Volk draußen, dem die Arithmetik nicht mit Polizei und Bayonnet beigebracht wird, ist auch gerührt über diese Freiheit und Milde, mit der es betrogen wird, und stolz auf einen Wilson, der aus den untern Klassen emporstieg, und diese nun vertritt und die Leute, welche der Regierung vorwerfen, daß sie Niemand von Unten hinanflasse, Lügen straft. Daß diese Straflüge selbst eine Lüge ist, merkt man nicht. Man nimmt überhaupt da, wo „so viel Freiheit herrscht,“ nichts so sehr genau, wie unter Verhältnissen erbarmungsloser, strikter Befehle und Kommando’s, welche unwillkürlich zur Opposition, zu Trotz und Tücke herausfordern.
Ein Beispiel anderer und ganz eigener Art des ausnahmlichen Emporsteigens aus untern und gar fernen Regionen in die höchste Schicht der englischen Gesellschaftsstrata liefert Lord Lyndhurst, ein Greis, der uns zuweilen in Bildergalerien und sonst mitten im Leben und unter dem Volke vorkam, und uns jedesmal als eine merkwürdige Persönlichkeit auffiel. Der Mann geht einher wie eine Mumie, vertrocknet und verschrumpft, wie altes Leder in Regen und Sonne, wie ein Haufen Backobst in die Gestalt eines Menschen zusammengedörrt, aber noch so zähe und tapfer, als wäre der 84jährige Greis ein gesunder Vierziger. Er war 1772 in Boston geboren, und kam aus den amerikanischen Republiken als armer Junge herüber nach London, ich weiß nicht wie. Von ihm selbst haben wir aber einmal gehört, daß er aus Mangel an einem Penny unter einer Themsebrücke schlief, und der spätere Lordkanzler von England sich öfter hungrig auf der Straße umhertreiben mußte. Copley, sein Vater, ein Maler, hatte selbst nicht immer zu essen gehabt. Deshalb war der Junge davongelaufen, um in England der berühmteste Jurist, Großsiegelbewahrer und Lordkanzler zu werden. Wie er dies eigentlich angefangen, scheint noch nicht im Detail öffentlich bekannt zu sein. Man weiß nur, daß er von der Zeit an, als er unter einer Themsebrücke schlief, bis jetzt, da er auf Lorbeeren ruht, ununterbrochen den eisernsten Fleiß, die unbeugsamste Willenskraft und die heroischste Ausdauer festhielt, so daß dieser interessante Kopf und diese von acht Jahrzehenden ungebrochene Gestalt mit seinen eisern gewordenen Muskeln den Ausspruch bekräftigt: „Der Mensch kann Alles, was er will.“
Ueber alle Notabilitäten Englands werden, wenn sie todt sind, mehrbändige Biographien und Memoiren geschrieben. Die Bände, welche einst diesen zähen, derben Lebensstoff bearbeitet vor die Öffentlichkeit stellen, werden jedenfalls zu den interessantesten Bereicherungen der reichen englischen Memoiren-Literatur gehören. Jetzt wissen wir, die wir ein Wort über diesen substantiellsten Kopf parlamentarischer, vielköpfiger Kopflosigkeit sagen wollten, nichts im Detail aufzubringen. Wir beschränken uns daher auf die Notizen, daß er 1804 die praktische Laufbahn eines Juristen begann, und rasch von Stufe zu Stufe stieg, bis er für seine Verdienste und seinen hohen juristischen Rang zur Pairswürde erhoben und so Mitglied des Oberhauses ward. Es ist eine zum Gesetz gewordene Sitte in England, daß Juristen des höchsten Ranges mit der Pairswürde bekleidet werden, in der Regel mit der Pairswürde auf ihre Lebenszeit, so daß sie nicht forterbt.
Wer sich um die diesjährigen Parlamentsverhandlungen bekümmert hat, wird sich erinnern, daß es gerade Lord Lyndhurst war, der durch seinen Antrag, die juristische Notabilität Sir James Parke mit der Pairswürde auf Lebenszeit zu beschenken, das größte Leben in diese traurige, vergangene Session rief. Das Leben entsprang aus dem aufgerührten Widerspruch zwischen Vorrechten der Krone und der Souverainität des Parlaments. Letzteres hat die Krone so weit zum Schatten ausgehöhlt, daß das Witzwort: „Das Parlament kann Alles, nur keine Frau zum Manne machen“ ziemlich wahr geworden. Wenn die Parlamentsmitglieder aus der einen Krone nicht 600 Kronen machten, könnten liberale Leute sagen: das ist eben die Freiheit in England, daß die Krone keine Macht hat. Wenn aber dafür 600 Menschen absolute Krone spielen, werden Monarchie, Demokratie und Republikanismus zu gleicher Zeit betrogen.
Lord Lyndhurst war ein Herkules von Fleiß und Ausdauer, aber nicht für das Land, sondern für die Kreise, in welche er sich hinaufgearbeitet. „Niemand wandelt ungestraft unter Palmen,“ sagt Goethe, Copley wandelte nicht unbelohnt aus seiner republikanischen Kindheit unter die Lords des Oberhauses hinauf.
[639]
Das Reissen oder der Rheumatismus (Rheoma, Fluß).
Was ist Rheumatismus? Wenn man Opodeldoc einreibt und ein Dampfbad nimmt; – wenn in Folge von Erkältung Schmerzen irgendwo im Körper auftreten; – wenn Schmerzen von einem Theile des Körpers zum andern wandern; – wenn sich in und um Gelenke herum oder in fleischigen und sehnigen Theilen Schmerzen festsetzen. So lauten etwa im gewöhnlichen Leben die Antworten auf obige Frage. – Die Wissenschaft ist zur Zeit auch noch nicht im Stande, über den Rheumatismus gehörig Rede zu stehen, da das Wesen dieser Krankheit noch sehr dunkel ist. Die Aerzte pflegen die, gewöhnlich (aber nicht immer) durch Erkältung der Haut entstandenen schmerzhaften Leiden im Bewegungsapparate, zu welchem Sehnen, Bänder, Muskeln, Knochen und Knochenhaut, sowie Gelenke, gerechnet werden, als rheumatische zu bezeichnen, zumal wenn die Schmerzen, welche ziehende oder reissende sind, und sich beim Bewegen, Drücken und Kaltwerden des afficirten Theiles steigern, mehrere dieser Theile gleichzeitig oder nach einander befallen (herumwandern und überspringen); auch pflegen sie einen Gelenk- und Muskelrheumatismus, sowie einen acuten (schnell verlaufenden) und einen chronischen (langwierigen) Rheumatismus zu unterscheiden; manche lassen auch die Nervenhüllen rheumatisch afficirt werden. Ist neben den Schmerzen auch noch beschleunigter Puls und erhöhte Körperwärme (oft mit sauer riechendem reichlichem Schweiße) vorhanden, dann nennen sie das Leiden ein rheumatisches Fieber. Stets haben sie bei acutem und fieberhaftem Rheumatismus die Furcht, daß von edleren Organen auch noch das Herz, der Herzbeutel oder das Brustfell in Mitleidenschaft gezogen und in Entzündung versetzt werden. Herzfehler in Folge von Herzentzündung rühren meistens aus der Zeit her, wo Jemand an irgend einem Rheumatismus litt, und deshalb kann man sich gar nicht genug vor stärkeren Erkältungen der Haut, besonders nach größeren Erhitzungen, welche Rheumatismus veranlassen können, hüten. Es scheint übrigens dieselbe Ursache ebenso Herzentzündung wie Rheumatismus zu veranlassen, nicht aber durch Verschwinden des letzteren die erstere zu entstehen, denn beide Leiden kommen gar zu oft gleichzeitig vor. Vielleicht liegt die Ursache in einer Entartung des Blutes, die dadurch zu Stande kommt, daß, in Folge der Einwirkung der Kälte auf die Haut, die Absonderung derselben (der Schweiß) stockt und im Blute zurückgehalten wird. Es wäre nicht unmöglich, daß ebensowohl die deutlich merkbaren, plötzlichen Erkältungen bei Erhitzungen, wie auch die unmerklichen, aber anhaltenderen Kälteeinwirkungen (wie bei zu leichter Bedeckung und Bekleidung im Schlafe, in feuchtkalter Wohnung, bei naßkalter Witterung, besonders im Frühling und Herbst u. s. f.) die Ursache zum Ausbruch des Rheumatismus abgeben oder doch die Anlage (Prädisposition) dazu erzeugen können. Vielleicht ist deshalb auch stärkeres Schwitzen (am besten durch reichliches Trinken heißen Wassers im warmen Bette) nach Erkältungen von so großem Vortheile. Manche suchen den Grund des Rheumatismus in veränderten Elektricitätsverhältnissen der Haut, Andere erklären den Rheumatismus für eine einfache Entzündung.
Nicht alle Menschen werden gleich gern und gleich arg vom Rheumatismus heimgesucht, einige mehr und leichter, andere weniger und nur nach stärkeren Erkältungen. Im Kindesalter findet sich diese Krankheit äußerst selten, wenn man nämlich die hier häufigen Hüftgelenkleiden nicht für rheumatische erklärt. Ebenso hat das höhere Lebensalter nur geringe Disposition zum Rheumatismus. Dagegen kommen im Jünglings- und Mannesalter, aber häufiger beim männlichen als beim weiblichen Geschlechte, und häufiger bei Kräftigen als bei Schwachen, rheumatische Affektionen, zumal die heftigeren und fieberhaften, ziemlich häufig vor. In den Frühlings- und Herbstmonaten ist der Rheumatismus manchmal so verbreitet, daß er epidemisch zu sein scheint. Personen, welche schon einmal oder häufiger rheumatische Affektionen überstanden haben, werden gern und leicht wieder davon befallen. Ebenso werden auch Solche, die in Folge von Verzärtelung, allzuwarmer Bekleidung, Mißbrauch warmer Bäder, häufigem und starkem Schwitzen, Hautkrankheiten etc. eine empfindlichere Haut haben, vom Rheumatismus gern heimgesucht.
Bei der Untersuchung rheumatisch afficirter Theile findet man in der großen Mehrzahl der Fälle die Haargefäße (in Folge entweder einer rein örtlichen oder einer allgemeinen Einwirkung) widernatürlich erweitert und mit Blut gefüllt (rheumatische Entzündung), sowie von einer entweder flüssigen (wässerigen, eiterigen, blutigen), oder geronnenen weichen Masse (Ausschwitzung) umgeben, welche von der Ernährungsflüssigkeit des Theiles, die im gesunden Zustande aus dem Blute der Haargefäße abgesetzt wird, abweicht. Sie wird gewöhnlich nach dem Schwinden der Blutüberfülluug aufgesogen, bisweilen aber auch in festeres Gewebe umgewandelt (organisirt) oder zur Eiterbildung verwendet. Daher kommt es denn, daß in den meisten Fällen von Rheumatismus der erkrankte und gewöhnlich auch geschwollene Theil vollständig wieder gesundet, während in einigen Fällen daselbst harte Stellen (rheumatische Schwielen) zurückbleiben und in andern sogar Vereiterungen (bisweilen mit Eitervergiftung des Blutes) zu Stande kommen. Sonach kann der Rheumatismus, abgesehen von der denselben öfters begleitenden Herz- und Herzbeutel-Entzündung, auch schlimme Folgen haben, wenn er auch für gewöhnlich ganz gut abläuft. Die Dauer eines rheumatischen Leidens läßt sich durchaus nicht vorausbestimmen, da sie Tage, Wochen und Monate betragen kann.
Bei dem Wenigen, was wir vom Wesen des Rheumatismus mit Sicherheit wissen, läßt sich natürlich auch nicht viel Sicheres über die Behandlung desselben sagen. Glücklicherweise weicht dieses Leiden in den allermeisten Fällen auch ohne Arzt und Arznei, besonders bei Wärme, Ruhe und Geduld. Der Rath, welchen der Unterzeichnete in Bezug auf Rheumatismus zu geben hat, ist folgender: Zuvörderst suche man soviel als möglich rheumatische Affektionen dadurch von sich fern zu halten, daß man, vorzüglich bei stärkerer Erhitzung und größerer Empfindlichkeit der Haut (nach warmem Bade, Schwitzen), jede heftigere und dauernde Kälteeinwirkung auf diese zu vermeiden trachtet. Man hüte sich deshalb vor schnellem Wechsel von Warm zu Kalt, besonders von hohen zu niederen Temperaturgraden, vor dauernder Einwirkung von kalter, zumal nasser Luft (besonders des Morgens und Abends), vor starker kalter Durchnässung, Zugluft, schneller Abwechselung von warmen zu kalten Kleidungsstücken (besonders im Frühjahr und Herbst), vor allzuleichter Bekleidung überhaupt und ganz vorzüglich vor zu leichter Bedeckung des Nachts, vor dauerndem Aufenthalte in kalten, feuchten, sonnenlosen, kellerartigen Wohnungen und andern derartigen Orten. Um nun aber von der Einwirkung der Kälte auf die Haut nicht so leicht Rheumatismus davon zu tragen, muß die Haut abgehärtet d. h. gegen die Kälteeinwirkung unempfindlicher gemacht werden und dies ist, aber immer nur bis zu einem gewissen Grade, mit Hülfe der Kälte möglich zu machen. Diese ist stets aber, mit ganz allmäliger Steigerung, in Gestalt lauer, kühler und endlich kalter Bäder und Waschungen, sowie kalter Luft anzuwenden. Man verzärtele die Haut nicht durch allzuwarme Bekleidung und zu häufige, sehr warme Bäder (Dampfbäder), durch ängstliche Vermeidung der frischen Luft und durch schweißerzeugende Bedeckung. Man hüte sich aber auch vor dem Mißbrauche der Kälte und bedenke, daß diese recht leicht als widernatürliches Reizmittel wirken kann und niemals ein Stärkungsmittel ist (s. Gartenl. 1856. Nr. 40.). Bei Disposition zu rheumatischen Affectionen, in Folge leichter Erkältbarkeit, halte man auf eine trockene, sonnige, gut heizbare Wohnung und Schlafstube, auf mäßig warme, wollene oder seidene Unterkleider, die auf der bloßen Haut zu tragen sind, sowie auf warme Fußbekleidung, und gehe ja recht allmälig zur Abhärtung der Haut über.
Um nach einer Erkältung den Rheumatismus zu verhüten oder schon die ersten Spuren desselben zu heben, reicht in vielen Fällen eine künstliche Steigerung der Hautthätigkeit, das Hervorrufen von starkem Schweiß, hin. Am besten und leichtesten bewerkstelligt man dies durch reichlichen Genuß heißen Wassers (Thees) und warmer Einhüllung im Bette. – Hat sich aber der Rheumatismus vollständig eingestellt, dann wird derselbe am besten in Grenzen gehalten und am schnellsten gehoben, wenn der Kranke im warmen Bette ruhig liegen bleibt, viel heißes, wässeriges Getränk zu sich nimmt, und die schmerzhaften Theile warm (mit Flanell, Wolle, Baumwolle, Watte) einhüllt. Sehr heftigen Schmerz lindern am besten recht warme Umschläge (von Hafergrütze, Leinsamen) oder das Auflegen heißer Gegenstände (Steine, Tücher, etc.). Ebenso vertreibt von allen Mitteln die Wärme, welche aber höher als die des menschlichen Körpers (+ 30° R.) sein muß, auch [640] chronische Rheumatismen am sichersten; nur muß sie mit Energie und Consequenz angewendet werden. In der neuern Zeit rühmt man die Elektricität (Faradisation; s. Gartenlaube 1856 Nr. 36.) als heilsam gegen rheumatische Schmerzen. Die Diät bei rheumatischen Leiden sei mäßig, mild und schwach nährend; Verstopfung werde durch Klystiere gehoben.
Hiernach wäre also die Behandlung des Rheumatismus eine sehr einfache und diese, in den meisten Fällen ausreichende Behandlung wird stets auch von den mittelsüchtigsten Heilkünstlern, ja sogar von den Homöopathen anempfohlen, aber natürlich immer nur als unwichtige Nebensache neben diesem oder jenem wichtigen (!?!) Arzneimittel; denn es existiren Unmassen innerer und äußerer Mittel, die beim Rheumatismus geholfen haben sollen. Nach Heilung des Uebels ist es dann natürlich nicht jene einfache Behandlung, sondern das Arzneimittel, welches geholfen hat und dessen Heilmacht nun in alle Welt ausposaunt wird. So geht es übrigens nicht blos den beiden beim Rheumatismus heilsamen Heilmitteln, der Wärme und Ruhe, sondern noch vielen andern einfachen Hülfsmitteln, die obschon sie, neben den Naturheilungsprocessen (s. Gartenlaube 1855. Nr. 25.), die eigentlichen Helfer bei Krankheiten sind, sich doch von den Apotheken-Mitteln den Ruhm der Heilung wegschnappen lassen müssen. In ähnlicher Weise macht’s freilich der Arzt im Allgemeinen gewöhnlich auch; denn wird ein Kranker gesund, so hat er’s gemacht, stirbt dagegen der Kranke, so muß die Natur die Schuld tragen.
„Was weben die dort um den Rabenstein?“
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Eine Hexenzunft.“
Goethe’s Faust. I. Thl.
Teufel und Hexen haben von Alters her in Deutschland eine große Rolle gespielt und wir glauben kaum, daß es in Europa ein Volk gibt, bei dem der Gottseibeiuns eine größere Popularität genießt, als bei dem unserigen. Ueberall finden wir ihn, überall hat er sich heimisch zu machen gewußt; in der Literatur, wie im Leben, in der Volkssage, wie im Lied, in der Oper, wie im Drama, im dunkeln Wald, wie in der stillen Klause des Gelehrten, auf der Theaterbühne, in den Tribunalen der frühern Jahrhunderte, im Weinkeller am Zechtisch lustiger Gesellen – überall begegnen wir ihm; sei es nun als Mephistopheles, der in Auerbach’s Keller mit den Studenten trinkt, und allerlei wunderliche Lieder singt und Späße macht, oder als Samuel, der verwegenen Jägerburschen das Gießen der Freikugeln lehrt, die stets das Ziel treffen, oder als wilden Jäger, Brückenbauer – welche Menge von Teufelsbrücken gibt es nicht – als Spiritus familiaris, der den Stein der Weisen suchen hilft, oder auch nur als simpeln Teufel mit Schweif und Pferdefuß, die beide aber gewöhnlich durch einen schwarzen Mantel mit rothem Futter verhüllt sind. – Die Franzosen sind in dieser Beziehung viel ärmer, als wir. Ihren diable boiteux hat Le Sage aus Spanien geholt, und ihr „Herne“, wie bei ihnen der wilde Jäger heißt, ist lange nicht der tolle Geselle der Hölle, der bei uns in stürmischen Herbstnächten mit dem wüthenden Heer und schauerigem Windesgeheul über die Waldberge dahinraset; auch ist der Sagencyklus, welcher Herne umgibt, bei weitem kein so reichhaltiger, als der, welcher von unserem deutschen wilden Jäger erzählt… –
Eine gleich große Rolle spielen die Hexen, diese Spukgestalten der nordischen Völker, mit denen diese ihre entlegenen, einsamen Bergeshalden, ihre wüsten Sümpfe und Moore, ihre öden Heiden, waldigen Berggipfel und düsteren Höhlen bevölkerten, und sich auf diese Weise das gaben, was die heitere Götterlehre der Griechen und Römer, diesen beiden Kulturvölkern der alten Welt, in ihren Oreaden, Dryaden, Nymphen, Sirenen, Satyren und Faunen gab. Indessen waltet, auch abgesehen von dem verschiedenen inneren Wesen, schon in der äußeren Erscheinung ein bedeutender Unterschied zwischen den Hexen der nordischen Heiden und jenen Halbgöttern und Göttinnen, welche in den Olivenhainen Ioniens und auf den sonnigen Höhen der Sabinerberge hauseten, ob. Denn während die Wald- und Berggöttinnen der Hellenen und Römer in reizender, jugendlicher Schöne, lockend, üppig und verführerisch erschienen, geneckt und verfolgt von verliebten Satyren, Faunen und Pan selbst, diesem bocksbeinigen Hirtengott, malte sich die Phantasie der germanischen Völkerstämme, welchen der tiefblaue, heitere Himmel von Hellas und Italien mit seiner glänzenden Sonne fehlte, und über deren dunkle, schattige Eichenhaine und düsteren, kalten Fichten- und Tannenwälder die große Hälfte des Jahres hindurch graue Regen- und Schneewolken hingen, jene unheimlichen Bewohnerinnen abgelegener Orte in widerwärtig-abschreckender Gestalt, „so hager und so wild in ihrer Tracht,“ wie es von den drei Hexen heißt, die dem Macbeth auf der Heide bei Fores jene unheilvollen Glückwünsche zurufen.
Am schönsten hat diese beiden Gegensätze unstreitig Goethe in seinem Faust geschildert; die deutsch-nordische Hexenwelt in der Walpurgisnacht auf dem Blocksberg, in der „die Hexen zu dem Brocken ziehen“ und wo
„das leuchtet, sprüht und stinkt und brennt!
Ein wahres Hexenelement!“
und die hellenische Mythenwelt in der klassischen Walpurgisnacht auf den pharsalischen Feldern, am Peneios und an den Felsbuchten des ägäischen Meeres, in deren buntes Gewühl sich Mephisto mit Faust verirrt, anfänglich aber unter den nackten, antiken Gestalten sehr fremd und ungemüthlich fühlt …
Doch wir wollten eigentlich weniger über die Ähnlichkeit oder Verschiedenheit der klassisch-griechischen und mittelalterlich-deutschen Sagenwelt sprechen, als vielmehr über einen Gegenstand, der in genauester Verbindung damit steht, und noch vor einem Jahrhundert von ernstester Bedeutung für das deutsche Volksleben war; von den Prozessen gegen Hexen- und Teufelsbündner. – Die meisten Leser dieser Blätter werden eine größere oder geringere Kenntniß von dem Wesen dieser Hexen- und Teufelsbündnerprozesse haben, von den Proben, welchen die Angeklagten unterworfen wurden, um zu sehen, ob sie wirklich leibhaftige Hexen wären, und von dem gewöhnlichen tragischen Schluß aller dieser außergerichtlichen und gerichtlichen Prozeduren, nämlich: dem Tod der Angeklagten auf dem Scheiterhaufen.
Gewiß gibt es aber noch Viele, die der Meinung sind, daß alle die Tausende von Todesurtheilen, welche von den geistlichen und weltlichen Gerichten über die der Hexerei und Teufelsbündnerei Angeklagten ausgesprochen wurden, die Folge von Geständnissen waren, die entweder auf der Folter oder aus Furcht vor der Folter abgelegt wurden. Diese Meinung ist theilweise eine irrige. Weder die Folter noch die sogenannten Suggestivfragen, d. h. Fragen, die so verfänglicher Natur sind, daß deren Beantwortung fast immer eine Art Geständniß involvirt, haben diese Masse von Geständnissen, die wir in den Hexenprozeßakten finden, herbeigeführt. Es kann vielmehr mit juristischer Gewißheit behauptet werden, daß eine große Anzahl dieser Geständnisse durchaus freiwillige waren, von den Angeklagten mit dem Bewußtsein, Hexerei getrieben oder einen Pakt mit dem Teufel geschlossen zu haben, abgelegt. Die Lösung dieses psychologischen Räthsels wird sehr leicht, wenn wir bemerken, daß alle diese Unglücklichen, welche mit so unerschütterlicher Bestimmtheit behaupteten: mit einer in Blut getauchten Feder den Vertrag mit Satan unterzeichnet oder Handgeld für den Verkauf ihrer Seele von ihm angenommen zu haben, um Mitternacht auf einem mit Schweinefett bestrichenen Besen oder Ofengabel zum Hexensabbath geritten zu sein, mit dem Teufel Buhlschaft getrieben, Menschen und Thiere behext, Unterhaltungen mit höllischen Geistern gepflogen zu haben, und was dergleichen unsinnige Dinge mehr waren, die man den Hexen und Teufelsbündnern nachsagte, daß alle diese Unglücklichen, die derartige freiwillige Bekenntnisse machten, von jenen Krankheitszuständen befallen waren, welche die Aerzte: Sinnestäuschungen – hallucinationes – nennen.
[641] Es ist dies bekanntlich eine Krankheit, welche in einer abnormen Steigerung der Empfindung besteht und bei welcher Sinnestäuschungen stattfinden, die nicht etwa Fehlern der Sinnesorgane, sondern einer abnormen Gehirnthätigkeit entspringen. Dergleichen Kranke haben die wunderlichsten Phantasmata; so sah z. B. ein solcher Kranker eine Menge Polizeidiener, welche sich auf seinen Löffel oder Krug setzten und ihn am Essen und Trinken verhinderten; ein Anderer hörte, wie sich alle seine eigenen Gedanken laut aussprachen und da es keine liebenswürdigen Gedanken waren, die sich so unbefangen über sich selbst aussprachen, so suchte er vor ihnen in die Wälder zu fliehen; noch Andere fühlten sich doppelt etc. Die nächsten Ursachen dieser Krankheit, welche entweder in einem zu heftigen Eindrucke, z. B. zu starkes Licht, mechanische Verletzungen, oder in einer abnormen Thätigkeit des Hirns oder Rückenmarks, z. B. in einer Entzündung derselben liegen können, sollen uns hier weiter nicht beschäftigen, da dies erstens in’s Bereich der Männer vom Fach, der Aerzte gehört, und zweitens uns auch von unserem Gegenstand zu weit abführen würde. Die entfernteren Ursachen zu dieser Krankheit aber, welche im 15., 16. und 17. Jahrhundert einen epidemischen Charakter annahm, müssen in der jener Zeit eigenen religiösen Schwärmerei, in der tiefen Unwissenheit besonders in naturwissenschaftlichen Dingen und den daraus entspringenden abergläubischen Vorstellungen, in der krankhaften Begier nach Ruhm und Reichthum, die sich besonders in dem Suchen nach dem Stein der Weisen und der Alchymisterei[1] offenbarte, besonders aber auch in den unerquicklichen und unnützen Zwistigkeiten auf kirchlichem Gebiet und der dadurch herbeigeführten Verwirrung der Ansichten gesucht werden. Statt nun diese bedauernswerthen Kranken der sorgfältigsten ärztlichen Behandlung anzuvertrauen, übergab man sie, die, in Folge jener krankhaften Einflüsse, solche absurde Dinge von Hexerei und Teufelsumgang, den sie gepflogen, behaupteten: dem geistlichen Gericht, welches die sich selbst Anklagenden zum Feuertod verurtheilte. Die meisten von diesen Unglücklichen starben wie Märtyrer einer erhabenen Idee, so ruhig und furchtlos. – Daß aber wiederum eine große Anzahl der der Hexerei Angeklagten blos auf der Folter und aus Furcht vor dieser Geständnisse über Verbrechen ablegten, deren Begehung, beim besten Willen sie zu begehen, in das Reich der Unmöglichkeiten gehört, darf wohl nicht erst erwähnt werden.
Das Verfahren vor diesen Gerichten war übrigens ein sehr summarisches, was schon aus der großen Masse von Prozessen hervorgeht, die vor diesen Tribunalen verhandelt und in verhältnißmäßig sehr kurzer Zeit erledigt wurden. Die größte Routine darin müssen aber unstreitig die geistlichen Tribunale des Bischofthums Straßburg gehabt haben, denn nach einer mir vorliegenden authentischen Quelle sind dort in einem Zeitraume von zwanzig Jahren, nämlich von 1615 bis 1635, nicht weniger als fünftausend Hexen und Teufelsbündner verbrannt worden. Ihre liegenden Güter aber, wenn die Verurtheilten solche besaßen, wurden in der Regel confiscirt und den Domainen der Prälaten zugeschlagen. Indessen gaben auch andere Bezirke dem Straßburger im Hexenverbrennen wenig nach und daß es im lustigen Alt-England einen General-Hexenfinder gab, dem alle alten Weiber mit rothen, entzündeten Augen vorsichtig aus dem Wege gingen, daß man in einem Zeitraume von fünf Jahren im Bamberg’schen gegen sechshundert Hexen und im Würzburg’schen gleichfalls in einem Lustrum neunhundert verbrannte, im Braunschweig’schen aber die Pfähle auf dem Rabenstein, wo die Hexen gepfählt wurden, so zahlreich standen, wie die Fichten und Tannen im Walde, das sind bekannte Sachen. Es wurde aber nicht blos alten, häßlichen, sondern auch jungen, hübschen Frauen der Prozeß gemacht; der Prozeß der jungen schönen Hexe von Schlestadt im Elsaß hat eine ganz besondere Berühmtheit erlangt.
Die Namen der Männer, welche diese bösartige Dummheit mit aller Entschiedenheit angriffen und nicht ermüdeten, bis ihr die Gesetzgebung endlich ein Ende machte, die Namen eines Weier, Friedrich von Spee, und vor Allem des trefflichen Christian Thoimasins sind wohl im Gedächtniß Aller –; höchst wahrscheinlich aber wird sehr Vielen das Kuriosum unbekannt sein, daß noch im Jahre 1728, in jenem Jahrhundert, das sich mit so vielem Stolz das philosophische nennt, im Heching’schen eine vom 18. Februar genannten Jahres datirte landesfürstliche Verordnung erschien, in welcher Demjenigen, welcher einen Kobold, eine Hexe, Gespenst, Alp oder Währwolf todt oder lebendig an den Oberjägermeister einliefert, eine Belohnung von fünf Gulden zugesichert wird. –
Es gibt jetzt so Viele, welche sich nach der guten, alten Zeit zurücksehnen und diese gute, alte Zeit mit ihren Sitten, Einrichtungen und Gebräuchen zurückführen möchten; auf einem in den jüngsten Tagen und noch heute allerwärts viel besprochenen Gebiet hat man schon hie und da den Anfang zu machen gesucht: im Interesse dieser glaubten wir durch Vorstehendes an jene gute, alte, fromme Zeit mit ihrer Rechtgläubigkeit erinnern zu müssen.
Aeltere Personen erinnern sich vielleicht noch, daß vor Jahren ein russischer Fürst, Putiatin, in Dresden lebte. Er war sehr bekannt als Original und Sonderling, aber auch als trefflicher, liebenswürdiger Mensch. Noch hört man mitunter von den mancherlei eigenthümlichen Erfindungen erzählen, die er gemacht hatte und die damals neu und auffallend waren, die aber die neuere Zeit zum Theil weiter ausgebildet hat. So besaß er z. B. einen Wagen, in dem er sich ohne Pferd fahren konnte, einen Regenschirm mit kleinen Glasfenster, mit dem er sich ganz bedeckte und Anderes mehr. Eben so wie seine Sonderbarkeiten war aber auch seine Güte und Menschenfreundlichkeit bekannt, die er besonders auf seiner Landbesitzung in Klein-Zschachwitz bei Pillnitz bewährte, deren reizende Anlagen er nicht nur jedem Besucher frei eröffnete, sondern wo er ein Wohlthäter der Armen war und ein Schulhaus erbauen ließ, das noch jetzt in fremder, eigenthümlicher, aber höchst pittoresker Form dasteht und an ihn erinnert. Aber nur nicht für das Schullokal, auch für die Erholung und Erheiterung der Schuljugend ist gesorgt durch ein offenes Gebäude, wo Schaukeln unter dem Schutze eines festen Daches den Kindern Gelegenheit zu Spiel und Freude bieten.
Es ist immer interessant und belehrend, die Eigenthümlichkeit ausgezeichneter Menschen aus ihrem Wirken und ihren Schöpfungen kennen zu lernen. In seinen Erfindungen, der Gestaltung seines Landsitzes und der Einrichtung dieser Schule prägte sich die Eigenthümlichkeit des Fürsten Putiatin aus; aber seine sinnreichen, originellen Erfindungen sind verschollen oder von bedeutenderen verdrängt worden, die reizende Chaumière, wie er seine Villa nannte, die so ganz den Stempel seiner innigen, sinnvollen Natur trug, ist in fremde Hände übergegangen und so ganz verfallen; unversehrt steht nur noch die Schule, die aus der Fülle seines edlen, menschenfreundlichen Gemüthes hervorging, die er mit Liebe schuf und mit Weisheit einrichtete; sie steht und wird hoffentlich noch lange das Andenken des Menschenfreundes in Segen erhalten, wenn seine übrigen liebenswürdigen Eigenschaften, seine Sonderbarkeiten, genug seine ganze Persönlichkeit längst vergessen sind. Aber sie verdient auch an und für sich selbst Beachtung.
Das originelle Gebäude befindet sich zu Ende des Dorfes Klein-Zschachwitz am Saume des Waldes, der sich bis an die Elbe erstreckt. Die Giebelseite, welche die Hauptfront bildet, zeigt neben den drei Fenstern des Schulsaales an jeder Seite eine eingefügte steinerne Tafel mit Inschriften.
[642]
Die Inschrift der einen lautet:
Mit Gott!!!
In Gott!!!
Durch Gott!!!
Ist
Diese Kinder-Schule
Gedacht
Gefunden
Angegeben
Und
Auf eigne Kosten
Zum Heiligsten!!!
Zum Theuersten!!!
Zum Ewigen Andenken
An
Tochter!!!
Gattin!!!
Freundin!!!
Erbauet
1822.
Die Inschrift der anderen lautet: Hierbei Hat der Hr. Oberpfarrer M. Chr. Fr. Gerschner löbliche Thätigkeit bewiesen. Die Gemeinden von Groß und Klein-Zschachwitz, Tschieren, Sporbitz und Meislitz, so auch die Richter J. G. Schindler, F. L. Wieland, J. Kailich, J. G. Fritzsche und J. G. Ryssel haben sich sehr gutwillig finden lassen. Der Kunst-Gärtner des Fürsten Nicolaus Putiatin, Friedrich Graul hat seltenen Fleiß und Eifer an den Tag gelegt – und die Maurer- und Zimmermeister J. G. Eblich und Kegel haben das Ihrige brav gethan.
Möchte die Allmacht!!!
Die Allgüte!!!
Dieses stille Vorhaben
Segnen!!!
So wie diese Kinder-Schule gebauet worden und nun im Jahre 1823 dastehet, haben sich die obengenannten guten Gemeinden verpflichtet, dieselbe auf das beste zu unterhalten und im Fall des Unglücks auch SO wieder aufzubauen und werden es in GOTT christlich thun!!!
Besondre Aufsicht darüber führt der jedesmahlige Oberpfarrer zu Dohna
F:=N:=P:=
Der Eingang in das Schulhaus ist auf der entgegengesetzten, dem Walde zugekehrten Giebelseite. Im oberen Stockwerk ist die Wohnung der Schullehrers, im Erdgeschoß der große Schulsaal, mit allen nöthigen Requisiten, Bänken, Tafeln, Schränken und einer kleinen Orgel versehen. Im Schulsaal hängen, in Rahmen gefaßt, folgende Schulregeln, von denen ich nicht weiß, ob sie auch in andern Schulen zu finden sind, die aber in keiner fehlen sollten:
Das Erste, was du thust, wenn du erwachest früh,
Sei ein Gebet zu Gott, Kind, das versäume nie!
Nun stehe schleunig auf und biete guten Morgen
Den Eltern, die für dich mit treuer Liebe sorgen.
Dann wasch’ und rein’ge dich, zieh’ ordentlich dich an,
Unreinlich darfst du nie dich deinem Lehrer nah’n;
Du mußt zur rechten Zeit stets in die Schule gehen,
Sonst trifft die Strafe dich vorn an der Thür zu stehen.
Muthwillig darfst du auch niemals zu Hause bleiben,
Soll dich der Lehrer nicht in’s Buch der Faulen schreiben.
Wenn du zur Schule kommst, so lauf’ nicht hin und wieder,
Nein, ruhig setze dich auf deinem Platze nieder.
Tritt nun der Lehrer ein, steh’ auf und grüße ihn,
Die schuld’ge Hochachtung mußt du ihm nicht entzieh’n.
Wenn das Gebet beginnt, so falte deine Hände,
Andächtig sei dabei vom Anfang bis zum Ende;
Aufmerksam mußt du stets auf deinen Lehrer hören,
Bei seinem Unterricht nicht plaudern und nicht stören.
Wenn dich der Lehrer fragt, so überleg’ erst still
Und dann antworte laut, weil er’s so haben will.
Den Andern hilf nicht ein, hör’ ihnen lieber zu,
Sie wissen’s oft recht gut, selbst besser noch als du.
Was dir der Lehrer sagt, das thue stets mit Freuden,
Wer ungehorsam ist, muß seine Strafe leiden.
Mit Andern zanke nicht, verträglich sei vielmehr,
Der Zänker ist verhaßt und schadet sich gar sehr.
Hat man vor Andern dich zum Obern auserkoren,
Mach’ dich der Ehre werth, sonst geht sie dir verloren.
Wird zum besondern Fleiß dir etwas zugedacht,
Es werde pünktlich stets und ordentlich gemacht.
Gibt nun der Lehrer auch zum Lernen etwas dir,
So lern’ es bald und gut, sonst heißt es: du bleibst hier!
Was in der Schule ist, das darfst du nicht verletzen,
Denn wenn du Schaden machst, so mußt du ihn ersetzen.
Geh’ unterweges still und schrei und lärme nicht,
Sonst bringst du Schul’ und Ort in übeles Gerücht.
Die Leute grüße stets recht höflich und bescheiden,
Die Grobheit schändet dich und Niemand kann sie leiden.
Red’t dich ein Fremder an, so stehe nicht von ferne,
Tritt näher hin zu ihm und hör’ und dien’ ihm gerne.
Niemandem thue je etwas zu Leid und Schaden,
Auch im Verborg’nen nicht, denn es wird stets verrathen.
Sei schamhaft überall und keusch in deinem Herzen,
Du bist sonst nah’ dem Fall und schaffst dir bitt’re Schmerzen.
Die Wahrheit rede stets und wag’ es nie zu lügen,
Du kannst die Menschen wohl, doch niemals Gott betrügen!
Etwas ferner von der Schule ist der Spielplatz, auf dem ein offenes Gebäude mit Schaukeln steht, das die Inschrift trägt:
Faule und unartige Kinder werden nicht zugelassen.
Dort sollten die Kinder nach beendigten Schulstunden sich vergnügen.
Alljährlich wird noch das Fest der Einweihung der Schule an dem wiederkehrenden Gedächtnißtage, dem 10. September, gefeiert, wo die Kinder gespeist und ihnen Vergnügungen bereitet werden. Auch dies ist noch eine Stiftung des Fürsten.
Vögel im Winter.
Während wir unsere Pelze und Winterkleider hervorsuchen, ziehen sich die Bäume und Blumen aus und halten ihre nackten Glieder kaltblütig dem beißenden Winter hin. Die entkleideten Zweige, Stengel und Aeste hüllen sich in Schlaf, in Todtenschlummer, in Reifröcke und Schneepelze. Da können sie’s wohl aushalten, bis der Frühling wieder Leben bläst und die inzwischen verrotteten Blätter und Blumen durch neubelebte Adern und Stämme zur Auferstehung in den Baumkronen wieder in die Höhe treibt. Aber was
[643] fangen die singenden Blätter, die beschwingten Blumen, die Vögel, während des Winters an? Wie jubilirte und zwitscherte und flatterte der Wald, der Garten an sonnigen, warmen, duftigen Junimorgen! Und wie traurig schweigt es jetzt zwischen den nackten, öden Zweigen, aus denen hier und da ein enthülltes Nest schutzlos im Wind und Wetter schwankt! Wo sind die kleinen piependen Gelbschnäbel, die einst zwischen grünen Blättern so neugierig und freßgierig der Mutter und dem Vater entgegenschnappten, hingekommen? Und die fleißigen, zärtlichen Eltern dazu? Wir wissen wohl, viele Vögel ziehen davon und sehen niemals den Winter mit seinen nackten Bäumen und seinem Barte von Eiszapfen. Aber die meisten müssen doch zu Hause bleiben, da sie keine Mittel zum Reisen haben. Wie bringen sie den Winter hinter sich, ohne Winterkleider, ohne Vorrathskeller, ohne Holz und Torf und Öfen? So schlimm ist’s gar nicht, daß sie ohne Schutz vor Kälte, ohne Speisekammer sich durchhelfen müßten. Sie haben gar mannigfaltige Futtermagazine und gehen außerdem wärmer angezogen, als mancher Geheimerath mit seinen Gichtstiefeln.
Außerdem schlafen viele zwei Dritttheile des Winters hindurch, da es doch nichts Gescheidtes für sie zu thun gibt, wobei sie nicht so viel Stärkung brauchen, als im Juni, wo sie täglich 16 bis 18 Stunden ununterbrochen auf den Beinen und Schwingen sind und für sich und eine zahlreiche Nachkommenschaft zu sorgen haben. Was ihre Art, sich während des Winters durchzufressen, betrifft, gibt es kaum eine größere Genialität unter den Menschen. Mit ihren kleinen, runden, scharfen, blitzschnellen Augen und ihren klugen, spitzigen Schnäbeln finden sie aus tausenderlei versteckten Winkeln und scheinbar ungenießbaren Dingen auf tausenderlei Weise Frühstück, Mittag- und Abendbrot. Es würde uns Stunden und Bogen kosten, nur aufzuzählen, was sie Alles finden und fressen unter den verwelkten und verwitterten Blättern eines einzigen Baumes. Nun und wie viel Bäume und Blätter und geborstene Pflanzenstengel gibt es in jedem Flugkreise eines Vogels? Seine Speisekammer ist meilengroß und die Delikatessen darin so versteckt, daß nur er sie auffindet und Menschen und Thiere im größten Hunger vorbeigehen, ohne ihm etwas wegzunehmen. Unter sammetnen, auch im Winter grünen Moosen, in den Ritzen rauher Baumrinden, in den Höhlen und Löchern alter Bäume, zwischen verwitterten, pfeifenden Gräsern und Unkräutern, in Tausenden, in Millionen kleinen Samenkörnchen, die der eisige Nord aus vertrockneten Kapseln, als Säemann des künftigen Frühlings umherstreut, an verlorenen und vergessenen wilden Früchten, überall in Wald und Feld, so verlassen und verhungert sie scheinen, finden die kleinen, muntern Sänger von Flur und Feld ihre besetzten Tafeln. Und was die Schlafstelle betrifft, machen sie sich selbst zum warmen Bett, und mit Schnabel und Köpfchen unter dem Flügel, ras’t der durchdringendste Ost machtlos über ihr warmes Federbett hin und läßt sie ruhig, gesund und warm schlafen lange, lange Januarnächte hindurch, wenn der Schnee unter dem fernab seufzenden Wagenrade des verspäteten Fuhrmanns quiekt, wie eine Heerde Ferkel im Sacke. Die Blumen des Sommers, lange todt und verlassen von den Bienen, welche ihren Honig aus den thaugebogenen, blüthenstaubvergoldeten Kelchen sogen, füllten sich hernach mit Saaten, die der nebelige Herbst reifte und der Wind barst und umherstreute zum Bankett für die nicht verwelkten, beschwingten, singenden Blumen. Wenn der ganze Gesichtskreis und alle Landschaft umher mit starrem, weißem Schnee bedeckt kein Leben mehr zu dulden scheint und nicht einmal der starke Huf durch die gefrorne Decke bricht, finden die Vögel noch ihren Weg und ihre Waaren zwischen Busch und Dornen und picken umher zwischen Farrn und Flechten, durchsuchen Holzstöße und Getreideschober, hohle Baumwurzeln, die noch schwarz aus dem Schneetuche hervorragen, Gräben und Abhänge mit schneelosen Stellen, dichtes Unterholz, auf welchem der Schnee ein Dach bildete, und den sie zum Theil wegflattern von dünnen Zweigen, so daß sie noch die letzten Hagebutten und „Mehlfäßchen“ aufstöbern und sich ihr Brot davon backen. Wird’s gar zu arg und mager draußen, legen auch die wildesten, menschenscheuesten Vögel ihre Furcht vor des Menschen Haus und Hof ab und gucken in die Scheune hinein, wo der staubige Drescher sie nicht beachtet, und nehmen ihm, oft mit der größten Keckheit, aber äußerst schlau, gute fette Körner dicht vor der Nase weg. Sie hüpfen und picken zwischen Stroh und auf Düngerhaufen, zwischen Kühen und Gänsen umher, umzingeln die Hühner, wenn sie gefüttert werden und nehmen Alles mit hexereiartiger Geschwindigkeit in Beschlag, was in den weiteren Umkreis sich verliert. Dann machen sie Attacken mitten unter den Füßen des grimmigen Hahnes hinweg in den Bereich der fleißigen Schnäbel, vor jedem Korne, das sie auf’s Korn nehmen, erst genau recognoscirend, ob auch die nächste Henne mit einem neidischen Seitenhiebe ihres Schnabels nicht Einspruch thun könne. Das geht Alles so blitzschnell, daß man nicht so geschwind sehen kann, als sie die Lage jedes Kornes erst genau berechnen und jedes momentan unbeschützte sofort wegpicken, in demselben Augenblicke schon wieder ein anderes ausmessend und richtig im richtigen Augenblicke treffend, so daß Hahn und Hühner, die manchmal mit einem ärgerlichen Zanktone nach ihnen hacken, immer daneben treffen. Und wo haben nicht überall auf der Schneedecke Pferde oder Hunde oder andere Thiere gefressen oder nicht bis auf die letzten Ingredienzen verdauten Unrath gelassen? Da findet sich allemal noch eine Mahlzeit mit verschiedenen Gängen für die Vögel.
Zu dem Gemüse und den Mehlspeisen werden auch Fleisch und Braten angeschafft. Millionen von Schmetterlingen und Insekten haben Eier und Junge in Cocons gesponnen und nach ihrer Weise gut versteckt, aber die kleinen Blitzaugen des Vogels wissen überall solche kleine Eier- und Fleischmärkte auszuspioniren und mit der größten Geschwindigkeit auszuräumen: eine wahre Wohlthat für die Blätter und Sprossen des künftigen Frühlings, die im Keime radikal aufgefressen werden würden, wenn die Vögel nicht ihre Eier- und Fleischspeisen aus diesen unerschöpflichen Quellen des Ungeziefers bezögen.
Die kleine Meise stöbert zwischen Strohdächern und altem Reisig nach Insekten umher, die sich in deren warmen, schützenden Labyrinthen begruben. Wir sehen sie hängen und gestikuliren rückwärts und mit dem Kopfe nach Unten, wie einen gymnastischen Künstler, an Halmen reißend und zerrend, und ihn Zoll für Zoll mit der größten Genauigkeit untersuchend, um die entdeckte winterschläfrige Beute blitzschnell wegzupicken und zu verschlucken. Der stelzende Wackelschwanz, die Bachstelze, marschirt gleich einem Grenadier auf der Parade, ganz gegen die Art der hüpfenden und hopsenden andern Vögel an Flußufern u. s. w. umher, um jedes Atom und Körnchen, das andere Geschöpfe für schlechterdings ungenießbar halten würden, ihrem kleinen Straußenmagen zu überwachen, damit er versuche, was für Alimente sich daraus destilliren lassen. Auch folgt sie dem Wagen, dem Reiter meilenweit auf seinem gefrornen Wege, bis einmal etwas für sie abfällt. Was es auch sei, etwas Genießbares für sie ist immer dazwischen. Amsel und Drossel, diese Schneeglöckchen unter den Vögeln, die schon singen und pfeifen, wenn der erste Thauwind bläst, und wieder in ihre Wildniß ziehen, suchen sich während des Winters mit Menschen zu vertragen, und frequentiren deren Gärten und Höfe und halten sich ohne Komplimente für hoffähig. Sie rauschen zu unserem Schrecken oft plötzlich auf mit ihren lärmenden Flügeln zwischen Schuppen und Scheunen, Karren und Wagen, und machen sich aus dem Staube, bis wir gegangen sind, und purren dann zurück in die bewohnten Regionen, wo sie sich ihre Mahlzeiten zusammenschnurren. Manche Delikatesse pickt jetzt die wilde Holztaube aus den Herzen des Wintergrüns und aus Kohlköpfen, deren zarteste Keime sie aussucht. Dies machen sich Jäger zu Nutze, welche das zarteste Gemüse zu ihrem Fleisch aus deren und anderer Vögel Magen nehmen. Lerchen jeder Art findet man jetzt überall als Räuber beschäftigt, besonders auf herbstbestellten Getreidefeldern, so lange es irgend geht. An Getreidespeichern arbeiten sie oft gesellschaftlich, wie verbündete Einbrecher und Diebe. Das „Weißkehlchen“ ist eine der größten Plagen des Landmanns und seiner Saaten und Wintervorräthe. Eine Heerde dieser Art Lerchen reißt das Dach eines Getreideschobers oder selbst einer altersschwachen Strohscheune im Nu auseinander, und dringt mit eben so viel Fleiß als Lärm und Geschicklichkeit in die Aehrenköpfe der Garben, statt, wie die Sperlinge, sich an einzelnen Aehren zu begnügen, und ab- und zuzufliegen. Der so entstehende Schaden ist aber noch das Wenigste. Der durch ihre Breschen eindringende Regen verdirbt oft später ganze Getreidespeicher und durchnäßt sie durch und durch. Die Lerche des Himmels, die im Sommer Arien von Engeln auffängt und sie der Erde vorsingt, erweist sich im Winter sehr irdisch, gefräßig und räuberisch. Sie sticht und schlägt sich sogar mit andern Mitbrüdern, wenn diese nicht gutwillig von kärglichen Funden abgeben wollen.
Der niedlichste, kleinste Zwerg unserer Vogelstaaten, der Zaunkönig mit goldener Kammkrone, im fettesten Zustande kaum 80 Gran [644] schwer, so daß man ihn auch für einfaches Porto im Briefe versenden könnte, weiß sich gleichwohl durch die härtesten Winter hindurchzuschlüpfen. Man wundert sich, wie so ein befiedertes Bischen den Grausamkeiten des Januars begegnen könne. Aber beobachte ihn nur in Wald und Feld: es gibt keinen munterern Burschen in der ganzen Welt. Er hält sich schon durch diese ewige quecksilberige Beweglichkeit warm und wohlig, und ehe dieses Quecksilber gefriert, müßte man bis in die arktischen Regionen gehen. In dieser Sekunde pickt er an einem Tannenzapfen, in der nächsten ist er verschwunden und wird in derselben wieder sichtbar, wenigstens hörbar ein paar hundert Schritte weiter in grünem Epheu, vielleicht um sich grünen Sommererinnerungen hinzugeben; aber sofort scheinen und flattern seine kleinen Fittige wieder hoch oben und weit weg an den äußersten Spitzen von Zweigen, an denen noch Reste von Beeren und dergleichen sich verbargen. So geht es den ganzen Tag flink und frisch durch die eisigste Kälte hindurch, ohne daß er jemals Miene macht, als ob er’s etwas kalt fände. Es fällt ihm immer etwas ein, um sich die Zeit zu vertreiben und die nöthige Bewegung zu machen. Seine Arbeitszeit fällt in die warme Periode, während welcher er eine Menge kleine Kinderchen zu erziehen hat. Naturalisten haben behauptet, daß er während dieser Zeit, jeden Tag 16 bis 18 Stunden lang, 36 Reisen jede Stunde mache, die man 30 bis 40 geographische Meilen täglich schätzen müsse.
Der eigentliche Held des Winters ist aber unser Rothkehlchen, das dem nebeligen Herbste und unsern Jungensjahren eine gar duftige, von Sprenkeln und schwarzen Fliederbeeren erfüllte Erinnerung gibt. In England ist das Rothkehlchen Held einer der beliebtesten und verbreitetsten Kindermährchen, das seit Jahrhunderten in keiner Kinderstube fehlt. Das tapfere „Schnickern“ im herbstlichsten Walde mit gelben, im Winde flatternden Blättern – welch’ ein poetisches Bild! Und wie rührend lernt der „Hahn“ singen in der stillen, dumpfigen Bauernstube des Winters! In Deutschland wandert das Rothkelchen aus, aber in England bleibt es den ganzen Winter, und zieht umher vor den Fenstern, wie die alten Sänger, und ersingt sich Brosamen aus zarten Kinderhänden, und singt dafür tapfer sein Pensum ab, wie auch der Wind in seinen Federn zause, so daß man meinen sollte, daß sie nie wieder in Ordnung zu bringen wären. Es ist die Nachtigall des Winters. Es singt, wenn Alles schweigt, trotzig gegen den Sturm, der mit seinen tödtlichen Lauten allein herrschen will. Es ist so beliebt und populär, wie die Gänseblume des Frühlings und der Schnee im Winter, der ihm ein Recht gibt auf die Mildthätigkeit der Menschen, wofür es aber mit tapferm, frischem Gesänge reichlich lohnt.
Welche Massen von Vögeln müssen sich bei uns durchwintern, wenn die Zugvogel längst ihre Sommer oder vielmehr Winterwohnungen in weiter Ferne bezogen und die Erde mit eisigen Thoren hermetisch verschlossen ist? Wir haben angedeutet, wie es einige anfangen, um durchzukommen, aber damit können wir die unzähligen andern nicht füttern. Wie machen die’s? Sie finden Nahrung in Dingen, die wir noch gar nicht als verdaulich und nährend kennen, aus denen aber der Magen des Vogels mit seiner Lunge, die viel kräftiger athmet und wärmt und eingeführte Stoffe ausbrennt, als wir es mit dem ordentlichen Magen fertig kriegen, noch Nahrung zu ziehen weiß. Wir kennen durchaus noch nicht die Ernährungsfähigkeit aller Körper und Kompositionen der Erde. Wie aus sehr tief aufgegrabenem Lande neue Blumen aufwachsen, wie man sie vorher nie in dieser Gegend sah, so birgt sich in jedem Spaten voll Erde auch Nahrung für schärfer sehende und schärfer mit Verdauungskraft ausgestattete Thiere. Der Strauß versucht sogar, aus verschlungenen Eisenstückchen (einmal sogar aus einer sehr struppigen Schuhbürste, ein anderes Mal aus einem Hobel mit dem Eisen darin) noch etwas zu machen. Er verdaut, was kein Dampfhammer klein kriegt. Man kennt viele Vögel, die Sand und Steine als substantielle Zuthaten zu ihren feineren Speisen ohne Nachtheil in Masse verschlingen, und die chemische Analyse hat in Vogeleingeweiden schon aufgelöste Nahrungssäfte entdeckt, die sich nur auf mineralische Substanzen, auf Erden und Steine, zurückführen ließen. So liegt’s am Ende blos an unserm schwachen Magen, wenn uns Kieselsteine nicht recht bekommen. Humboldt entdeckte in Südamerika eine Sorte Menschen, die den Winter hindurch größtentheils von Lehm- und Thonkugeln schmausen, ohne sich den Magen dabei zu verderben oder sehr mager zu werden. Wenn aber die Vögel, die nicht säen und ernten und nichts in die Scheunen sammeln, so gut durch den Winter kamen, ist’s ein wahrer Skandal für uns Menschen und deren hochweise Einrichtungen und deren gierige Sorgen um Brot und Reichthum, daß so viele hungern und frieren müssen. Manche mögen wohl selbst Schuld sein, öfter liegt’s aber just an den „weisen Einrichtungen“ und väterlichen Fürsorgen.
T. in Z. Die Raumverhältnisse unserer Zeitschrift zwangen uns, hie und da zu kürzen, was Sie wohl freundlichst entschuldigen. Trotzdem überschreitet Ihr neuester Beitrag den festgestellten Umfang noch um 6 Spalten.
L. in B. Sie sind sehr gütig. Nur fünf Ihrer Gedichte wünschen Sie abgedruckt zu sehen, und versprechen uns den glänzendsten Erfolg und vermehrten Absatz unserer Zeitschrift in der Gegend Ihres Wirkens. Sonderbarer Schwärmer!
M. in I. Ihre neuesten Einsendungen sind weniger zur Aufnahme geeignet. Verlassen Sie die alte Richtung nicht.
H. in G. Wir sehen noch immer der Einsendung des versprochenen Nester-Artikels entgegen. Haben Sie Ihr Versprechen schon vergessen?
K. in L. Gewiß haben Sie Recht: es geht unaufhaltsam vorwärts trotz aller Machinationen jener Partei. Aber es gehört viel Muth und Hoffnung dazu, die Geistesverrenkungen dieser „Schleiermacher“’, wie sie der Kladderadatsch sehr richtig nennt, ruhig zu ertragen.
- ↑ Wir wollen übrigens damit durchaus nicht alle sogenannten Alchymisten in die Reihe utopische Chimären suchender Phantasten stellen. Männer wie: Glauber, Berth. Schwarz, Böttger, Brand, Kunkel, Baptist van Helmont, Paracelsus, Tschirnhausen u. s. w., welche Alle Alchymisten waren, werden immer einen hervorragenden Platz in den Annalen der chemischen Wissenschaft einnehmen.