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Die Gartenlaube (1856)/Heft 6

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Textdaten
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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ferdinand Stolle
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Entstehungsdatum: 1856
Erscheinungsdatum: 1856
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[69]
Blind und doch sehend.
Von Elfried von Taura.[1]
I.
Ein junger Arzt.

Hat so ein Jünger Aeskulap’s seine Medicin „durchaus studirt mit heißem Bemühen“ und zwar nicht blos als eine „melkende Kuh, die ihn mit Milch und Butter versorgt,“ sondern aus warmer Begeisterung für den ärztlichen Beruf, und tritt er nun in das Leben hinaus – mit welchen hochherzigen Träumen begrüßt er den Ort, den er sich zum Wirkungskreis erkor! Wie sieht er sich im Geiste schon als rettender Engel walten in den Häusern der Preßhaften und Elenden! Und sein Busen schwillt höher als je von Begeisterung für seinen edlen Beruf. Aber nur zu oft ist dieses Busenschwellen an der Schwelle seines Wirkungskreises sein letztes Glück, und eine fürchterliche Wirklichkeit voll Sorge, fruchtloser Mühe und fehlgeschlagener Hoffnungen läßt ihn ferner zu keinem freudigen Aufathmen kommen.

So erging es dem jungen Doktor Rudolf Grimm, der vor etwa zehn Jahren aus der luftigen Kaiserstadt an der Donau, wo er nach bereits bestandenem Staatsexamen noch einen praktischen Cursus in den dortigen berühmten klinischen Anstalten gemacht hatte, heimkehrte in seine Vaterstadt, einen großen nordostdeutschen See- und Handelsplatz, um da seine Laufbahn als prakticirender Arzt zu beginnen. Im Bewußtsein seiner Tüchtigkeit fühlte er sich zu der Hoffnung berechtigt, bald eine Praxis zu gewinnen, die ihm wenigstens ein bescheidenes Auskommen gewährte. Ganz und gar an seine Wissenschaft hingegeben, war er der Welt fremd geblieben und wußte daher nicht, daß dem Arzte seine Tüchtigkeit allein noch nicht zu einer Praxis verhelfe, daß er dazu, namentlich in einer Großstadt, eben so sehr der Empfehlung als der äußern Repräsentation, oder doch einer besonderen Gunst der launenhaften Glücksgöttin bedürfe. Rudolf aber war arm und in seiner Vaterstadt unbekannt. Seine Aeltern, „dunkle Ehrenleute,“ waren längst todt, und seine einzige noch lebende Verwandte, seines Vaters Schwester, war zwar eine reiche, kinderlose Wittwe, aber gänzlich mit ihm entzweit, seit er wider ihren Willen von der Theologie sich der Medicin zugewendet hatte. Früher hatte sie den verwaisten Jüngling nothdürftig unterstützt, von jenem Wechsel an aber ihre Hand völlig von ihm abgezogen. Nur eine kleine Erbschaft, die ihm gerade zugefallen war, hatte es ihm möglich gemacht, seine Studien fortzusetzen; dieselbe war aber auch fast Null für Null dabei aufgegangen.

Daß in der Töpferstraße Nr. 8 ein neuer Doktor eingezogen, war zwar auf dem runden Messingtäfelchen zur Seite der Hausthür unter dem Nachtklingelzuge zu lesen, und das Intelligenzblatt verkündete es auch männiglich im Weichbilde der Stadt. Aber wer nahm Notiz davon? Hätte Rudolf sich nur auf etwas Charlatanerie verstanden, hätte er z. B. auf sein ehrliches Gesicht und seinen Titel sich eine zierliche Equipage geborgt und wäre damit durch die Straßen gerasselt, als hinge das Leben von fünfzig Kranken an seinem Erscheinen, so würde er nicht lange auf gute Kundschaft zu warten gebraucht haben. Aber er war ein so grundehrliches Blut, daß er selbst vor der unschuldigsten Anwendung des „mundus vult decipi“ zurückbebte. So kam es, daß er ein halbes Jahr nach seiner Niederlassung außer einigen Armen, deren Honorar ein vergelt’s Gott war, nicht einen Patienten hatte. Dabei hatte er nicht nur seine Kasse wie seinen Kredit erschöpft, sondern auch, um nur sein Leben zu fristen, ein Kleidungsstück nach dem andern versetzt, und zuletzt sogar seinen kostbaren Schatz, seine Instrumente, die ihm in Wien baare dreihundert Gulden gekostet, zum Leihjuden schaffen müssen, um seine Miethe bezahlen zu können.

Es war wenig Tage nach diesem für ihn so traurigen Akt, als er gegen Mittag hungrig vor seinem Koffer knieete, und nach etwas Versetzbarem suchte, damit er nicht eines seiner theuren Bücher zum Antiquar tragen müßte, um sich eine Mahlzeit zu erzeugen. Da fiel ihm ein alter Schlüssel in die Hand. Obgleich dies kein Gegenstand war, der ihm helfen konnte, so behielt er ihn doch lange in der Hand und betrachtete ihn. Es war der Schlüssel zu seinem Vaterhause, das sich im Besitz seiner Tante befand und wo er ein Ausgestoßener war. Er hatte sich ihn als Gymnasiast, da er noch bei der Tante gewohnt, machen lassen, weil sie das Haus Tag und Nacht verschlossen hielt. Voll herber Erinnerungen wog er ihn noch in seiner Hand, als die Thür aufgerissen wurde. Den Schlüssel in den Koffer werfend, sprang er auf, um in die ausgebreiteten Arme eines jungen Mannes zu fliegen, dessen ganze äußere Erscheinung einen Künstler verrieth.

„Adolf, Du hier?“ rief der Doktor.

„Freilich, mein Junge“ – war die Antwort- „freilich bin ich auch einmal in’s heimathliche Nest geflogen. Donna Roma wollte mich lange nicht aus dem Garn lassen, aber endlich siegte Mutter Germania mit Hülfe einer blauäugigen Maid, die von der berliner Schloßfreiheit aus das Zaubernetz der Tiber-Circe so lange bearbeitete, bis keine Masche daran mehr ganz war. Seit zwei Monaten hab’ ich mich bei Sauerkraut und Pellkartoffeln wieder mit dem vaterländischen Fortschritt im Sande au fait gesetzt, und seit vierzehn Tagen tret’ ich mit besonnenem Fortschritt das vaterländische [70] Pflaster. Hatte keine Ahnung davon, daß Du hier wärest; ein Geschäft, das ich mit einem in der Nähe wohnenden krautschüssigen Sohn Albions habe, führte mich an diesem Hause vorüber, und ein Blick auf Dein blankes Schild sagte mir, daß Du hier wohntest. – Nun sag’, wie geht es Dir?“

Rudolf erzählte dem Jugendfreunde Alles.

„Armer, armer Junge!“ rief Adolf, als der Erzähler schloß, „Du siehst wahrhaftig aus wie das Hungerleiden von Irland. Das Versetzen oder Bücherverklopfen steck’ einmal vor der Hand auf mit Baarem kann ich Dir im Augenblicke zwar auch nicht helfen, aber glücklicherweise hab’ ich unbeschränkten Kredit bei der Mutter Brummeisen an der Schifferallee. Dort kannst Du Dich mit mir atzen. Komm!“

Rudolf, schon zum Ausgehen fertig; folgte. Sein fadenscheiniger Anzug erregte Adolf’s Bedauern von Neuem. „Ein so grundgescheidter Junge wie Du,“ sagte er, „sollte ganz anders floriren. Sag’ einmal, hast Du Dein Glück nicht bei denen Weiblein versucht? Hast nicht beherzigt, was Meister Mephisto Deiner Gilde empfiehlt? „Besonders lernt die Weiber führen!“ Hast nicht gelernt „das Pülslein wohl zu drücken“ et cetera, et cetera?“

„Mir ist das Weib zu ehrwürdig für solch loses Spiel!“

„Ei! volenti non fit injuria – aber nun sage mir Einer, die Beschäftigung mit den naturalibus mache hartfühlig! Weiter als Du Naturalist kann ja eine jungromantische Nachdichterseele, die im gottseligen Abscheu vor Allem, was Fleisch heißt, allerzartest erstirbt, das Zartgefühl nicht treiben wie Du. A propos – hast Du noch kein Liebchen, keine Braut?“

Rudolf verneinte.

„Auch nicht gehabt?“

Rudolf verneinte wieder und fügte hinzu: „Bis jetzt hab’ ich meine Liebe ganz meiner Wissenschaft gewidmet. Und in meiner Lage ist es auch ein Glück; daß ich kein anderes Wesen an mein Geschick gefesselt.“

„Wer weiß, ob das ein Glück ist,“ versetzte Adolf; „vielleicht hätte Dir so ein liebes, blondes oder braunes Lockenköpfchen längst auf die rechten Sprünge geholfen. Du bist – nimm mir’s nicht übel – bei Deinem vielen Studiren ohne Wein und Mädchen doch ein wenig geworden, was man ein gelehrtes Rhinozeros nennt. Und darin liegt zum Theil Dein Unglück. Die Liebe würde Dich emanzipirt, ein feines Liebchen Dich aus der Pelle der Pedanterie herausgeschält und außerdem mit manchem Stück Societätsphilosophie ausgerüstet haben. Ein rechtes Weib geht und steht viel sicherer in der Gesellschaft als Unsereiner – ich wollt’, ich könnte Dich heute noch verliebt machen.“

„Damit mein Elend vollends den Boden verlöre“ – sagte Rudolf – „nein, Freund, ich habe schon meinen Entschluß gefaßt, in Kurzem geht ein Wallfischfänger nach den arktischen Gewässern ab, da will ich als Schiffsarzt mit.“

Adolf blieb stehen und sah den Freund mit großen Augen an. Dann sagte er: „Komm geschwind; daß Du eine Hammelkeule in den Magen bekommst; denn nur der Hunger konnte Dir einen solchen Seehundsgedanken eingeben!“

Damit zog er den Muthlosen rascher mit sich fort. Bald erreichten sie den Hafendamm; von welchem eine schattige Allee zu einem freundlichen Häuschen führte, das den Hungernden würzigen Speidenduft entgegen sandte.

Freundlicher, als ihr Name klang, war der Empfang, welchen die Eigenthümerin dieses meist von Schiffern besuchten Kaffee- und Speisehaufes den beiden jungen Männern angedeihen ließ. Sie brachte sie nicht im Schwarm der gewöhnlichen Gäste unter, sondern in ihrem Privatstübchen, wo sie ungestört einander ihre Herzen erschließen konnten. Nachdem Adolf seinen „Römerzug“ erzählt hatte, berichtete er, daß er auch gänzlich „abgebrannt“ in der Heimath angekommen sei, aber bei der Mutter Brummeisen, die er schon früher gekannt, gastliche Aufnahme gefunden habe. Auch hoffe er nächstens in Bezug auf Geldmittel wieder flott zu werden, da ein Bild, das er in Rom gemalt, an einem Engländer, der sich zur Zeit hier aufhalte, einen Liebhaber gefunden, von dem er jeden Tag einer bestimmten Erklärung entgegensehe.

„Kauft das Beefsteak,“ schloß er, „so ist uns Beiden geholfen; die Mutter Brummeisen wird bezahlt, und Du erhältst so viel, daß Du einen neuen äußern Menschen anlegen und vor allen Dingen Deine Instrumente wieder einlösen kannst. Denn wenn Dir der Himmel jetzt eine große Operation zuwiese, durch die Du Ruf und Glück begründen könntest, Du müßtest die Gelegenheit ungenützt vorübergehen lassen.“

„Freilich“ – sagte Rudolf – „aber was wollte ich thun, wenn ich nicht an die Luft gesetzt sein wollte?“

„Zum Henker! da fällt mir ein, daß Du eine reiche Tante in der Stadt hast,“ entgegnete Adolf, „warum hast Du Dich nicht an die gewendet?“

„Hast Du vergessen, daß sie vom Geizteufel besessen und übrigens mit mir gänzlich zerfallen ist, seit ich umgesattelt habe? Ihr Haus ist mir verboten.“

„Und ist doch Dein Vaterhaus – Deinem Vater in der Bedrängniß abgeluxt um ein Lumpengeld – von Rechtswegen ist sie Deine Schuldnerin, die alte Hexe!“

Jetzt trat die Wirthin ein und sagte zu dem Maler: „Sputen Sie sich, Herr Walter, der alte Graubart ist heute recht zeitig da mit seinem Engel – ich habe im Gartenstübchen schon einen Tisch zurecht gestellt und Ihre Mappe liegt auch da. Aber lassen Sie sich ja nichts merken, daß Sie das Kind abkonterfeien.“

„Seien Sie unbesorgt, Mutter,“ erwiederte Adolf, sich erhebend, „durch mich sollen Sie nicht um Ihren Kunden kommen. Da Du auch satt bist, Rudolf, so komm mit; Du sollst etwas sehen, was – doch ich will die Wirkung auf Dein Fischblut abwarten.“ Und er führte ihn in ein anstoßendes Gemach; das mit einem freundlichen Garten in Verbindung stand, der unmittelbar an den Hafen grenzte. Ehe sie sich den hohen Fenstern näherten, sagte Adolf: „Nun thu’ mir den Gefallen, setz’ Dich so, daß Du meine Arbeit verdeckst, Steck’ Dir eine Cigarre an und schau gelegentlich, aber nicht unverwandt, nach dem Paare hinüber, das uns schräg gegenüber unter den Akazien beim Kaffee sitzen wird.“

Als Rudolf dieser Weisung zufolge zwischen Tisch und Fenster Platz genommen und seine Cigarre angesteckt hatte, ließ er seine Blicke hinausschweifen – aber er hätte fast vergessen der Weisung weiter zu folgen, denn er fühlte seine Augen von der Gestalt, an der sein Freund alsbald zu zeichnen begann, unwiderstehlich gefesselt. An der Seite eines Greises in silberweißem Haupt- und Barthaar saß da ein Frauenbild von so zarter Lieblichkeit und überquellender Lebensfülle, daß ihm war, als blühete und glühete es ihm unmittelbar in die innerste Seele hinein. Adolf mußte ihm einen Stich mit dem spitzen Bleistift geben; daß er sich der ertheilten Warnung erinnerte.

„Um Gott – Adolf“ – stammelte Rudolf erröthend „wer ist das himmlische Wesen?“

„Geduld, Freund – jetzt laß mich zeichnen und genieße vorsichtig den reizenden Anblick; hernach sag’ ich Dir Alles.“

Der Kleidung nach gehörten die beiden Kaffeegäste dem wohlhabenden Bürgerstande an, wiewohl das eiserne Kreuz auf der Brust und das martialische Gepräge in Miene und Haltung des Greises den alten Soldaten verrieth. Mit einer außerordentlichen Zärtlichkeit schien er an seiner jugendlichen Begleiterin zu hängen, denn er wendete fast kein Auge von ihr; schenkte ihr den Kaffee ein, versüßte ihn, legte ihr Kuchen vor und war sorglichst bemüht, lästige Zweiflügler und selbst die heißen Sonnenstrahlen von ihrem Gesicht abzuhalten. Mit immer größerer Erregung mußte Rudolf das anmuthige Wesen betrachten; immer und immer wieder stahl sich sein Blick zu ihr hinüber und kehrte trunken zu der entstehenden Skizze des Freundes zurück. Auf einmal trübte sich seine entzückte Miene, und er rief erblassend: „O Gott! o Gott!“

Eben war Adolf mit seiner Zeichnung fertig und legte sie Jenem mit der Frage vor: „Ist sie getroffen?“

„Vollkommen – kein Zug verfehlt“ – bezeugte Rudolf – „aber ich bin erschrocken, daß mir das Blut in den Adern starrt – das herrliche Geschöpf ist ja blind!“

„Leider!“ bestätigte Adolf; „es ist, als habe es die Natur gereut, ein allzu vollkommenes Werk geschaffen zu haben, und sie habe durch das Erblindenlassen ihr Versehen wieder gut machen wollen. Aber Du hast es sogleich erkannt, daß sie blind ist, obschon ihre tiefblauen Augen, aus dieser Entfernung gesehen, völlig gesund zu sein scheinen?“

„Ich müßte nicht die Augenheilkunde zu meinem Lieblingsstudium gemacht haben, wenn ich das nicht erkennen wollte.“ sagte Rudolf. „Ich wollte eine Staaroperation im Finstern vornehmen, so genau habe ich das menschliche Auge studirt. Doch nun gieb mir endlich Auskunft über das unsäglich holde und doch so unglückliche Geschöpf.“

[71] Adolf berichtete: „Es ist die Tochter des Alten, und dieser ist Verwalter des Criminalgefängnisses. Ein alter Soldat von unzugänglichem Wesen, gegen alle Welt mißtrauisch und verschlossen, nur gegen seine Tochter – und seine Gefangenen nicht. Während er sich gegen die freie Gesellschaft absperrt, soll er gegen die seiner Obhut Befohlenen bei aller Pflichttreue die Menschenfreundlichkeit selbst sein, ja, man sagt, er nenne die Gefangenen seine Kinder, welche der liebe Gott der Stiefmutter Welt abgenommen und an sein Herz gelegt habe. Außer seinem traurigen Gebiete sieht man ihn wenig, dieser Garten ist der einzige öffentliche Ort, den er im Sommer wöchentlich ein paar Mal, und immer im Geleite seiner Tochter besucht. Hier sah ich beide vor acht Tagen zum ersten Mal, und war nicht weniger wie Du frappirt von dem Anblick dieser Mädchengestalt, Ich erfuhr erst hinterher ihr trauriges Loos, das sie aber kaum zu fühlen scheint, obschon sie erst in ihrem achten Jahre nach einer Krankheit erblindet ist. Ihrer Mutter schon vorher beraubt, soll sie von ihrem Vater mit der rührendsten Sorgfalt erzogen, später mehrere Jahre dem trefflichen dresdener Blindeninstitut anvertraut worden, und aus demselben vor zwei Jahren mit für ihren Zustand wunderbaren Fertigkeiten, namentlich in der Musik, heimgekehrt und seitdem der Abgott ihres Vaters sein. Du kannst Dir denken, daß mein Wohlgefallen an dem reizenden Wesen ein rein künstlerisches ist, da ich mein Bräutchen in Berlin über Alles liebe und es heimzuführen gedenke, sobald ich zu Federn komme. Aber ich konnte doch eine Nacht kaum schlafen vor Begierde, diese Gestalt in meiner Mappe zu haben. Bei der Liebe, die der Vater zu seinem Kinde hegt, dachte ich, müßte ihm ein Gefallen geschehen, wenn es ihm umsonst gemalt würde; ich ging daher zu ihm – aber es fehlte wenig, so hätte er mich zur Thür hinausgeworfen. Ich mußte unverrichteter Sache abziehen und mich mit diesem Diebstahl behelfen.“

Jetzt erhob sich der Greis mit seiner Tochter und verließ Arm in Arm mit ihr den Garten. Dem jungen Arzte war, als dürfe er die schöne Unglückliche nicht mehr aus den Augen lassen, als müsse er ihr auf dem Fuße folgen und sie aus ihrer Nacht erlösen – und doch stand er wie eingewurzelt da, während sein Freund die Wirthin citirte und sie seinen gelungenen Raub bewundern ließ. Darüber merkten alle Drei nicht, wie ein Polizeisergeant sich einen Moment hinter dem dichten Robiniengebüsch vorbeugte, vor dem der Gefängnißverwalter mit seiner Tochter gesessen.

„Aber nun, Mutter, einen rechten Kaffee!“ sagte Adolf, die Wirthin auf die fette Schulter klopfend – „und bringen Sie ihn in den Garten.“

Bald saßen die Freunde unter den schattigen Akazien, Rudolf genau auf dem Platze, den Clelia, so hieß die Blinde, innegehabt hatte.

„Meine Instrumente! meine Instrumente!“ seufzte er auf einmal auf. „Ich hätte lieber mich sollen auf die Straße setzen lassen, als die versetzen!“

„Nur Geduld!“ ermunterte Adolf; „es ist nun einmal geschehen, und über lang oder kurz muß bei mir doch so viel werden, sie einlösen zu können.“

„Ach! das ist immer eine ungewisse Aussicht – wer weiß, wenn der bequeme Englishman sich besinnt – und mich jammert jede Minute, die ich dies holde Wesen mir in Nacht umherwandelnd denken muß.“

„Jetzt verstehe ich Dich erst – Du willst sie wohl operiren?“ „Freilich! Sonst möchten die Instrumente meinetwegen alle semitischen Sprachen lernen und Sanskrit dazu. Zur Fahrt auf den Wallfischfang brauche ich so kostbare Werkzeuge nicht. Es hülft nun doch nichts – ich muß in den sauern Apfel beißen, muß zu meiner Tante gehen –“

„Willst Du nicht erst noch ein paar Tage warten? Der Lord Bullock muß sich doch nächstens erklären –“

„Nein, nein!“ rief Rudolf heftig; „was Du thun willst, thue gleich! heißt des Arztes goldene Regel. Ein Arzt darf nie auf morgen verschieben, was heute gethan werden könnte, wenn es gilt, einem Leidenden zu helfen. Es steht fest, ich gehe zu meiner Tante – das geizige Weib verbirgt Nachts hundert Mal mehr Geld unter ihrem Kopfkissen, als ich bedarf, um zwei Menschen glücklich zu machen.“

„Ich will Dich nicht zurückhalten – versuche Dein Glück – aber wenn es fehlschlägt, so werde nicht muthlos, verzweifle nicht –“

„Es darf nicht fehlschlagen; ich gehe der Alten nicht eher vom Halse, bis sie etwas herausrückt von Dem, was sie meinem Vater abgeschwindelt –“

„Du bist ja auf einmal ganz umgewandelt – aber recht so! Geh’ dem Satansknochen zu Leibe – wie ich glaube, spielt sie die Fromme, da mal’ ihr à la Michel Angelo das jüngste Gericht an die Wand, daß ihr wird wie lauter Heulen und Zähneklappern –“

„Laß mich nur machen – ich will ihr schon zusetzen – wie ich Dir sage: ich verlasse ihre Schwelle nicht, bis ich sie um die nöthigen Thaler ärmer gemacht. Ich weiß schon ein Mittel, sie mürbe zu machen – die alte Heuchlerin hat eine heillose Furcht vor dem Tode – und den Tod will ich sie leibhaftig sehen lassen, wenn sie nicht gutwillig giebt!“

In diesem Augenblicke brachte Frau Brummeisen den Kaffee. Auf Adolf’s Einladung setzte sie sich zu den beiden Freunden und plauderte mit ihnen, wobei Rudolf noch Manches über die Lebensweise des alten Gefängnißverwalters und seiner Tochter erfuhr, was ihn nur in dem Verlangen bestärkte, die Blinde von ihrem Leiden zu befreien.

Eine halbe Stunde später verließen die Freunde den gastlichen Ort. Bald nach ihnen schlich auch der Polizeisergeant sich aus seinem Versteck hervor und folgte ihnen von fern nach.


II.
Der Mord.

Mit einer Entschlossenheit, die von seinem vorigen Kleinmuthe gewaltig abstach, wandte Rudolf nach der Trennung von Adolf seine Schritte dem Hause seiner Tante zu, das in der stillen und entlegenen „Schmiedegasse“ lag. Die alleinstehende alte Frau wollte, als sie auf sein Klopfen zum Fenster heraussah, ihren Neffen von da aus kurz abfertigen; aber ihre Neugier kennend, gab er vor, ihr wichtige Neuigkeiten zu bringen und verschaffte sich dadurch Einlaß: Er fand sie in Gesellschaft einer jungen Frau, ihrer Pathe. Dieselbe hatte ihren eigenen Hausstand in einer andern Straße, versah aber bei der Alten die Stelle einer Aufwärterin umsonst – aus Anhänglichkeit, wie sie vorgab, in Wahrheit aber, in der Hoffnung, sie zu beerben. Rudolf wußte die Neugier seiner Tante durch diese und jene Tagesneuigkeit zu befriedigen, und als endlich die junge Frau sich entfernte, um nach ihrem kranken Kinde zu sehen, rückte er gerade auf sein Ziel los. Aber wie fein er auch seine Bitte einkleidete, welche rührende Vorstellungen er auch machte – er erreichte nichts als das Anerbieten eines Almosens von einem Thaler, Entrüstet schlug er es aus, und die Rückkehr der Wartefrau verhinderte ihn, weiter in die geizige Alte zu dringen.

Hülflos wie er gekommen, ging er und nahm unwillkürlich seinen Weg nach dem Criminalgefängniß. Hier trat das durch die widrige Verhandlung mit der Tante getrübte Bild der Blinden wieder in seiner ganzen Reinheit hervor. Er hatte schon die Hand an den Klingelzug gelegt, um Einlaß zu begehren, damit er sofort eine Untersuchung der in Nacht gehüllten Augen vornähme, aber er besann sich, wie wenig er in der Lage sei, dem ihm als so mißtrauisch dargestellten Gefängnißbeamten sich als kundigen Arzt zu legitimiren, dem ein so schwieriges Werk anzuvertrauen war. Er ließ die Klingel ungezogen und entfernte sich mit dem Entschlusse, am Abend, wenn seine Tante wieder allein sein würde, sie noch einmal aufzusuchen, Ihm fiel wohl ein, daß sie ihm dann die Hausthür gar nicht öffnen würde, aber er besann sich auch, daß er im Besitze eines Schlüssels dazu war. Mit dessen Hülfe beschloß er, sie zu überraschen, und hoffte, sie unter dem Einflusse nächtiger Furcht fügsamer zu finden als am Tage.

Der Abend war hereingebrochen, und Rudolf’s Tante hatte sich eben von ihrer Aufwärterin ihre erste Abendandacht vorlesen lassen, als sie sagte: „Heute, Minna, mußt Du mir den Gefallen thun und über Nacht bei mir bleiben. Ich habe mich noch nie so gefürchtet wie diesen Abend. Du hast den Rudolf gesehen – sag’ selbst, kam er Dir nicht ganz verwildert vor?“

Die Erbschaftsspekulantin meinte, sie habe ihn fast nicht wieder erkannt.

„Nicht wahr?“ ergriff die Alte wieder das Wort; „ja, seit er seinem Gott, dessen Dienst ich ihn geweiht hatte, untreu geworden, [72] seitdem ist er Schritt vor Schritt dem Verderben in die Arme gesunken. Von so einem Menschen ist alles zu fürchten – huh! Was für einen schrecklichen Bart er hatte! Versprich mir, heute Nacht bei mir zu bleiben.“

„Von Herzen gern, liebe Frau Pathe – aber die ganze Nacht – das kann ich nicht versprechen. Sie wissen, mein Kind hat die Masern und mein Mann kommt erst um Mitternacht aus dem Dienst. Bis dahin muß ich wenigstens abwechselnd bei dem Kinde sein. Nachher aber will ich ganz bei Ihnen bleiben.“

Als Minna bald darauf das Haus verließ, sah sie noch unter der Thüre stehend, welche die Alte hinter ihr schloß, wie ein Mensch an der andern Häuserreihe hinabging, in welchem sie beim Laternenlicht der Straße den Neffen ihrer Pathe erkannte. Sie sah ihm eine Weile nach, und da er zuweilen sich nach ihr umblickte, so beschloß sie, ihn weiter zu beobachten, ging bis an ein nahes Seitengäßchen und verbarg sich dort hinter der Ecke. Rudolf kehrte nun um, ging stracks auf das Haus seiner Tante zu, öffnete mit seinem Schlüssel geräuschlos die Thür und verschloß sie wieder hinter sich. Mit einem gellenden Angstschrei empfing ihn die überraschte Verwandte. Die Beobachterin auf der Straße eilte nun wieder an das Haus und stellte sich unter das Fenster, wo sie, da die Fensterflügel wegen des Sonnenscheins offen standen, durch die Jalousien einen großen Theil der zwischen Tante und Neffen, bald leiser, bald lauter geführten Verhandlung vernehmen konnte. Rudolf schickte keine Vorrede voraus. Er hielt der Alten kurz vor, wie sie ihrem Bruder auf dessen Todtenbette versprochen, seine Stelle an dem verwaisten Sohn zu vertreten, er nannte, ohne die Person namhaft zu machen, das gute Werk, um das es sich handelte, er bat so inständig, daß selbst die Horcherin an der Wand gerührt wurde und wünschte, die Alte möchte ihm die verlangte Kleinigkeit geben, „damit sie ihn nur los würde.“ Aber das hartherzige Weib war unbeweglich. Sie schalt Rudolf einen Undankbaren, einen Abtrünnigen, eine Frucht des Bösen. Da entbrannte er; er strafte ihren Geiz, er verwieß sie auf die heilige Schrift, die keine Todtsünde so hart züchtige wie diese, er riß ihr den Heuchelschein der Frömmigkeit vor den eigenen Augen ab und zeigte sie ihr in ihrer wahren Gestalt, als Betrügerin ihres eigenen Bruders; er erschütterte sie, daß sie stöhnte – aber er bewog sie nicht zur Erfüllung seines Verlangens. Sie schwor, daß sie es nicht erfüllen könne, daß sie kaum so viel Geld habe, um davon ein paar Tage nothdürftig zu leben. Entrüstet rief er, sie solle ihm einmal erlauben, in ihrem Pulte nachzusehen, er wolle Tausende in Staatspapieren zum Vorschein bringen, das baare Geld ungerechnet. Da schlug sie die Hände zusammen und heulte. Das trieb seinen Grimm auf’s Höchste, und ihre Arme krampfhaft erfassend, beschwor er den rächenden Schatten ihres todten Bruders herauf und bewirkte damit – daß sie in fieberhafter Angst aufkreischte: „Hülfe! Hülfe! Räuber! Mörder! – Er will mich ermorden –“

Da schlug die Horcherin an die Jalousie – Rudolf stutzte, der Ruf des elenden Weibes hatte ihn erschreckt – er fühlte, daß er zu weit gegangen, wenigstens für seine innere Würde – ohne ein weiteres Wort zu verlieren, stürzte er aus dem Zimmer, schloß die Hausthüre auf, zog aber mechanisch seinen Schlüssel ab, eilte an der Wartefrau vorüber und schnellen Schrittes die Straße hinauf. Die junge Frau ging in’s Haus zurück.

Rudolf zürnte auf sich selbst, ihm war als habe er seinen ganzen Adel – ergrimmt schleuderte er den Schlüssel, ohne dessen Besitz er hätte diese Scene nicht hätte herbeiführen, weit von sich. Er bemerkte nicht, daß hinter ihm ein Mensch herschlich, der den fallenden Schlüssel klirren hörte, suchte und fand; noch weniger, daß derselbe mit dem Funde nach dem Hause der Wittwe zurückkehrte und den Schlüssel geräuschlos probirte, dann aber in einiger Entfernung vom Hause sich aufstellte. Nicht lange stand er, da trat ein Polizeimann, derselbe, der die beiden Freund im Garten der Mutter Brummeisen belauscht hatte, aus dem erwähnten Gäßchen zu Jenem.

„Nun, wie steht´s? Hast Du etwas Verdächtiges bemerkt?“ fragte der Sergeant.

„Ja, Vater – vor einer Weile, wie ich eben erst meinen Posten unter dem Thorweg drüben eingenommen hatte, sah ich ein Frauenzimmer an einer der Jalousien lehnen, als ob sie horchte; der Gestalt nach war’s unsere Stubennachbarin, die Fritschin; gleich darauf hörte ich ein Geschrei, die Frau pochte an die Jalousie, dann wurde die Thür aufgerissen und ein Mensch stürzte heraus und auf und davon. Wahrscheinlich war’s Dein Doctor. Die Fritschin wurde nun von der Alten eingelassen.“

„Gut – laß uns einmal horchen“ – sagte der Sergeant.

Die Beiden gingen zu horchen.

„Ach Gott, erbarme dich, wie ich noch immer zittere!“ hörten sie die Alte reden – „es ist, wie ich Dir sage: er trachtet mir nach dem Leben – ein Glück, daß Du noch da warst, sonst war es um mich geschehen. Es soll auch Dein Schade nicht sein, ich will Dir’s in meinem Testament gedenken.“

Den Gedanken, daß Rudolf der Alten nach dem Leben trachte, suchte die junge Frau ihr zwar auszureden, aber es gelang ihr nicht, und jene drang heftiger als erst in sie, die Nacht bei ihr zu bleiben. Sie versprach dies, sobald sie von ihrem Kinde fortkönne.“

„Nun komm, Vater,“ sagte der Begleiter des Sergeanten, als die Stubenthür ging, „die Fritschin geht jetzt – wir haben nun schon ein Stündchen Zeit, unsern Abschied zu feiern. Die Andern sind schon lange beisammen.“

Die Beiden entfernten sich. Die Fritschin verließ das Haus der Wittwe und ging nach ihrer Wohnung.

Inzwischen suchte Rudolf seinen Freund auf. Nach vergeblicher Nachfrage in dessen Wohnung stieß er auf ihn vor seiner eignen. Der wackere Maler begrüßte ihn mit stürmischer Freude. „Bruder, Alles gut! Der Mackintosh hat bezahlt – zweihundert Louis – hier sind zwanzig für Dich; die Mutter Brummeisen ist befriedigt und Du hast absoluten Kredit bei ihr. Morgen früh mit dem ersten Dampfwagenzuge reise ich nach Berlin und kehre nur als glücklicher Gatte heim.“

Rudolf nahm das dargebotene Geld. „Zum Einlösen der Instrumente ist es heute zu spät, aber morgen soll dies mein erstes Geschäft sein, und dann geht’s stracks an’s Werk! – Aber, Du Guter – wie soll ich Dir danken, wann werde ich auch nur Dein Darlehn zurückzahlen können?“

„Laß das jetzt – vollende nur Deine Operation; die wird Dich schnell berühmt machen; dann ist Dir eine glänzende Praxis gesichert, und vielleicht finde ich Deine holde Patientin gar als Dein Bräutchen wieder.“

Rudolf erglühete. Nun lud ihn Adolf ein mit zur Mutter Brummeisen zu gehen, wo sie „bei einer kleinen Bowle“ den Abend froh verplaudern wollten.

Als die Beiden sich dem Kaffeehause an der Schifferallee näherten, scholl ihnen lärmender Jubel entgegen. „Da geht’s lustig zu,“ bemerkte Rudolf beim Eintritt in das Haus, „hoffentlich bleiben wir für uns.“

„Wir gehen in’s Privatstübchen der Mutter Brummeisen, wenn schon ich mich bisweilen gern in solch’ Getümmel mische, um Gesichter zu studiren,“ entgegnete Adolf; „aber heute muß hier etwas Besonderes los sein.“

Im Stübchen der Wirthin angekommen, erfuhren sie, es sei eine kleine Gesellschaft Auswanderer, die morgen früh nach Amerika abzusegeln gedenke, mit ihren Freunden hier zusammengekommen, um ein Abschiedsgelag zu feiern. Die eigentliche Seele davon sei der Sohn des Polizeisergeanten Huker.

„Ein schöner Patron“ – bemerkte Adolf, „an dem das Vaterland wahrlich nichts verliert. Ein Gauner, der dem Zuchthause sicher nicht entgangen wäre, wenn ihn sein Alter nicht über’s Wasser spedirte.“

„Dieser scheint auch seelenfroh zu sein, daß er das Früchtchen los wird.“ sagte die Wirthin, „denn er trinkt um die Wette mit den Schiffern, die mit geladen sind. Und sein Sproß scheint’s darauf angefangen zu haben, den Vater zu guter Letzt noch im Haarbeutel zu erblicken, denn er stellt die Schiffer an, ihm tüchtig zuzutrinken. Alle Augenblicke spricht der Alte, er müsse fort, der Dienst rufe ihn, aber immer von Neuem läßt er sich zutrinken.“

Die Freunde genossen vergnügt ihre Bowle. Ungefähr nach einer Stunde wurden sie durch einen Heidenlärm an die Glasthür gelockt, die sie von dem Gastzimmer trennte. Da sahen sie, wie Matrosen den bis zur Bewußtlosigkeit trunkenen Polizeisergeanten in eine Art Hängematte legten und unter Vortritt seines Sohnes und Absingung eines Begräbnißliedes ihn forttrugen.

(Fortsetzung folgt.)
[73]
Englische Dichter.
1. Charles Dickens.

Die Lebensläufe großer Männer, die im gewöhnlichen Sinne glücklich waren, sind in der Regel arm an Ereignissen, an Interesse für den Dutzend-Leser, der Hunger, Verfolgung, Ketten und Kerker, Nacht und Sturm, vermummte Gestalten, von unten oder von oben plötzlich herbeispringende Götter und Göttinnen und ganz unerwartete Wendungen verlangt mit poetischer Gerechtigkeit auf der letzten Seite. Shakespeare, der größte Genius seiner und aller Zeiten, hat kaum eine Biographie, denn viele romantische Ereignisse, die man von dem jungen Fleischergesellen Shakespeare findet, sind Dichtung. Das Wahre seines äußerlichen Lebens, wovon man wirkliche Kunde hat, beschränkt sich darauf, daß er Theaterstücke schuf, Schauspieler und Direktor war, daß er Staatspapiere, Grundstücke und vermiethete Häuser besaß, in Fülle lebte und in der Fülle eines eigenen Hauses starb. Solche große Männer ohne Biographie in der Dichtkunst sind selten. Sie wurden erst neuerdings Mode. Die Lebensbeschreibungen der meisten ältern Dichter bestehen aus Anhäufungen allerlei Elends. Milton’s Blindheit, Drydens Kampf mit einem armseligen Leben, Pope’s körperliche Entstellung, die Verfolgungen gegen Defoe, Swift’s Spleen und Geiz, Dante’s tragisches Weh, die Liebes- und Lebenskrankheiten Petrarka’s und Tasso’s, die Vernachlässigungen, unter denen Cervantes brach, Camoens durch’s Leben bis zum Todtenbette im Armenhospitale gesetzt, die Verzweiflung Butler’s, Chatterton’s Selbstmord, Schiller’s Riesenkampf unter Entbehrungen und gegen eine langsam tödtende Krankheit – das sind die romantischen und rührenden Stoffe, aus denen in mannichfaltigen Mischungen das Leben großer Dichter gewoben war. Vielleicht hat neuerdings die Größe einzelner Dichter ab- und ihr Erfolg und Lebensglück zugenommen. Wir finden die meisten Literaten und Dichter der Gegenwart, auch ganz kleine Lichter, in erträglichen Verhältnissen, wenigstens nicht mehr so häufig in Dachkammern bei Wasser und Brot, mit einer leeren Weinflasche als Leuchter. Keine himmelstürmenden Titanen mehr, zerstören sie sich auch nicht mehr so häufig die Bedingungen irdischer Existenz. Und das Volk hat lesen gelernt und liest gern, Gereimtes und Ungereimtes. Hand- und Dampfpressen verlangen entsetzlich viel Speise. Dafür geben sie den Dichtern und Literaten Brot, so viel, daß sie ohne beißende Sorgen in Mußestunden auch wohl noch ein unabhängiges Dichtwerk in Versen oder Prosa zusammen, zu Ende und zu einem Verleger bringen.

Diese Dichter leben und sterben denn mit der Zeit, ohne eine Biographie zu hinterlassen. Wir beklagen das nicht. Kein Mensch lebt der Biographie wegen, sondern um seiner selbst willen. Fast jeder Literat hat heut zu Tage Leibrock und Handschuhe und Visiten- und Einladungskarten am Spiegel. Wo sollte unter solchen Umständen die Biographie herkommen?

Talent und Erfolg! das ist im Allgemeinen der biographische [74] Inhalt in den Schicksalen unserer modernen Notabilitäten. Viel Talent, viel Erfolg! das ist die Biographie des Charles Dickens. Sein ganzes Leben besteht in glücklicher Arbeit mit dem glücklichsten Erfolge, lauter Licht und grüne Wiese, ohne tiefe Schatten und Schluchten. Aber solch ein merkwürdiges, individuellstes Talent mit diesem beispiellosen Erfolge in der ganzen civilisirten Welt bildet zugleich eine so interessante Persönlichkeit, daß uns die kleinsten Einzelnheiten in dem Leben derselben lieb und werth erscheinen, insofern sie zur Kenntniß der Umstände beitragen, unter welchen sich dieser glänzende, dauernde Erfolg solch eines eigensten genialen Talents über alle civilisirten Völker und Sprachen ausdehnte. Wir geben deshalb das getreueste Bild seiner Persönlichkeit nach einem photographischen Portrait des berühmten Mayall, zu welchem Dickens kurz vor seiner Abreise nach Paris im vorigen Herbste saß und die nöthigsten biographischen Notizen.

Charles Dickens wurde 1812 im Februar zu Landport, einem Theile von Portsmouth, geboren. Sein Vater, John Dickens, war früher Beamter in dem Zahldepartement der Marine gewesen und zog 1816 mit einer Pension nach London, wo er als Berichterstatter für Zeitungen und später bis zu seinem Tode (vor etwa drei Jahren) als Mitarbeiter der „Daily News" seinen Talenten gemäße Beschäftigung fand. Charles Dickens ward in einer Schule bei Rochester, in der „hopfen-, äpfel- und hübschemädchenreichen Grafschaft Kent“ erzogen. Hier in Kent haben wir die Originale zu seinen besten und minutiösesten Natur-, Sitten- und Menschenschilderungen zu suchen. „Man kehrt immer wieder zu seiner ersten Liebe zurück.“

Wir wissen nicht genau, in welchem Alter Charles Dickens in das eigentliche, unerschöpfliche Zeughaus seiner Muse und seines Humors, London, einzog, doch geschah es jedenfalls nach Ablauf seiner Schul- und Erziehungsjahre, da sein Vater in London wohnte, in einer Zeit, wo die jugendlichen Knospen des Talents, der Eindrücke und Wahrnehmungen in üppiger Frische aufbrechen. Es dauerte auch nicht lange, bis er sich zuerst gedruckt sah in einem „Magazin“ und seine Augen sich trübten vor Freude und Stolz, so daß er die um ihn tanzenden Straßen nicht sehen konnte.

Der Freudeschauer, sich zuerst gedruckt zu sehen, ward aber bald in dem Bureau eines Advokaten gekühlt. Doch lernte er in einer dieser Räuberhöhlen des Rechts und Gesetzes die Kniffe und Pfiffe, Schliche und Ränke, Beutelschneidereien und Heucheleien der englischen Rechtspflege so genau kennen, daß er sie so oft und penetrant schildern und ihnen einen ganzen Roman (Bleak house) widmen konnte. Sein Vater hoffte in ihm einmal einen berühmten Advokaten und Anwalt (attorney) zu sehen, aber nachdem manches Buch Papier und manches Stück Pergament zu Aktenstücken und Testamenten verdorben, setzte die Muse ihren höhern Willen gegen den Wunsch des Vaters durch, und erhob ihn zum Anwalt der Humanität gegen das Recht, des tief- und edelfühlenden Humors gegen Humbug und Heuchelei des englischen Lebens, zum Advokaten der Armen und Ausgestoßenen, die kein Geld haben, sich Recht zu kaufen, keine Stellung, keinen Boden, darauf zu stehen und sich aufzurichten. Wie Columbus Amerika entdeckte, fand Dickens zuerst die Antipoden der londoner Gesellschaft, auf denen sie verächtlich und unbewußt herumgetreten war, wie auf Infusorienerde, deren Millionen Schildpanzer gleichwohl den festen Boden bilden, auf welchem der Palast stehen, die Equipage fahren kann. –

Nachdem Dickens für verschiedene Zeitungen als Berichterstatter gedient, gewann er 1835 eine bedeutendere Stellung am Morning Chronicle, in dessen Abendausgabe (Evening Chronicle) zuerst nach und nach die „Skizzen von Boz“ (seinem frühern literarischen Namen) erschienen. Sie sind leicht und gehen noch nicht tief, aber sie zeigten der Welt zuerst den Boden, worauf England stand und groß geworden war. Die Skizzen sind so heiter, so humoristisch, aber man sieht schon, daß der Boden ein fauler Sumpf und die Größe darauf Theaterbauwerk ist. Zwanzig Jahre später, im Herbst 1855, hielt Dickens seine erste (und wahrscheinlich letzte) politische Rede in der Versammlung einer Reformassociation, worin er diese Fäulniß und Versumpfung englischer Zustände, die er immer humoristisch gezeigt und gezeichnet, dem Hauptkomiker der regierenden Klassen, dem Lord Palmerston sehr ernstlich und mit einer bedeutungsvollen prophetischen Warnung vorhielt. Aber er hat sich von diesen „Reformen,“ die ebenfalls sehr faul sind, bald wieder zurückgezogen zu „Little Dorrit,“ seinem neuesten Romane, zur Poesie, welche das Schicksal der Menschen, die Consequenzen der Geschichte, beweinen und sich im Humor darüber erheben, die sittliche Nemesis aber gegen die unsittlichen Zustände und Wirthschaften der regierenden Klassen nicht aufhalten kann. Seine Muse ist nicht politisch, die Poesie ist überhaupt nicht politisch. Politik und Poesie löschen sich gegenseitig aus, die Poesie stirbt schon, wenn sie die Hand ausstreckt, diese unsere moderne Politik zu berühren. Es hat neuerdings politische Dichter gegeben. Der Gifthauch ihrer Verse hat sie alle getödtet, jede Saite ihrer Harfe zerrissen.

Den Skizzen folgten die „Pickwickier,“ ursprünglich nur als Text zu den berühmten Caricaturzeichnungen Robert Seymour’s auftretend, aber nach dem plötzlichen Tode des Künstlers auf den Schwingen eigensten, unsterblichen Humors sich tragend und über die Literaturen aller Völker sich ausbreitend. Dickens hat seitdem noch sehr viele, noch gelungenere, ergreifendere Werke geschaffen, aber keins, welches wir so sehr lieben. Es ist der souverainste Humor in freiester Souverainität, die ungeheuerste Heiterkeit des Individuums um ihrer selbst willen, das Ideal des komischen Epos. „Pickwick“ war für Dickens, was „Childe Harold“ für Byron. Er erwachte eines Morgens und fand sich berühmt, lächelnd den Feldmarschallstab der Literatur, den ihm die Welt bot, annehmend. Zwanzig Jahre sind seitdem verflossen. Nie ward ihm dieser Stab abgenommen, noch spielt er wie ein Spazierstöckchen in seiner Hand. Nur Thackerey könnte ihn für das direkte Gebiet der „Gesellschaft" in Anspruch nehmen, Thackerey, der längst ein berühmter Mitarbeiter an den besten Vierteljahrsschriften war, als Dickens noch ohne Namen und Ruhm für die Tagespresse laborirte. Und Thackerey’s Feldherrnname ist erst fünf Jahre alt. Seitdem aber streiten weder sie sich selbst, noch das Publikum um die „größere“ Größe. Beide erkennen sich gegenseitig als unübertrefflich in ihren Gebieten, wie denn auch Thackerey nicht eine Seite Dickens, letzterer nicht einen Satz Thackerey’s schreiben könnte. Und so machen’s im Allgemeinen auch die Leser, welche sich auf diese Weise frei halten von dem alten, lächerlichen Streite, wer in Deutschland größer sei, Schiller oder Goethe.

Die Geschichte des Charles Dickens von den Pickwickiern an bis zur „kleinen Dorrit,“ ist nichts als ein Bericht glänzender, fast schattenloser Erfolge. „Oliver Twist,“ „Nicholas Nickelby,“ „Der alte Raritätenladen,“ „Martin Chuzzlewit,“ „Barnaby Rudge,“ „Dombey und Sohn,“ „David Copperfield,“ „Bleak House,“ „Schwere Zeiten,“ „Die Weihnachtsbücher,“ „Die Household Words“ -- Alles geistiger und materieller Erfolg, wie ihn kaum eine Literatur aufweisen mag. Sie brachten ihm Tausende und immer wieder Tausende von Pfunden, so daß er in seinem zurückgezogenen, von einem besondern Thore und einem großen Vorgarten geschützten Palaste, Russel House an Tavistock Square im bürgeradeligen Theile des Westendes von London mit einer muntern, corpulenten Frau und einem hübschen Heerdchen blühender Kinder, wie ein Fürst im äußerlichen Glanze lebt, lebensfrisch und heiter mitten in glänzenden Abendgesellschaften, wo jeder Gast seinen besondern dienstbaren Geist hinter dem Stuhle hat, was übrigens für die Gemüthlichkeit und Unbefangenheit etwas Störendes haben mag.

Biographische Ereignisse in diesem ununterbrochen heitern Strome des Erfolgs beschränken sich auf seine Reisen nach Amerika und Italien, worüber er nicht seine besten Bücher geschrieben und auf seinen jetzigen Aufenthalt in Paris, um der „kleinen Dorrit“ einen neuen Rahmen zu geben. Nach dem ersten Hefte dieses neuen Romans zu schließen, worin ihm die tropische „Hitze“ von Marseille sehr gut gelungen ist, wird ihm der Wechsel des Klima’s sehr wohl thun. Die londoner Luft hat Keiner so studirt, verstanden und ausgebeutet, wie Charles Dickens.

Von seiner Privatperson und seiner persönlichen Erscheinung nur einige Worte. Schon während der ersten Morgenröthe seines Ruhms heirathete er Miß Catherine Hogarth, die Tochter eines bekannten musikalischen Kritikers und Aesthetikers George Hogarth. Aus dieser glücklichen und gesegneten Ehe gingen in ebenfalls ungetrübtem Erfolge eine lange Reihe kleiner Dickens’ beiderlei Geschlechts hervor von der Größe des Vaters an bis zum kleinen Pusselchen, das sich auf die Zehen stellen muß, um auf den Tisch zu gucken. In Betreff seiner Persönlichkeit verweisen wir auf das Portrait mit dem Schnurrbarte, einer socialen Neuerung in England, die man vor vier bis fünf Jahren, wo bärtige Helden vom [75] Continente noch wie Wunder und Feinde ausgezischt und verfolgt wurden, noch für absolut unmöglich gehalten hätte. Jetzt giebt es schon englische Künstler, Dichter, Literaten und Lehrer in Marlboroughouse, die wie Helden aus dem ersten Buch Mosis aussehen. Seine Gestalt ist gedrungen und wohlgeformt, nicht groß und nicht klein, sein Blick äußerst klar, fest und wohlwollend, seine Sprache voll, rasch und warm. Er steht früh auf und arbeitet fast nur Vormittags. Nach Tische erholt er sich, unter Anderem durch Fußmärsche, die sich im Durchschnitt täglich auf zehn englische Meilen ausdehnen. Dies erhält seine feste, graziöse Gestalt, die ihn auch in seinen Leistungen als Schauspieler in geschlossenen Kreisen sehr begünstigt, fortwährend frisch und elastisch, so daß man noch keine Spuren der sonstigen civilisirten „Vierziger“ an ihm bemerkt.

Er ist kein „specifischer“ Engländer in seiner Persönlichkeit, sondern offen, zugänglich, wohlwollend, wohlthätig und ziemlich unbekümmert um die Fülle von Schätzen, die dabei verzehrt werden. Wie viele Thränen der Freude und des Schmerzes und der Schönheit und der Veredelung, wie vieles Grauen er auch vor den Abgründen des socialen Elends, der sittlichen und materiellen Verwahrlosung durch die Gesellschaft, den Staat in Millionen erregte, keimen, blühen und fruchten ließ, auf diese Wohlthaten beschränkt er sich nicht. Er weiß auch in der Wirklichkeit Thränen zu trocknen, Niedergebeugte mit warmer, fester Hand aufzurichten, nur daß man nicht davon spricht, nicht darüber schreibt, weil Jeder fühlt, daß er nicht zu den Pharisäern gehört, die nur der Zeitungen und des Profits wegen nicht vergessen, wohlzuthun und mitzutheilen.




Des Haares Krankheiten und Pflege.

Vorzeitige Grau- und Kahlköpfigkeit sind sehr häufige Leiden unserer Zeit, einer Zeit, wo man doch so oft und so viel Haare lassen muß, daß Einem die Haare zu Berge stehen könnten und daß man sich alle Haare ausraufen möchte. Aber wo die Haare zum Lassen, zum Zubergestehen und Ausraufen bei dieser haararmen Zeit hernehmen? Das ist die Frage, in der schon Mancher ein Haar gefunden hat. Beim männlichen Geschlechte müssen in der Regel die Barthaare für die Kopfhaare vicariiren, denn die Haare auf den Zähnen werden nicht für voll angesehen. Bei den Damen lassen sich allenfalls durch Häubchen oder die Frisur à la Chinoise dünne und kahle Stellen des Köpfchens maskiren. Am besten wär’s aber doch, wenn man ein brachliegendes Haarfeld so bearbeiten könnte, daß auf ihm wieder üppiges Haar wogte. Dies ist nun aber leider sehr selten zu erzielen, und es ist weit leichter, durch richtige Pflege des Haarbodens, das vorzeitige Absterben und Ausfallen des Haares zu verhüten. Deshalb geht mein Rath auch zunächst dahin, sich in Zeiten mit Haut und Haaren gehörig zu befassen, ehe man ein Grau- und Kahlkopf geworden ist.

Bei allen Haarangelegenheiten kommt hauptsächlich der häutige Haarboden mit dem Haarsäckchen, und zwar vorzugsweise der Haarkeim auf dem Boden dieses Säckchens, in Betracht, weil vom Blut dieses Keimes aus nicht blos die zellige und faserige Haarsubstanz, sondern auch die das Haar tränkende Flüssigkeit abgeschieden wird (s. Gartenlaube 1856. Nr. 1. und 1854. Nr. 44.46.). Sodann ist ferner noch der das Haar einsalbende Hauttalg und die in das Haarsäckchen einmündende Talgdrüse, sowie die sich fortwährend abschilfernde Oberhaut der behaarten Kopfschwarte nicht unberücksichtigt zu lassen. Die letztere kann nämlich am Austrittspunkte des Haares und Hauttalges Hinderniß veranlassen und so dem Haare Nachtheil bringen. - Wir könnten sonach als oberste Regel bei einer naturgemäßen Haarpflege die folgende aufstellen: „das Haar muß gehörig ernährt und richtig eingesalbt werden.“ Die Ernährung geht nun aber, wie gesagt wurde, vom Blute des Haarkeimes auf dem Boden des Haarsäckchens aus und es muß deshalb den Blutgefäßchen dieses Keimes stets die gehörige Menge und zwar guten Blutes zugeführt werden. Wer überhaupt zu wenig und krankes Blut im Körper hat, wie Blutarme (in Folge von Kummer und Elend, Gram und Sorge), Bleichsüchtige, Kranke und Reconvalescenten, oder wessen Kopfhaut durch irgend welchen Umstand (durch Druck, Spannung, Kälte, Hautentartung u. s. w.) blutarm wird, dessen Haar kann in Folge schlechter Ernährung sehr bald grau und locker werden oder ausfallen. Die Einsalbung des Haares mit Hauttalg scheint dazu nöthig, daß die Flüssigkeiten im Haare nicht so leicht verdunsten und dann das Haar austrocknet und erbleicht. Damit nun aber dieser Hauttalg, sowie das Haar selbst (mit seiner Flüssigkeit im Innern), auch ungehindert auf der Oberfläche der Kopfhaut hervortreten könne, darf die Oeffnung des Haar-Talgsäckchens nicht von Oberhautschüppchen und Schmutz (Pomate) verengert oder gar verlegt sein und deshalb ist auch das Aeußere der Kopfhaut von Einfluß auf das Gedeihen des Haares.

Ein hauptsächliches Erforderniß zum Conserviren des Haares ist hiernach die öftere Reinigung des Haarbodens (der Kopfhaut), die wenigstens jede Woche einmal vorgenommen werden sollte (noch häufiger bei Solchen, die am Kopfe sehr schwitzen) und theils im Abkämmen der Oberhautschüppchen, theils im Abwaschen der Haut mit lauem Seifenwasser bestehen muß. Das Waschen kann auch mittelst einer mäßig steifen, in das Wasser getauchten Haarbürste geschehen, und da, wo der Haarboden schwer zu reinigen ist, durch Zusatz einer kleinen Quantität Spiritus zum Wasser (etwa einen Eßlöffel auf ein Drittel Maaß) unterstützt werden. Gehen bei dieser Reinigung viele Haare aus, so muß sie in milderem Grade (mit weicher Bürste und weitem Kamme), aber öfterer geschehen. Denn man bedenke, daß jene Reinigung gleichzeitig auch einen heilsamen Reiz auf die Haut ausübt und den Blutzufluß zum Haarkeime vermehrt, wodurch die Absonderung der Haarsubstanz und Haarflüssigkeit befördert wird. Eine zu starke Reizung ist natürlich, wie alles Uebermäßige, nachtheilig; überhaupt taugt eine allzugroße Sorgfalt bei der Haarpflege nichts. Jeden Tag müssen die Haare ein- oder zweimal (des Morgens und Abends) gut durchgekämmt werden, auch ihrer Richtung entgegen, erst mit einem weiten und dann mit einem engen, sogenannten Staubkamme, und schließlich bürste man sie mit einer nicht zu scharfen Bürste tüchtig durch oder reibe die Kopfhaut mit Flanell gehörig ab. Zu starke Wärme darf übrigens ebensowenig wie zu große Kälte und schneller Wechsel zwischen Wärme und Kälte auf die Kopfhaut oft und lange einwirken, weil sonst die Ernährung des Haarsäckchens und Keimes gestört wird. Die häufigen kalten Waschungen und Uebergießungen des Kopfes sind dem Haarleben durchaus nicht förderlich. Ebenso ist das feste Binden der Haare beim weiblichen Geschlechte, sowie das zu häufige Abschneiden derselben beim männlichen sehr nachtheilig; dagegen schadet das Brennen der Haare durchaus nicht so viel, als man immer behauptet, ja, wenn es mit Vorsicht geschieht, scheint die Wärme des heißen Eisens und der sanfte Zug am Haare günstig (blutzuführend) auf den Haarboden einzuwirken. - Außer dem Reinigen des Haares und Haarbodens durch Kämmen, Bürsten und Waschen ist ein zweites Erforderniß für das Gedeihen des Haares: „die gehörige Einsalbung desselben.“ Hierzu dienen am besten die einfachen reinen fetten Oele, wie das Oliven- oder Provenceröl und das Mandelöl; sie sind den Pomaten, zumal den parfümirten und in ihrer Zusammensetzung geheim gehaltenen, weit vorzuziehen. Die Pomate hat übrigens ihren Namen von Pomata (ital. pomo, der Apfel), weil die erste Haarsalbe von einem römischen Arzte, Pittoni, mit Aepfelsaft bereitet wurde. Natürlich muß auch das Einölen des Haares mit Maaß und Ziel geschehen, und niemals so, daß die Haare wie durch Kleister zusammengeklebt erscheinen.

Betrachten wir nun die Krankheiten des Haares, so finden sich die Ursachen derselben ebensowohl in der Haut, dem Haarbalge und Haarkeime, wie im Haare selbst. Am häufigsten hört man über das Ausfallen und zeitige Grauwerden der Haare klagen. Hieran dürfte aber wohl in den meisten Fällen, abgesehen von einer mit Blutarmuth verbundenen Störung des Allgemeinbefindens, die Vernachlässigung der Haar- und Hautpflege die Schuld tragen, in Folge deren, wie oben angedeutet wurde, die Ernährung und Einölung des Haares leidet, und wodurch es dann zur Austrocknung und Erbleichung desselben kommt. Beiden Haarleiden muß sobald als möglich entgegengetreten werden und zwar dadurch, daß man die Kopfhaut öfters reinigt und mäßig reizt, [76] um den Blutzufluß zum Haarkeime zu steigern. Zu diesem Zwecke ist vorzüglich Wärme (trockne, feuchte oder in Dampfform) und Reibung (mit Flanell oder Bürste) zu empfehlen; reizende Einreibungen (Pomaten und Waschwässer, mit spanischem Fliegenstoffe oder Brechweinstein) schaden gewöhnlich mehr als sie nützen, weil sie zu leicht eine übermäßige Reizung der Haut veranlassen. Aber freilich muß jene gelinde Reizung oft wiederholt, längere Zeit consequent fortgesetzt und allmälig gesteigert werden, wenn sie helfen soll. Hilft sie dann nicht, so ist der Boden des Haares (die Haut, der Balg, der Keim) verändert, und in diesem Falle bringt kein Mittel neue Haare hervor und würde es auch noch so sehr angepriesen. Das häufige Abrasiren der Haare beim Ausfallen derselben wirkt ebenfalls als Reizmittel und zwar in manchen Fällen, wenigstens bis zum 40sten Lebensjahre, günstig, in andern aber (vielleicht wegen Uebertreibung der Haarbildung) nachtheilig.

Bisweilen tragen kleine, nur durch das Mikroscop erkennbare Pilze, die im Haarbalge wuchern, die Schuld des Ausfallens der Haare, sowie auch manche, besonders dem Kindesalter eigenthümliche Kopfausschläge Kahlköpfigkeit nach sich ziehen. Alle diese Leiden verlangen eine ordentliche ärztliche Behandlung, und zwar so bald als nur möglich nach ihrem ersten Erscheinen. - Die Brüchigkeit und Spaltung der Haare kann durch Abschneiden und bessere Ernährung derselben gehoben werden. - Der Weichselzopf, bestehend in einer Verfilzung und Verklebung der Haare (nicht blos des Kopfes, sondern auch des Bartes und der Achselhöhle), dürfte wohl stets eine Folge von Unreinlichkeit und vernachlässigter Haarpflege sein. Er kommt hauptsächlich an den Ufern der Weichsel (besonders am rechten Ufer derselben) und des Dnieper vor, und ist sehr oft mit einem Ausschlage der Kopfhaut, sowie mit Absetzung eines schmierigen übelriechenden Hauttalges verbunden. Man heilt den Weichselzopf durch Abschneiden der Haare und Waschungen des Kopfes mit grüner Seife; bei Ausschlägen nützen Fetteinreibungen.

Aus dem Gesagten wird nun hoffentlich jeder Leser leicht ersehen können, daß alle jene Anpreisungen von untrüglichen Universalmitteln gegen Kahlköpfigkeit u. s. w. nichts als Beutelschneider-Charlatanerien sind. Daß die Homöopathie gegen das Haarausfallen und die Kahlköpfigkeit eine große Menge von ausgezeichneter, innerlich in Nichts-Form zu gebrauchender Arzneimittel besitzt, versteht sich von selbst, und es bleibt nur merkwürdig, daß es unter den Propheten und Anhängern der Homöopathie noch so viel Kahlköpfe und Beperrückte giebt.
Bock. 




Sinn und Besinnung. Gedanke und Gedächtniß.
Eine psychologische Andeutung.
Das Telegraphennetz des Nervensystems. – Wie erhalten sich die Eindrücke im Gehirn. – Besinnen. – Die Nerventhätigkeit in ihren Aeußerungen nach Außen. – Der Gedanke und seine Macht. – Das Nervensystem eine Orgel.


Es war längst eine bekannte Thatsache, daß wir durch das Telegraphennetz des Nervensystems von den Stationen der Sinnesorgane aus immer blitzschnell mit den neuesten Nachrichten und Vorfällen um uns her in Kenntniß gesetzt werden. Aber erst neuerdings haben die mühsamen und genauen Forschungen des Anatomen und Physiologen diese telegraphischen Institute zu einem Material wirklichen Wissens erhoben, so daß nun erst der Psycholog hervortreten kann, um auf sicherem Boden sein Heil zu versuchen.

Wir haben Gedanken, Ideen, wir wissen. Wie kommen wir dazu? Ideen (oder das, was wir wissen) sind in ihrer einfachsten Form nur Erinnerungen an frühere telegraphische Depeschen von außerhalb, an Eindrücke und Gefühle. Diese machen das Hauptmobiliar der Intelligenz, das Hauptwaarenlager unseres Wissens aus. Bezeichnungen für den Geist und das Gedächtniß (Gedanke und Gedächtniß) stammen daher auch in allen Sprachen von derselben Wurzel. Wir kommen also in der einfachsten Form nur durch Gedächtniß und Erinnerung zu Ideen und Gedanken. Wie aber wird die Erinnerung zum Gedanken? Die durch’s Nervensystem von Außen in uns hineintelegraphirten Depeschen, wie werden sie aufbewahrt und wieder lebendig, wenn wir uns ihrer „erinnern?“ Durch Sehen, Hören, Riechen, Schmecken und Fühlen nehmen wir wahr, bekommen wir Eindrücke. Ein Druck von Außen wird innerlich, d. h. die von Außen gedrückten und in Thätigkeit gesetzten schwingenden Nerven setzten ihre Schwingungen bis in’s Gehirn fort, welches sie zum „Bewußtsein,“ „Innewerden“ verarbeitet. Die von Außen in Schwingung versetzten Nerven zittern, auch wenn die von Außen erregende Ursache aufhört, noch eine Zeit lang fort und beruhigen sich erst je nach Spannung und „Temperament.“ Wir freuen, ärgern uns oft noch lange, wenn die directe Ursache der Freude oder des Aergers aufgehört hat, auf uns von Außen zu wirken. Das giebt denn die directe Erinnerung, die eigentlich eine fortgesetzte Gegenwart ist. Aber auch, wenn die Nerven sich beruhigt und inzwischen als Organe für unzählige andere Nachrichten gedient haben, können sie wieder ohne die physische Ursache, welche zuerst die Freude oder der Aerger erregte, durch die Kraft der Association, durch Belebung und Hervorsuchung des gleichsam im Gehirn deponirten Eindruckes in dieselben Schwingungen versetzt werden, wie durch die erste physische Ursache von Außen. Wir freuen uns über eine Freude, die wir vor Jahren hatten, heute noch einmal, und ärgern uns über ein Unrecht, das uns vor einem halben Menschenalter geschah, gelegentlich eben so herzhaft, wie das erste Mal. Diese Aufbewahrungs- und Erneuerungsfähigkeit von Eindrücken in unserm Nervensysteme ist die Grundlage aller andern Functionen in unserer intellectuellen Künstlerwerkstatt.

Nun kommt aber die wichtige Frage: Wie erhalten sich die von Außen gesammelten Eindrücke in dem Gehirne oder dem Geiste? Wie fangen sie’s an, daß sie bei der unaufhörlichen neuen Zufuhr durch die fünf Sinne nicht verderben, zerrissen, verlegt und „verkramt“ werden? Man hört darauf zwei Antworten, eine alte, gewöhnliche, sehr verbreitete, und eine neue, besser begründete in der genauern Kenntniß des Hirns und der Nerven. Nach der alten Antwort ist das Hirn eine Art Schuppen oder Keller, worin die Eindrücke aufbewahrt und zugleich gegen Schimmel und Mottenschaden verassecurirt werden. Diese Vorrathskammer liegt ganz abgesondert von den aufnehmenden, neue Eindrücke empfangenden Apparaten des Hirns. Irgend ein dienstbarer Johann oder Friedrich schleppt sie sofort herbei, wenn sich der Herr im Hause deren „erinnern“ will. Wahrscheinlieh sind sie numerirt, wie die ungeheuere Masse Gevatter stehender Artikel im Pfandhause, so daß Friedrich keinen Irrthum begehen kann. Freilich bleibt es dabei immer noch ein Räthsel, respective ein Luxus, daß sich entweder Herr Geist oder Knecht Friedrich der Nummer erinnern müssen, um die damit numerirte Sache aufzusuchen. Es wäre dann ja wohl viel einfacher, sich ohne Mittelsperson gleich auf die Sache selbst zu „besinnen.“

„Besinnen.“ Ein sinniges Wort. Es drückt den Proceß und das Geheimniß der Erinnerung aus. Der Eindruck, vergessen und versteckt, wird wieder „besinnt,“ wie man sagt, eine Sache werde „besprochen,“ d. h. mit Sprache bekleidet, in Sprache verwandelt. Man besinnt sich, indem man etwas Vergessenes wieder mit Sinnen begabt, d. h. den entsprechenden Nervenapparat nöthigt, den ursprünglichen, ersten Proceß, durch den wir den Eindruck zuerst empfingen, zu wiederholen. Dies führt zur zweiten Antwort auf die obige Frage. Das Hirn ist die Centralgewalt der Nerventhätigkeit, der Hinkeldey aller telegraphischen Drähte und Stationen, womit „die Hauptstadt der Intelligenz“ geheimnißvoll durchwoben ist. Das Centrum aller Nerven in dem Gehirn besteht aus der Verdichtung und Vereinigung aller durch den Körper verzweigten und verwobenen Nerven. Nerventhätigkeit wird uns blos bewußt, wenn ihre Schwingungen oder electrisch erregten Leitungsdrähte den Eindruck von Außen durch dieses Centrum hindurchleiten oder hin und her zwischen den Ganglien und den Sinnes- oder Bewegungsorganen. So leicht und schnell wir auch den Arm bewegen, keine Muskel, keine Sehne bewegt sich eher, als bis sie im Centrum angefragt und Antwort, oder: den Befehl direct von da aus erhalten.

[77] Der Stoß, welchen das Ohr durch einen Kanonenschuß erhält und uns dadurch meldet, daß es auswendig tüchtig geknallt hat, muß, wenn auch schwächer, wiederholt und der ganze telegraphirende Nervenproceß wieder erneuert werden, wenn wir uns des Schusses erinnern wollen. Mit dem einzigen Unterschiede, daß der durch Erinnerung erregte Nervenproceß schwächer ist (wenigstens in der Regel, denn die volle Besinnung über ein ausgestandenes Uebel kann uns zuweilen mehr erregen, als das Uebel selbst, während es wirkte) als der erste, wirkliche, ist er in beiden Fällen ganz derselbe. Jeder Akt des Besinnens, der Erinnerung, des Gedächtnisses ist daher eine Wiederholung des Processes, durch welchen wir das Ding, dessen wir uns erinnern, zuerst in uns aufnehmen. Wir können uns dies selbst beweisen, wenn wir uns mit Aufmerksamkeit auf etwas besinnen, ein längst begrabenes Erlebniß in uns wieder auferwecken. Natürliche, lebhafte Menschen können uns kaum etwas erzählen, ohne uns den Vorfall und ihre Betheiligung dabei mit Händen und Füßen und den ungeheuersten Muskelanstrengungen deutlich zu machen und gleichsam dramatisch zu wiederholen. Die Erinnerung an das Erzählte ist ein zweites Erlebniß in ihnen. Waren sie ärgerlich dabei, nimmt ihr Gesicht ganz denselben Ausdruck an, wie beim wirklichen Erlebnisse. Sie machen Alles noch einmal durch. Ihre Nerven wiederholen den ganzen ursprünglichen Proceß.

Namentlich können Kinder selten etwas beschreiben, ohne das Beschriebene möglichst treu darzustellen. Selbst lebhafte Lügner werden oft von dem Inhalte ihrer Worte so ergriffen, daß sie nach der dritten Erzählung selbst fest daran glauben. „So lag ich und so hielt ich meine Klinge,“ ruft Fallstaff und legt sich dabei so aus, wie er's jedenfalls gethan haben würde, hätte er die steifleinenen Hallunken wirklich so zusammengehauen, wie er ausführlich erzählt. Hunde bellen nicht nur im Traume, sondern versuchen auch zu gehen. Nerven und Muskeln thun im Traume dasselbe, was sie thun würden, wenn er wachend wirklich bellte und bisse, nur wegen sonstiger Gebundenheit durch den Schlaf in schwächerer Form. Viele Personen sprechen mit sich selbst. Sie können nicht denken und empfinden, ohne die nervöse und muskulöse Spannung dabei zum Theil in That zu verwandeln. Ihr Gedanke und ihre Sprache ist schon die That in einer unreifen, skizzenhaften Form. Der hingerissene Liebhaber umarmt einsam auf seinem Zimmer die Luft; der Wüthende, den sein Herz treibt, Jemanden durchzuprügeln, haut irgend ein unschuldiges, gefühlloses Ding, nur um seiner Wuth Luft zu machen. Ein jähzorniger, roher Mann, aber zu gebildet, seine Frau zu schlagen, zerschlägt einiges Porzellan mit der Empfindung befriedigter Rache. Man könnte Beispiele der Art in’s Unendliche mehren. Der zu Grunde liegende psychologische Proceß wird aber schon deutlich sein, nämlich daß das Streben einer Idee oder eines Gedankens, einer Erinnerung oder eines Entschlusses, sich zu verwirklichen, sich als Thatsache zu produciren, daß dieses Streben bereits die Thatsache inwendig ist, die Wirklichkeit in einer schwächeren Form, der Embryo belebt und reif und drängend, geboren zu werden. Wenn man geneigt zum Gähnen ist, und nur ein Weilchen diese Neigung nährt, gähnt man wirklich. Noch schlimmer, auch andere Leute gähnen dann nicht selten mit. Letzteres psychologische Geheimniß benutzen manche Taschendiebe. Sie stellen sich vor ihr Opfer hin und gähnen. Der zu Bestehlende gähnt dann auch nicht selten, und während er das Maul aufsperrt und die Nase gen Himmel richtet, ganz im Genuß der Wonne des Gähnens verloren, nimmt ihm der Dieb die Uhr oder was er sonst in der Eile loseisen kann. - Der gebildete Mensch, welcher die Ideen und Begriffe von Handlungen denkt oder ausspricht, bedarf immer einer besondern Anstrengung (oder Uebung), um die Thatsachen derselben, die wirklich in ihm vorgehen, nicht zu lebhaft und natürlich in Bewegung und Gesticulation zu äußern. Die Kunst des sogenannten Deklamirens, der Vortrag, nach Goethe „des Redners Glück,“ die mimische, die dramatische Kunst beruhen im Grunde blos auf einer Unterdrückung und Regulirung des natürlichen Bestrebens, das Vorgetragene möglichst durch Bewegung und Symbolik der Thatsachen, welche in den Worten liegen, anschaulich zu machen. Wer hier zu natürlich ist, macht den Eindruck des Rohen, Uebertriebenen. Gute Schauspieler, wie z. B. Seydelmann einer war, leben und leiden ihre Rollen übrigens ziemlich so stark durch, als wenn sie thatsächlich die leibhaftige Rolle wären. Iffland war ein Tyrann, wenn er Tyrannen einstudirte, ein schwacher, gutmüthiger Mann, wenn die Rolle, mit der er sich eben trug, ein gutmüthiger Charakter war. Seydelmann beschleunigte seinen Tod durch Einstudiren seiner letzten Rolle, des Werder’schen Columbus, der fünf Akte hindurch sich mit Sterben beschäftigt. Der bloße Gedanke an einen ekelhaften Gegenstand kann Erbrechen erregen. Wer gewisse unangenehme Töne nicht vertragen kann, dem geht es schon in die Zähne, wenn Jemand Miene macht, diesen Ton hervorzubringen.

Wir alle schaudern, wenn wir in einem Romane irgend ein schreckliches Ereigniß verfolgen. Gute Schilderungen, d. h, solche, welche die Wirklichkeit recht anschaulich malen, können uns zu Thränen rühren, wie die volle wirkliche Sache.

Die höheren Sinne des Sehens und Hörens werden selten bis zu so hohem Grade erregt, daß sie eine wirkliche Gestalt oder einen wirklichen Ton für die Empfindung erregen, wiewohl gute Musiker bei Durchlesung einer Partitur die ganze Musik derselben hören. Im Schlafe werden aber diese Sinne desto öfter mit reellen Abdrücken der Wirklichkeit geplagt oder erfreut. Daß Traumbilder wirklich Produkte von Processen sind, welche die Sehnerven beim wirklichen Sehen derselben durchmachen, daß also Traumbilder wirklich gesehen werden, davon kann man sich oft selbst überzeugen, man muß nur beim ersten Erwachen aus einem Traume gleich die Augen öffnen. Nicht selten sieht man dann noch die Traumbilder, wie sie eben verschwinden. Spinoza machte zuerst auf diese Thatsache aufmerksam und der Physiolog Johannes Müller bestätigt sie aus seiner eigenen Erfahrung. Wir haben darin den reellen und soliden Schlüssel zu Geistersehern, Hellsehern, Mesmerismen, Doppelgängern, Spuk und Aberglauben aller Art. Es ist ganz natürlich, daß Gedanken und Erinnerungen zuweilen für wirkliche Thatsachen gehalten werden. Das Wunder ist nur, daß es nicht öfter geschieht.

Ich kenne einen Aufschneider von Profession, der, so oft er den Mund aufthut, lügt, daß sich die Balken biegen und doch nie ein unwahres Wort spricht. Die Gedanken und die Ideen, welche stets nervös lebhaft und genial aus ihm herausquellen, spielen seinen Sinnesorganen so gewaltig mit, daß er stets vollkommen von der Realität seiner Aufschneidereien überzeugt ist. (Kein Spaß, sondern eine in Deutschland ziemlich bekannte Persönlichkeit.)

Man braucht nur irgend einen wiederbelebten Eindruck (oder eine Idee) durch ausschließliche Aufmerksamkeit zu verstärken und zu concentriren und ihr willenlos freien Lauf zu lassen, indem man den Willen und die Thätigkeit aller äußern Sinne aufhebt (wie dies in Fieberphantasien, im Traume und magnetischen Schlafe wirklich der Fall ist), um sich zu überzeugen, wie leicht Zustände eintreten, in welchen das aus dem Innern hervorgeholte Bild nicht mehr von einem wirklichen Gegenstande unterschieden wird, und uns die Schöpfung unserer eigenen „Phantasie“ als ein fremdes Wesen von Außen entgegentritt. Diese Entfremdung unseres eigenen Kindes ist das Wahre und Schauerliche in der Furcht vor Gespenstern, ist die Thatsache, daß auch gescheidte aufgeklärte Leute zuweilen Gespenster sehen können. Die Idee einer Handlung setzt nicht selten alle die zu dieser Handlung gehörigen Muskeln in Bewegung, ohne daß wir etwas davon merken. Das ist das bekannte Geheimniß der wirklichen und nicht eingebildeten Tischdreherei. Die volle Idee des Sehens versetzt nicht nur die entsprechenden Hirn-, sondern auch die Sehnerven in den Proceß des wirklichen Sehens. Wenn man an ein Leibgericht denkt oder nur davon spricht, läuft uns sprüchwörtlich „das Wasser im Munde zusammen,“ und der Gaumen fühlt sich mit der imaginären Delikatesse wirklich gekitzelt.

Ich hatte einmal einen lieben Freund, nämlich einen Hund, der nicht gern trocknes Brot fraß. Wenn ich aber einen ganz reinen Teller nahm und das Brot darauf umherwischte, fraß er’s mit Wonne. Die Erinnerung an Bratenfett, welche er dabei in sich auferweckte, ersetzte ihm die Butter auf dem Brote vollkommen. Vielleicht dacht’ er wirklich: ’s ist doch gut, daß ich Bratenfett auf’s Brot kriege, statt Butter. Die Irländer, die früher ihre Kartoffeln an einem in der Mitte hängenden Häringe rieben, halten, wie der Witz sagt, jede Kartoffel noch an die Stelle, wo der nicht mehr zu bezahlende Hering hing, um sie schmackhafter zu machen.

Summa Summarum ergiebt sich aus solchen psychologischen Thatsachen, mit der Wahrheit in der Mitte, daß Gedanken und Ideen die Nerven wirklich eben so in Thätigkeit setzen, wie die auf uns wirkenden Thatsachen derselben, [78] daß es weniger Lug und Trug in der Welt giebt, als wir im Allgemeinen anzunehmen geneigt sind. Es giebt Lügner, die niemals lügen, Geisterseher und magnetische durch neun eiserne Thüren Seher, die wirklich aus eigener Anschauung schöpfen und sprechen.

Nur noch ein Wort über die spontane oder freiwillige Aktion im Organismus, im Gegensatz zu der unwillkürlichen des Herzschlages, des Athmens u. s. w. Das Nervensystem gleicht einer Orgel mit stets geladenen Blasebälgen und stets bereit und drängend, sich durch jede geöffnete Pfeife ihrer Ueberfülle von Wind zu entledigen.

Die Erregung unserer Sinne, Empfindungen und Gefühle, unser Denken und Wollen ist der Herr Cantor, der darauf spielt und bestimmt, durch welche Pfeifen der Wind blasen soll. Die Register der Sprache und des Gesanges, wenn gesund und kräftig, fangen oft auch ohne Cantor und Organist an zu spielen. „Ungeheure Heiterkeit“ zersprengt die Klappen, und der übermüthig mit Gesundheit geladene Schusterjunge singt gröhlend in die Welt hinein, um, wenn er aufhört, furchtbar zu pfeifen. So singt auch der Vogel aus reiner innerer Ueberfülle an Nervenkraft und Lebenslust, wenn nicht ganz aus freien Stücken, doch gleich, sobald an einem warmen Junimorgen früh um drei Uhr ein anderer Vogel seine erste Pfeife geöffnet. In kurzer Zeit jubelt der ganze duftige Wald und der ganze morgenrothüberhauchte Himmel von Lerchengetriller.

Der Gesang des Vogels ist der wahre Typus aller „freien Sänger“. Wenn ein Dichter seine schlechten Verse loben und entschuldigen will, singt er: „Ich singe wie der Vogel singt,“ ich muß, ich kann nicht anders, es quillt mit Gewalt heraus.

Diese merkwürdige Erzeugung von Kraft und Uebermuth im Innern ist ein Lebensgeheimniß des Nervensystems. Starke, junge Nerven nöthigen deshalb ihren Organismus, sich auf die verschiedenste Weise dieses Uebermuthes zu entledigen. Mit welcher gottvollen, unermüdlichen Heiterkeit und graziösen Fülle spielt die junge Maikatze, besonders wenn sie einen Zwirnsknäuel erwischt hat! Der nervöse Hund, nach langer Haft in’s Freie geführt, welch ein göttliches Bild von sich entladender Ueberkraft im freudigsten Gebell, in den tollsten Sprüngen, in unaufhörlichen Zickzacks! Der Reiter nennt sein Pferd „frisch,“ wenn die in ihm gesammelte Nerven- und Muskelkraft noch nicht gebraucht ward. Volle Gesundheit, natürliche Kraft und Jugend nöthigen uns oft mit Gewalt, aus der stubendunstigen Enge hinaus zu fliegen, nur die angesammelte Ueberkraft los zu werden. Die unverwüstliche Lust an Bewegung und Spiel in jungen, kräftigen Kindern folgt aus der Nothwendigkeit, sich des stets drängenden Uebermaßes von Nervenkraft und Lebenslust zu entledigen. Man sollte daher besonders dieser quellenden Jugend diesen Uebermuth so wenig als möglich beschränken und sich während der ersten acht Jahre unserer Kinder damit begnügen , diese Kraft in der körperlichen Erziehung entsprechenden Kanälen abzuleiten.

Von weiteren und höheren psychologischen Funktionen gelegentlich.




Der Giftmischer Palmer.

Die berühmtesten Giftmischer und Giftmischerinnen der vergangenen Jahrhunderte haben jetzt in dem Giftmischer und Fälscher William Palmer in England einen Genossen gefunden, der sich ihnen nicht nur kühn zur Seite stellen kann, sondern sie fast alle an Größe und Umfang seiner Verbrechen übertrifft.

Indem wir den umfänglichen Aufzeichnungen eines brüsseler Blattes über diesen entsetzlichen Menschen folgen, geben wir folgendes Nähere über seine Verbrechen.

Im Trentthale in Staffordshire liegt an der Nordwesteisenbahn die kleine aber wohlhabende Stadt Rugely. Nichts Anmuthigeres läßt sich denken, als die mit schattenden Bäumen besetzten Straßen des Ortes und die rings um denselben liegenden grünen Wiesen. Einen Büchsenschuß etwa von der steinernen Brücke, welche die Ufer des lieblichen Trent verbindet, erhebt sich ein anmuthiges Haus. Es ist aus Ziegelstein erbaut, und durch eine Allee, die von seiner Thür ausläuft, mit dem Flusse verbunden. Auf dem reinlichen Hofe stehen Orangen- und Lorbeerbäume in Kübeln, und unweit von dieser Wohnung dehnt sich ein Friedhof aus, unter dessen Hügeln die vergangenen Generationen schlafen.

In diesem anmuthigen Hause nun wohnt die Wittwe eines Holzhändlers, der, nachdem er sich durch geheimnißvolle Spekulationen bereichert hatte, durch einen eben so geheimnißvollen Tod in’s Grab sank. Unter dem Dache des Hauses ward eine zahlreiche Familie geboren. Mistreß Palmer, so heißt die Wittwe, gab fünf Söhnen und zwei Töchtern das Leben. Von diesen Söhnen ward der erste Advokat, der zweite Prediger, der dritte Arzt, der vierte Kornmäkler, der fünfte Holzhändler. Von den beiden Töchtern lebt die eine noch, und erfreut sich wie die Mutter einer allgemeinen Achtung. Die zweite fand, in Folge von Trunksucht, ein frühzeitiges Ende. Obgleich reich und deshalb einflußreich, hatte diese Familie in der Dunkelheit gelebt, bis eins ihrer Mitglieder, der Arzt William Parker, durch seinen Prozeß ihr eine traurige Berühmtheit verschaffte.

William Parker ist fünfunddreißig Jahre alt, und war bis vor Kurzem in seinem Geburtsorte ausübender Arzt. Mit einem angenehmen Aeußern verbindet er ein eben so angenehmes joviales Wesen; er war wohlthätig gegen die Armen, höflich gegen Leute, die tiefer standen als er, und ein großer Freund des weiblichen Geschlechts. Seine außer der Ehe erzeugten Kinder starben bald nach ihrer Geburt; vier seiner ehelichen Kinder hatten dasselbe Loos, nur ein einziges, sieben Jahre alt, ist noch am Leben. Palmer hatte die uneheliche Tochter des Obersten Brooks von der ostindischen Armee geheirathet. Nach dem Tode des Obersten, der ermordet wurde, ohne daß man den Mörder je entdeckte, fiel der Nießbrauch seines Vermögens seiner Geliebten und das Vermögen selbst seiner Tochter, der Frau Palmer’s, zu.

Palmer hätte in der Verbindung mit dieser liebeswürdigen Gattin ein glückliches Leben führen können. Aber andere Plane beschäftigten seinen ruhelosen und abenteuersüchtigen Geist. Ganze Nächte brachte er in seinem Studirzimmer zu, wo er sich mit den Eigenschaften der Gifte, des Strychnins, der Blausäure und des Morphins beschäftigte. Seine Leidenschaft für die toxikologische Wissenschaft war so groß, daß er einem seiner Lieblingspferde den Namen „Strychnin“ gab. Palmer war ein großer Pferdeliebhaber. In einer Stadt mit einem bedeutenden Pferdemarkt erzogen, keimte bald die Lust an diesen edlen Thieren in ihm auf, und in spätern Jahren war es seine Manie, wie die großen Herren des Landes schöne Pferde zu halten, die Wettrennen zu besuchen und hohe Wetten zu machen. Dieses sehr kostspielige Vergnügen verschlang indeß bald sein Vermögen. Seine unglücklichen Wetten führten ihn den Wucherern in die Hände, er lieh Geld zu hohen Zinsen und wußte sich endlich nicht mehr zu helfen. In dieser seiner Bedrängniß zog gerade seine Schwiegermutter in sein Haus, um ihrer Tochter nahe zu sein. Aber schon vier Tage nach ihrem Einzuge starb diese Frau, und die bedeutenden Einkünfte, die sie bisher von dem Vermögen ihrer Tochter gezogen hatte, gingen jetzt auf diese und ihren Mann über, der dadurch aus seiner Verlegenheit befreit wurde. Das Vermögen der Mistreß Palmer mußte indeß nach ihrem Ableben an ihre Kinder fallen. Palmer wandte sich daher an drei Lebensversicherungsgesellschaften, welche sich verpflichteten, ihm am Todestage seiner Gattin 13,000 Pfd. Sterling auszuzahlen. Bald nach diesem Schritte, am 24. Januar 1854, ward Mistreß Palmer von einem Kinde entbunden, das nur zwei Tage lebte. Am zweiten Tage ließ Palmer einen achtzigjährigen Arzt, Namens Bamford kommen, der eine Mixtur verschrieb. Der Vater reichte die Arznei selbst seinem Kinde, und dieses starb eine Stunde nachher. Einige Monate später kam ein Herr Bladen, der Agent einer großen Brauerei, von dem Palmer bei einem Wettrennen 400 Pfund Sterling geliehen hatte, nach Rugely um an die Wiederbezahlung zu mahnen. Palmer lud ihn ein, die Nacht bei ihm zu wohnen. Mr. Bladen willigt ein, und wird in der Nacht krank. Der alte Doktor wird gerufen und verschreibt eine beruhigende Arznei. Eine Stunde nachher hat er aufgehört zu leben und – Palmer sein Schuldner zu sein.

Im September 1854 kehrte Mistreß Palmer von einem Concert in Liverpool mit einer leichten Unpäßlichkeit nach Rugely zurück. Ihr Mann reichte ihr am folgenden Tage eine Tasse süßen Thee ohne Milch. Nachdem Mistreß Palmer davon getrunken [79] mußte sie stark erbrechen; wieder ward der alte Doktor Bamford gerufen, man sagte ihm, die Patientin leide an der Cholerine, und er verschrieb Pillen und Kalomel und Coloquinten. Er kam am Abend wieder, fand aber die Kranke noch in dem nämlichen Zustande. Seit dieser Zeit sah er sie nicht wieder; ehe er aber das Haus verließ, unterzeichnete er im Voraus eine Bescheinigung, daß Mistreß Palmer an der Cholerine gestorben sei. Ein anderer Arzt unterzeichnete eine ähnliche Erklärung, unter welche die alte taube Krankenwärterin gleichfalls ihre Unterschrift setzte. Am 29. September schrieb Palmer in sein Anschreibebuch: „Meine arme Frau starb 1 Uhr 10 Minuten.“ Am 8. Oktober schrieb er hinein: „In der Kirche gewesen, das heilige Abendmahl gefeiert.“ Die drei Lebensversicherungsgesellschaften zahlten die 13,000 Pfd. Sterling richtig aus.

Diese Spekulation hatte einen so günstigen Erfolg gehabt, daß Palmer sich bewogen fühlte, sie von neuem zu versuchen. Er hatte einen Bruder Walter, der schon am Delirium Tremens gelitten hatte. Nichtsdestoweniger gab es Aerzte, welche bezeugten, daß Walter Palmer sich einer guten Gesundheit erfreue, worauf es dessen Bruder gelang, verschiedene Lebensversicherungen zu der Verpflichtung zu bewegen, ihm beim Tode Walter´s die Summe von 15,000 Pfund Sterling auszuzahlen.

Walter Palmer war ein leidenschaftlicher Trinker; sein Bruder hatte also einen Vorwand, ihm einen Aufseher zur Seite zu stellen. Dieser Mann kostete ihn zwar 5 Pfd. Sterling die Woche, leistete dafür aber auch treffliche Dienste. Niemals erwachte Walter, ohne an seinem Bette eine Flasche Branntwein zu finden. Er trank stets, hustete viel und klagte über heftige Schmerzen in den Schulterblättern. Am 14. August 1855 kehrte Walter Palmer mit seinem getreuen Wächter von dem Wettrennen bei Wolverhampton in trunkenem Zustande zurück, was jedoch den gefälligen Diener nicht abhielt, ihm noch mehr zu trinken zu geben. In der Nacht bekam Walter eine Congestion, sein Bruder ward gerufen und reichte ihm ein Mittel. Walter starb noch vor der Ankunft des Dr. Bamford, welcher nicht anstand, ein Certifikat zu unterzeichnen, welches den natürlichen Tod des Gestorbenen bescheinigte. Die 15,000 Pfd. Sterling wurden übrigens diesmal nicht ausgezahlt und da William Parker diese Summe nicht reclamirte, entstand Verdacht. Dennoch ward keine Leichensection vorgenommen. Denn Palmer war in Rugely ein angesehener Mann, er hatte einen Geistlichen und einen Advokaten zu Brüdern, besaß herrliche Rennpferde, mit einem Wort, er war ein vollkommener Gentleman und Niemand wagte ihn anzuzeigen.

In seinen Hoffnungen diesmal getäuscht, glaubte Palmer jetzt durch Wetten bei der Steeple-Chase von Chrewsbury sich entschädigen zu müssen. Er begab sich dorthin in Gesellschaft eines intimen Freundes, Namens Parsons Cook, eines jungen Mannes von 28 Jahren. Eins von Cook´s Pferden trug den Preis davon, und der glückliche Eigenthümer des siegreichen Renners gab seinen Freunden im Wirtshause „Zum Raben,“ ein Diner, dem ein Gelage folgte, das mit Wein anfing und mit Grog endete. Beim ersten Glas Grog rief Cook: „Was ist in diesem Getränk?“ Aber Palmer leerte sein Glas in einem Zuge und nöthigte seinen Freund scherzend, das Nämliche zu thun. An demselben Abend ward Cook sehr unwohl und übergab dem Wirth 700 Pfd. Sterling, die er bei sich hatte, indem er, allerdings in trunkenem Zustande, Palmer beschuldigte, ihn vergiftet zu haben, um ihm sein Geld zu stehlen. Der Wirth wollte auf das Ansinnen eines Trunkenen nicht eingehen. Cook erholte sich auch und kehrte mit Palmer am folgenden Tage nach Rugely zurück. Aber bald nachher stellten sich die bedenklichen Symptome ein. Man ließ Palmer kommen, der ihm ein „beruhigendes“ Mittel eingab. Nachher wurden noch mehr Aerzte zugezogen, und einer derselben sah, wie Palmer dem Kranken zwei Pillen verschlucken ließ, nach deren Genusse der Letztere furchtbare Krämpfe bekam und nach kurzem Todeskampfe verschied.

In diesem Falle ließ sich eine Untersuchung nicht vermeiden. Der Vater des Verstorbenen schickte den Magen seines Sohnes dem Dr. Taylor, einem der geschicktesten Chemiker Londons, und dieser antwortete: „Der Tod ist durch den Tetanus und dieser durch Strychnin erfolgt.“ Tags darauf wurde Palmer unter der Anklage auf überlegten Mord in Verhaft genommen. Aber die Sache hatte damit noch nicht ihr Ende. Von den 700 Pfund, die Cook von Shrewsbury mitgebracht hatte, fanden sich nur 15 wieder. Das Register, worin er seine Wetten eingetragen, und das er auf dem Kamin liegen gelassen hatte, war verschwunden. Ferner wurde bewiesen, daß am ersten Tage nach der Krankheit Cook´s William Parker nach London geeilt war, um Wechsel mit der gefälschten Unterschrift Cook´s escomptiren zu lassen. Er hatte sich auf diese Weise 1000 Pfd. Sterling verschafft.

Nach der Verhaftung Palmer´s erhielt der Polizeichef vom Minister des Innern die Erlaubniß, die Leichen der Mistreß Palmer und Walter Palmer´s wieder ausgraben zu lassen. Die Eingeweide der Frau wurden gleichfalls von Dr. Taylor zur Untersuchung gesandt, und nach dessen Bericht, sowie nach dem Verdict der Todtenschaujury war der Tod der Mistreß Palmer nicht in Folge einer Cholerine, sondern in Folge wiederholter Dosen Antimon eingetreten, während Walter Palmer durch Blausäure und Cook durch Strychnin bei Seite befördert waren.

Wie Dr. Taylor sagt, brauchte der Giftmischer etwa ein halbes Jahr, um seine Gattin zu tödten, ein Jahr lang beförderte er die Ausschweifungen seines Bruders, damit dessen Tod als eine Folge des Trinkens, und nicht als eine Folge der Blausäure, wovon er in Wolverhampton kurz vorher eine Unze gekauft hatte, erschien.

Man kann sich denken, daß dieser Proceß in England die größte Sensation macht. Aber welch´ furchtbare Familientragödie enthüllt er auch! Der Vater Palmer´s stirbt nach Anhäufung eines großen Vermögens in mysteriöser Weise; eine Tochter stirbt in Folge ihrer Trunksucht, ein Bruder wird von seinem eigenen Bruder, die Frau von ihrem Manne vergiftet! Der Schwiegervater Palmer´s, Oberst Brooks, fällt durch die Hand eines unbekannten Mörders, seine Schwiegermutter stirbt an dem Gifte, welches er ihr gereicht. Vier illegitime Kinder finden in ein früzeitiges Grab, die legitimen haben das nämliche Schicksal. Vor einiger Zeit opferte er einen seiner Freunde, Mr. Bladen, vor zwei Monaten einen andern, Mr. Cook. Und als ob noch nicht genug Verbrechen damit auf das Haupt eines Menschen gehäuft wären, erzählt man sich, daß Palmer bei noch zwanzig Personen aus verschiedenen Orten Giftmordversuche machte. Das Gerücht sagt sogar, daß ihm der Tod Lord George Bentinck´s, des Sohnes des Herzogs von Portland, der als Führer der Protectionisten im Unterhause eine Rolle spielte, zuzuschreiben sei. Lord George starb plötzlich auf der Heimreise von dem Wettrennen bei Lancaster; das Buch, worin er seine Wetten verzeichnete, war gleichfalls verschwunden, und wie man versichert, war ihm Palmer eine bedeutende Summe durch unglückliche Wetten schuldig.

Uebrigens ist Palmer bis jetzt nur angeklagt; erst die Geschworenen werden das endgültige Verdikt sprechen, und da seine Schuld noch nicht streng bewiesen ist, so sind die Meinungen darüber noch getheilt; namentlich stehen sich in Rugely die Parteien schroff gegenüber, indem die „Palmeristen“ die Unschuld, die „Anti-Palmeristen“ die Schuld des Angeklagten behaupten. Wie es heißt, werden die bedeutendsten Juristen bei dem Prozeß mitwirken. Lord Campbell dürfte den Vorsitz im Gericht führen, Sir Alexander Cokburn das Amt des öffentlichen Anklägers übernehmen, der berühmte Advokat Wilkins und Sir Fred. Thesiger, Generalprokurator unter dem Ministerium Derby, den Angeklagten vertheidigen. Zum Schluß noch die Bemerkung, daß der Verkauf der Pferde des Angeklagten 4000 Pfd. Sterling aufgebracht hat. Der vierjährige Hengst Chicken ward für 800 Guineen verkauft, die achtjährige Stute Trickstreß kaufte Prinz Albert für 230 Guineen.




Vierundzwanzig Stunden in Venedig.

Der geflügelte Löwe von San Marco – das Sinnbild der alten Wunderstadt Venezia – war mir schon aus meinen jüngsten Jahren her ein Pförtner alles Geheimnißvollen und ein Schlüssel der reichsten Phantasie. Der würdige alte Graukopf, mein erster Lehrer in der Wissenschaft alles Geschehenen, mit seinem schiefgezogenen und so lehrreichen Munde, mit seinen humor-belebten Gesichtszügen, die eine große bewegliche Warze auf dem linken Nasenflügel keineswegs abstoßend, sondern nur noch ausdrucksvoller [80] zu machen schien, hatte uns so oft vom geflügelten Löwen der mächtigen Lagunenstadt erzählt, daß die Wunder des Orients, die Schätze Indiens, die Schrecken der Inquisition, die Heldenthaten eines neuen Römerreichs, der Sagenreichthum der Kreuzzüge, die volle Gewalt jener ersten italienischen Landmacht und größten europäischen Seemacht ihrer Zeit, in plötzlicher Erinnerung heute noch in mir chaotisch auftauchen, bei der Vorstellung jenes trotzigen Markuslöwen und bei der Erinnerung an – die hügelreiche Nase des liebevollsten alten Lehrers meiner Kinderjahre.

Dieser Nasenflügel und jene Fittige des ehernen Wüstenkönigs auf der Piazzetta von Venedig beschäftigten meine Seele ganz, als von Padua her, in einer wundervollen Juninacht, das gewaltige Dampfroß mich der fabelhaften Seestadt entgegenschleifte, hin über die langgestreckte Lagunenbrücke, einen riesigen Damm von 222 Bögen, wohl die längste Brücke der Welt.

Es war eine jener oft besungenen Sternennächte, die das glückliche Italien uns Nordländern zum Feenreiche machen. Der milchweiße Glanz der Sterne, deren man hier Millionen mehr zu erblicken glaubt, als über unsern heimathlichen Wäldern, scheint das Blau der Luft zu verdrängen. Meer und Himmel bilden eine einzige Glorie, wie ein riesengroßer Heiligenschein deucht dem andachtsvoll erhobenen Gemüthe die weite Welt.

Das Geräusch des Bahnhofes riß mich aus der Nachempfindung dieses Bildes. Und doch ist das Treiben hier bei weitem nicht dem unseligen Lärmen unserer Bahnhöfe zu vergleichen. Der Italiener, Sohn einer milderen Natur, scheint Hamlet’s: „behandelt Alles gelinde“ nicht aus dem Sinne zu verlieren. Selbst wo er geräuschvoll werden muß, dämpft doch der weiche Laut seiner Sprache, der besonders dem venezianischen Accente eigen, leicht die Härten, und so wird hier sogar das Getöse von Menschenmassen musikalisch.

Ermüdet von der langen Fahrt, entriß ich mich jedoch schleunigst dem Gewoge der Menschen, um mich dem Wogen auf den Wogen in die Arme zu werfen. Die Straßen sind nämlich hier meistens mit Wasser gepflastert und Gondeln und Battelli vertreten hier die Stellen von Roß und Wagen. Solcher Gassen, deren Häuser sich schnurgerade aus dem Wasser erheben, hat Venedig 154, selten ist ein schmaler Kai (Uferstraße) vorhanden, der den Fußgängern erlaubt, wie auf einem Trottoir längs des Wassers zu gehen. Die eigentlichen Straßen sind enger als irgend in einer andern Stadt; oft kann man die Häuser zu beiden Seiten mit den ausgebreiteten Armen erreichen, manchmal sogar mit eingestämmten Ellenbogen. Es giebt Gassen von nur zwei Fuß Breite, so daß man nicht einmal einen Regenschirm aufspannen kann, und wenn man Jemandem begegnet, sich an die Wand drücken muß, um ihn vorbeizulassen. Die größte Straße, mit den prächtigsten Kaufläden und Buchhandlungen ausgeschmückt, die Merzeria, den Linden in Berlin und dem Kohlmarkte zu Wien an Pracht nichts nachgebend, mißt gleichwohl nur 4-6 Ellen Breite. Dagegen sind alle Gänge und Wege - bis auf einige entfernt liegende größere Plätze - mit kostbaren Quadersteinen gepflastert. Staub und Schmutz kennt man hier nicht, man kann die ganze Stadt, wie einen Salon, selbst bei schlechtem Wetter, in leichten Schuhen durchwandern: woher es kommt, daß der Venezianer bis auf den heutigen Tag nicht gewöhnt ist, Stiefeln zu tragen.

Eine Todtenstille umfing mich, als meine Gondel in den ersten Kanal der Stadt eingelenkt, Nacht über mir, Nacht unter mir. Sanft wiegte mich der leichte Nachen. Der Gondolier verrichtete schweigend sein geräuschloses Geschäft. Zurückgelehnt in die Polstersitze des schwarzbehangenen Häuschens, welches sich auf jeder Gondel zu befinden pflegt – ein altes Luxusgesetz, das längst zur Nationalsitte geworden, erlaubt den Gondeln nur die schwarze Farbe, bis auf den Fußteppich, der bunt sein darf – fuhr ich auf den schwarzen Wogen dahin, die nur im Fahrwasser mit grünlichen Flammen leicht phosphoreszirten, die einzigen lichten Punkte in diesem schwarzen Gemälde. Es war beinahe unheimlich. Keine Spur von Leben. Der Nachtwind wehte ungehört über diese Tiefe, die er nicht erreichte. Kein Baum, kein Zweig, kein Blättchen erzitterte in dieser steinernen Gruft. Wie Schatten schwebten stumme Gondeln an uns vorüber. Nur selten ein dumpfgedehntes „Eh!“ vernahm ich, die Warnung des umlenkenden Barcariols. Als ob mich Charon über den Styx führe, so ein Todesgrauen durchbebte mich auf diesem feuchten Pfade. Unwillkürlich griff ich mir in den Mund, um den Obolos herauszunehmen, welchen die Griechen ihren Todten für den unterirdischen Fährmann auf die Zunge zu legen pflegten.

Doch ein heller Schein versetzte mich plötzlich unter die Lebenden. Flügelthüren öffneten sich an einem mächtigen Palaste, und die blendenden Marmorstufen warfen den Schein von Windlichtern und Fackeln zurück. Festlich geputzte Damen und Herren bewegten sich die Stiegen herab, und die Barcariri stießen vom Ufer. Ein großer Brückenbogen, durch den mein schwarzer Nachen pfeilschnell dahinfuhr, entzog mir das Bild des blühenden Lebens, und starre Nacht tödtete mir wie zuvor plötzlich den geblendeten Blick. „Ein Bild unsers Erdendaseins!“ rief es in mir, und Goethe’s Distichen klangen in meinem Gedächtniß wieder:

„Diese Gondel vergleich’ ich der sanft einschaukelnden Wiege
und das Kästchen darauf scheint ein geräumiger Sarg.
Recht so! Zwischen der Wieg’ und dem Sarge wir schwanken und schweben
Auf dem großen Kanal sorglos durch’s Leben dahin.“

Den letzten Pentameter stoppelte ich mit Mühe in der Rumpelkammer meines Hirns zusammen, was mich aus meinen stoischen Philosophemen herausriß. Ein leiser Stoß meines Wasserrosses vollendete diese Thatsache. An einer breiten Treppe legte die Barke an; ich erstieg die Riva und fand mich bald in meinem Albergo, nach kurzer Stärkung des Magens die Ruhe der Nacht zu genießen.

Der erste Eindruck Venedigs war so befremdlich und mächtig gewesen, daß die ganze Nacht hindurch mein Geist damit beschäftigt war, und in schnell wechselnden Bildern die Geschichte der alten Republik berundschaute. Ich sah, wie in grauen Zeiten, vor Attila’s Alles verheerenden Hunnenschaaren, Flüchtlinge der Veneter sich auf die Laguneninseln des adriatischen Meeres retten, und mit unendlicher Mühe Jahrhunderte hindurch dem treulosen Sand- und Schlammboden, ja selbst dem Meere und den sumpfigen Lagunen, festen Boden abgewinnen, indem sie ganze Wälder von Pfählen einrammen. Wie sich ihre Vereinigung zu Gemeinden und Völkerschaften ausdehnt, die sich als Republik zusammen thun, und schon im 8. Jahrhundert einen Herzog, Dux oder Dogen, wählen. Diese Wahlfürsten sah ich zu Gerichte sitzen und in jener gewaltsamen Zeit, wo Geld theuer, Blut aber wohlfeil war – ganz im Gegensatz zu spätern Jahrhunderten – ohne Weitläufigkeit Prozesse schlichten und öffentlich Recht sprechen. Wie dann Parteiungen den Staat zerwühlen, Familienfehden und Bürgerkriege das eigene Fleisch des Staatskörpers verzehren. Lange Reihen von Dogen zogen kopflos an mir vorüber; denn selten starb einer natürlichen Todes. Die demokratische Form unterliegt nach und nach den Uebergriffen der mächtiger und reicher werdenden Herzoge und der Vornehmen, Nobili, die ihre Familien in das berühmte Goldene Buch eintragen lassen, und der Verfassung den Charakter der aristokratischen Oligarchie aufprägen. Die Schifffahrt, und nach ihr die Handelsmacht der Republik, sehe ich sich ausdehnen und den großen Dogen Heinrich Dandolo, der mit neunzig Jahren und blind die Regierung übernahm, mit den kreuzfahrenden Franzosen in Gemeinschaft, Konstantinopel erobern. Der Staat wird immer reicher, erlangt durch Kauf und Eroberung immer mehr Besitzungen, auch auf der Terra ferma von Italien, so daß die Dogen unter andern den kuriosen Titel annehmen: „Herren von anderthalb Viertheilen des ganzen römischen Reichs.“ Immer weiter tragen die Venetianer ihre Waffen, ihre Münzen, bis sie im 14. und 15. Jahrhunderte den Glanz des alten römischen Reichs über ihre Republik verbreiten. Wie in ersterem, wurden auch hier nach und nach die Sitten milder, Künste und Wissenschaften blühten auf, und schienen ein Monopol dieses prächtigen Staates zu einer Zeit, wo ganz Europa in Barbarei verfallen war. Aber die Sittenverderbniß des alten Rom kehrte auch in dessen Nachbildung, der üppigen Venezia, ein und zerstörte die Lebenskraft. Als nun vollends die Entdeckung Amerika’s und des Seewegs nach Ostindien, um Afrika herum, Venedig seinen ergiebigsten Handel mit Indien entzog, als die wilden Osmanen Konstantinopel genommen und dem Freistaate seine blühendsten Provinzen geraubt, Cypern, Candia, Morea etc., da war die stolze Kraft auf immer gebrochen. Schlemmerei und Tyrannei entmannte die römergleichen Veneter je mehr und mehr, die Republik vegetirte nur noch ein neutrales Leben dahin, dem, obwohl wieder erst nach Jahrhunderten, der Geist der französischen Revolution durch Bonaparte den Garaus machte. Vierzehn Jahrhunderte hatte die Republik bestanden, als sie sich am 12. Mai 1799 ohne Schwertstreich ergab, und der letzte Doge sammt dem Großen Rathe abdankte. Nach der französischen Herrschaft

[81]

Ansicht von Venedig.

[82] die eine heilsame Regeneration der verdorbenen Nation mit sich zu führen schien, kam Venedig unter die Botmäßigkeit Oesterreichs (seit dem Pariser Frieden von 1814), und – harrt nun vertrauend auf die Rückkehr seiner ehemaligen Pracht und Größe.

Da spiegelte sich der erste Schein der Morgendämmerung am Plafond meines Schlafzimmers; eiligst erhob ich mich, um die wenigen Stunden, die mir vergönnt waren, in Venedig zu verweilen, zur Betrachtung dieser Zauberstadt recht zu nützen. Dem vorgefaßten Plane gemäß begab ich mich, wie wohl die meisten Fremden, zunächst nach dem Markusthurme. Um 1250 vollendet, erhebt sich derselbe schlank und frei aus dem Boden heraus, 335 Fuß hoch. Ein bequemer Gang ohne Stufen führt hinauf bis auf die Gallerie.

Welches Panorama bestürmt hier den trunkenen Blick! Da liegt zu meinen Füßen die triangelförmige Stadt, wie ein Floß anzuschauen, auf dem ein kleines Paris steht. 15,000 Häuser, Hunderte von Thürmen und Minarets, 41 freie Plätze. Dazwischen blinken die Kanäle mit 450 edlen Brücken übersäet. Sechs Häfen mit Tausenden von Schiffen, Schanzen und Batterien, mehr als hundert kleinere und größere Inseln, herrlich bebaut mit Ortschaften und himmlischen Gärten, zeigen sich der Stadt zunächst in den Lagunen verstreut, zumal gegen Süden. Oftwärts unterscheidet man deutlich die Küste des adriatischen Meeres, im Westen das lachende Grün der Ebene von Padua, nördlich, hinter einer weiten Landschaft, erglänzt mit beschneiten Gipfeln die Kette der Alpen. Wendet man von der wundervollen Fernsicht das Auge auf die nächsten Gegenstände, so ist es die uralte Markuskirche mit ihren fünf weißblinkenden orientalischen Kuppeln, welche die Blicke fesselt, neben ihr der riesige Dogenpalast mit den beiden prächtigen Prokuratien, die zusammen den Markusplatz einfassen, endlich das auf demselben sich bewegende ameisenartige Gewimmel der zwerghaft zusammengeschrumpften Menschen. An den Markusplatz rechtwicklicht stößt die Piazzetta, ein kleinerer Platz, der zwischen zwei hohen rothen Granitsäulen, die der Doge Ziani aus Griechenland hierher gebracht, und worauf sich der geflügelte Löwe von San Marco und die Statue des heiligen Theodor befinden, die Aussicht auf den Hafen eröffnet. Fast bestürzt von der Pracht dieses Anblicks stieg ich auf den Markusplatz hernieder. Neues Staunen ergriff mich hier! Es ist kein Markt, keine Straße, sondern ein Salon von 680 Fuß Länge und 550 Fuß Breite. Er ist mit großen Marmorplatten belegt und ringsum von den großartig schönsten Gebäuden und Arkaden geschmückt. Keine Stadt der Welt bietet so reichhaltige und vollkommene Muster der Architektur, wie Venedig.

Hier allein kann die Geschichte der Baukunst vom ersten Wiederaufleben derselben bis zur Epoche ihrer glänzendsten Höhe studirt werden. Freilich hat Venedig in dieser Kunst auch die größten Meister aufzuweisen. Zu einer und derselben Zeit concurrirten hier Baumeister, wie: Vignola, Sansovino, Palladio, Scamozzi und Antonio da Ponte! Während die Malerei außer dem großen Titian, Tintoretto, Paul Veronese und Giorgione wenig bedeutende Namen aufzuweisen hat und die Bildhauerkunst nur einen Canova erzeugte. – Zwei Seiten des Platzes begrenzen die alten und neuen Procuratien (Administrationsgebäude), an der dritten erhebt sich der wundervolle Dogenpalast, und an der gegenüber befindlichen offenen die Markuskirche mit ihren Portalen, Kuppeln und Thürmen, davor die drei großen Standarten, die ehemals die Fahnen der drei Königreiche Candia, Cypern und Morea trugen, jetzt mit Oesterreichs Farben bezeichnet. Ueber dem Portale der Kirche stehen jene vier korinthischen, aus Erz gegossenen, vergoldeten Rosse, welche einst durch Nero aus Griechenland nach Rom, durch Constantin nach Constantinopel, und 1204 durch den Dogen Dandalo nach Venedig gebracht wurden. Napoleon brachte sie nach Paris, von wo sie 1814 auf ihren alten Stand an der Markuskirche zurückkehrten. Die letztere selbst gehört zu dem Kostbarsten und Wunderreichsten, was die Erde bietet; selbst die Peterskirche in Rom verdunkelt sie nicht. Der Schatz der Kirche birgt nicht nur das ursprüngliche Evangelium St. Marci, vom Zahn der Zeit bis beinahe auf den letzten Buchstaben zernagt, sondern der Sage nach selbst die irdischen Ueberreste des heiligen Evangelisten, die man in den Kreuzzügen aus Alexandrien geraubt. Der im Jahr 967 begonnene Tempel selbst bietet ein seltsames Gemisch byzantinischer, gothischer und italienischer Bauart. Die Decke der Vorhalle ist ganz mit Mosaik ausgelegt. Drei bronzene Thüren mit eingelegten Arbeiten aus Silber führen in das Innere, wo der wellenförmige Fußboden von Jaspis und Porphyr Thiere, Bäume und Hieroglyphen darstellt. Ueber demselben erhebt sich ein Wald von kostbaren Säulen, deren Zahl im Ganzen auf 500 angegeben wird. Das Gewölbe, die Kuppeln, alle sind von Mosaik, die Altäre und Kapellen mit Gold, Silber und Edelsteinen überladen; nicht eine Zierrath, keine Arabeske in dem weiten Raume, die sich wiederholte. Es bringt eine feenhafte Wirkung hervor, ähnlicher einem Palaste aus „Tausend und eine Nacht“ als einem Gotteshause der Christen.

Der alte Dogenpalast, ein maurisch-gothisches Riesengebäude, zur Zeit der Republik Residenz des Staatsoberhauptes, Rathskammer und Staatsgefängniß, enthält jetzt fast nur Kunstmuseen und Bibliotheken, deren Schätze ich ungenossen vorübergehen lassen mußte. Eine sogenannte Riesentreppe im Innern führt an dem höllischen Löwenrachen vorüber, in welchen man nur einen Zettel zu stecken brauchte, um den darauf Bezeichneten dem sichern Verderben preiszugeben. Aus dem ersten Stockwerke des Gebäudes führt eine bedeckte Gallerie, „die Seufzerbrücke,“ über einen Kanal in die gegenüberliegenden Staatsgefängnisse, die berüchtigten „Bleidächer (piombi)“, deren Scheidewände jetzt gestürzt sind, und die unterirdischen feuchtmoderigen Kerker (pozzi, Cisternen), die nunmehr mit Schutt ausgefüllt sind. Aehnlich dem Kaiser von China, dessen Thron unmittelbar auf den strengsten Staatsgefängnissen stehen soll, befanden sich die tyrannischen Machthaber Venedigs hier in nächster Nähe der bedauernswerthesten Opfer ihrer Justiz.

Von der Pracht und den Schrecken dieser merkwürdigen Orte tief ergriffen, zog ich mich in eines der Kaffeehäuser am Markusplatze zurück, um, bevor ich eine Rundreise zu Wasser um die Stadt unternahm, an einer Semada mich zu erquicken, einem mandelmilchähnlichen Getränk aus gestoßenem Melonensaamen und Wasser mit Zucker.

Ich ergößte mich an dem lärmenden Gewirre aller Stände und Nationen, die hier im Herzen der Lagunenstadt zusammentreffen. Verkäufer riefen ihre Waaren aus. Ein fliegender Buchhändler bot mir eine nova bellissima Canzonetta an – es war der Text einer Rossinischen Arie. Auf mein Bemerken, daß ich die Weise dazu nicht kenne, erbot er sich, mir dieselbe so lange vorzusingen, bis ich sie behalten. Ein italienischer Zug, dem man häufig begegnet. Schöne Damen in reizender Tracht promenirten und sprachen unverholenes Verlangen in ihren Blicken aus. Ihr schönen Kinder des Südens verblühet ungenossen! Die Pflicht treibt mich vorwärts und ruft mir zu, wie Mephisto Fausten am Hochgericht: „Vorbei, vorbei!“

An der Piazzetta , wo die Hauptstation der Gondoliere ist, war ein Fahrzeug bald gemiethet; ich warf mich hinein und fuhr, mit meinem Führer, rechts ab den Hafen entlang in den Kanal Grande, den Corso Venedigs, eine prachtvolle Wasserstraße, welche die Stadt in Form eines S durchzieht, sie in zwei Hälften theilend. Die prächtigsten Paläste der alten Nobili imponiren uns hier zu beiden Seiten, und die Geschichte der alten Stadt redet mit steinernen Zungen zur Gegenwart. Leider daß viele der hohen Häuser verödet sind, die Fenster mit Bretern vernagelt, oder mit den Lumpen der Armuth verhängt.

Inmitten der Stadt ist der Kanal Grande von der berühmten Rialtobrücke überdämmt. Ein wahrhaft kühnes Bauwerk! Ein einziger Bogen von 70 Fuß Spannung und nur 30 Fuß Höhe trägt die 148 Fuß lange und 43 Fuß breite Brücke, zu welcher 50 Stufen hinaufführen. Fünf Baumeister, darunter Palladio, bewarben sich um die Ehre, sie erbauen zu dürfen. Antonio da Ponte mit seinem so einfachen als kühnen Plane trug den Sieg davon. – Niemand hat Venedig recht gesehen, der es nicht zu Wasser nach allen Richtungen durchschiffte. Mit jeder Wendung der Gondel entdecken wir neue Reize, entfaltet sich ein neues Blatt der Geschichte. Der Canalazzo oder Kanal Grande interessirte mich so sehr, daß ich wieder zurückfuhr, ihn nochmals zu durchlaufen. So kehrte ich wieder zur Piazzetta, meinem Ausgangspunkte. Den Wasserweg nach Osten verfolgend, staunte ich das bunte Leben der Riva degli Schaivoni (Kai der Leibeigenen) an, über den mehrere Brücken nach einem, von Napoleon angelegten, öffentlichen Garten führen, dem einzigen Punkte, wo der Veneter sich in der freien Natur unter Bäumen ergehen konnte – wenn er es nicht vielmehr vorzöge, jedes freie Stündchen auf dem Markusplatze zu verbummeln. Weiterhin befindet sich das große Arsenal vor dem die beiden berühmten Löwen aus dem Hafen Athens stehen. Das [83] colossale Innere sah ich nicht; doch soll es mehr wie alles Andere die Größe und den Verfall der Republik predigen.

Staunenswerth sind die Murazzi, ungeheuere Dämme, welche zum Schutz gegen die Meereswellen aus großen Steinblöcken treppenartig in einer Breite von 52 Fuß und in einer Länge von zwei deutsche Meilen erbaut wurden. Sie tragen die stolze Inschrift: „Ausu romano, Aere veneto“ (mit römischer Kühnheit und venetianischem Gelde).

Außer der Markuskirche besitzt Venedig noch eine Menge anderer Tempel, wo man neben den Werken der Bildhauerkunst und Malerei auch die Geschichte der Republik an den Denkmälern ihrer großen Kriegs- und Friedenshelden studiren kann. Leider neigte sich der Tag schon zum Ende, nur flüchtig hatte ich die Prachtkirche SS. Giovanni e Paolo betrachten, nur aus der Ferne die Kirche del Redentore auf der Insel Giudecca, die Franziskanerkirche, die Confraternita S. Rocco sehen, und den großen Reichthum der Kunstwelt Venedigs ahnen können, den der würdige Winkelmann noch über Roms Kunstschätze stellt. Mit Wehmuth sah ich die Sonne sich neigen und die zugemessenen Stunden fliehen.

Schon läuteten alle Glocken mit feierlichen Klängen das Ave Maria ein, als ich, das Bild der Wunderstadt noch einmal ganz zu genießen und die südliche Sonne, von der ich nun Abschied nahm, noch einmal scheiden zu sehen, meine Gondel weit hinaus in die Lagune rudern ließ.

Meine Seele war in wirren Träumen schon nach der fernen Heimath vorausgeschwebt, als der Gondolier das Schiffchen wandte. Welch´ ein zauberisches Bild sich da dem Auge darbot!

Die Sonne war hinter den vizentinischen Bergen hinabgestigen, große veilchenblaue Wolken durchzogen den Himmel über Venedig. Der Thurm des St. Markus, die Kuppeln von Santa Maria und die Pflanzschule von Thurmspitzen und Minarets, welche von allen Punkten der Stadt sich erheben, zeichneten sich als schwarze Stacheln gegen den glänzenden Ton des Horizonts ab. Der Himmel ging durch eine wunderbare Abstufung der Schattirung vom Kirschroth bis zum Blau des Schmelzes über; und das Wasser, ruhig und eben, strahlte den Wiederschein dieses unendlichen Regenbogenschimmers aus seiner klaren Tiefe zurück. Unter Venedig erschien es gleich einem kupferrothen Spiegel. Niemals hatte ich etwas Schöneres gesehen. Diese schwarze Silhouette, zwischen dem glühenden Himmel und dem flammenden Wasser wie in ein Feuermeer geworfen, nahm jene erhabene Abweichung von der Architektur an, welche der Dichter der Offenbarung wohl auf den sandigen Ufern von Patmos schimmern sah, als er sein neues Jerusalem träumte, das er einer schönen Gemahlin nach der Nachtwache verglich. Nach und nach verdunkelten sich die Farben, die Umrisse wurden bestimmter, die Farben geheimnißvoller. Venedig nahm den Anblick einer unendlichen Flotte an, dann den eines hohen Cypressengehölzes, worin die Kanäle sich wie große silberne Sandwege vertieften.

Von dem Entzücken des Anblicks ermattet senkte sich mein Augenlid, eine wonnige Melancholie ergoß sich über meine Seele, die, in Vergessenheit aller Trübsal der Gegenwart, von Bildern einer großartigen Vergangenheit umgaukelt ward und noch einmal den hingeschwundenen bunten Traum träumte von Venedigs alter Herrlichkeit.

Das waren köstliche vierundzwanzig Stunden, der schönste Punkt einer mehrmonatlichen Reise. Venedig hat noch keinen Besucher unbefriedigt entlassen. Kann es auch mit seinem früheren Pomp, den glänzenden Volksfesten, dem Carneval, dem prächtigen Bucentoro (jener goldschimmernden Barke, auf welcher der Doge nach seiner Erwählung hinausfuhr auf die Lagunen, um dem Meere vermählt zu werden, damit es ihm unterthan sei, wie ein Weib), den alten Regatten (großen Schiffswettrennen) nicht mehr aufwarten, und sah ich auch von seinen verborgenen Reizen, jenen hervorragenden und reichhaltigen Kunstschätzen, nicht den hundertsten Theil: allein und einzig der Anblick jenes zuletzt geschilderten Einbruchs der Nacht war nicht nur ein unvergeßlicher Genuß für mich, sondern noch in der Erinnerung wirkt diese himmlische Natur erwärmend und gewissermaßen poetisch belebend in mir nach, wie kaum ein zweites Erlebniß meiner Reisen.



Zwei Stunden mit der Boa Constrictor.

Wir mußten eine Woche nach der andern bei unserm gastfreundlichen Spanier aushalten, da die Hitze Manilla´s jeden Entschluß und jede Bewegung niedersengte. Ein paar kühle Hauche vom Flusse Passig des Morgens und des Abends war Alles, womit man sich erquicken konnte. An´s Baden war nicht zu denken, da monströse Alligatoren alle Tage Weiber oder Kinder vom Ufer wegschlugen, unter ihre Vorderklauen packten und damit in der Tiefe verschwanden. So blieben wir dabei, Morgens zu frühstücken, dann auf´s Mittagessen zu warrten und Cigarren dazu zu rauchen, Nachmittags mit Rauchen und Schlafen abzuwechseln und dazwischen sich mit dem Warten auf´s Abendbrot zu beschäftigen. Aber eines Morgens nach dem Frühstück stürzte ein Diener hastig herein und rief athemlos: „El serpiente, Senor, el serpiente!“ Eine furchtbare Schlange, ein paar Stunden von hier. Sie hat sich um einen Mangobaum gewickelt und schlägt mit dem Kopfe auf dem Boden umher, daß Steine und Staub drum herum fliegen. Sie will fressen! Die Einwohner des ganzen benachbarten Dorfes haben sich geflüchtet, und eine Deputation draußen bittet um den Schutz des tapfern Don Arturo, dessen Kugel nie fehlt.

Diabolo!“ murmelt Don Arturo, „es muß eine Boa Constrictor sein!“

Wir jubelten in Erwartung einer Zerstreuung, eines Abenteuers auf, und ich besonders hatte mich lange nach dem entsetzlichen Genusse gesehnt, die ungeheure Königin der Reptilien persönlich in ihrer natürlichen Majestät des Häßlichen kennen zu lernen. Don Arturo murmelte, sich eine frische Cigarre anzündend, von Unsinn und Unkenntniß, und erzählte, daß dies kein Spaß sei. Beinahe mit Verlust seines eigenen Lebens habe er einmal einen Reiter mit sammt dem Pferde unter den Umarmungen des Ungeheuers krachend zu einem Klumpen zusammenbrechen hören und sehen. Don Arturo, obgleich stolz als Schütze und jede Ueberlegenheit über seinen Muth in vergangener, gegenwärtiger und zukünftiger Rittergeschichte bestreitend, weigerte sich doch, gegen die Boa Constrictor den Cid oder Don Quixote zu spielen, bis unser und seiner Frau Zureden seinen sehr lockern Muth in der Brust spannte, so daß er sich entschloß, mit uns zu reiten. Don Arturo bestieg also sein Roß mit einem melancholischen Blick auf seine Donna Teresa und beinahe weinerlich ausrufend: „Nun meinetwegen; denn Ihr seid alle entschlossen, meine Tage schnell und grausam zu beenden.“ Donna Teresa lachte ihm mit ihren glänzenden, braunen Augen und schneeweißen Zähnen in´s Gesicht, gab dem Pferde einen derben Patsch und lief kichernd in´s Haus.

Wir erreichten auf unsern frischen Pferden trotz der drückenden Hitze bald die Ebene, wo die Boa Constrictor Logis genommen haben sollte, und eine Menge Volkes aus dem ausgewanderten Dorfe, die unter einander stritten und beriethen, bis sie beim Anblick Don Arturo´s in ein enthusiastisches Lebehoch ausbrachen. Dann erzählten sie schreiend durcheinander furchtbare Geschichten von der Boa Constrictor und andere, die früher Thiere und Menschen schockweise aufgefressen haben sollten. Ich hatte dergleichen wild gefärbte Geschichten der Eingebornen für Uebertreibungen gehalten, und freute mich, nun mit eigenen Augen zu prüfen, was von ihrer Kraft und Grausamkeit, von dem glänzenden Farbenspiel und der schauerlichen Grazie ihrer Windungen wahr sei. So trieb ich vorwärts nach einer mit Mangobäumen bedeckten Tiefe in der Ebene, wo nach Aussage der Menge die Schlange ihr Quartier aufgeschlagen hatte. Wir ritten vorsichtig, Don Arturo jeden Baum vermeidend, da sie die Gewohnheit haben sollte, sich in deren Kronen zu verstecken und mit Blitzesschnelle auf das erste nahende lebende Wesen herabzustürzen und ihm ohne Kündigung das Leben auszupressen. Doch ich lachte und ritt absichtlich unter benachbarte Bäume und versprach den Eingebornen den Leichnam der Schlange, aus welchen sie noch heute das Oel ausbraten könnten, nach ihrer Apothekerweisheit ein untrügliches Mittel gegen Rheumatismus. Einige Eingeborne, die zu Fuße hinter uns her gaps´ten, [84] schrien plötzlich: „Da! da! Haltet ein, Señores! Nicht zu nahe, denn das ist sicherer Tod!“

Anfangs sahen wir die Mangobäume ganz ruhig in der brennenden Sonne träumen und weder etwas Lebendiges darin, noch ringsum. Weidende Kühe hatten sich in weite Ferne zurückgezogen. Ich ritt mit einem Freunde bis funfzig Schritte heran, als plötzlich mein Pferd bäumte, die Mähne starrend emporrichtete, furchtbar brausende Töne ausstieß und mit einem ungeheuren Satze zur Seite sprang, so daß ich mich kaum im Sattel halten konnte. Das Pferd hatte den Feind zuerst gesehen und seine Absichten vollständig durchschaut. Auch ich sah ihn glänzen und schimmern. Das Pferd war nicht mehr zu halten. So ritt ich zurück, stieg ab und bat Don Arturo, zu Fuße und mit bereit gehaltenen Büchsen heranzugehen.

„Mögen die Heiligen mir nie vergeben, wenn ich das thue. Diabolo!“ rief Don Arturo.

So blieb uns germanischer Race, mir und meinem Freunde, nichts Anderes übrig, als unsere moralische Ueberlegenheit über Pferde, Spanier und Eingeborne allein geltend zu machen. Wir nahten uns mit bereit gehaltenen Doppelbüchsen bis auf funfzig Schritte, zuerst, ohne Bewegung zwischen den grünen, goldbefruchteten Baumkronen zu merken. Plötzlich saus’te es in ihnen, als wenn ein Sturm darin wüthete. Wir Beide zitterten, als wir die Schuppen des Ungeheuers in der Sonne glänzen sahen. Es schoß mit dem Kopfe weit hervor aus den Blättern auf uns ununterbrochen starrend mit diamantglänzenden Augen, mit der Zunge aus dem Rachen hervorspielend, mit dem ganzen freien Theile des Körpers windend, auf und ab, hin- und herschießend, jedoch ohne uns nur einen Augenblick mit den entsetzlich starrenden, funkelnden Augen zu verlassen. Wir standen wie durch Zauber an den Boden gefesselt, Keiner fähig, ein lautes Wort aus dem zaubergebundenen Munde loszulösen. Der Anblick war so entsetzlich schön! Die Farben des ungeheuern Leibes spielten in unzähligen Tinten in der Sonne, jetzt über und über Gold, dann erbsengrün, dann in tiefem Purpur u. s. w. Endlich lispelte ich: „Versuchen wir einen Schuß! Sie kömmt nicht heraus. Es ist gegen ihre Natur, dem Feinde, der sie sieht, entgegen zu springen. Wir sind sicher. Ich möchte die Windungen des verwundeten, in Wuth gebrachten Scheusals sehen.“

Mein Freund schoß nach dem aufgeschwungenen Kopfe. Die Bäume saus'ten und schüttelten sich und die Mangofrüchte prasselten herab wie Hagel. Der endlose Schweif der Bestie hatte sich los gewunden und schlug und schlug um sich her und schnappte und klatschte wie eine ungeheuere Peitsche. Mit dem Kopfe schoß sie ununterbrochen umher, aber immer mit unverwandtem, blendenden Blick auf uns. Wir flohen, aber ohne sie jemals mit den Augen zu verlassen, rückwärts gehend, bis wir Don Arturo und die Volksmenge erreicht hatten. Wir wurden von großen, starrenden Augen und offenen, breiten Mäulern umringt. Alle schrien zugleich: „Ist sie todt? Ist sie todt?“

„Nein, aber ich habe einen Plan,“ rief ich. „Treiben wir die Kühe dort unter die Bäume und opfern eine. Hat sie ein solches Mahl zu sich genommen, sind wir ihre Herren ohne Lebensgefahr. Mit Schüssen ist’s und bleibt’s gefährlich.“

Dieser Plan gefiel Don Arturo, obgleich die Eingebornen, Jeder für seine Kuh fürchtend, sehr stark dagegen eiferten. Wir versprachen Entschädigung, und so trieben sie auf Befehl Don Arturo's gleich selbst ihre Heerden heran. Sie schnüffelten furchtbar in die Luft hinein, als sie den Bäumen nahe kamen. Die Gefahr, eine Warnung für sie muß schon in der Luft gelegen haben, denn inzwischen hatte sich die Schlange durchaus unsichtbar gemacht und innerhalb der Zweige oben still verkrochen. Sie hatte jetzt die Offensive ergriffen; gegen uns, die wir sie merkten, versteckte sie sich nicht, sondern hatte sich unstreitig nur defensiv verhalten. Unter den Thieren ist wohl mehr Taktik und Strategie, als unter den Weisen von Sebastopol u. s. w.

Die Kühe gingen schnüffelnd unter die Bäume, da sie nichts sahen und diese Schatten gegen die brennende Hitze gaben. Plötzlich krachte es in den Zweigen. Es zuckten grüne und goldene Blitze, welche ein Kalb niederschmetterten und in den Windungen dieser Blitze zerbrachen, so daß man die Knochenzermalmung deutlich darin vernahm. Jetzt zeigte sich ein herzerschütternder Anblick. Alle Kühe waren im Nu auseinander gestoben, bis auf eine, die Mutter des Kalbes, welche mit Wuth und Entsetzen ununterbrochen gegen die um ihr Kalb gewundene Schlange stieß, und dabei mit ihren kurzen Hörnern die Erde aufriß. Plötzlich sehen wir das zerbrochene, zu einem Klumpen zerdrückte Kalb befreit. Die Mutter leckte es und stieß dabei furchtbare Jammertöne aus. Indem sie versuchte, durch diese ihr allein möglichen Zeichen von Zärtlichkeit ihr Kind wieder in’s Leben zurückzurufen, blitzte und zuckte es wieder durch die Luft. Die Kuh wand sich, allseitig golden grün umschlungen, am Boden, und nach einigen Wälzungen und dumpfen, krachenden Tönen lag sie still, nur noch laut durch den Bruch ihrer Knochen, die unter den Pressungen der Schlange zerdrückt wurden, während Blut aus Augen und Maul hervorschoß. Mit dem Schwanze um einen Baum gewunden, zog sie den zermalmten Kadaver der Kuh unter den Schatten desselben, dann wand sie sich los und ruhte aus, mit dem Kopfe auf einem dicken Aste oben, herunterstierend, welche Beute sie zuerst verschlingen wolle. Mit dem Schweife unten spielte sie fortwährend, jetzt die Luft peitschend, dann blitzschnell den Baum umschlingend mit 10 bis 20 Windungen, dann eben so blitzschnell sich ganz oben zusammenziehend, dann wieder auspeitschend und so fort – ein merkwürdig vollendetes Meisterstück von Elasticität, von der hitzigen, giftigen, grausamen Laune der Tropennatur. Endlich wand sie sich herab, zog das Kalb an einen Baumstamm, richtete es daran auf und preßte es in dichten Windungen gegen denselben, daß kein Knochen mehr ungebrochen und unzermalmt blieb. Hierauf begann die Zubereitung des Mahles. Eine halbe Stunde leckte sie die zermalmte Masse über und über mit ihrer gegabelten Zunge und drehte sie über und über nach allen Seiten.

Wir beobachteten Alles ganz genau, ohne daß sie uns die geringste Aufmerksamkeit schenkte, so sehr war sie ganz in dem Geschäft aufgegangen. Endlich betrachtete sie den rings eingespeichelten fetten Bissen mit blitzenden Augen, dann öffnete sie den ungeheuern Rachen in größter Ausdehnung, schnappte am Kopfe des Kalbes zu und ließ es, offenbar ohne viel Anstrengung, in ihren Leib hinunter gleiten.

„Nun haben wir gewonnen,“ rief Don Arturo, der nun plötzlich ein Ritter ohne Furcht und Tadel ward, und trat ganz nahe heran. Die Schlange streckte sich in der Sonne, offenbar, um sich lange und gemüthlich dem Verdauungsschlafe hinzugeben. Ein Eingeborner sprang aus der übrigen Menge mit einem großen Knüppel hervor, den er mit voller Wuth auf den Kopf der Schlange fallen ließ. „Du mein bestes Kalb gefressen, wie?“ rief er dabei mit einem furchtbaren Ausdrucke von Wuth, und sprang zurück. Die Schlange warf einen so teufelischen Blick auf den Fliehenden, daß ich unwillkürlich entsetzt zurückbebte; aber ihre Wuth war ohnmächtig; die Schläfrigkeit der Verdauung nach langem Hunger, nach einem doppelten Kampfe war nicht zu überwinden. Don Arturo zielte und schoß ihr ein Auge aus. Einige convulsivische Sprünge, einige Hiebe mit dem Schweife auf die Erde, daß Staub und Steine sprützten, dann streckte sie sich und starb mit offenem Rachen und dem einen Auge offen.

Wir maßen sie: 35 Fuß 61/2 Zoll lang 2 Fuß 4 Zoll dick im Leibe, wohin das verschlungene Kalb nicht gedrungen war. Die Eingebornen jauchzten und jubelten und zogen das Ungeheuer am höchsten Baume in die Höhe. Ein brauner Kerl kletterte mit einem scharfen Messer den Baum hinauf und gleitete an der Schlange wieder herunter, indem er mit dem Messer einen Schnitt von oben bis unten zog. Don Arturo bekam als Hauptheld die Haut, die Masse des Volkes theilte sich in das Fleisch, um Oel gegen Rheumatismus auszubraten.


„Aus der Fremde“ Nr. 6 enthält:

Die Muriden. – Die New-Yorker „beste Gesellschaft.“ (Von einem Amerikaner). – Südamerikanische Reisebilder. – Aus allen Reichen: Der Staat Iowa. – Der Kampf in und über Kansas. – Der regierende Ziegenbock.

  1. Der Verfasser der preisgekrönten Novelle: „Die stille Mühle.“