Die Gartenlaube (1856)/Heft 7
Um die zwölfte Stunde verließen auch die beiden Freunde das Kaffeehaus. Rudolf begleitete Adolf bis an dessen Wohnung und nahm hier Abschied von ihm. Der Gedanke aber an das Ziel, dem der Freund entgegenreiste, machte auch in seinem Herzen sehnsüchtige Wünsche, in seinem Geiste liebliche Träume wach, Er konnte noch nicht schlafen gehen, es trieb ihn dahin, wo die holde Blinde schlummerte, Lange stand er träumend vor dem Gefangenenhause, dann machte er noch einen Spaziergang und kam erst kurz vor ein Uhr zu Hause an. Da er seinen Hausschlüssel nicht bei sich hatte, mußte er den parterre wohnenden Hauswirth wecken, der sich nicht wenig über seines sonst „mit den Hühnern das Nest suchenden“ Miethers späte Heimkunft verwunderte. –
Der Tag war längst angebrochen, und Rudolf lag noch in gaukelnden Morgenträumen, in denen die Blinde nicht die letzte Rolle spielte, als ihn ein starkes Geräusch vor seiner Thür weckte. Eh’ er sich noch recht ermuntert hatte, füllte sich das Zimmer mit Beamten und Dienern der Sicherheitsbehörde.
„Sind Sie der Doktor Grimm?" fragte der Führer derselben, und auf Rudolf’s verwundertes „Ja,“ erklärte der Beamte: „So sind Sie mein Gefangener.“
„Um Gott – wie komm’ ich dazu?“ fragte Rudolf erbleichend.
„Das werden Sie wohl wissen,“ antwortete Jener.
„Ich weiß in der That von keiner Schuld, die ein solches Verfahren gegen mich rechtfertigte -“
„Das wird sich finden – jetzt kleiden Sie sich an und folgen uns."
„Aber was ist denn geschehen? Was soll ich denn gethan haben? Das muß man mir doch wenigstens zu wissen thun!“
„Nun, so will ich’s Ihnen sagen, Ihre Tante, die Wittwe Kreller in der Schmiedegasse, ist ermordet gefunden worden!“
„Gerechter Gott!“ rief Rudolf schaudernd. Er war lange nicht fähig, etwas zu thun. Endlich kleidete er sich unter dem Beistande der Polizei an, und ließ sich halb willenlos in das Gefängniß führen, das er heute in einer ganz andern Angelegenheit zu besuchen gedacht hatte. –
Das Kind der Fritschin war in der Nacht kränker geworden und hatte es der Mutter unmöglich gemacht, zwischen zehn und ein Uhr zu ihrer Pathe zu gehen. Als sie um diese Zeit an das Haus der einsamen Frau gekommen, hatte sie lange vergeblich an die Jalousien geklopft. Endlich war sie an die Hausthür gegangen und hatte diese zu ihrem Befremden unverschlossen, den Schlüssel steckend gefunden. Da hatte sie augenblicklich Verdacht geschöpft, Rudolf könne in der Nacht zu seiner Tante zurückgekehrt sein, und wer weiß, was da geschehen war! Unschlüssig, was thun, war sie an der Thür gestanden, als der Nachtwächter sich in der Nähe gezeigt hatte. Diesen, den sie gut kannte, hatte sie herbeigerufen, ihm ihren Argwohn mitgetheilt und ihn aufgefordert, sie in das Haus zu begleiten. Er war sogleich bereit gewesen, sie waren hineingegangen und hatten das Zimmer ebenfalls unverschlossen gefunden. Darin eingetreten, hatten sie mit ihren Laternen umher geleuchtet, ohne etwas Verdächtiges zu sehen. Dann hatte die junge Frau die im nahen Alkoven schlafende Wittwe gerufen. Umsonst. Da waren die Beiden hineingetreten und hatten die Alte in ihrem Bette erdrosselt gefunden. Nachdem die Fritschin sich von ihrem ersten Schrecken erholt, hatte sie unter das Kopfkissen der Gemordeten gegriffen und die Hand mit dem Ausrufe hervorgezogen:
„Das kann nur er gewußt haben!"
Der Wächter hatte ihr Erklärung über diese Worte abverlangt, und als sie diese gegeben, sie aufgefordert, ihm zum Polizeicommissar des Bezirks zu folgen. Das war geschehen. Der Polizeicommissar hatte die Beiden nach dem Schauplatze des gräßlichen Verbrechens begleitet, den Befund festgestellt und die Frau in’s Verhör genommen. Dabei hatte sie nach und nach Alles erzählt, was am Tage zwischen der Ermordeten und ihrem Neffen vorgegangen. Dies war dem Polizeibeamten genug gewesen, um Rudolf der That verdächtig zu halten. Er hatte den Wächter und die Fritschin entlassen, Zimmer und Haus verschlossen und sich dann nach Rudolf’s Wohnung begeben, wo er den Hauswirth geweckt und von diesem erfahren hatte, wenn sein Miethsmann heimgekommen. Darauf war der Beamte auf das Polizeiamt geeilt und hatte hier den Vorfall mit dem Ergebniß seiner Nachforschungen zur Anzeige gebracht. Der funktionirende Polizeirath hatte an die Schuld des ihm nicht ganz fremden jungen Arztes nicht glauben wollen, daher war die Verhaftung desselben so lange unterblieben, bis der Sergeant Huker nach Ausschlafung seines Rausches erschienen war, und durch Erzählung des Gespräches, das er im Garten der Mutter Brummeisen belauscht, den Verdacht des Commissars bestätigt hatte. Da war endlich der Verhaftsbefehl gegeben worden, der, wie wir gesehen, pünktlich vollzogen ward.
[86] Wir übergehen die nächsten Proceduren, welchen der so schwerer Schuld Geziehene vom Gerichte unterworfen ward. Bei seiner schüchternen Gemüthsart und seinem Mangel an Weltkenntniß darf es nicht Wunder nehmen, wenn er sich von dem über ihn hereingebrochenen Mißgeschicke mehr als er im Bewußtsein seiner Unschuld nöthig hatte, aus der Fassung bringen ließ. Sein ängstliches Benehmen vor dem Richter, namentlich an der Leiche der Gemordeten, deren Anblick ihn auf’s tiefste erschütterte und auch mit Reue erfüllte über seinen gestrigen Versuch, Geld von ihr zu erpressen, und die in seinem verworrenen Gemüthszustande auch verworrenen ausfallenden Antworten vergrößerten das Gewicht der gegen ihn vorliegenden Inzichten nicht wenig. Und als er den von der Wartefrau angesteckt gefundenen Schlüssel als sein Eigenthum erkannte, und zwar mit sichtbarem Erschrecken über dies neue Beweismittel gegen ihn – da hatte der untersuchende Richter nur zu bald sich ein verdammendes Urtheil über den Angeschuldigten gebildet. Die in seinem Schreibtisch aufgefundenen zwanzig Louisd’or, die ihm Adolf geliehen, wurden als corpus delicti betrachtet, wenn man schon seine Angabe, wie er dazu gekommen, zu Protokoll nahm – aber der Maler schien durch das Gespräch im Garten des Kaffeehauses an der Schifferallee selbst gravirt; er wurde aus den Armen seiner Braut gerissen, um gefangen in seine Vaterstadt zurückgeführt und wie sein Freund’ eingekerkert zu werden.
Leider war der Engländer, dem Adolf das Bild verkauft hatte, inzwischen nach England abgereist, und so konnte der Letztere den rechtlichen Erwerb jenes Geldes nicht sofort nachweisen, und bis der Engländer in seiner Heimath ausfindig gemacht und dessen Zeugniß herbeigeschafft war, konnte eine lange Frist vergehen.
Indeß ergab sich der joviale Maler mit mehr Fassung in sein trauriges Loos, als sein armer Freund, er behielt vor dem Richter all seinen Humor und somit auch seine Besonnenheit, so daß er sich von vorn herein eine günstigere Meinung sicherte, als es bei jenem der Fall war. Sehr zu statten kam ihm das Zusammentreffen der Zeit, welche sein Hauswirth als die seiner Nachhausekunft in jener Nacht angab, mit der, welche die Mutter Brummeisen als die Zeit seines Aufbruchs aus ihrem Hause nannte – ein Vortheil, dessen sich Rudolf durch seine träumerische Nachtpromenade beraubt hatte.
Was diesem besonders zum Nachtheil gereichte, war, daß die beiden Hauptzeugen wider ihn, die Fritschin und der Polizeisergeant Huker, die von ihnen belauschten Gespräche nur bruchstückweis gehört hatten, und natürlich gerade die Stellen, welche im stärksten Affekt gesprochen worden, folglich die gefährlicheren, die allerdings, aus dem Zusammenhange gerissen, eine furchtbare Deutung zuließen. Der Sergeant glaubte mit gutem Gewissen auf seinen Diensteid versichern zu können, daß Rudolf seiner Tante den Tod gedroht habe, wenn sie das von ihm begehrte Geld nicht gutwillig gäbe; und die alte Frau selbst hatte ja, als er vor ihrem Fenster gehorcht, der Fritschin geklagt, ihr Neffe trachte ihr nach dem Leben.
Es hieße jenem Gerichtshof sehr Unrecht thun, wollten wir sagen, er habe es, nachdem er sich einmal sein Urtheil über Rudolf gebildet – über Adolf schwankten die Meinungen – sich bequem gemacht. O nein! mit deutscher Gründlichkeit wurde die Untersuchung fortgeführt und unverdrossen ein Fascikel nach dem andern vollgeschrieben – um ja die Schuld des Angeklagten so klar als nur möglich darzuthun. Wer mit den Geheimnissen der Inquisitionspraxis unbekannt ist, der glaubt nicht, mit welchem erstaunlichen Scharfsinn manche Inquirenten Umstände, die in der Wirklichkeit nicht den entferntesten Zusammenhang mit dem Gegenstande ihrer Untersuchung haben, doch damit in die augenfälligste Verbindung zu bringen wissen, so daß der nach den Akten erkennende Richter gar nicht daran zweifeln kann, daß er es mit einem genetisch verbundenen Ganzen zu thun habe. Und einen solchen Inquirenten hatte Rudolf.
Aber während das Gericht auf den Untergang des armen Doktors los incriminirte, erweckte die Macht, die über den Kindern des Unglücks wacht, ihm einen Engel, der wenigstens sein Leiden verklärte.
Es war am Abend des zweiten Tages seiner Einkerkerung, als Rudolf in einem an Verzweiflung gränzenden Zustand auf seinem Strohe lag. Auf einmal schlug der Ton einer Harfe an sein Ohr, und nicht lange währte es, so begann eine herrliche Sopranstimme das Spiel mit der Arie zu begleiten: „Und ob die Wolke sie verhülle, die Sonne bleibt am Himmelszelt.“ – Dieser Gesang drang durch die offene Speiseklappe seiner Thür so glockentönig an Ohr und Herz des Dulders, daß alle seine Lebensgeister aufwachten und sich zu einer Andacht ermannten, wie sie den Gesang selbst beseelte. Er hatte manche gute Agathe gehört, aber so seelenvoll schien ihm noch keine das Lied gesungen zu haben, wie die unsichtbare Sängerin – Clelia, wie er sogleich ahnte. Als sie zum letzten Mal die Worte wiederholte: „das Auge ewig rein und klar, nimmt aller Wesen liebend wahr“ – da war es ihm, als erwache er aus einem schweren Traume zu neuem sonnigen Leben; er vergaß auf Augenblicke, wo er war, und selbst als nach dem Verstummen des Gesanges er sich wieder daran erinnerte, begann er sich mit seinem Geschick auszusöhnen. Er faltete die Hände und betete: „Und ob die Wolke sie verhülle, die Sonne bleibt am Himmelszelt.“ –
Bald darauf erschien der Kerkermeister, Clelia’s Vater. Rudolf bot ihm freundlichen Gruß. Der Greis reichte ihm die Hand und blickte ihm ernst und forschend in’s Gesicht.
„Sie sind ja ganz verändert“ – sagte er nach einer Weile.
„Ja“ – erwiederte Rudolf – „ich hatte Gott und mit ihm mich selbst verloren – aber so eben hab’ ich ihn wieder gefunden.“
„Wohl Ihnen – ohne ihn ist nirgends gut sein, am wenigsten im Gefängniß – halten Sie ihn fest!“
„O, ich will ihn nicht wieder verlieren – wenigstens nicht, wenn er öfter so zu mir redet; wie er vorhin gethan –“
„Gott redet immer mit uns auf mancherlei Weise, wenn wir ihn nur hören wollen –“
„Aber in seiner Liebe offenbart er sich uns in dunkeln Stunden auf ganz besonders liebliche Weise – und so geschah es mir – Dank dem Munde, durch den es geschah. Ach, möchte dieser Mund meinem schwachen Glauben noch oft zu Hülfe kommen!“
„Sie haben den Gesang vorhin gehört?“
„Ihm verdank’ ich meine Erhebung.“
Der Greis sah dem Gefangenen wieder scharf in’s Gesicht. Zuletzt schüttelte er mit dem Kopfe und sagte: „Sind Sie musikalisch?“
„Ich spiele Klavier –“
„Ich habe einen guten Flügel – wollen Sie mir einmal etwas spielen?“
„Herzlich gern.“
„So kommen Sie.“
Dem Gefangenen schlug das Herz – er hoffte Clelia zu sehen. Allein er täuschte sich. Der Greis führte ihn in ein kleines schmuckes Zimmer, das unter andern das erwähnte Instrument enthielt. Er schloß es auf, bat Rudolf daran Platz zu nehmen und reichte ihm verschiedene Noten dar. Rudolf nahm das erste beste Heft und spielte vom Blatte. Der Zuhörer lauschte mit sichtbarem Vergnügen. – „Gut, gut, ich sehe, Sie können spielen“ – sagte er – „viel besser, als ich – das ist mir lieb. Ich habe gestern eine Partie neuer Sachen von Mendelsohn-Bartholdy, Robert Schumann und Franz Schubert erhalten, aber die meisten sind mir zu schwer, und eine liebe Person, die des Augenlichtes beraubt ist, möchte sie gern hören. Heute ist es dazu zu spät, aber morgen, wenn Sie wollen, hol’ ich Sie wieder.“
Als Rudolf in seine Zelle zurückgekehrt war, wußte er nicht, ob er nicht vielmehr dem Schicksal danken sollte; das ihn an diesen Ort geführt, als darüber jammern. Er hatte danach eine Nacht voll erquickenden Schlafes.
Am folgenden Tage konnte er die Stunde kaum erwarten, wo er würde zum Klavierspiel abgeholt werden. Heute hoffte er Clelia bestimmt zu sehen. Aber er sollte sich wieder getäuscht haben. Die Blinde war im angrenzenden Gemach, dessen Inneres ihm ein Vorhang verbarg. Er ahnte, daß sie da sei, und spielte die ihm vorgelegten Stücke mit innigster Bewegung. In den Pausen unterhielt er sich zwanglos mit dem Greis, der immer zutraulicher ward. Rudolf hütete sich wohl nach seiner unsichtbaren Zuhörerin zu fragen – er lebte der Hoffnung, sie einst seinem Blicke nicht länger entzogen zu sehen.
Aber wie froh erstaunte er nach der Rückkehr in seine Zelle, als abermals Harfenton an sein Ohr klang, und er eins der neuen Lieder von Schubert vortragen hörte! Jetzt verstand er den Vater der blinden Harfnerin: er hatte ihn zu ihrem Lehrer gemacht. Wie erhob dieser Gedanke seine Seele! Wie beglückt führte er ihn jeden Tag hinüber in das trauliche Zimmer an den Flügel, mit [87] dessen Hülfe er seine unsichtbare Schülerin neue Lieder lehrte! Dabei wurde Vater Widerhold – wie sich der Gefängnißverwalter am liebsten nennen hörte – täglich zutraulicher, er verlängerte die Lehrstunde mehr und mehr und flocht immer längere Unterredungen hinein.
Da erzählten dann beide Männer von ihren Erlebnissen, Rudolf von seinen Schul- und Universitätsjahren, der Greis von seinem Kriegerleben. Rudolf hatte öfters Gelegenheit wahrzunehmen, wie nicht nur er so wohlwollend behandelt wurde, sondern der alte Kriegsmann allen Gefangenen in Wahrheit ein sorgsamer Vater war. Rudolf konnte einmal nicht umhin, seinen Beifall und seine Verwunderung darüber zu äußern. Da sagte der Alte:
„Lieber Doktor, wenn man seine siebzig Jahre im Leben nicht gedankenlos versäuft oder verträumt, wenn man die Welt mit klarem Blick betrachtet hat, so muß man wohl endlich wissen, daß nicht in den Gefängnissen die verworfensten Glieder des Menschengeschlechtes zu suchen sind; und wenn man ein Menschenalter lang mit Verstand Gefangenenwärter gewesen, so muß man die Erfahrung gemacht haben, daß keine Tugend, keine Vorsicht und keine Stellung im Leben einen Unschuldigen davor sichert, einmal der Bewohner eines Gefängnisses zu werden und daß selbst von den Schuldigen weit mehrere durch Irrthum und Unwissenheit, Uebereilung und Krankheit der Seele Verbrecher werden als durch Herzensbosheit. Unsereiner, wenn er will und Verstand dazu hat, lernt weit besser in den Seelen der Unglücklichen lesen, die hier herein kommen, als die Herren zwischen den Akten, die oft den Wald vor Bäumen nicht sehen. Ich will mich aber nicht rühmen – wer weiß, welch’ ein blinder Tyrann meiner Gefangenen ich wäre, hätte Gott mir nicht einen Engel an die Seite geführt, der mir die Augen öffnete. Ich fand an einer verwaisten Predigerstochter nicht nur ein Weib nach meinem Herzen, sondern auch eine Retterin meines bessern Menschen. O, Sie sollten sie gekannt haben, die Mutter meiner armen Kinder – sie war die verkörperte Gnade, von der das Evangelium redet.“
Er hielt inne, Thränen erstickten seine Stimme.
„Nachdem sie ihre heilige Sendung an mir vollendet,“ fuhr er nach einer Pause fort, „nachdem sie aus einem gut dressirten Kriegsknecht einen Menschen gemacht, nahm Gott sie wieder von mir und ihren Kindern, ehe sie deren Unglück erleben konnte; denn bald nach ihrem Hinscheiden wurde mein Sohn, der in Berlin studirte, in eine politische Untersuchung verflochten, deren unheilvollem Ausgang er sich durch die Flucht entzog, und meine Clelia, damals ein Kind von sieben Jahren, erkrankte am Scharlachfieber, in dessen Folge sie erblindete. Ja, lieber Doktor, die Hand des Herrn hat auch schwer auf mir gelegen; aber Preis sei ihm, er hat Alles zum besten gelenkt. Mein Sohn, dessen Verirrung ich nicht zu billigen brauche, wenn ich den Adel der Gesinnung ehre, die ihr zu Grund liegt und auf die unsere Gesetze keine Rücksicht nehmen, mein geächteter Sohn ist längst ein glücklicher Bürger des friedlichen Norwegens, der auf eigenem Schiffe dann und wann den hiesigen Hafen besucht, wo ich ihn im Geheimen sehen und in meine Arme schließen kann. Und Clelia – was soll ich von ihr sagen? Sie wurde die Vollenderin des Werkes, das ihre Mutter in mir angefangen, sie wurde das Licht meiner Seele, das Auge meines Geistes, das von Gott selbst regierte Steuer meines Herzens. Ich sage Ihnen: das zarte, ungelehrte, blinde Wesen sieht heller und schärfer in Dingen des menschlichen Herzens, als ich und alle Richter hier mit ihrem rechtsgelahrten Wust. Sie hat schon manchen Unschuldigen herausgefunden, wo die Welt und das Gericht verdammten und hinterher durch einen sogenannten Zufall die Unschuld an den Tag kam, nachdem der arme Verurtheilte schon Monate, auch wohl Jahre die Schmach des Verbrechers getragen. Herr – wenn man nach solchen Erfahrungen seine Gefangenen noch tyrannisiren, oder auch nur kalt behandeln kann, so ist man des Menschennamens nicht würdig.“
Unter dieser Behandlung würde Rudolf seinen Proceß ganz vergessen haben, wäre er nicht durch einzelne Verhöre daran erinnert worden. In diesen benahm er sich weit sicherer und klüger als im Anfange, und es wäre ihm vielleicht gelungen, die vorgefaßte Meinung des Gerichtes umzustimmen, wäre nicht die unbesiegbare und allzu große Scham über seinen zweiten Besuch bei seiner unglücklichen Tante gewesen. Sobald der Richter diesen Punkt berührte, verlor Rudolf seine Ruhe, er wurde in hohem Grade verlegen, und als ihm im Beisein der Fritschin die Worte vorgehalten wurden, die er, damals in der höchsten Aufregung gesprochen, da verwirrte ihn die Scham dergestalt, daß der Inquirent und die ganze Gerichtsbank auf’s Neue in ihrem Vorurtheil bestärkt wurden.
Vierzehn Tage waren seit Rudolf’s Verhaftung verflossen, als eines Abends der würdige Gefängnißverwalter bei seiner Tochter saß und ihr einen Brief von ihrem Bruder vorlas, worin derselbe neben manchem andern Erfreulichen auch meldete, er habe die Bekanntschaft eines berühmten Augenarztes aus Kopenhagen gemacht, von dem er glaube, daß er Clelia’s Augen wieder herstellen werde. In einem Monat werde er mit ihm kommen.
„Ach, wollte Gott, Eduard’s Hoffnung würde wahr!“ rief der Greis, als er mit Lesen fertig war.
Clelia schüttelte ihr braunes Lockenköpfchen, sagte aber dann: „Wir wollen’s Gott anheimstellen. Wenn es möglich und sein Wille ist, daß ich wieder sehen lerne, so wird er auch den Helfer schicken.“
„Ja,“ sagte der Greis gerührt, „Du hast Recht, liebes Kind – wir wollen ihm vertrauen wie bisher. Laß uns ihm danken, daß er’s mit Deinem verbannten Bruder so wohl gemacht hat. Wenn doch alle unschuldigen Opfer einer blinden Justiz errettet würden wie er!“
Clelia seufzte und sagte dann: „Wir wollen für sie beten, wo wir sonst nichts für sie thun können.“
Nach einer Weile begann der Alte wieder: „Was sagst Du zu unserm Doktor? Hältst Du ihn für schuldig an dem gräßlichen Verbrechen?“
Clelia erwiederte mit einem Eifer, der ihrem ruhigen Wesen sonst nicht eigen war: „Wenn er schuldig ist, dann sind die Engel des Lichtes Kinder der Verdammniß! Ich sage Dir: ein reinerer, edlerer Mensch kam noch nicht über die Schwelle dieses Hauses!“
„Ich glaube Dir,“ sagte ihr Vater; „Dein Urtheil war noch immer sicher. Ach, daß doch die Richter sähen wie Du!“
„Hoffentlich werden sie die Unschuld dieses Mannes erkennen –“
„Ich fürchte, sie werden ihn verurtheilen –“
„Verurtheilen?“ rief das Mädchen erschrocken – „wozu?“
„Zu lebenslänglichem Zuchthaus, wenn er nicht gesteht – wenn ihm aber die Seelenfolter eines langwierigen Kerkers zuletzt ein Geständniß aus Lebensüberdruß erpreßt, zum Schwert. Und ein solches Geständniß gehört nicht zu den Unmöglichkeiten, da für feinere Organisationen ein schneller Tod minder grausam ist, als die langsame Hinrichtung durch vieljährigen Kerker –“
„O, himmlischer Richter! – Vater – laß uns den Armen schützen! Tritt Du als Vertheidiger der Unschuld auf – oder laß mich – mich reden!“
„Gutes Kind – unser Zeugniß hat als subjective Meinung, wie sie’s nennen, kein Gewicht bei einem hochnothpeinlichen Proceß, da gelten nur sogenannte objective Beweise! Doch hoffen wir auf Gott, der auch dieses Bedrängten Gerechtigkeit hervorbringen kann wie den Mittag.“
„Halt! da fällt mir etwas ein – sagtest Du nicht, der liederliche Sohn des Polizeisergeanten Huker sei am Morgen nach jener Nacht, da die Mordthat verübt worden, nach Amerika abgegangen?“
„Du meinst doch nicht etwa –“
„Gott verzeihe mir, wenn ich einen Unschuldigen im Verdacht habe – aber hat nicht der Sergeant die beiden Freunde belauscht? Hat er nicht zu Protokoll gegeben, er habe den Doktor davon sprechen hören, daß seine Tante ihr baares Geld des Nachts unter ihrem Kopfkissen zu verbergen pflege? Kann nicht der Sergeant dies zu Hause in Gegenwart seines Sohnes wieder erzählt und ihn dadurch zur Verübung des Verbrechens gereizt haben?“
„Kind! Kind!“ – rief der Greis betroffen – „Du kannst Recht haben! Doch was wird es helfen, wenn ich auch versuche, Deine Vermuthung im Gerichte in Umlauf zu bringen? Der Bube ist fort, wie vorher schon bestimmt war, also nicht als Flüchtiger, und der Alte steht so gut angeschrieben bei den hiesigen Behörden, [88] daß gegen ihn nicht aufzukommen ist. Und Du weißt, wie sehr wir Ursache haben, vor dem Huker auf der Hut zu sein.“
„Freilich – er fahndet ja fortwährend auf unsern Eduard, und wer weiß, ob er nicht zuvor auch uns belauscht hat, wie hernach die beiden Freunde.“
„Ich bin gewiß, daß er es gethan – aber er hat von uns Nichts hören können, was sich auf Eduard´s Besuche bezog.“
„So ist der gute Doktor eigentlich um unsertwillen so unglücklich geworden“ – meinte Clelia – „Vater, laß uns ja thun, was wir können, daß ihn die Seelenfolter des einsamen Kerkers nicht zu einem verzweifelten Geständniß treibt! Ihm brauchst Du mich nicht länger zu verbergen.“
„Morgen soll er Dich sehen." Damit schloß der Greis diese Unterhaltung.
Und wie er gesagt, so geschah es. Von nun an durfte Rudolf täglich seine Musikschülerin sehen und sprechen. Und wenn auch ihr Vater dabei stets zugegen war, so hinderte das doch nicht, daß auf den Wellen der Töne ihre Gefühle sich begegegneten, ihre Herzen sich fanden und die zarteste Liebe sie verknüpfte.
Jetzt würde Rudolf seine Absicht, Clelia’s Augen zu operiren, vielleicht haben ausführen können, wenn er sich ihrem Vater hätte anvertrauen mögen; allein er konnte dies nicht über sich gewinnen, – lieber vertagte er jetzt das wichtige Werk auf die Zeit seiner Befreiung, der er im Gefühle seiner Unschuld zuversichtlich entgegen sah.
Inzwischen rückte die Zeit heran, wo Clelia´s Bruder mit dem „berühmten“ kopenhagener Augenarzt kommen wollte, und das liebe Mädchen sah diesem Zeitpunkt täglich unruhiger entgegen. Sie ersehnte und fürchtete ihn zugleich. Mit Ergebung hatte sie bisher ihr Loos ertragen, ja, sie hatte schon auf die Wiedererlangung des Augenlichtes verzichtet – aber das liebende Weib wünschte doch dem Geliebten so vollkommen als möglich gegenüber zu stehen. Dennoch zitterte sie auch vor einer Operation, die von nicht ganz kundiger Hand vollzogen leicht jede Hoffnung auf Wiedergewinnung ihrer Sehkraft zerstören konnte. Zuletz konnte sie nicht umhin, Rudolf das ihr Bevorstehende nitzutheilen. Dieser erschrak, dennoch wagte er es nicht, sich vorzudrängen. Es konnte ja sein, daß der angekündigte Arzt viel geübter noch war als er, und gern vergönnte er einem Geschickteren die Ehre und das Glück, die Geliebte sehend zu machen – wenn es ihm nur gelang. Aber gleichwohl beunruhigte ihn die Mittheilung fürchterlich. Clelia merkte es sofort. „Wenn Sie meinen, es sei nicht gut gethan, so lassen wir die Operation," sagte sie.
„Nein, nein!" rief er; „ich hoffe gewiß, daß Ihre Augen zu retten sind – aber es gehört große Geschicklichkeit dazu – ich werde darüber wachen, daß Sie keinem Charlatan in die Hände fallen. Vater Widerhold, lassen Sie doch ja die Operation in meinem Beisein vollziehen."
Der Greis versprach das, und sowohl Rudolf als Clelia sahen ruhiger dem verhängnißvollen Tage entgegen. Er kam. Der Gefängnißverwalter begab sich mit seiner Tochter nach dem Dampfer seines Sohnes. Als sie in das Boot steigen wollten, das sie hinüberbringen sollte, drängte sich der Polizeisergeant Huker kraft seines Amtes mit hinein. Vater Widerhold mußte es geschehen lassen – aber schnell besonnen sagte er: „Ich bin im Begriff den Augenarzt abzuholen, den mein Sohn meiner Tochter aus Drontheim schickt; was suchen Sie auf dem Schiffe?“
„Eben Ihren Sohn,“ antwortete der Sergeant. Der Greis wechselte mit dem Bootführer einen bedeutungsvollen Blick – und ehe sie an Bord gehißt waren, hatte der Matrose sich schon hinaufgeschwungen und dem Schiffsherrn, der in Gesellschaft des dänischen Arztes die Ankömmlinge erwartete, die Absicht des Polizeimanns gesagt.
„Ich habe es schon geahnt“ – sagte der Gewarnte – „ich werde meine Rolle als Kapitain Gildenstern fortspielen.“
So geschah es. Mit den Worten: „Guten Tag, Herr Kapitain – haben Sie Nachrichten von meinem Sohn?“ trat Widerhold am Arm seiner Tochter dem Schiffer entgegen. Dieser erwiederte den Gruß, drückte Vater und Schwester innig die Hand und stellte ihnen den Doktor Lorenzen als den vom Herrn Rheder Widerhold in Drontheim mitgeschickten Augenarzt vor. Der Sergeant, der sein Edelwild nicht persönlich kannte, wurde vollkommen getäuscht und fuhr unverrichteter Sache mit den Andern an’s Land zurück.
Der dänische Arzt wurde in einem Hotel in der Nähe des Crimininalgefängnisses untergebracht. Er untersuchte auf der Stelle Clelia’s Augen, stellte den glücklichen Erfolg einer Operation als ungewiß dar, war aber doch dafür, und pries dann seine Salben und Mixturen für den Fall, daß die Operation nicht den erwünschten Erfolg hätte. Den folgenden Tag sollte dieselbe vor sich gehen.
Rudolf konnte die vorausgehende Nacht fast kein Auge schließen, und als ihn Vater Widerhold zur festgesetzten Stunde abholte, fand er ihn in fieberhafter Erregung. Erst als er dem fremden Collegen gegenüberstand, gewann er wieder etwas Ruhe. Er hätte ihm sogleich auf den Zahn fühlen mögen, aber er mußte die Rolle eines Laien spielen, und so ließ er den „Berühmten“ ruhig seine Zurüstungen treffen. Schon während derselben stieg in ihm der Verdacht auf, daß man es mit einem großen Charlatan zu thun habe. Aber er ließ ihn gewähren. Clelia ließ sich auf dem ihr bestimmten Platz nieder, der Doktor ergriff seine Lanzette und setzte an – es war für den Vater ein Moment voll Todesangst – doch wie schon die Blinde unter der Berührung des Instrumentes zuckte, riß Rudolf den Arm des Operateurs mit solcher Heftigkeit zurück, daß der Hand die Lanzette entsank, und zornig donnerte er ihm zu:
„Elender Pfuscher! Wie können Sie es wagen, ein solches Werk zu unternehmen?“
Der Däne stand verblüfft da. Clelia sprang bebend auf und Vater Widerhold wußte nicht, was er denken sollte. Doch er wurde bald aufgeklärt; denn Rudolf las dem „Berühmten“ aus Dänemark so deutsch den Text, wies ihm seine Unberufenheit so bündig nach, daß der liebende Vater Gott danken mußte, daß er sein Kind der Gefahr entrissen, in der es eben geschwebt hatte.
Der Fremdling mußte mit Schanden abziehen. Als Vater Widerhold Rudolf in dessen Zelle zurückbrachte, fand dieser, um den getäuschten Väter zu trösten, den Muth, zu erklären, daß er eines Tages selbst die heute vereitelte Operation vornehmen werde, sobald er seine Freiheit wieder habe.
„O warum nicht jetzt?“ fragte der Greis, heftig seine Hand ergreifend.
Rudolf zögerte mit der Antwort. Mit vieler Mühe entlockte ihm Jener endlich das Geständniß, daß er seine Instrumente versetzt habe.
„Wenn es nur daran liegt,“ sagte der Greis, „so soll Clelia keinen Tag länger des lieben Himmelslichtes entbehren.“
Als er wieder zu seinem Kinde zurückkehrte, fand er es sehr traurig.
„Betrübe Dich nicht“ – tröstete er – „was jetzt vereitelt worden, wird bald durch eine geschicktere Hand geschehen.“
„Ach, darum ist es mir jetzt gar nicht zu thun,“ sagte sie, „ich dachte an etwas ganz, ganz Anderes. Weißt Du auch, daß der Däne unsern Eduard nun verrathen wird?“
Der Greis erschrak, „Du hast bei Gott Recht – ich muß schnell zu der Frau Brummeisen gehen, damit sie das verabredete Zeichen aufsteckt.“
„Und nun wird der gute Eduard auf lange, lange Zeit vom heimathlichen Gestade verscheucht!“ klagte Clelia, – „und ich hatte auf seine einstige Wiederkunft einen so wichtigen Plan gebaut!“
„Welchen?“ fragte der Vater.
Das sag’ ich Dir besser jetzt nicht“ – sagte sie – „eile nur, den Eduard zu warnen.“
Der Greis ging. Als das geheime Signal gegeben war, begab er sich stracks zu dem Juden, der im Besitz von Rudolf´s Instrumenten war, und löste sie ein. Rudolf setzte die Operation auf den folgenden Tag fest.
Schon waren wieder alle Zurüstungen zu dem Werke getroffen, schon stand der von heimlicher Liebe glühende Operateur mit seinen Werkzeugen bereit, und der Vater brachte sein blindes Kind herbei – da erbebte Rudolf´s ganzes Wesen; Clelia, in Rosa gekleidet, das holde Angesicht von Hoffnung und Vertrauen verklärt, reichte ihm die Hand – sein Puls schlug hörbar – sie setzte sich – er nahete sich mit dem Instrumente ihrem Auge – er zitterte – der Angstschweiß trat ihm auf die Stirn. –
Das ostindische Königreich Oude ist neuerdings wiederholt als Episode auf der Weltbühne aufgetreten. Wir wissen bereits etwas davon aus früherem Nummern, wie es zum Verschlingen von der englischen Compagnie eingeschnürt ward. Ganz wie´s die Riesenschlangen machen. Sie umarmen ihr Opfer, drücken ihm alle Knochen entzwei, machen es hübsch rund und glatt, speicheln es über und über ein und verschlingen´s dann mit Haut und Haar. Sind solche „Eroberungen“ sehr groß und die Riesenschlange auch, kommt letztere doch trotz riesenmäßiger Verdauungskraft nicht selten in den Fall, kraft- und bewegungslos da liegen zu müssen und sich mitten im Verdauungsprocesse todtschlagen lassen zu müssen. Die erobernden Staaten starben denn auch immer an der Unfähigkeit, das massenweis Verschlungene zu verdauen. Ihre Größe machte sie klein und schwach. England hat Irland noch nicht verdaut, noch nicht Südafrika, noch nicht seine Bissen in Centralamerika, die ihnen Amerika´s Präsident nicht gönnt, noch nicht Ostindien - und doch ist es eben schon wieder damit beschäftigt, ein ganzes Königreich aufzufressen.
Das Königreich Oude, 25,000 englische Geviertmeilen umfassend, also halb so groß wie England, ist das einzige Terrain in der großen Gangesebene, welches der englischen Compagnie bisher noch nicht gehörte, und durch welches sie deshalb ihre beinahe europagroßen Besitzungen jetzt „abrunden“ will. Es dehnt sich in der Gangesebene zwischen dem 80. und 82. Grade östlicher Länge von den Ufern des Ganges bis in die Himalayagebirge aus. Wir wollen nicht in Einzelnheiten des ausgebrochenen Bürger- und Religionskrieges zwischen den Hindu´s und der muhamedgläubigen Bevölkerung von Oude eingehen, da weder die im Kriege begriffenen Glaubensartikel, noch die einzelnen Schlächtereien ein gedenkliches oder Kulturinteresse haben. Nur so viel, daß die Unterthanen des Königs von Oude, in Muhamedaner und buddhistische Hindu´s gespalten, mit beiden Religionen auch in dessen Heere dienen und der entzündete religiöse Haß durch diplomatische und strategische Kunststücke des englischen Kapitains Barlow, Commandeurs der „zur Ruhestiftung“ gesandten Truppen der englischen Compagnie, auch in den Truppen des Königs genährt und zum Ausbruche angeblasen ward. So theilte er Hindu´s und Muselmänner und hetzte sie gegen einander. Dazwischen ward es ihm nicht schwer, Meister auf verschiedenen Schlachtfeldern zu bleiben, obgleich die muselmännischen Truppen, als sie seinen Verrath merkten, mit dem heroischsten, todesmuthigsten Fanatismus kämpften und sich massenweise mit geschwungenen Schwertern den brüllenden Kanonenkugeln entgegenstürzten, um mitten unter den Feinden umherhauend niedergemetzelt zu werden.
Nur eine Einzelnheit. Kapitain Barlow hatte unter seinen Artilleristen einen einzigen Muhamedaner. Er weigerte sich, auf seine Glaubensgenossen zu schießen. Man sagte ihm, diese Weigerung werde mit dem Tode bestraft.
„Ich weiß das,“ antwortete er, „ich will lieber sterben, als meine Glaubensgenossen tödten!“
Kapitain Barlow ließ ihn auf der Stelle niedersäbeln. Die Pathaner (muselmännische Rebellen unter ihrem Propheten und Chef Amir Alee) ließ er sich in einer von ihm construirten Falle, so daß sie von ihm in Front und von Hindu´s im Rücken angegriffen wurden, kämpfend und um sich niedermähend bis auf den letzten Mann vernichten. Nicht Einer ergab sich lebendig. Niemand bat um Schonung, Niemandem ward sie. Das Schicksal Oude´s entschied sich im Verlaufe vorigen Novembers [90] zwischen der Hauptstadt des Königreichs Lucknow (wie die Engländer es schreiben, nicht Locknau) und Daryabad, einer etwa sieben deutsche Meilen davon entfernten andern Stadt.
Wahrscheinlich herrschen die Engländer schon in Lucknow, einem neuen fetten Posten für irgend einen Taugenichts von Banquier- oder Lordssohn. Jeder Engländer ist stolz auf die vielen auswärtigen Besitzungen und Eroberungen, obgleich er dafür die Interessen von 7,0000,0000,000 Thalern Kriegsschulden und die zu fabelhaften Millionen gewachsenen Armengelder bezahlen muß, und ihm diese Besitzungen außerdem nur noch Geld kosten, da der relative Profit lediglich von den privilegirten Klassen geschluckt wird.
Für die ehrliche, fleißige Hand der Civilisation ist Oude allerdings ein Crösusschatz. Es ist größtentheils eine ungeheuere, fruchtschwangere Ebene, besonders zwischen dem Ganges und dem Zumaa, die Duuab-Ebene, blos neun Meilen von Delhi. Lucknow, die Hauptstadt, war einst berühmt als blühender Sitz alter Hindukultur. Jetzt ist sie im Wesentlichen Ruine, wie noch mehr eine andere gleiches Namens, die gar nicht mehr von Menschen, sondern blos von Tigern, Schlangen und andern Raubthieren und giftigen Reptilien bewohnt wird. Die etwa 300,000 Einwohner der jetzigen Metropolis von Oude zerstreuen sich weit und breit in stroh- und bambusgedeckten Schmutzhütten. Nur die Häuser der Kaufleute und einige Regierungsgebäude stehen massiv und hoch und stolz, besonders das königliche Schloß auf der höchsten Höhe in der ganzen Umgegend, ein gerade- und rundgethurmtes Labyrinth von Pracht und Geschmacklosigkeit für Tiger, Elephanten, Gaukler, Tänzerinnen und Hofgesindel aller Art. Die charakteristische und bedeutendste Sehenswürdigkeit unweit des Schlosses ist das Mausoleum, die Ruhestätte alter Herrscher und Vasallen des ehemaligen Großmoguls mit einem großen Tempel in der Nähe, dessen kuppelartige und spitzige Thürme weithin in den sonnigen Himmel hinauf und in die grünen, von wundersamen, duftigen Blumen, Platanen und Palmen geschmückten Ebenen ringsum glänzen und schimmern.
Wenn doch die Kopfschmerzen nicht wären! So denkt und wünscht ebensowohl der Arzt, wie der Kranke. Der Erstere, weil er in den allermeisten Fällen nicht weiß, wo diese Schmerzen herstammen (wir sehen hier natürlich ganz ab von Kopfschmerzen, die durch Verletzungen des Kopfes veranlaßt werden) und wie sie zu beseitigen sind, der Letztere, weil er durch Kopfschmerzen doch stets in seinem Thun und Treiben mehr oder weniger gestört wird. Um nun dem Laien einen kleinen Begriff von der Schwierigkeit zu geben, welche dem denkenden Arzte der Sitz und Ursprung dieser Schmerzen machen, will ich dem Leser die Fragen vorlegen, welche sich der rationelle (physiologische) Arzt in seinem Kopfe zu beantworten sucht, wenn er gegen Kopfschmerz — der beiläufig gesagt, wie überhaupt Schmerz (s. Gartenlaube 1855. Nr. 4.), nie eine für sich bestehende Krankheit, sondern stets nur eine Krankheitserscheinung ist und nicht nur sehr viele, sondern auch sehr verschiedenartige, oft sogar die einander entgegengesetztesten Krankheitszustände (z. B. Blutarmuth und Blutfülle des Gehirns) begleiten kann, — zu Rathe gezogen wird. — Bei der unwissenschaftlichen homöopathischen Heilmethode [1] ist es natürlich leicht, schnell eine Anzahl heilensollender Mittel in Nichts-Form gegen den Kopfschmerz zu empfehlen, weil da nach dem Sitze und der Beschaffenheit des Schmerzes (als ob diese bei verschiedenen Menschen nicht ganz verschieden wäre) in den Arzneimittel- und Heillehren eine zu große Menge Arzneistoffe, unter denen natürlich die unvermeidliche und fast überall anwendbare Nux vomica die Hauptrolle spielt, paradiren. Doch zurück zur Wissenschaft.
Die erste zu beantwortende Frage bei Kopf- oder richtiger bei Schädelschmerzen (denn man bezeichnet in der Regel nur die am und im obersten Theile des Kopfes, also des Schädels, fühlbaren Schmerzen als Kopfschmerzen) ist: „wo befindet sich der Sitz dieser Krankheitserscheinung?“ Abgesehen von den Schmerzen in der Stirn und Schläfe, am Scheitel und Hinterkopfe u. s. f., kann derselbe auch in und unter der Kopfhaut, am und in den Schädelknochen und ihren Höhlen (wie in den Stirn-, Sieb-, Keil- und Schläfenbeinhöhlen), sowie im Innern des Schädels, in den verschiedenen Organen der Schädelhöhle (besonders in den Hirnhäuten und im Gehirn) seinen Sitz haben. Der Patient ist nur äußerst selten im Stande, durch die Art seiner Empfindungen das Organ anzugeben, dessen Leiden den Schmerz veranlaßt, gewöhnlich schmerzt auch der ganze Kopf. Hat aber der Arzt durch genaue Untersuchung das schmerzende Organ wirklich ergründet, was ihm leider gar oft nicht gelingt, dann muß er immer erst noch die Natur des Leidens dieses Organes zu erforschen suchen, was abermals sehr oft mit großen Schwierigkeiten verbunden, ja nicht selten unmöglich ist. — Im Allgemeinen können wir für die Schmerzen in den äußern Theilen des Schädels etwa folgende Anhaltspunkte angeben. Bei Schmerzen in den Nerven der Kopfhaut (d. i. der nervöse, neuralgische Kopfhautschmerz) zieht derselbe entweder diesen Nerven entlang oder sitzt doch deutlich in einem solchen fest; Druck auf den leidenden Nerven vermehrt den Schmerz, ebenso bisweilen das Aufwärtsstreichen der Haare. Der Schmerz, welcher bald dumpfer, bald heftiger und dann reißend oder brennend u. s. w. ist, macht in der Regel Pausen und tritt sonach anfallsweise (intermittirend) ein; nicht selten befällt er blos die eine Kopfhälfte (wie die Migräne). — Der in den muskulösen (fleischigen) und sehnigen Theilen des Schädels befindliche Schmerz, von reißender, spannender oder zusammenziehender Beschaffenheit, wird durch Druck und Bewegungen (Kauen, Stirnrunzeln, Kopfnicken) vermehrt und ist dem rheumatischen Schmerze vergleichbar. Bei den beiden genannten Kopfschmerzarten sind gewöhnlich Ruhe und Wärme die besten Linderungs- und Heilmittel. — Ist der Sitz des Schmerzes in der Knochenhaut oder den Knochen des Schädels, dann nimmt er fortwährend eine ganz bestimmte und meist kleine Stelle ein, ist bald dumpf und spannend, bald heftig bohrend, und wird durch Druck und Klopfen an die leidende Stelle verstärkt. Da die schmerzenden Knochen- und Knochenhautleiden, sowie deren Ursachen, sehr mannigfaltig sein können, so kommt auch der beste Arzt über diesen Kopfschmerz nicht gleich sicher in das Klare — Im Vorderhaupte befinden sich im Stirnknochen, dicht über der Nasenwurzel und den Augenbrauen, die Stirnhöhlen, welche in ununterbrochenem Zusammenhange mit der Nasenhöhle stehen und, wie diese, mit Schleimhaut ausgekleidet sind. Deshalb kann sich denn auch der Schnupfen (Nasenkatarrh) mit seinen Folgen leicht aus der Nase in die Stirnhöhlen erstrecken und Schmerz veranlassen. Dieser ist dann festsitzend in der Stirn, drückend, die Augen gleichsam aus ihren Höhlen drängend, sich nicht durch äußern Druck, wohl aber beim Bücken, Kopfschütteln u. dgl. steigernd. Die besten Dienste gegen denselben thuen Einziehungen und Einspritzungen warmer Dämpfe und Flüssigkeiten in die Nasen- und Stirnhöhle.
Die große Mehrzahl der Kopfschmerzen hat nun aber innerhalb der Schädelhöhle ihren Sitz und ist von krankhaften Zuständen der allerverschiedensten Art entweder des Gehirns oder der Hirnhäute abhängig. Den wahren Grund solcher innerer Schmerzen ausfindig zu machen, gelingt auch dem wissenschaftlichsten Arzte gewöhnlich nur schwer oder sehr oft auch gar nicht. Denn von der Stelle und der Beschaffenheit des Schmerzes läßt sich durchaus kein sicherer Schluß auf seine Ursache machen, weit eher noch mit Hülfe der begleitenden Störungen im ganzen Körper oder nur in der Hirn- und Hirnnerventhätigkeit. Im Allgemeinen ist der [91] von Leiden des Gehirns und der Hirnhäute veranlaßte Kopfschmerz tiefer sitzend und nicht durch Druck, wohl bisweilen aber durch Schütteln des Kopfes, schnelles Bücken und Umdrehen, plötzliches Aufrichten, Anhalten des Athems, Husten, Niesen, Brechen und Bauchpressen zu steigern; auch vermehrt er sich durch geistige und Sinnes-Anstrengungen. Was die Beschaffenheit dieses Kopfschmerzes betrifft, der bei verschiedenen Kranken trotzdem, daß derselbe durch ganz dasselbe Leiden veranlaßt wird, doch sehr verschieden sein kann, so hört man denselben bezeichnen: als bohrend, drückend, stechend, brennend, nagend, klopfend, reißend, schneidend, durchschießend, dumpf, drückend, den Kopf zusammenpressend oder aus einander treibend, mit Wüstheit oder Vollheit und Schwere im Kopfe, eisig kältend; als festsitzend oder flüchtig, wandernd, fließend, oberflächlich oder tief, genau umschrieben; als anhaltend, bald vorübergehend, aussetzend, periodisch, durch gewisse Zustände vermehrt oder vermindert; verbunden mit Appetitlosigkeit, Brechneigung, Brechen, Schwindel, Mattigkeit, Sinnesstörungen (Flimmern vor den Augen, Ohrensausen, große Empfindlichkeit des Gesichts- und Gehörsinnes), Schlaflosigkeit oder Schlafsucht u. s. w. — Für den Laien ist derjenige Hirn-Kopfschmerz, welcher häufig wiederkehrend (d. i. der habituelle Kopfschmerz), aber weder von Fieber (beschleunigtem Pulse und gesteigerter Körperwärme), noch von krampfhaften oder lähmungsartigen Nervenaffektionen begleitet ist, insofern der wichtigere, als er weit leichter durch eine passende Lebensweise von Seiten des Patienten, als durch Arzneien des Arztes gehoben werden kann. Bei diesem Kopfschmerze kommt es nun in Frage, ob er von widernatürlicher Reizung oder von widernatürlicher Reizbarkeit des Gehirns herrührt.
Hirn-Kopfschmerz aus widernatürlicher Reizung des Gehirns. Hierbei kann das übrigens gesunde Gehirn ganz unmittelbar oder mittelbar (durch Vermittelung der in dasselbe eintretenden Sinnes- und Empfindungsnerven) widernatürlich gereizt werden. Gewöhnlich ist die Folge solcher öfters wiederkehrender oder längere Zeit andauernder Reizungen die widernatürliche Reizbarkeit des Gehirns, und dann häufiger und anhaltender Kopfschmerz. —— Die unmittelbare Reizung der Gehirnsubstanz kann ebensowohl vom Blute, welches das Gehirn durchströmt und sich hinsichtlich seiner Menge und Beschaffenheit in falschem Zustande befinden kann (z. B. bei Vergiftungen desselben, wozu auch der Alcoholmißbrauch gehört), wie von heftigeren sogenannten geistigen Eindrücken (von Denk- und Gemüths-Anstrengungen, leidenschaftlichen Aufregungen) ausgehen. Eine mittelbare Reizung des Gehirns, durch die Sinnes- oder Empfindungsnerven vermittelt, könnte veranlaßt werden: durch grelles Licht, scharfe Augengläser, längeres Betrachten kleiner, besonders glänzender Gegenstände, starke und widrige Gerüche, erschütternde und angreifende Gehörseindrücke (Wagner’sche Musik), Einwirkung von bedeutenderer Hitze oder Kälte (Kaltwasserquälerei), schmerzhafte Krankheiten, Operationen und Verletzungen, Elektricität und Galvanismus, geschlechtliche Ueberreizung und durch Reizmittel aller Art. — Bei der Behandlung dieses Kopfschmerzes ist natürlicher Weise die widernatürliche Reizung des Gehirns aufzuheben und für Ruhe, sowie für richtige Ernährung dieses Organs Sorge zu tragen. Geschieht dies nicht in Zeiten, dann kann das Gehirn, wie schon gesagt wurde, eine solche Reizbarkeit erlangen, daß der Kopfschmerz eine ganz enorme Höhe erreichen und anhaltend werden kann. Und dann Gnade Gottes, wenn ein solcher Patient in die Hände eines arzneisüchtigen Arztes fällt; denn der kurirt jetzt auf allerhand organische Hirnkrankheiten (Erweichung, Ausschwitzung, Geschwulst u. s. f.) mit den wirksamsten Mitteln los. — Am gewöhnlichsten wird vom Arzte und Laien die zu starke Anfüllung der Hirn- oder Hirnhautgefäße mit Blut (der sogenannte Blutandrang oder die Congestionen nach dem Kopfe) als Ursache der Reizung des Gehirns und sonach des Kopfschmerzes angesehen. Ob mit Recht, läßt sich schwer bestimmen, da noch Niemand zur Zeit des Kopfschmerzes in den Kopf hineingeguckt hat, und die Röthe des Gesichtes, sowie die Wärme der Kopfhaut noch gar nicht beweisen können, daß es innerhalb des Schädels auch so aussieht, wie außen. Keinen Falles wird es nun aber schaden, im Gegentheile stets nützen, wenn Jemand, dessen Kopfschmerz mit Röthe und Hitze der äußern Theile des Kopfes verbunden ist (d. i. der sogen. congestive Kopfschmerz), das thut, was den Blutlauf durch den Körper, und so auch durch das Gehirn und die Hirnhäute regulirt. Das ist aber in Gartenlaube 1855. Nr. 6. besprochen worden und besteht hauptsächlich: in kräftigem Athmen in guter Luft, zweckmäßiger Bewegung und hinreichendem Wassergenuß. Außerdem muß noch auf gehörige Leibesöffnung, warme Füße (Fußbäder) und kühlen Kopf, auf leichte und reizlose Kost gehalten und Alles vermieden werden, was stärkeres Herzklopfen veranlaßt. — Gewöhnlich werden auch Störungen im Bereiche der Verdauung als Ursachen des Kopfschmerzes (d. i. der sogen. gastrische Kopfschmerz) angesehen, und in der That giebt es Personen, die nach gewissen Speisen Kopfschmerzen bekommen wollen. In den meisten Fällen dürfte sich aber die Sache umgekehrt verhalten und der Kopfschmerz die Verdauungsstörungen veranlassen, oder eine und dieselbe Ursache Schuld an beiden Uebeln tragen.
Hirn-Kopfschmerz aus widernatürlicher Reizbarkeit des Gehirns. Hier bringen schon gewöhnliche Reizungen (geistiger und gemüthlicher Art, sowie durch die Sinnes- und Empfindungsnerven) in der krankhaft empfindlichen Hirnsubstanz Schmerzen hervor. Diese abnorme Empfindlichkeit ist aber entweder die Folge früherer, oft und lange einwirkender widernatürlicher Reizungen des Gehirns, von denen vorher die Rede war, oder sie ist durch eine falsche und mangelhafte Ernährung der Hirnsubstanz veranlaßt; in den meisten Fällen trägt allgemeine Blutarmuth (s. Gartenlaube 1853. Nr. 49) oder Blutmangel blos im Gehirne, der durch ein Mißverhältniß von Einnahme und Ausgabe des Hirn-Blutes erzeugt wird, die Schuld an der reizbaren Schwäche des Gehirns. Deshalb haben Bleichsüchtige, Gelehrte bei schmaler Kost, sogen. nervöse und hysterische Frauen, auf Bällen und in Gesellschaften florirende Damen, Kaltwasser-Fanatiker, stillende Mütter, Wüstlinge, von Gram und Sorge Heimgesuchte etc. so oft Kopfschmerzen. Alle diese Patienten tragen die Erscheinungen der Blutarmuth in höherem oder niederem Grade an sich, wie: Bleiche der Lippen, des Zahnfleisches, der Zunge und der innern Bekleidung der Augenlider; dünne, blasse und durchscheinende, mit röthlich-violetten Adern durchzogene Haut, allgemeine Mattigkeit u. s. w.— Daß die Behandlung dieses, aus widernatürlicher Reizbarkeit der Hirnsubstanz entsprungenen Kopfschmerzes (d. i. der sogen. nervöse Kopfschmerz) auf die Herstellung einer normalen Reizbarkeit des Gehirns gerichtet sein muß, versteht sich wohl von selbst. Eine solche ist aber nur dadurch zu erlangen, daß das zu reizbare Gehirn eine Zeit lang so viel als möglich ungereizt bleibt oder doch nur zu schwacher Thätigkeit veranlaßt und während dieser Zeit der Ruhe richtig (durch gehörig eiweiß- und fetthaltige Nahrung) ernährt wird. Vorzüglich ist nach einem langen und ruhigen Schlafe, während welches ja das Gehirn unthätig und nur mit seiner Restauration beschäftigt ist, zu streben. Beim Kopfschmerz Blutarmer und Bleichsüchtiger (d. i. der sogen. anämische oder chlorotische) muß natürlich durch die vermehrte Aufnahme von zweckmäßigen, besonders thierischen Nahrungsstoffen, und durch die Verminderung des Blutverbrauches (s. Gartenlaube 1853. Nr. 49) die Menge und Beschaffenheit des Blutes verbessert werden. Die Meinung, daß hierbei kalte Bäder (Seebad) und kalte Waschungen dienlich wären, ist eine durchaus falsche, da die Kälte nur als Reizmittel und in unserm Falle deshalb nur schädlich wirken kann. Wohl unterstützen aber warme Bäder durch Bethätigung der Hautfunktion die Heilung.
Hoffentlich wird der Leser aus dem Gesagten gemerkt haben, wie schwierig die Beurtheilung und wie langwierig die Behandlung der Kopfschmerzen ist, und wie die Heilung der Mehrzahl derselben weit mehr vom Patienten als vom Arzte abhängt, denn die Regelung der Lebensweise und nicht die Arznei ist es, welche hier heilbringend wirkt. Davon wollen aber leider die Patienten nichts wissen, weil ihnen ein regelmäßiges Leben unbequemer als das Medicineinnehmen ist.Heute führt unser Weg hinauf in’s Gebirge, wo im einsam friedlichen Thale, umschattet von düsterer Fichtenwaldung die Wissenschaft eine Stätte aufgeschlagen hat, die Schätze der Natur auszubeuten und nutzbar zu machen. Das grüßende „Glück auf“ der zur Arbeit gehenden Bergleute belehrt uns, daß wir uns in der Nähe einer Grube befinden, und bald erblicken wir auch auf einer Halde die hölzernen Grubengebäude, unter denen ein knarrendes Göpelwerk die Erze fördert. Nicht edles Metall ist’s, was hier der Kübel dem Tageslicht zuführt: es sind Schwefelkiese, stahlgraue bis messinggelbe, glänzende Erze, die der Hauptsache nach aus je 1 Atom Eisen auf 1 oder 2 Atome Schwefel bestehen, und daher auch richtiger Eisenkiese genannt werden, da der Schwefelgehalt schon durch den Namen Kies angezeigt ist. Das Eisen wird aber in dieser Verbindung oft theilweise durch Kupfer, Zink, Arsen und andere Metalle vertreten und außerdem finden sich noch Stücke der sogenannten Gangart, d. h. desjenigen Gesteins, in welchem das Erzlager sich findet, eingesprengt. Diese Erze bilden das Rohmaterial für die Vitriolhütte, die zu besuchen wir im Begriff stehen und deren Nähe uns ein durch Eisenocker gelbroth gefärbtes Bächlein anzeigt. Bei der Hütte angelangt, finden wir zunächst große Haufen in Verwitterung begriffenen Eisenkieses aufgefahren. Dieses Mineral besitzt nämlich die Eigenschaft, unter dem Einfluß der atmosphärischen Luft und Feuchtigkeit zu zerfallen und sich durch Aufnahme von Sauerstoff in schwefelsaures Eisenoxydul, dem sogenannten Eisenvitriol zu verwandeln. Es finden sich aber auch Kiese, namentlich auf ältern Gebirgen und meist mit zwei Atomen Schwefel, welche nicht freiwillig verwittern, und diese müssen dann geröstet, d. h. durch Hitze aufgeschlossen werden. Man bedient sich zu diesem Zwecke gewöhnlich einer Art thönerner Retorten, deren Abzugsrohr in eine Vorlage mit Wasser mündet, in welchem sich der durch die Hitze theilweise abgetriebene Schwefel ansammelt und so als Nebenprodukt gewonnen wird, während derselbe beim Rösten in Oefen mit freiem Luftzutritt zu schwefeliger Säure verbrennt und meist unbenutzt durch den Schornstein entweicht. Die so behandelten Erze erleiden nun an der Luft die gleiche Verwandlung, wie die freiwillig verwitternden, und ihre fernere Verarbeitung ist daher auch eine ganz gleiche.
Regen und in trockener Jahreszeit aufgepumptes Wasser verrichten das Auslaugen des sich nach und nach bildenden Vitriols, wobei die abfließende schwache Lauge mehre Mal über die Haufen zurückgepumpt wird, um einen größeren Grad der Concentration zu erlangen. Zum Aufsammeln der Lauge dienen gemauerte Behälter, nach denen dieselbe in bedeckten Kanälen hingeleitet wird.
Ist die Verwitterung der Erze beendet, und also eine fernere Bildung von Vitriol nicht mehr zu erwarten, so bringt man sie zu völliger Erschöpfung in große Holzkasten oder in gemauerte Behälter über einen falschen Boden auf Stroh ausgebreitet und mit Wasser übergossen, welche Vorrichtung einen Filtrirapparat bildet, aus welchem die Flüssigkeit durch seitliche Spundöffnungen abfließt. Auch hier wird die Lauge so lange auf neue Portionen verwitterter Erze aufgegossen, bis sie die nöthige Concentration erreicht hat, während die Letzteren durch frisches Wasser völlig erschöpft und dann als ausgenutzt über die Halde gestürzt werden.
Die Lauge führt nun den Namen Rohlauge und wird zum Versieden in große bleierne Pfannen gebracht, die auf gußeisernen Platten über einer besondern Feuerung ruhen.
Nicht in allen Vitriolwerken ist die Gewinnung der Lauge mit gleicher Umständlichkeit verknüpft; so sind z. B. im Rammelsberg bei Goslar in früheren Zeiten die nicht schmelzwürdigen Erze, welche fast nur aus Schwefelkiesen bestehen, zur Ausfüllung abgebauter Grubenräume benutzt worden und sind durch Verwitterung nach und nach zu einer festen Masse, dem sogenannten „alten Mann“ zusammengebacken; bei Salzweiler in Rheinpreußen findet die Röstung des dortigen Alaunschiefers, der auf Alaun und Vitriol benutzt wird, von selbst statt, indem ein darunter lagerndes Kohlenflötz schon seit dem Jahre 1660 sich im Brande befindet; hier wie dort bedarf es zur Gewinnung der Rohlauge eines bloßen Auslaugens mit Wasser.
Während des Versiedens der Rohlauge entsteht nach und nach ein bedeutender Bodensatz, namentlich von Gyps und basischem schwefelsaurem Eisenoxyd, so daß es nöthig wird, die Lauge davon zu trennen, indem man dieselbe in die sogenannten Läuterkästen abfließen läßt, wo sie der Ruhe überlassen, sich sehr bald klärt. In den Läuterkästen, so wie auch in den Siedepfannen, setzt man gewöhnlich Stücken alten Eisens hinzu, theils um etwa vorhandene freie Schwefelsäure zu sättigen und dadurch mehr Vitriol zu gewinnen, theils um das ausgeschiedene basische schwefelsaure Eisenoxyd wieder in Oxydul zu verwandeln und endlich, um das in Lösung befindliche Kupfer niederzuschlagen und Eisen an seine Stelle treten zu lassen. Das Kupfer scheidet sich in krystallinischen Schuppen metallisch ab und bildet unter den Namen Cementkupfer oft ein nicht unbedeutendes Nebenprodukt.
Die geklärte Lauge wird nun in reine Pfannen zurückgebracht und gar gesotten, d. h. auf den Punkt der Concentration gebracht, daß sich beim Erkalten der Vitriol krystallinisch ausscheidet. Diese Krystallisation geschieht in großen hölzernen Kästen, in welche eine Menge gabelförmig geschnittene Hölzer an darüber gelegten Stangen eingehängt sind, um den Krystallen mehr Anhaltspunkte zu bieten und um sie leichter entfernen zu können.
Der Eisenvitriol bildet blaßgrüne, wohlausgebildete Krystalle, welche auf je ein Atom schwefelsaures Eisenoxydul sieben Atome Krystallwasser chemisch gebunden enthalten. Jedoch ist dieser nun als Handelswaare fertige Vitriol nie vollkommen rein, indem, wie schon erwähnt, die in den Kiesen enthaltenen fremden Metalle oft mit in die Verbindung eingehen. Wurde das Kupfer nicht durch eingelegte Eisenstücke abgeschieden, so erscheinen die Krystalle blaugrün und zwar um so mehr blau, je kupferreicher sie sind. Hierher gehören z. B, die salzburger und admonter Vitriole, auch Adlervitriol genannt, welche gerade ihres Kupfergehaltes wegen, der für gewisse Zwecke sehr erwünscht ist, geschätzt werden. Die Verwendung der Vitriole in den Gewerben ist eine bedeutende, und namentlich bedient man sich derselben in der Färberei zu Herstellung schwarzer Farben für Wollenstoffe.
Der Mutterlauge, d.h. der bei der Krystallisation des Vitriols noch bleibenden Flüssigkeit, wird nun wiederum neue Lauge zugesetzt oder sie wird auch ohne Weiteres für sich eingedampft, und dadurch ein unreiner Vitriol gewonnen, der zur Darstellung des Vitriolöles benutzt wird.
Das Vitriol oder die rauchende Schwefelsäure ist eine schwere, öldicke Flüssigkeit, welche sich von der gewöhnlichen, sogenannten englischen Schwefelsäure dadurch unterscheidet, daß sie ein Gemisch von Schwefelsäurehydrat mit wasserfreier Schwefelsäure ist, d. h. auf 2-3 Atome Schwefelsäure nur 1 Atom Wasser enthält. In offenen Gefäßen entweicht diese wasserfreie Säure theilweis schon bei gewöhnlicher Temperatur als dicker, weißer Nebel, daher denn die Säure auch rauchende, oder nach dem Orte, wo sie zuerst bereitet worden sein soll, nordhäuser Schwefelsäure genannt wird.
Um nun aus dem Vitriol diese Säure abscheiden zu können, muß derselbe zuvörderst seines Wassergehaltes entledigt werden, eine Operation, die in der sogenannten Darre, einem an den zur Destillation dienenden Galeerenöfen neben der Feuerung angebrachten Raume, gewissermaßen nebenbei geschieht. Der geröstete Vitriol wird sodann in Portionen von 2-3 Pfund in die thönernen Retorten gebracht, welche zu 20-30 auf jeder Seite des Ofens in einer Reihe liegen und der Einwirkung eines nach und nach zu verstärkenden Feuers ausgesetzt, bis die Retorten zuletzt eine Zeit lang weiß glühen. Die abdestillirende Säure sammelt sich in den Vorlagen, in welche man zuvor etwas schwächere Säure oder auch nur etwas Wasser gegeben hatte, und wenn man sehr starke Säure erzeugen will, so benutzt man dieselben Vorlagen zu drei oder vier Destillationen hinter einander, ohne sie zuvor zu entleeren.
In den Retorten verbleibt als Rückstand eine braunrothe, erdige Masse, zum größten Theil aus Eisenoxyd bestehend, welche unter den Namen Caput mortuum oder Colcothar in den Handel [93] kommt und entweder als Anstrichfarbe oder als Polirmittel für Stahlwaaren benutzt wird.
Das fertige Vitriolöl kommt in steinerne Krüge mit Schraubenstöpseln, in welchen es zu fernerer Verwendung versandt wird. Seine Hauptverwendung findet es bei der Indigfärberei, da gewöhnliche Schwefelsäure den Indigo nicht auflöst, überhaupt ein anderes eben so billiges Lösungsmittel für denselben nicht vorhanden ist.
Der Cougar (Felis concolor) ist die einzige eingeborne langschwänzige Katzenart, die es in Amerika nördlich vom 30. Grade giebt. Die sogenannten wilden Katzen sind Luchse mit kurzen Schwänzen, von denen es drei Arten giebt. Das genus felis wird dagegen nur durch den Cougar repräsentirt.
Die amerikanischen Jäger nennen ihn Panther, in Südamerika und in Mexiko giebt man ihm dagegen den prahlenden Titel: „Löwe,“ und in Peruvia heißt er Puma. Die Naturforscher haben ihn „Concolor,“ einfarbig, genannt, weil er weder Streifen wie der Tiger, noch Flecke wie der Leopard, noch Rosetten wie der Jaguar hat, er ist vielmehr ganz gleichmäßig über den ganzen Leib lohfarben röthlich gefärbt, und nur die Bauchtheile und der Kopf sehen etwas heller aus. Er ist bei Weitem nicht so verhältnißmäßig gebaut, wie die andern Katzenarten. Sein Rücken ist lang und gebogen, und er trägt den Schweif nicht so graziös wie die Katzen es sonst thun, seine Füße sind kurz und stark, und er sieht plump und ungeschickt aus. Mit dem Schweif, der ein Dritttheil seines Maßes beträgt, ist seine höchste Länge sechs Fuß. Nichts an ihm erinnert an den Löwen, er gleicht vielmehr eher dem Panther oder dem Jaguar.
Sein Bereich ist sehr groß; man findet ihn von Paraguay bis zu den großen Seen Nordamerika’s. Glücklicher Weise begegnet man ihm indessen nicht allzu häufig, da er sich vor den Ansiedelungen der Menschen in die Gebirge und dichten Wälder flüchtet und auch dort einsam haust. Zeigt er sich irgendwo, so ist sogleich die ganze Umgegend auf den Beinen und macht Jagd auf ihn, wie auf einen tollen Hund. Er ist ein vorzüglicher Kletterer, denn er klimmt mit der Geschwindigkeit einer Katze mit den Klauen, nicht rutschend wie Bären und Opossums die Bäume hinan. Dort liegt er häufig auf einem geraden Zweig und lauert auf Beute, namentlich in der Nähe von Trinkplätzen; naht sich dann Elenn, Hirsch oder Reh, Antelope oder Büffel, so springt er mit gewaltigem Satz auf ihre Rücken, schlägt die Klauen in ihre Brust und zerfleischt ihren Hals. Erschreckt und von Todesangst gepeinigt, fliehen die armen Thiere davon und hoffen den schrecklichen Feind abschütteln zu können; vergebens, immer tiefer gräbt er sich in ihr Fleisch, immer gieriger saugt er ihr Blut, bis sie ermattet niedersinken.
Gewöhnlich heißt es, der Cougar sei feig, und es ist auch richtig, daß er sich vor dem Menschen scheut. Dies ist aber ebenso mit den Bären, Luchsen, Wölfen und selbst Alligatoren der Fall, seitdem sie den scharfen Ton der tödtlichen Büchse kennen gelernt haben. Ich habe aber auch von wilden Kämpfen der Cougars und Jaguare mit Menschen in Südamerika gehört, und in Peru, am östlichen Abhange der Andes-Kette, sind ganze Ansiedelungen aus Furcht vor diesen wilden Thieren verlassen worden.
Man jagt ihn mit Hunden, vor denen er entflieht, weil er weiß, daß die sichere Büchse des Jägers sie schützt, kommt ihm indessen einer derselben zu nahe, so genügt ein Tatzenschlag, den Hund niederzustrecken. Weiß er sich nicht mehr zu helfen, so erklimmt der Cougar einen Baum, hält sich dort auf einem Gabelzweig und lugt mit sich aufborstendem Haar und glühenden Augen sprungfertig hinab. Trifft ihn dann der Schuß und stürzt er nieder, so beginnt er noch einen furchtbaren Kampf mit den Hunden, welcher gewöhnlich noch mehreren derselben das Leben kostet. Er giebt ein Geheul von sich, das wie Cu-a klingt, daher der Name Cougar.
Ich hatte das Glück, einen Cougar erlegen zu helfen, als er sich uns auf der Taubenjagd näherte, um sich seinen Antheil an der Beute zu holen. Wir spürten ihn so glücklich, daß er nicht mehr Zeit hatte, uns zu entfliehen, und zwei gut gezielte Schüsse streckten ihn zu Boden. Wir zogen sein Fell ab, das natürlich eine stattliche Beute bildete.
Bei dieser Gelegenheit erzählte einer meiner Jagdgenossen ein merkwürdiges Begegniß mit einem Cougar, das ihm zu Theil geworden war.
„Ich hatte mich am Mississippi anbauen wollen,“ erzählte er, „aber meine Hütte zu nahe an dem Bereich der Fluth aufgeschlagen, und daher eines Nachts die Erfahrung zu machen, daß diese in mein Haus und bis an mein Bett drang, so daß ich nur noch eben Zeit hatte, meine nöthigsten Sachen und meine Büchse zu packen und mit ihnen zu meiner alten Mähre zu flüchten, die auch schon bis zum Bauch im Wasser stand. Da half natürlich kein Weilen mehr, und ich beschloß, durch das Wasser zu meinem nächsten Nachbar zu reiten, der zehn Meilen entfernt wohnte. Im Finstern verfehlte ich aber den Weg, der durch die Prairie ging, gerieth wieder in das Wasser hinein, und sah mich dort von dem Strome erfaßt und fortgerissen.
Eine Zeit lang hatte auch das keine Gefahr. Die Mähre schwamm und trug mich ganz gut. Als ich aber sah und fühlte, daß die Kräfte des guten alten Thieres nachließen, kam mir meine Lage doch bedenklich vor – und es schien mir am gerathensten, einen der im Flusse schwimmenden großen Baumstämme zu erklimmen und das Pferd seinem Schicksale zu überlassen, da es auf diese Weise leichter entkommen konnte, ich aber sicher war, mit dem Stamme irgendwo zu landen oder die Fluth abwarten zu können,
Dies that ich, und die Mähre schien mich eben nicht zu vermissen, denn sie schwamm ruhig weiter. Ich suchte den Stamm entlang zu gehen, fand aber, daß er schlüpfrig war, und zog es daher vor, mich an dem Ende desselben niederzusetzen. Dabei sank er wieder zu weit unter, und ich fand es zweckmäßiger, nach der Mitte zu rutschen. Als ich mich dort eben zurechtrichtete, sah ich, daß am andern Ende auch etwas heraufkletterte. Es war zwar ziemlich dunkel, aber so viel konnte ich doch sehen, daß es ein Thier war. Welcher Art, konnte ich zwar nicht sagen, aber wie mir schien, war es ein Bär oder ein Panther, und als ich genauer nach seinen Augen sah, fand ich, daß es ein Panther war. Das war keine angenehme Entdeckung, und die Nachbarschaft des Thieres war mir durchaus nicht lieb, muß ich sagen. Ich rückte daher bis an das andere Ende des Stammes und hielt dort mein Messer, meine einzige Waffe, bereit, denn meine Büchse hatte ich verloren, als ich von dem Pferde stieg. So schwammen wir wohl eine Stunde lang und saßen uns Auge im Auge gegenüber. Dem Panther schien indessen nicht wohler zu sein als mir, denn ab und zu stieß ein anderer Stamm an den unsern, und es machte dem Thiere offenbar mehr Mühe, das Gleichgewicht zu behalten als mir. Ich sah ihn dabei aber immer starr an, weil dies das beste Mittel war, seine auch auf mich gerichteten Glutaugen im Zaume zu halten.
In dieser Lage wartete ich darauf, daß der Strom uns einen Baum nahe triebe, dann wollte ich dessen Zweige ergreifen und auf ihm die Nacht abwarten. Plötzlich tauchte indessen eine kleine Insel vor meinen Augen auf, auf der, wie es mir vorkam, allerlei Strauchwerk stand. Dies änderte meinen Entschluß. Es war mir klar, daß ich nichts Besseres thun konnte, als den Baumstamm verlassen und nach der Insel schwimmen. Mochte dann der Panther seine Reise ohne mich fortsetzen. Als ich daher meinte, der Stamm sei nahe genug, glitt ich hinab und schwamm, hörte aber gleichzeitig ein Plumpen. Das verdammte Biest, der Panther, war auch in’s Wasser gesprungen und schwamm hinter mir her. Ich dachte zuerst, er hätte es auf mich abgesehen, und faßte daher mein Messer mit der einen Hand, während ich mit der andern schwamm. Aber der Panther dachte an keinen Kampf; er schwamm nur schlecht und schien sehr froh, daß er Land vor sich sah; so schwammen wir also dicht neben einander, ohne ein Wort zu wechseln.
Als ich der Insel näher gekommen war, hatte ich entdeckt, [94] daß das, was ich für Gebüsch gehalten hatte, aus einer Gruppe von Thieren bestand, die sich dahin gerettet hatten, ein paar Hirsche, Rehe und ein Thier, das stärker war als sie; ein Opelrusa-Ochse oder ein Pferd. Richtig, es war ein Pferd, meine alte Mähre, die so klug gewesen war, wie ihr Herr.
Als der Panther an’s Land stieg, hörte ich ein Stampfen der Hufe, die Thiere flogen bei seinem Anblick wild aus einander, als wäre der leibhaftige Old Nick (der Teufel) unter sie gefahren, keins dachte aber daran, sich wieder in’s Wasser zu stürzen. Als ich mich aus dem Wasser aufrichtete, hörte ich ein lustiges Wiehern. Meine alte Mähre hatte mich sogleich gewittert und kam zu mir und rieb ihre Nase an meiner Schulter. Diese Erscheinung war mir gar nicht unangenehm, ich sprang sogleich auf ihren Rücken, da ich dort offenbar eine bessere Position zum Abwarten der Nacht hatte. Als ich mich von da umsah und orientirte, kam es mir vor, als sei ich in der Arche Noah. Da war mein alter Freund, der Panther, vier Hirsche, ein Rehbock und drei Rücken; dann kamen ein Catamount und ein schwarzer Bär so dick, wie ein Büffel; ein paar graue Wölfe, ein Racun und ein Opossum, ein Prairiehase, und hol’s der Teufel, ein Stinkthier, Das letztere war das unangenehmste von allen, denn es verpestete die ganze Insel.
Sie alle waren aber so klamm und angsterfüllt, daß keines wagte, das andere anzugreifen, und sie lebten so harmlos neben einander, wie uns die Bibel erzählt, daß die Thiere im Paradiese sich befanden, wo der Löwe so zahm war, wie das Lamm.
Das konnte sich indessen ändern, und es war mir doch lieb, als die Fluth fiel, daß es mir möglich war, von der Gesellschaft Abschied zu nehmen, ehe diese zu Kräften gekommen war, denn ich konnte mir mit meiner Mähre natürlich am ersten einen Ausweg nah der Prairie suchen. Mein Nachbar war etwa noch drei Meilen entfernt, und in einer Stunde war ich vor seiner Thür. Er wollte mir kaum glauben, als ich ihm mein nächtliches Abenteuer erzählte; und griff, als ich ihm dessen Wahrheit versicherte, sogleich zur Büchse und gab mir ein zweites Gewehr, um Jagd auf die Thiere zu machen, die ich verlassen hatte.
Wir fanden sie nicht mehr ganz in dem vorigen Zustande. Der Morgen hatte dem Panther, der Katze und den Wölfen Muth gegeben. Von dem Hasen und dem Opossum war nur noch etwas Wolle übrig, und eine von den Rücken war halb verschlungen.
Mein Freund nahm die eine, ich die andere Seite der Insel. Zuerst streckte ich den Panther nieder, während er den Bären erlegte. Dann legten wir auf die Wölfe an, dann auf das Cuny, darauf folgten die Hirsche; sie und die Bären waren die einzig werthvolle Beute. Das Stinkthier schossen wir zuletzt, weil wir uns nicht vollends von dem Platz wollten fortstänkern lassen, während wir dem Bären das Fell abzogen. Dann bestiegen wir mit dem Wild und dem Bärenfell unsere Pferde. Ich fand auch meine Büchse wieder; als die Fluth verschwunden war, lag sie mitten in der Prairie halb im Schlammme begraben.
Die Erfahrung hatte mich natürlich klug gemacht; und ich baute mein Blockhaus weiter ab vom Strome. Zum Frühjahr hatte ich es fertig, und ich hatte die Freude, mein Weib und meine beiden Jungen, die ich im Staate Mississippi zurückgelassen hatte, dahin abholen zu können.“
Als Pizarro und seine Spanier zuerst die peruvianischen Andesgebirge erstiegen, waren sie sehr erstaunt, eine neue Gattung Vierfüßler zu erblicken, die ihnen zugleich wie ein Schaf und wie ein Kameel vorkam, und die sie daher auch Kameelschaf nannten. Sie kannten das gezähmte Lama, das als Hausthier Lasten trug, sowie das Alpaka, eine kleinere Gattung desselben, das seines Vließes wegen ungemein hoch geschätzt wurde. Jetzt sahen sie aber zwei andere Arten dieser Gattung im wilden Zustande, welche die einsamsten und unzugänglichsten Gegenden der Cordilleren bewohnten. Sie waren das „Guanaco“ und „das Vicuña.“ – Noch bis vor Kurzem hat man das Guanaco für das wilde Lama gehalten, dies ist jedoch nicht richtig. Wenn man es zähmt, vermag es als Lastthier nicht dieselben Dienste zu verrichten, wie das Lama. Auch sein Vließ und sein Fleisch sind weniger werth. Die Wolle des Vicuña galt dagegen noch fünf Mal so viel als Alpakawolle, und die Ponchos oder spanischen Mäntel, welche daraus gewebt sind, haben den fabelhaften Preis von 100 bis 200 Thalern. Jeder Wohlhabende trägt einen solchen Mantel und wird allgemein darum beneidet, denn die Aermeren können ihn nur von grober Lamawolle tragen.
Da die Wolle des Vicuña so hoch im Preise steht, wird demselben natürlich vielfach nachgestellt. In vielen Theilen der Andes giebt es Vicuña-Jäger, und ganze Stämme peruvianischer Indianer bringen einen Theil des Jahres mit der Jagd dieses Thieres und des Guanaco hin. Dasselbe findet im Süden, nah Patagonien zu statt, wo andere Stämme fast ausschließlich von der Vicuña-, Guanaco- und Straußenjagd leben.
Diese Jagd ist kein leichtes Gewerbe. Der Jäger muß auf den höchsten und kältesten Punkten der Andes, fern vom civilisirten Leben und dessen Freuden wohnen, und entweder auf freiem Felde lagern, in Höhlen schlafen oder sich mit seinen Händen eine rohe Hütte bauen. Er hat eine Witterung zu bestehen, die so kalt ist wie der Winter in Lappland, und zwar häufig an Stellen, wo keine Spur von Holz zu entdecken ist und wo er sich seine Mahlzeit nur an dem Feuer, das ihm der trockene Mist des Wildviehes gewährt, kochen kann. Glückt ihm die Jagd nicht, so ist er dem Hungertode ausgesetzt und kann sein Leben nur durch Wurzeln und Beeren fristen. Und dabei drohen ihm noch stets die Gefahren, welche die schlüpfrigen Gebirgspfade, Abhänge und wild brausenden Ströme mit sich bringen. Es ist ein rauhes, entbehrungsvolles Leben, das der Vicuñajäger führt.
Auf meiner Reise durch Peru beschloß ich, auch eine Vicuñajagd mitzumachen. Von einer Stadt der unteren Sierra erklomm ich die hohen Regionen der „Puna“ oder „Despopoblado“ (unbewohnte Region), wo ich mich 12 bis 14,000′ über der Meeresfläche, in einer kalten Wüstenei befand, nachdem ich eben erst aus dem Lande der Palmen und Orangen gekommen war. Vor mir und rings um mich sah ich nichts als schwarze oder schneebedeckte Berge, welche hier und da Ebenen von einigen Meilen Breite zwischen sich ließen. Geht man diese zu Ende, so kommt man an tiefe Klüften, aus denen die nächsten Bergkuppen emporsteigen.
Dieses Tafelland ist zu kalt für den Ackerbau; nur Gerste und einige harte Wurzeln der kalten Zone gedeihen hier, aber der Boden ist mit einer Schwarte von „Ycha-Gras“ bedeckt, welches die Lieblingsnahrung der Lama’s bildet, und diese giebt ihm auch für den Menschen Werth. Man findet dort Heerden von halb wildem Vieh, welche von noch wilder aussehenden Schäfern geleitet werden. Schaaren von Alpaka’s, Lamaweibchen mit ihren Jungen und langschwänzige peruvianische Schafe durchstreifen sie und verleihen ihnen einiges Leben. Ueber ihnen schwebt ferner der Riesengeier – der Condor oder kauert in seinen Nestern auf den Bergspitzen. Dann und wann trifft man endlich auf die schwarze Erdhütte des „Vaqueros“, des Viehhirten, oder stößt auf den Mann selbst, der mit einer Koppel wilder Hunde seiner Heerde folgt und noch wilder erscheint als sie.
So sieht die Puna aus, welche den Lieblingsaufenthalt des Vicuña, und daher auch die Heimath der Vicuñajäger bildet. Ich war an einem derselben empfohlen und suchte ihn in seiner Hütte auf, wohin er eben mit einer Beute von ein paar Chinhilla’s und Viscacha’s, Bergkaninchen, die er in Schlingen gefangen, zurückgekehrt war.
Es war gut, daß ich zu Pferde ankam, denn als ich vor der Hütte hielt, kam ein Pack kleiner fuchsähnlicher Hunde aus dieser heraus und sprang an meinen Beinen schnappend in die Höhe, so daß ich mich nur vor ihnen retten konnte, indem ich meine Füße bis zum Sattel heraufzog. Selbst ihr Herr konnte ihnen, als er erschien, erst nach vielen Fußtritten begreiflich machen, daß ich nicht dazu hergekommen sei, mich von ihnen fressen zu lassen. Darauf stieg ich ab und ging oder kroch vielmehr in die Hütte. Sie bestand aus einer Höhle von fünf Fuß Höhe, die aus Erde und Steinen hergestellt und mit Puna-Gras bedeckt war. Ein paar Steinblöcke in der Mitte derselben bildeten den Herd, und der Rauch mußte sich selbst seinen Weg suchen.
Der Besitzer war ein Indianer und gehört zu den Stämmen, welche nie von den Spaniern besiegt wurden, weil sie zu hoch wohnten. Nur die Missionäre kamen allmälig mit ihnen in Berührung und schieden sie in „Indios mansos“ zahme Indianer, und „Indios bravos“, wilde Stämme, die noch bis jetzt unabhängig sind.
Mein Wirth war ein Junggesell und bereitete sich Alles selbst. Ich nahm an seinem Mahle, das aus Mais und einem [95] gerösteten Kaninchen bestand, Theil, und da ich glücklicher Weise eine Flasche catalanischen Brandy mit mir führte, machten wir es uns ganz schmackhaft. Ich hatte auch Taback bei mir, aus dem wir Cigarren fertigten, mein Wirth hatte jedoch noch mehr Genuß an dem Kauen des „Cocu“, und er trug stets ein mit trockenen Blättern der Cocupflanze gefülltes Chinchillenfell mit sich.
Am frühen Morgen machten wir uns zu Fuß auf den Weg. Unsere Pferde blieben angebunden bei der Hütte. Der Indianer nahm einen seiner Hunde mit sich, der treu und zuverlässig war.
Wir schritten über die Ebene und kamen in ein Bergdefilé, das aufwärts führte, und wobei wir fortwährend über Felsblöcke und Geröll stiegen. Zu Zeiten war der Weg äußerst schlüpfrig und sogar gefährlich, wo der gefrorene, mehrere Zoll hohe Schnee ihn verdeckte. Unser Ziel bildete ein höher gelegenes Plateau. wo wir, wie mein Führer sagte, Vicuña’s finden würden.
Als wir zwischen den Felsen kletterten, gewahrte ich über uns bewegliche Gegenstände und erblickt, als ich schärfer hinsah, mehrere Thiere von starkem Bau und rothbrauner Farbe. Ich hielt sie zuerst für Rothwild, erkannte jedoch sogleich meinen Irrthum. Sie waren ihm nur ähnlich, aber ungleich elastischer und sprangen wie Gemsen von Fels zu Fels.
„Das sind wohl Vicuña’s?“ sagte ich.
„Nein,“ erwiederte mein Gefährte, „nur Guanaco’s.“
Ich hätte gern auf sie angelegt.
„Verspart es Euch lieber,“ sagte indessen mein Führer. „Der Schuß schreckt sonst die Vicuña’s, wenn sie in der Ebene sind, die ganz nahe ist. Ich kenne die Guanaco’s und ihre Schlupfwinkel – das Defilé hier dicht bei – und wir können die auf dem Rückwege suchen.“
Ich versagte mir also den Schuß, obwohl es mir sauer genug wurde, denn die Thiere liefen so dicht an uns vorbei, daß ich sie bequem erreichen konnte. Mein Gefährte dachte natürlich an das werthvollere Vließ der Vicuña’s.
„Hier müssen wir sie finden,“ sagte er, „das ist ihr Aesungsplatz.“
Schöne Thiere und ein edles Wild sind die Guanaco’s, so edel wie Rothwild. Von den Vicuña’s unterscheiden sie sich wesentlich. Sie äsen nur in kleinen Rudeln, von sechs bis zwölf Stück, während man die Vicuña’s in vierfacher Anzahl beisammen findet. Die Guanaco’s hausen ferner in den Felsen und springen von Klippe zu Klippe, weit über die Abgründe. Auf der Grasebne laufen sie dagegen nur schlecht, weil das Leben auf dem Gestein ihre Hufe in besonderer Weise zusammenschrumpfen läßt. Die Vicuña’s ziehen dagegen den sanften Rasen der Tafelebene vor, über welche sie mit der Gelenkigkeit des Rothwildes dahinfliehen. Beide gehören zu derselben Art Vierfüßler, aber ihr Wesen hat sich durch ihre Aesungsart verschieden gestaltet.
Als wir den Rand der Ebene erreicht hatten, nach der wir strebten, sahen wir unsere Erwartung erfüllt. Nicht weit davon äste ein Rudel, das einen herrlichen Anblick darbot. Die Thiere sahen stattlich und graziös aus. Dem ungeübten Auge konnten sie ganz als Rothwild erscheinen, denn außer der Antelope gleicht ihm kein Thier so, als das Vicuña, und zwar weit mehr, als es dem Lama, Alpaka und Guanaco gleicht. Seine Glieder sind indessen schlanker und beweglicher und seine Farbe ist lichter, und wenn man sich an seinen Anblick gewöhnt hat, kann man das Orangeroth seines seidenen Felles auf einen Blick in weiter Ferne unterscheiden. Mein Gefährte sagte sogleich, daß es ein Rudel Vicuña’s sei. Es bestand aus 20 Stück, die auf der Grasebene ästen. Eins stand besonders, mit hocherhobenem Halse, als wolle es für die Uebrigen wachen. Das war in der That auch seine Pflicht, denn es war das Leitthier, der Patriarch, Mann und Vater des Rudels. Alle Uebrigen waren seine Jungen, wie mir mein Führer versicherte.
Das Vicuña lebt in Vielweiberei, kämpft mit verzweifelter Kühnheit für seinen Harem und wacht über ihn, während er äst oder schläft, vertheidigt ihn gegen Feinde und deckt, wenn es nöthig, den Rückzug mit dem eigenen Leibe.
„Nun Señor,“ sagte der Jäger, indem er das Rudel überblickte, „wenn ich den da (auf den Leiter deutend) schießen könnte, wäre mir um den Rest nicht bange, dann wollte ich sie Alle kriegen.“
„Wie so?“ fragte ich. „O, ich wollte wohl. Ich möchte nur erst wissen –“
„Sie ziehen nach dem Felsen zu, laßt uns dahin gehen, Kamerad!“
Vorsichtig stahlen wir uns um die Spitze des Berges, bis die Felsen zwischen uns und dem Wilde lagen. Dann faßten wir dort Posto, indem wir uns hinter einem Felsblock verbargen, der ganz dazu gemacht war, und vorsichtig durch die Spalten lugten. Die Vicuña’s kame langsam auf uns zu und waren beinahe schon in Schußweite. Ich hatte eine Büchsflinte, deren Läufe ich mit starker Ladung versehen hatte, mein Gefährte eine lange spanische Rifle.
Wispernd ertheilte er mir seine Instruktionen. Ich sollte erst nach ihm feuern, beide wollten wir aber auf das Leitthier zielen. Da er hierauf bestand, versprach ich zu folgen.
Das Rudel kam näher und näher, der Leiter voran, mit langem weißen Seidenhaar vor der Brust und seine Augen auf uns richtend. Ich beobachtete das Leuchten seiner Augäpfel und den Ausdruck von Stolz, der ihn erfüllte, wenn er sich zuweilen nach seinem Gefolge umsah.
„Ich hoffe, er hat Würmer,“ murmelte mein Genosse, „denn dann kommt er nach dem Felsen hier, sich zu scheuern.“
Dies war auch offenbar seine Absicht, denn er streckte seinen Hals vor und kam bis auf ein paar Schritte auf uns zu. Da machte er plötzlich Halt. Der Wind war für uns, sonst wäre er längst davon getrabt. Aber er faßte Verdacht, stand still, zog den Kopf in die Höhe, stampfte den Boden mit dem Fuß und stieß einen sonderbaren Schrei aus, der dem Pfeifen des Rothwildes glich. Das Echo dieses Schreies war der Donner aus meines Gefährten Rifle, und gleich darauf sah ich das Vicuña in die Höhe springen und todt zu Boden stürzen.
Jetzt glaubte ich, würden die Andern eilig davon fliehen und wollte rasch unter sie feuern, so lange ich sie noch erreichen konnte. Mein Gefährte hielt mich indessen zurück.
„Halt!“ – wisperte er – „Ihr werdet gleich einen bessern Stand haben. Seht da – jetzt, wenn’s Euch beliebt, Señor!“
Zu meiner Ueberraschung kam das Rudel, statt zu fliehen, auf den Ort zugetrabt, wo ihr Leiter lag, lief um ihn herum, stand dann wieder vor seinem Kadaver still und stieß klägliche Schreie aus.
Es war ein rührender Anblick, aber die Mordlust ist in dem Jäger immer noch größer, als das Mitleid. In einem Augenblicke hatte ich beide Läufe abgeschossen und ihren tödtlichen Inhalt entsandt. In der That tödtlich, denn als der Pulverrauch sich zertheilte, sahen wir die Hälfte des Rudels ruhig am Boden liegen oder krampfhaft zucken. Die Uebrigen blieben wie vorher stehen. Noch ein Schuß aus der Rifle, und ein Thier stürzte, noch eine Ladung meines Flintenlaufes und eine ganze Anzahl folgte, und so fuhren wir fort, Kugeln und Schrot zu entsenden, bis das ganze Rudel verendet am Boden lag.
Unser Werk war gethan, ein großes Tagewerk für meinen Gefährten, der aus dem Ertrag dieser Jagd gegen hundert Dollars lösen konnte. Dies war, versicherte er mir, ein besonderer Treffer. Oft konnte er auch Tage und Wochen lang umherirren, ohne ein Vicuña oder Guanaco zu finden, und zwei Mal war es ihm vor diesem gelungen, sich einem Rudel Vicuña’s, in der Haut eines Guanaco’s versteckt, zu nahen, und den größten Theil des Rudels zu erlegen, ehe es sich zur Flucht wandte.
Wir mußten jetzt an die Rückkehr denken, um die Pferde zu holen und das Wild heimzuführen, da dies mehrere Reisen erforderte. Um die Wölfe und Condors davon fern zu halten, wandte mein Gefährte ein sehr einfaches Mittel an, dessen sich die Prairie- Trapper im Norden allgemein bedienen. Sie nehmen ein paar Blasen aus den Vicuña’s, blasen sie auf, binden sie an ein paar Stäbe und pflanzen diese über den Kadavern auf, so daß sie sich im Winde hin und her bewegen können. So schlau der Andeswolf ist, so läßt er sich doch hierdurch täuschen, und wagt sich so wenig wie der Condor heran.
Es war beinahe Nacht, als wir mit der letzten Ladung die Hütte des Indianers erreichten. Wir waren Beide hungrig und müde, aber ein frisches Vicuña-Cotelettes, ein paar Gläser Catalaner Wein und eine Cigarette ließen uns die überstandene Mühe bald vergessen. Mein Wirth war natürlich mit seinem Tagewerk außerordentlich zufrieden, und versprach mir für den nächsten Morgen eine Guanaco-Jagd.
[96][97] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt.
[98]Wir gehören nicht zur „Börse“, manchmal über Krieg- und Friedensnachricht um zwölf Uhr „himmelhochjauchzend,“ ein Viertel auf Eins aber schon wieder „zum Tode betrübt.“ Auch nicht zu den Proletariern der Diplomatie und Staatsweisheit, welche von einem Blitze des electrischen Telegraphen bis zum andern ihr kümmerliches Hoffen und Harren fristen, und mitten in den tiefsten Nahrungssorgen für ihren hungrigen Witz glauben: „’s hilft am Ende doch,“ wie der Chamisso’sche Held, dem’s so sehr zu Herzen ging, daß ihm der Zopf so hinten hing. Eben so wenig zum Kriegsrathe, noch zur Friedensconferenz, sondern zur Gartenlaube, in welcher bekanntlich kein Janusthor angebracht ist, durch welches Krieg und Frieden, wie Mann und Frau im alten Wetterhäuschen auf dem Mechanismus eines Hundedarmes, aus- und einspazieren könnten.
Wir sitzen mit andern gewöhnlichen Sterblichen vor dem Vorhange, auf welchen die Bosko’s und Dubler’s der höheren Taschenspielerkunst ihre dissolving vious (sich auflösende Ansichten!) abspiegeln. Wir bilden uns nicht ein, die sich auflösenden Ansichten, expreß für das Publikum vor dem Vorhange zum Besten gegeben, besser zu verstehen als jeder Andere; glauben es aber doch Einigen, die von der Erscheinung zu sehr hingerissen werden, daß sie das Wesen vergessen, zurufen zu müssen: „Fürchten Sie sich, meine Herren und Damen, sie beißen nicht!“ Oder: „Jubeln Sie nicht zu sehr, der schöne Mann oder der hübsche Paragraph, oder der kitzliche Punkt oder die lachende Aussicht werden sich gleich in Wolf und Wolfsschlucht verwandeln, wo sie Kugeln gießen, die zuletzt den Schützen selbst treffen.“
Im Ganzen haben wir also immer den Trost: ’s wird sich auflösen, ’s wird auch bald alle werden, und einem andern, und dies wieder einem andern Scheinbilde Platz machen. Das Publikum verlangt’s am Ende so, besonders das in Paris, das am Ersten „ekelig“ wird, wenn man ihnen nicht immer wieder etwas Neues bietet. Wir müssen gestehen, daß es dem Kaiser Napoleon bisher glücklich gelungen ist, die lieben Pariser und hinten im Parterre und auf den Galeeren auch das übrige Europa gut zu unterhalten. Nach der ersten Freude über den 2. December und über den voreilig „anerkennenden“ Lord Palmerston zogen die glorreichen Adler des Kaiserreichs über die Bühne mit allgemeinem Wahlrecht und sonstiger phantastischer, unterhaltender Umgebung. Dann wurde Paris zu einem Phönix, blos um prächtig aus seiner Asche hervor empor zu steigen. Dabei war „das Kaiserthum der Friede,“ - „holder Knabe, schlummernd am Bache,“ aber ein sehr langweiliger Junge für die so situirten Pariser. Deshalb lös’te sich der Junge auf und verwandelte sich plötzlich in den brüllenden Mars mit groß-napoleonischer „Gloire;“ Civilisation gegen Barbarei, Türkenrettung und Rußlands Untergang, und wie die gläubigen, andächtig-ernsten Zeitungen sich sonst ausdrückten. „Nichts Besseres lob’ ich mir an Sonn- und Feiertagen, als ein Gespräch von Krieg und Kriegsgeschrei, daß hinten weit in der Türkei die Völker auf einander schlagen,“ sagt der Philister in Goethe’s Faust. Aber die Türkei lag gar zu weit hinten und noch weiter der Ruhm. Von Beiden konnten die Pariser nicht leben. Deshalb mußte die Industrieausstellung trotz aller ungünstigen Umstände gelingen und Mars auf der Krim sogar schweigen, um die nach Paris dampfenden Völker nicht zu stören. Nach der Ausstellung, der Friedensepisode, kamen Malakoff und Sebastopol, Napoleon in London und Victoria in Paris, und zwar am Grabe des großen Napoleon, dessen Nachkommenschaft Palmerston und Wellington auf ewige Zeiten aus Frankreich verbannt hatten, Victoria am Arme des Neffen neben der in Paris lebendig gewordenen Asche des großen Onkels.
Um kleinere lebende und sich auflösende Bilder zu übergehen, wurde nun Paris wieder durch den großen „Kriegsrath“ in Aufregung und Nahrung gesetzt. Kaum haben wir diesen in Holz geschnitten und zum Abdruck gebracht, lös’t sich der Kriegsrath in die große Friedensconferenz zu Paris auf, eine neue glänzende Saison für die Stadt der Freude und Desperation.
Da der Kriegsrath alle officiellen Hauptgrößen der alliirten Civilisation umfaßte, die auch in der Friedens-Conferenz wieder zum Vorschein kamen, ist es wohl nicht uninteressant, sie uns näher anzusehen. Blos neunzehn illustrirte Personen: des Kaisers Napoleon Majestät, Prinz Jerome Bonaparte, Prinz Napoleon, Herzog von Cambridge, Lord Cowley, Sir Edmund Lyons, Admiral Dundas, Sir Richard Airey, Sir Harry Jones, General della Marmora, Marschall Vaillant, Graf Walewski, General Canrobert, General Bosquet, General Niel, General Martimprey, Admiral Hamelin, Admiral de la Gravière und Admiral Penaud. Sie hielten ihre erste Sitzung am 10. Januar, seitdem mehrere, die zum Theil sehr lebhaft und stürmisch gewesen sein sollen, da sich eine äußerste Linke unter Prinz Napoleon und eine äußerste Rechte unter dem Herzog von Cambridge in die Haare gerathen sein sollen. Die äußerlichen Lebensschicksale des Präsidenten dieses Kriegsraths und der angehenden Friedensconferenzen in Paris, des Kaisers und Helden dieser Versammlung, setzen wir als bekannt voraus, zu dessen innerem Leben fehlt es bis jetzt noch an Material und Federkraft.
Prinz Jerome Bonaparte ist der jüngste Bruder des großen Napoleon, in Deutschland noch als „König von Westphalen“ im Andenken. Prinz Napoleon, dessen Sohn aus der zweiten Ehe mit einer Prinzessin von Würtemberg, war Republikaner nach der Februarrevolution, wohnte neuerdings in der Nähe des Kriegsschauplatzes, und steht deshalb in dem Rufe, etwas vom Kriege zu verstehen, über welchen er auch eine kritisch-verurtheilende Abhandlung schrieb.
Graf Walewski soll auch napoleonisches Blut, und zwar vom großen Napoleon, in seinen Adern haben. Ein Pole mütterlicher Seits, in Frankreich erzogen, nahm er Theil an der polnischen Insurrektion 1831, focht und blutete er für Polen und kam er nach England als Gesandter der revolutionären Regierung. Mitglied der „polnischen Association“, französischer Gesandter in England, Minister des Auswärtigen unter Napoleon - das sind einige äußerliche Andeutungen seines Charakters. Er gehört zu den Charakteren, die den jetzigen Napoleon unterstützten und tragen halfen, Persönlichkeiten, die erst später ordentlich geschildert werden können.
Der Herzog von Cambridge, „Alcibiades“ der Hocharistokratie Englands, unverheirathet, aber mit großem Interesse für das schöne Geschlecht, weniger für Kanonenmündungen, ging als Vertreter des königlichen Blutes von England hinüber. Er wurde 1819 in Hannover geboren, war eine Zeit lang im Glauben der Eingeweihten künftiger Gemahl der Königin Victoria und nahm bei der Alma und Inkerman eine commandirende Stelle ein, aus welcher ihn die Franzosen heraushauen mußten (sonst wäre die Schlacht an der Alma verloren gewesen). Wegen „Gesundheitsrücksichten“ kehrte er bald zurück, und lebt seitdem mit martialischem Aussehen friedlich unter höchsten Damen und Herren. Nur als der rothe Prinz Napoleon im Kriegsrathe die Wiederherstellung Polens verlangte, zog der Vertreter des constitutionellen Königsblutes von England das Schwert seiner Beredtsamkeit und loyalen Gesinnung und schlug den „Rath“ Napoleon’s, der noch lange nicht so aussah, als sollte er That werden.
Lord Cowley, berühmt als Enkel Wellington’s, ging hinüber, um an „Berathungen“ Theil zu nehmen; Admiräle Lyons und Dundas, um in marinirten Angelegenheiten mit ihren Erfahrungen zu nützen. Sir Richard Airey war Quartier-Meister der englischen Ostarmee, die bekanntlih ziemlich ein Jahr lang kein Quartier fand. Marschall Vaillant ist jetzt Kriegsminister in Frankreich, und Admiral de la Gravière Marineminister, General Martimprey, Chef des französischen Armee-Stabes auf der Krim, fungirte als Vertreter Pelissier’s. Admiral Hamelin commandirte, vor Bruat, die französische Flotte im schwarzen Meere und Penaud war voriges Jahr Kollege des Admiral Dundas auf der Ostsee.
General Niel und Sir Harry Jones waren Haupt-Confusionsräthe der Ingenieur-Operationen des Krieges. General Niel lobte den Sir Harry Jones wegen ausgezeichneter Dienste am - Redan, und Sir Harry Jones bedankte sich öffentlich bei General Niel für guten Rath bei der Vernichtung Bomarsunds, das aber noch steht.
Die Generäle Canrobert und Bosquet sind Busenfreunde des Kaisers, obgleich Letzterer ein hartnäckiger Republikaner sein [99] soll. Im Uebrigen sind sie unsern Lesern schon früher vorgestellt worden.
Was endlich General della Marmora betrifft, ist er jedenfalls der verdienstvollste Mann im ganzen Kriegsrathe, der deshalb auch am Wenigsten und im Friedensrathe gar nicht gehört wird. Sardinien ist von letzterem ausgeschlossen. Er schuf die neue sardinische Armee durch Mittel, die in England alle durchaus für unmöglich gelten, durch Absetzung und Pensionirung aller unfähigen, hochgebornen, alten Leute und Heranziehung junger, tüchtiger Talente aus allen Klassen, ohne Personen-, Klassen- und populäre Rücksichten zu nehmen. Wie ein Marmorblock, fest und gottvoll, führte er seinen Plan durch, der jetzt in einer Armee lebt und wirkt, welche der Trost und Trotz Sardiniens ist gegen äußere Drohungen und Gefahren. Im Innern vertrauen sie auf freie Bewegung, Gerechtigkeit und Humanität der Regierenden.
Das sind die Hauptpersönlichkeiten, welche den Kriegshelden unter Napoleon’s Direktion Rath geben sollten und jetzt durch einige neue Persönlichkeiten bereichert, den Friedenshoffnungen Europa’s Nahrung und Dessert besorgen sollen. Ob sie solide Nahrung produciren werden, solche, welche dem Kriegsgotte Mars auf eine gute, dauernde Zeit den brüllenden Kanonenmund stopfen mag, ob sie, wenn nicht das, ernsten, entscheidenden Krieg beschließen - das Alles sind Fragen, die man sehr frei hat an das Schicksal. Vorläufig sieht Europa, insofern es politisirt und Diplomatie- und Börsenschwindel treibt, aus, als litte es an einem stark zurückgetretenen Schnupfen.
Das Postamt in London ist die großartigste Anstalt dieser Art in der ganzen Welt. Im Jahre 1854 wurden durch dieselbe über 200 Millionen Briefe befördert. Der Generalpostmeister steht mit seinem Stabe an der Spitze von mehr als 20,000 Personen, die einander in die Hände arbeiten, wie in einer großen Fabrik.
Einige günstige Umstände machten mir es möglich, diese Wunderanstalt in voller Thätigkeit zu sehen, und ich will nun versuchen, Ihnen ein Bild davon zu entwerfen.
In dem „Büreau für das Inland“ geht es um die Mitte des Tages ziemlich still zu, denn es kommen um diese Zeit so wenige Briefe und Zeitungspackete an, daß nur einige Sekretaire und Sortirer beschäftigt sind. Die englische oder inländische Post nimmt aber 3035 Personen in London in Anspruch, nämlich: 1385 Briefträger (80 Mann mehr als das Sachsen-Coburg-Gotha'sche Bundescontingent); 498 Stadtbriefpostinhaber; 160 Sekretaire, welche die Geldsummen annehmen, die irgendwo im Lande ausgezahlt werden sollen; 992 Sekretaire für die Briefe, so wie Stempeler, Sortirer, Packer u. s. w.
Alle Briefe, die aus London abgesandt werden - gleichviel wohin sie bestimmt sind - gehen zu einer und derselben Stunde ab, nämlich Vormittags um neun und Abends um neun Uhr. Den Tag über sind fortwährend Leute beschäftigt, zu Fuß, zu Pferd, in Wagen Briefe aus den verschiedenen Briefannahmestellen in der Riesenstadt zusammenzuholen. Sogar die Zeitungspackete läßt die Post aus den Expeditionen holen. Sie schickt zu gewissen Stunden Wagen dahin, was den Zeitungsverlegern wie der Post selbst Mühe erspart. Da täglich etwa 150,000 Zeitungsnummern durch das londoner Postamt gehen und diese vier Fünftel der Postsendungen ausmachen, so verursacht das Sortiren und Packen ungeheure Arbeit, die man gern beseitigt, ehe das Sortiren, Stempeln und Packen der Briefe beginnt, das binnen zwei Stunden - von 6 bis 8 Uhr - geschehen muß.
Wenn sechs Uhr Nachmittags herankommt, nimmt die Zahl der Briefabgeber allmälig zu und mit jeder Viertelstunde wächst sie mächtiger an. Die Leute legen die Briefe nicht mehr gemächlich ein, sondern sie rennen an den Kasten und werfen die Briefe hastig hinein. Etwa dreiviertel auf Sechs kommen Männer mit Säcken voll; sie klopfen an einen hölzernen Schieber; ein Sekretair macht ein ganzes Fenster auf, nimmt einen Sack nach dem andern, schüttet ihn aus und wirft ihn hinaus. Kinder, alte Weiber und Handwerker drängen sich durch die Menge vor den Briefkasten, um auch einen Brief hineinzulegen. Innen herrscht unterdeß geschäftige Rührigkeit, die aber fern von Hast und Ueberstürzung bleibt. Anfangs fallen die Briefe einzeln herein, aber immer schneller und immer dichter folgen sie sich, bis es Briefe zu gießen scheint. Die Menge draußen und der Briefregen innen nimmt mit jeder Minute zu. Ein Sekretair an dem Fenster kann die Masse nicht mehr bewältigen; ein zweiter erscheint an einem zweiten Fenster u. s. w. Es fehlen jetzt nur noch drei Minuten an Sechs. Man steckt die Briefe und Packete nicht mehr herein, man wirft sie schon von Weitem durch das Fenster. - Immer noch schneller geht es, immer mehr Briefe kommen. Noch anderthalb Minute! Die Menge draußen drängt sich zu einem wirren Knäuel zusammen; Viele halten die Briefe fest in der Hand hoch empor, um sich dieselben nicht entreißen zu lassen. Noch dreißig Sekunden fehlen und die Menge wächst fortwährend. Ein Mädchen, das sich mit Todesverachtung vordrängt - wahrscheinlich um ein Briefchen an den Geliebten abzugeben - wird fast zerdrückt und schreit jämmerlich. Da schlägt es Sechs und Puff! werden alle Fenster auf einmal geschlossen.
Nur ein Briefkasten bleibt noch offen, über dem steht: „Frankirte Briefe, die eine Freimarke mehr haben und vor halb sieben Uhr hier eingelegt werden, gehen noch mit der heutigen Post ab.“ Andere Kasten sind für Briefe bestimmt, die nicht mit der nächsten Post abgehen sollen, und diese bleiben immer offen.
Jetzt wollen wir sehen, wie es innen zugeht.
An einem hohen Pult sitzt der Direktor, der von seinem Platze aus Alles übersehen kann. Zu unterst befinden sich die Sortirer und Stempler, beinahe 500. Von da, unter der breiten Halle hin, in welcher das Publikum die Briefe abgiebt, führt eine unterirdische Eisenbahn, auf welcher Briefe und Packete auf Karren zu dem gegenüber befindlichen londoner Stadtpostamt durch Dampf befördert werden. Die Dampfmaschine hebt aber auch durch eine besondere Vorrichtung die Zeitungen aus dem Erdgeschosse in das zweite Stockwerk des Gebäudes hinauf, wo sie, abgesondert von den Briefen, sortirt und gepackt werden. Wir lassen uns zuerst mit da hinaufziehen und sehen die Hunderte von Säcken mit Zeitungen, die von einigen hundert Personen geordnet werden. Von da lassen wir uns hinunter in das Stadtpostamt bringen, wo es von Leuten in rothen Röcken wimmelt, die roth angestrichene Karren fahren, aus welchen sie die Tausende von Briefen ausschütten, die aus den Stadtpostannahmestellen geholt worden sind.
Jeder Brief muß durch zehn bis vierzehn Hände gehen, und es ist ein Wunder, daß so wenige Irrthümer und Versehen vorkommen. Aus Körben werden die Briefe zuerst auf eine sehr große Tafel geschüttet, bis sie mehrere Fuß hoch darauf liegen. Funfzehn bis zwanzig Mann sind bei dem Aufschichten beschäftigt, die Briefe zu stellen, und zwar mit der Adresse nach der rechten Seite. Die großen Briefe und die unfrankirten werden in besondere Körbe geworfen, weil sie eine eigene Behandlung erfordern. Von der Tafel weg werden sie zu den Stemplern getragen, die so geübt sind, daß Einer in einer Stunde lesbar 7 bis 8000 Briefe stempelt. Die Stempel sind von leichtem Holze, weil diese die Hand weniger ermüden und die Schwärze besser halten als metallene. Einmaliges Schwärzen des Stempels reicht für zehn Briefe aus. Jeder Stempler zählt seine Briefe, und nach jedem Hundert drückt er seinen Stempel einmal auf einen Bogen Papier, der neben ihm liegt. Das Kissen, worauf das Stempeln erfolgt, besteht aus mehrern Tuchschichten und zieht sich über die ganze Tafel hin. Der Stempel mit Jahr und Datum wird auf die eine Briefseite gedrückt. Man hat aber noch einen andern, der aus Buchstaben oder aus Buchstaben und Zahlen besteht und jeden Tag geändert wird. Dieser Stempel wird auch täglich in ein Buch eingetragen, und Jahre vergehen, ehe einmal derselbe Geheimstempel wieder vorkommt. Er soll Betrügereien verhindern. - Poststempel und Freimarken werden nämlich nicht selten nachgemacht als Zeugnisse bei wichtigen Prozessen. Hat nun der Fälscher nicht zufällig ein Briefcouvert genau von dem Tage, an dem sein nachgemachter Brief abgegangen sein soll, so kann er nicht wissen, welchen Geheimstempel die Post gerade an diesem Tage [100] brauchte. Fehlt dieser Stempel oder ist er falsch, so erkennt man sofort den Betrug.
Sind die Briefe gestempelt und gezählt, so gelangen sie zu den Sekretären, die nachzusehen haben, ob sie genug Marken zum Frankiren haben. Es geschieht dies mit bewundernswürdiger Geschwindigkeit, und auf jeden Brief, der nicht richtig frankirt ist, wird das Strafgeld notirt. Die richtig befundenen wandern zu Andern, welche einen Stempel auf die Freimarken drücken.
Das Nächste ist das Sortiren. Die Briefe kommen auf große Tafeln, welche Abtheilungen haben mit Aufschriften, meist von Eisenbahnen, z. B. Great Western, Southeastern etc., und in jede dieser Abtheilungen legt man die Briefe, welche auf der bezeichneten Eisenbahn befördert werden sollen. Eine andere Abtheilung heißt „Schottland,“ eine andere „Irland“ eine andere „Ausland,“ in welche die für Schottland, oder Irland oder das Ausland bestimmten Briefe kommen.
Es giebt aber auch blinde Briefe, d. s. Briefe, auf denen die Adresse nicht sofort gelesen werden kann. Diese wandern zu dem blinden Mann, der die Kunst versteht, die unlesbaren Adressen zu entziffern und dann den richtigen Namen darauf schreibt. Die „blinden Männer“ gehören zu den wichtigsten Personen in der Postanstalt, und es giebt wenige Adressen, die auch von ihnen nicht entziffert werden können. Sie leisten in der That Unglaubliches. Es kommt z. B. ein Brief mit der Adresse „Sromfredevi,“ und nach einigem Nachdenken schreibt „der Blinde“ die richtige Adresse: „Sir Humphrey Davy.“ Auf einem andern steht: „Jonsmeet ne Weasal pin Tin.“ Was soll das heißen? Nichts anderes als John Smith, Newcastle upon Tyne. Kommen Briefe an Geistliche, Aerzte, Adelige, adressirt: „Auf dem Lande,“ „in der Stadt,“ ohne Angabe des Namens des Dorfes oder der Stadt, so werden die Verzeichnisse der Geistlichen, Aerzte etc. im Lande nachgeschlagen, die „der Blinde“ immer neben sich hat, der Name des Adressaten aufgesucht und der Name des Wohnorts zugeschrieben.
Uebrigens ist mir bekannt, daß auch in dem Postamte zu Leipzig ein ähnlicher Wundermann beschäftigt ist, der es durch seine außerordentlichen Local-, Namen- und Personalkenntnisse möglich macht, in den Messen die eingehenden Briefe an die Unzahl der Levi, Simon, Itzig und Meier aus dem Volke Israel in den verborgensten Winkeln des Brühls an den rechten Mann zu bringen.
Nach den Abtheilungen nach Eisenbahnen, Ländern etc., werden die Briefe weiter sortirt; erstens z. B. nach den Zweigbahnen, die von der Haupteisenbahn abgehen; zweitens nach Bezirken, und endlich nach den einzelnen Städten. Die nicht weiter zu sortirenden werden dann in besondere Beutel oder Säcke gepackt. Dadurch daß man die nicht frankirten und die großen amtlichen Schreiben von den andern Briefen sonderte, kann man die letzteren viel schneller und sicherer handhaben.
Es rückt nun die achte Stunde heran, und die Arbeiter alle eilen mehr und mehr, um fertig zu werden, denn um acht Uhr gehen die Wagen nach den Bahnhöfen ab. Das Letzte ist das Verpacken in Beutel oder Säcke. Die recommandirten Briefe begleitet ein Verzeichniß, und an jeden Postmeister geht die Angabe der Summe mit, welche das Briefgeld für die unfrankirten Briefe beträgt, die er erhält. Für diese Summe wird er von dem londoner Postamte belastet.
Mit dem Schlage acht Uhr klopft der die Aufsicht führende Director mit seinem Hammer, und der letzte Briefbeutel muß fertig sein, denn die Zeit ist abgelaufen. Bisweilen werden bis siebzehn Wagen, mit Briefen und Zeitungen beladen, nach den Bahnhöfen gesandt. Es sind diese sogenannten „Eilwagen“ große Omnibusse, die früh zugleich die Briefträger mit auf ihre Stationen nehmen.
An dem Abende, an welchem wir eben zusahen, wurden, wie uns der Director mittheilte, 216,457 Briefe abgesandt.
Im Durchschnitt beträgt eine solche Abendpostsendung in London dem Gewicht nach:
- 220 Centner Zeitungen,
- 27 „ Briefe,
- 6 „ Bücher,
- 27 „ die Säcke oder Beutel.
Die Frühpost ist meist nur ein Viertel so stark wie die Abendpost. Im Durchschnitt aber werden täglich von London 267,521 Briefe abgesandt, während täglich 283,225 ankommen.
London versendet im Jahre etwa 54 Millionen Zeitungsblätter. Für jedes muß ein Penny (1 Ngr.) Porto bezahlt werden. Häufig versucht man, solche Zeitungsblätter unter Kreuzband zu legen, um dem Empfänger ein paar Worte mit zu schreiben. Das ist aber verboten und kostet Strafe - 4 Pence (4 Ngr.) für je zwei Loth Gewicht der Zeitung. Da nun die englischen Zeitungen bekanntlich groß und auf starkem Papier gedruckt sind, so wiegt eine Nummer gewöhnlich 4-6 Loth, und das Strafporto kommt also ziemlich hoch.
Die Hutfabrikation in London. Der Gebrauch des Hutes ist bekanntlich unter den Engländern aller Klassen und Lebensalter ein ganz allgemeiner; ein Engländer ohne Hut ist auf seiner Insel eine Unmöglichkeit, und wenn er als Tourist auf dem Festlande diesem Gebrauche bisweilen untreu wird und eine steife Zeugmütze aufsetzt, vielleicht sich dazu gar noch einen Schnurrbart wachsen läßt, so ist mit Sicherheit vorherzusagen, daß das Eine wie das Andere dem Opfertode verfallen ist, so wie er sein heimathliches Gestade wieder betreten will.
Die Fabrikation der Hüte bildet daher in England einen der wichtigsten Geschäftszweige. Man rechnet, daß gegen 60,000 Menschen dabei Beschäftigung finden, und der Werth der alljährlich erzeugten Fabrikate sich auf drei Millionen Pfund Sterl. beläuft, Die Filz- und Castorhüte werden namentlich in Derbyshire und Glocestershire gearbeitet und roh nach London versandt, wo sie geformt und staffirt werden; Seidenhüte liefern namentlich London, Manchester, Liverpool, Birmingham und Glasgow jährlich etwa drei Millionen Stück.
Die Hüte werden dort wie bei uns theils im Ganzen gefilzt, theils mittelst Unterlage und Plüschüberzug hergestellt. Zur Anwendung kommen die Haare der angorischen Ziege, des peruanischen Schafes, Lama’s, Bibers etc., vor allem aber Kaninchenhaare in großer Masse und außerordentlicher Feinheit. Dort trifft man häufig Kaninchenzuchtanstalten, deren Gehöfte aus Gärten, mit Mauern umschlossen, und in einer solchen Ausdehnung zum Vortheil des Gutsherrn ausgebeutet werden, daß der Pächter einer solchen Anstalt zuweilen 1500 bis 2000 Pfund Sterling jährlichen Pacht zahlt.
Die Engländer legen großen Werth darauf, daß der Hut möglichst leicht sei. Man sieht darum an den Schaufenstern der londoner Hutläden Waagen angebracht, auf deren einer Schale der Hut, auf der andern das Gewicht liegt. Hierin besteht nun ein großer Wettkampf. Liefert der Eine Hüte zu 12, 11 oder 10 Loth, so hat sie sein Nachbar zu 9, 8 bis 41/2 Loth Gewicht. Fort und fort sinnen die Hutfabrikanten darauf, wie sie ihre Waare immer leichter, und zugleich dauerhaft und wohlfeil liefern können. Man macht die Hutgestelle, welche mit dem Plüsch überzogen werden, aus Pappe, Kattun, Pferdehaarzeug, dünnen Korkplatten etc. Die Korkblätter sind so dünn wie Schreibpapier geschnitten und erhalten der bessern Haltbarkeit wegen einen Ueberzug von feiner in Kautschuk getränkter Gaze.
Nächst der Leichtigkeit verlangt man von dem Hute auch noch Wasserdichtheit und besonders Luftdurchzug. Der kaltblütige Engländer hält die Ansammluug von erwärmter Luft im Innern des Hutes meist für schädlich und hält daher große Stücke auf seine ventilating hats. Zur Erzeugung der Luftcirculation sind eine Menge Einrichtungen ersonnen worden; der Eine wählte seine Unterlage darnach, wie die Roßhaar- oder spitzenzgrundartigen gesteiften Zeuge, ein Anderer brachte eine Drehscheibe oder Klappe im Hutboden an, ein Dritter versteckte feine Röhrchen in die Wandung des Hutes, deren Außenmündungen durch die überliegenden Haare verdeckt wurden u. s. w. Als eine weitere Verbesserung soll es gelten, daß der Kranz des Hutes, der am Kopf anschließt, aus einem Kautschukstreifen besteht; ein solcher Hut soll sich dicht an den Kopf anschließen, ohne zu drücken.
„Aus der Fremde“ Nr. 7 enthält:
Leiden und Abenteuer einer jungen Frau. - Ein amerikanischer Philosoph. (Mit Abbildung.) - Die New-Yorker „beste Gesellschaft" (Schluß). - Aus allen Reichen: Bowring über den Kindermord in China. - Gesetzumgehung.
- ↑ Man hat behauptet, daß wissenschaftliche Streite und auch der Streit über Homöopathie und Allopathie nicht vor das größere Publikum, sondern in wissenschaftliche Schriften gehörten. Dagegen ist aber zu erinnern, daß bei der Homöopathie, die ja von Personen jedes Standes und Geschlechtes ohne alle wissenschaftliche Vorbildung in kurzer Zeit erlernt wird, durchaus nicht von Wissenschaft die Rede sein kann, sondern blos von Täuschung und über diese ist nur das große Publikum aufzuklären, nicht aber durch die Wissenschaft längst aufgeklärte Mediciner.