Die Gartenlaube (1857)/Heft 14

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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ferdinand Stolle
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Entstehungsdatum: 1857
Erscheinungsdatum: 1857
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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No. 14. 1857.
Die Gartenlaube.
Illustrirtes Familienblatt. – Verantwortl. Redacteure F. Stolle u. A. Diezmann.

Wöchentlich 11/2 bis 2 Bogen. Durch alle Buchhandlungen und Postämter vierteljährlich für 15 Ngr. zu beziehen.


Auf der Eisenbahn.
Vom Verfasser der „Neuen deutschen Zeitbilder.“

Im vorigen Sommer besuchte mich ein alter, langjähriger Freund aus Deutschland. Dieser Freund ist noch ein ausgezeichneter Polizeibeamter in einer großen deutschen Residenz.

Wie? höre ich manchen Leser ausrufen, ein deutscher Polizeibeamter besuchte den Verfasser der neuen deutschen Zeitbilder? Ich antworte für heute nur mit der Frage: Warum nicht? – In der Schweiz erlaubt man sich Manches, was man in königlichen oder kaiserlichen Staaten unterläßt, und in der Nähe der freien Alpen wird man auch offener, freier in seinen Mittheilungen. Mein Freund erzählte mir Mancherlei und darunter viel Interessantes, so auch die nachfolgende Begebenheit. – Er spielt selbst eine nicht unbedeutende Rolle darin; um so mehr führe ich ihn redend ein.

Im verflossenen Sommer, so erzählte er mir, kam eines Tages ein Bekannter, der Kaufmann B., mit sehr verstörtem Gesichte zu mir. Er müsse meinen Rath, wo möglich meine Hülfe in Anspruch nehmen, er fürchte, er sei ein verlorner Mann, wenn ich ihm nicht helfen könne. Vor acht Tagen habe er seinen Reisenden mit der Summe von zwanzigtausend Thalern in Cassenscheinen und Banknoten nach der Provinz P. geschickt, um Landesproducte – B. hatte ein Productengeschäft en gros – einzukaufen und sofort baar zu bezahlen. So eben erhalte er durch den Telegraphen die Nachricht von seinem Reisenden, daß diesem auf der Eisenbahn zwischen den Stationen R. und K. die ganze Summe mit der Brieftasche, worin er sie gehabt, während er im Coupé geschlafen, gestohlen worden sei. Er habe den Diebstahl in K. entdeckt und sofort den Behörden Anzeige davon gemacht; es seien auch alle Schritte zur Ermittelung und Verfolgung des Thäters eingeleitet, allein bis jetzt völlig vergeblich.

Das war die kurze, aber inhaltschwere Mittheilung. B. war ein noch junger Mann, der vor wenigen Jahren sein Geschäft mit einem nur mäßigen Capital, aber mit desto größerem Geschick und Fleiße begonnen, und der in der That seitdem mit Glück operirt hatte. Allein er hatte Recht, die Summe von zwanzigtausend Thalern war ein zu großer Verlust für ihn und er war ruinirt, wenn er nicht wieder zu dem Seinigen kam. Er war ein braver, junger Mann und stand im Begriffe sich zu verheirathen, seine Braut war ein liebenswürdiges Mädchen, die Tochter eines meiner Freunde. Das Alles war eine unabweisliche Aufforderung für mich, ihm mit allen meinen Kräften zu helfen. Doch wie? Die Nachrichten waren sehr dürftig; nur die nackte Thatsache lag vor; alle Nebenumstände fehlten, an welche allein Maßregeln zur weiteren Verfolgung anzuknüpfen waren. Durch den Telegraphen waren speciellere Mittheilungen, die nur einigermaßen ausreichen konnten, nicht zu erhalten. Durch Hin- und Hercorrespondiren wurde Zeit verloren, und Zeit verloren hieß hier beinahe Alles verloren. Andererseits war ich in K. und der ganzen Umgegend völlig unbekannt.

Es blieb zunächst, wenn ich helfen wollte, nur ein Weg übrig. Ich mußte mich, und zwar sofort, an Ort und Stelle nach K. begeben, um dort selbst genau den Thatbestand zu untersuchen und danach einen ferneren Operationsplan zu entwerfen und auszuführen. B. war auf das Dankbarste damit einverstanden. Er konnte mich nicht begleiten, denn es stand zu erwarten, daß der Unfall morgen oder übermorgen der Handelswelt bekannt wurde, und war Herr B. nicht zugegen, um auf allerlei Anfragen Auskunft zu geben, so konnten nur zu leicht mancherlei ihm nachtheilige, selbst die böswilligsten Muthmaßungen entstehen.

Ich fragte ihn nur noch näher nach seinem Reisenden, nach dessen Charakter und Verhältnissen, ob etwa – man müsse doch, zumal in einer so wichtigen Angelegenheit, alle Seiten erwägen – an eine Unterschlagung, an eine Vorspiegelung der ganzen Diebstahlsgeschichte zu denken sei. B. wies den Gedanken völlig zurück. Der Reisende, Rudolph Hertel, sei ein durchaus redlicher und unbescholtener junger Mann, der schon seit drei Jahren in seinem Geschäft sei und sich immer nicht nur treu und brav und seinem Herrn anhänglich, sondern auch außerdem in seinem Lebenswandel still, ordentlich und streng sittlich bewiesen habe.

Meine amtliche Wirksamkeit erstreckte sich nicht bis nach K. Ich begab mich daher zunächst zum Minister, um mir Urlaub und Befehle an alle Behörden des Landes, so wie selbst offene Requisitionen in das Ausland hinein zu jeder Verfolgung des Verbrechers zu erbitten. Der Minister ertheilte sie mir bereitwillig, und mit dem nächsten Eisenbahnzuge fuhr ich nach K. ab.

Ich traf in dem kleinen Landstädtchen am folgenden Morgen ein. In der Nähe des Eisenbahnhofes sah ich einen dem Anscheine nach neuen Gasthof. Ich vermuthete dort den Reisenden, den ich zunächst aufzusuchen hatte, jedenfalls konnte ich dort Nachricht über ihn erhalten. Ich begab mich dahin und fragte nach dem Herrn Rudolph Hertel. Er war da. Ich erkundigte mich, wie es ihm gehe. Der junge Mann, antwortete mir der Wirth, sei seit seinem gestrigen Unfalle wie vernichtet. Außer zum Zweck der mit ihm angestellten amtlichen Verhöre habe er sein Zimmer nicht verlassen, wo er, ohne mit Jemanden zu sprechen, ja fast [186] ohne etwas zu genießen, in ein dumpfes Hinbrüten versunken sei. Er sei geblieben, theils um den Ortsbehörden noch etwa weiter erforderliche Auskunft zu geben, theils um Befehle von seinem Principal zu erwarten. Ich ließ mich zu ihm führen, und zwar ohne daß ihm vorher meine Ankunft bekannt wurde. Allerdings konnte Alles, was ich sowohl von seinem Principal über ihn erfahren hatte, als was ich hier hörte, mir nicht den geringsten Anhalt zu einem Verdachte gegen ihn geben; gleichwohl durfte ich keine einzige Rücksicht, auch nicht die entfernteste Ahnung eines Verdachts aus den Augen verlieren, wenn ich mit Sicherheit, mit irgend einer Hoffnung auf einen Erfolg weiter verfahren wollte.

Ich traf einen jungen Mann von etwa vier bis fünf und zwanzig Jahren. Sein Aeußeres entsprach dem Bilde, das ich mir, nach der erhaltenen verschiedenen Auskunft über ihn, von ihm gemacht hatte. Er war ein hübscher Mensch mit einem Gesichte, in welchem sich Verstand, aber auch ein stilles bescheidenes Wesen, und zugleich, wie es mir schien, eine für seine Jugend seltene Festigkeit des Willens aussprach. Er war in seinem Zimmer allein, mit Schreiben beschäftigt; sein Aussehen war das großer Niedergeschlagenheit. Er machte nur einen vortheilhaften Eindruck auf mich, und der Gedanke eines Verbrechens von seiner Seite entfernte sich immer mehr von mir. Ganz aufgeben durfte ich ihn auch jetzt nicht; allein ich mußte mir beinahe Mühe geben, ihn noch weiter festzuhalten.

Ich nannte mich ihm. Er sprang rasch auf, als er meinen Namen hörte. Ein Strahl von Freude leuchtete aus seinen Augen.

„Gottlob!“ rief er, „Sie kommen auf Veranlassung von Herrn B. Ich hatte es erwartet, da ich weiß, daß Sie mit ihm befreundet sind. Er hat mir nicht geantwortet. Ich war in einer entsetzlichen Angst. Er ist unglücklich geworden, durch mich! Er wird es werden, ich weiß es; wenn Sie keine Hülfe bringen können. Aber Sie werden gewiß helfen.“

Ich hatte ihn absichtlich nicht unterbrochen. Aber auch in seinen Worten lag nichts, was Verdacht gegen ihn erregen konnte. Es schien mir im Gegentheil natürlich zu sein, daß er gerade den geäußerten Gefühlen und in solcher Weise Luft machte, nachdem er seit vier und zwanzig Stunden sein Herz gegen Niemanden über den schweren Unfall und dessen Folgen vollständig hatte ausschütten können. Ich forderte ihn auf, mir vor allen Dingen genau den Hergang der Sache zu erzählen, mit allen, auch dem Anscheine nach unbedeutendsten Einzelnheiten. Er erzählte.

Er hatte, nachdem er vor etwa acht Tagen die Residenz verlassen, anfangs nur kurze Tagereisen gemacht, indem er in der benachbarten Gegend zu beiden Seiten der Eisenbahn mehrere Geschäfte zu besorgen hatte. So war er vorgestern Abend bis R. gekommen, und hatte dort die Nacht im Gasthofe logirt, um am nächsten Morgen mit dem ersten Eisenbahnzuge nach K. abzureisen. Von K. aus hatte er dann die Eisenbahn ganz zu verlassen, und zum Zweck seiner bedeutenden Einkäufe sich tiefer in das Land hinein, zu den zerstreut wohnenden großen Gutsbesitzern zu begeben. Erst da hatte er von der für diese Ankäufe von seinem Herrn ihm anvertrauten Summe von zwanzigtausend Thalern Gebrauch zu machen. Er trug deshalb bis dahin diese Summen, die in Cassenscheinen und Banknoten bestand, in seiner Brieftasche in der Art vorsichtig und wohlverwahrt bei sich, daß er die Brieftasche zuerst in Leinwand eingenähet und sie dann wieder inwendig unter den Brustlatz seines Rockes festgenähet hatte. So konnte sie ihm, ohne daß er es vorher gewahren mußte, gar nicht entzogen, ja, sie konnte ihm nur unter Anwendung einer Gewalt entrissen werden, welcher er immer, schlimmstenfalls durch Herbeirufen von Hülfe, begegnen konnte. Er hatte das gemeint. Der Zug, mit dem er von R. abfahren wollte, traf dort um 8 Uhr Morgens ein und fuhr nach einem Aufenthalte von zehn Minuten weiter. Hertel hatte sich, um ihn nicht zu versäumen, zeitig auf den Bahnhof begeben, war dort zehn Minuten vor acht Uhr angekommen und hatte sich, nachdem er das Fahrbillet gelöset, zu der Stelle begeben, wo der Zug hielt und wo eingestiegen wurde. Dort warteten schon mehrere Fremde, die gleich ihm der Ankunft des Zuges entgegensahen. Ohne mit Jemandem zu sprechen, hatte er nur sehr flüchtig auf sie geachtet und erinnerte sich nur, daß es etwa acht bis neun Personen gewesen waren, Männer und Frauen, dem Anscheine nach Bürger aus dem Städtchen und Landleute aus der Gegend.

Der Zug war pünktlich um acht Uhr angekommen. Hertel, ein Fahrbillet zweiter Classe in der Tasche, hatte sofort ein Coupé aufgesucht. Der Zug war schwach besetzt; nur in einigen Coupés zweiter Classe befanden sich Personen, mehrere waren ganz leer. Er hatte sich in eins der letzteren begeben, theils weil er in den andern entweder Familien mit Kindern oder Personen traf, von denen er sich keine angenehme Unterhaltung versprach, theils weil er aus Abneigung gegen fremde Bekanntschaften gern allein sein wollte. Er war indeß nicht allein geblieben. Kurz vor dem Abgange des Zuges hatte ein Bahnwärter noch einen Reisenden zu ihm in das Coupé einsteigen lassen. Gleich darauf war der Zug abgefahren.

Dieser Reisende spielte die Hauptrolle in der Angelegenheit, die ich bis auf ihren letzten Grund zu erforschen hatte. Hertel mußte mir ihn daher ganz genau beschreiben. Es war ein ziemlich großer, noch junger Mann gewesen, etwa in dem Alter Hertel’s. Sein Gesicht war blaß gewesen, die Gesichtszüge ziemlich regelmäßig, wie Hertel hatte bemerken können, trotzdem daß ein großer schwarzer Bart fast den ganzen untern Theil des Gesichts bedeckte und der Fremde eine Mütze von dunkler Farbe mit einem großen Schilde tief in die Stirn gedrückt hatte. Die Kleidung konnte der junge Kaufmann im Uebrigen nicht näher bezeichnen. Er glaubte nur, sich zu erinnern, daß er unter dem grauen Staubmantel einen Rock von heller Farbe bemerkt habe. Der Fremde hatte einen kleinen Nachtsack bei sich getragen. Sein ganzes Aeußere war ein durchaus anständiges.

Er war schweigend eingestiegen und hatte Hertel, den er schon antraf, nicht einmal begrüßt, war auch an dem Schlage, durch welchen er eingestiegen, sitzen geblieben, und hatte, so lange der Zug noch hielt, still vor sich nieder geblickt, nachdem sich aber die Wagen in Bewegung gesetzt, hatte er sich eine andere Lage gegeben. Das Coupé war, wie die Coupés zweiter Classe auf den meisten norddeutschen Eisenbahnen, schmal und bestand nur aus zwei langen, einander gegenüber befindlichen Polsterbänken, die nur durch einen engen Zwischenraum getrennt waren. Hertel hatte auf der einen Bank gesessen; der Fremde aber seinen Platz auf der Bank gegenüber genommen. Beide befanden sich jedoch nicht einander unmittelbar gegenüber, jeder saß vielmehr an dem entgegengesetzten Schlage. Gleich nach der Abfahrt des Zuges nun hatte der Fremde es sich bequemer gemacht, sich der Länge nach auf seiner Bank ausgestreckt, seinen Reisesack unter seinen Kopf gelegt, und so wie auf einem Ruhebette gelegen. Dem Anscheine nach war der Fremde auch bald eingeschlafen, denn er bewegte sich nicht, und Hertel hatte tiefere Athemzüge, wie die eines Schlafenden gehört; von dem Gesichte aber hatte er nichts mehr sehen können; der Fremde hatte die Mütze mit dem langen Schirme tiefer hineingezogen, so daß Schirm und Bart es jetzt ganz verdeckten.

Die Station von R. nach K. ist eine lange; sie hat einige bedenkliche Strecken, auf denen man nur langsam fahren kann; man fährt beinahe eine Stunde darüber.

Es war ein heißer Junimorgen; Hertel hatte in R. noch bis in die Nacht hinein seine Geschäfte geordnet; ich fand in der That sein Tagebuch bis zu dem Moment, wo er in R. angekommen, auf das vollständigste abgeschlossen; er hatte unruhig geschlafen und war am Morgen früh aufgestanden. Es konnte nicht Wunder nehmen, daß er unter der einförmigen Bewegung des Wagens gegenüber dem Schlafenden ebenfalls einschlief. Er hatte sich gleichwohl nicht ohne Vorsicht dem Schlafe hingegeben. Nicht nur hatte er sich vorher überzeugt, daß er seine Brieftasche mit ihrem werthvollen Inhalte noch unberührt und fest angenähet an ihrer Stelle trage; er hatte auch, bevor er sich auf der Bank zurücklegte, seinen Rock vollständig zugeknöpft und außerdem die Arme über der Brust fest verschränkt. So glaubte er, als er dem Schlummer nicht ferner widerstand, seinen Schatz unter einem dreifachen sicheren Schutze. Wer ihn finden wollte, mußte ihm zuerst die gekreuzten Arme auseinander winden, dann den Rock aufknöpfen, und endlich die festen Näthe trennen, mit welchen die Brieftasche eingenähet war. Das Alles konnte er sich kaum möglich denken, ohne daß er dabei aufwachen müßte. Dazu kam, daß er den einzigen Menschen, der mit ihm in dem Coupé war, und der zudem ein vollkommen unverdächtiges Aeußere hatte, für fest [187] schlafend halten mußte, und daß ein anderes lebendes Wesen während der Fahrt gar nicht zu ihm einsteigen konnte. Eben so wenig konnte überdies der Fremde neben ihm aussteigen, bevor der Zug auf der nächsten Station hielt; bei dem Halten auf einer Station entsteht aber sofort so viel Veränderung und Geräusch, daß auch der festeste Schlaf dadurch unterbrochen werden mußte; dann war auch für den schlimmsten Fall der Verlust der Brieftasche das Erste, was bemerkt werden mußte, und zwar zu einer Zeit, wo der Dieb noch keinen Schritt weit sich hatte entfernen können.

Hertel war eingeschlafen, fest eingeschlafen; er konnte, als er erwachte, sich keiner Störung, keiner Unterbrechung, nicht einmal der geringsten Unruhe erinnern, keines Gefühls wie auch nur von irgend einer noch so leisen Berührung. Er erwachte, wovon, wußte er nicht; aber er hörte in der Nähe Menschenstimmen durcheinander sprechen; er fühlte, daß der Zug langsamer ging, etwa als wenn er gleich darauf anhalten werde. Die erste Bewegung des Reisenden war, aus dem Coupéfenster zu blicken, an dem er saß. Der Zug war auf dem Stationshofe angelangt, er war im Begriff zu halten; an dem Haltplatze standen viele Leute, die ihn erwarteten, namentlich eine Menge Rekruten, die weiter befördert werden sollten; sie sprachen vielfach und laut mit einander. Der Reisende wandte sich in das Innere des Coupés zurück und in diesem Augenblicke merkte er erst, daß er allein war. Der Fremde, der in R. zu ihm eingestiegen, war mit Sack und Pack verschwunden.

Hertel erbleichte. Er griff nach seiner Brust, nach seiner Brieftasche. Sie war fort. Er fühlte sein Herz nicht mehr schlagen, und griff noch einmal nach der Stelle, wo die Brieftasche, wo die zwanzigtausend Thaler sein mußten. Sein Rock stand offen, alle Knöpfe waren aufgeknöpft. Unter dem offenen Rocke fühlte er nur eine leere Stelle und ein paar lose Fäden, mit denen die Brieftasche angenähet gewesen war. Der Fremde war fort; der Zug bewegte sich noch und konnte während der Zeit, daß Hertel geschlafen hatte, nicht einmal auf eine Secunde angehalten haben. Der Unglückliche fühlte sein Herz wieder schlagen; das Blut drang ihm gewaltsam zum Kopfe; aber eines klaren Gedankens war er nicht mächtig.

Der Zug hielt; die Schaffner und Wärter sprangen an die Schläge der Coupés, rissen sie auf und riefen ihr: „Station K., fünfzehn Minuten Aufenthalt!“ In den jungen Kaufmann kehrte das Bewußtsein zurück.

„Wärter,“ rief er dem Beamten zu, der seinen Schlag öffnete, „hat der Zug unterwegs seit R. angehalten?“

„Nein, mein Herr. Aber was ist Ihnen? Sie sehen ja aus, wie eine Leiche.“

„Der Zug hat nicht gehalten, Wärter? Sie waren immer dabei?“

„Immer, mein Herr. Sie müssen sich erinnern. Ich forderte Ihnen in R. das Billet ab; ich ließ dort den zweiten Passagier zu Ihnen ein.“

„Dieser zweite Passagier, Wärter –“

„Er ist nicht mehr da. – Teufel – er kann noch nicht ausgestiegen sein. Der Zug hält ja erst in diesem Augenblicke. Wo ist er geblieben?“

„Ich bin verloren,“ rief Hertel, dem jetzt kein Zweifel mehr darüber sein konnte, daß die zwanzigtausend Thaler in der That verloren waren. Er erzählte, was ihm begegnet war.

Der Wärter hatte den Zug von R. nach K. begleitet, speciell auch den Waggon beaufsichtigt, in welchem Hertel mit dem verschwundenen Fremden gefahren war. Er hatte seinen Sitz oben auf dem Waggon gehabt, fast unmittelbar über dem Coupé Hertel’s. Er hatte auf dem ganzen Wege in dem Coupé nichts gehört; er hatte Niemanden aus demselben aussteigen, Niemanden von dem Zuge sich entfernen sehen; er hätte es sehen müssen, oben auf seinem hohen Sitze, auf welchem er den ganzen Zug übersehen konnte. Der Zug hatte keine Secunde gehalten; schon darum war ein Aussteigen kaum denkbar gewesen. Andererseits war Hertel noch vor dem Anhalten des Zuges in K. erwacht, und in dem Momente des Anhaltens, noch bevor der Zug völlig still stand, war der Wärter schon zum Aufschließen an dem Schlosse gewesen und hatte die Abwesenheit des Fremden bemerkt.

Wie, wo und wann war der Fremde fortgekommen? Das war das unauflösliche Räthsel. Andere Wärter und Beamte des Zuges kamen herbei. Niemand vermochte es zu lösen. Alle bestätigten: der Zug hatte seit R. keine Secunde angehalten; kein Mensch war gesehen worden, der von dem Zuge sich entfernt hätte. Mehrere hatten dagegen den Fremden mit dem großen schwarzen Barte und in dem grauen Staubmantel in das Coupé zu Hertel einsteigen sehen. Von den Reisenden wußte gleichfalls Keiner eine Auskunft zu ertheilen. Von dem Inspector des Bahnhofs zu K. wurden sofort sämmtliche Waggons einer Recherche unterworfen, unter Zuziehung der auf dem Bahnhöfe fungirenden Gensd’armen wurde eine genaue Musterung aller Reisenden des Zuges und aller anderen, auf dem Bahnhofe anzutreffenden Personen veranstaltet; es war nichts zu ermitteln, was über das Verschwinden des Diebes hätte Aufklärung geben oder auf seine Spur hätte leiten können. Den Dieb selbst kannte Niemand. Auch Hertel hatte ihn nie vorher gesehen.

Hertel hatte der Polizei, diese dem Staatsanwalte Anzeige gemacht. Er war sofort vernommen worden, es war vom Gerichte Alles geschehen, um den Thatbestand des verübten Verbrechens festzustellen; die Ortsbehörden hatten auch noch an demselben Tage Anstalten zur weiteren Verfolgung des Thäters getroffen. Indeß waren alle Schritte vergeblich gewesen.

Das Alles erzählte mir der junge Mann in einer einfachen, natürlichen, überzeugenden Weise. Keine meiner Kreuz- und Querfragen hatte eine Lücke, einen Widerspruch hervorbringen können. Ich konnte keinen Zweifel mehr haben, daß ihn wirklich das Unglück, in der angegebenen Art bestohlen zu sein, betroffen habe, wie unerklärlich auch das Verschwinden des Diebes war; ich konnte aber auch nicht zweifeln, daß er die Beute eines eben so verwegenen, als gewandten Spitzbuben geworden war.

Ich hatte nur geringe Hoffnung für Wiederherbeischaffung des Gestohlenen, für Rettung des armen B.; und das war mir zunächst die Hauptsache. Mit um so größerem Eifer glaubte ich meine Maßregeln ergreifen zu müssen.

Ich begab mich zuerst zu dem Polizeibeamten und dem Gerichtsassessor des Orts. Beide waren recht tüchtige Beamte, aber auch nichts mehr. Bei Vorzeigung meines Ministerialbefehls fand ich sehr zuvorkommende Aufnahme bei ihnen. Ich erkundigte mich näher nach den Schritten, die sie gethan hatten. Es war Alles geschehen, was gewöhnlicher Weise für den Fall hatte geschehen können. Durch Vernehmung Hertel’s war der verübte Diebstahl festgestellt; eine gerichtliche Besichtigung seiner Bekleidung hatte noch die losen Fäden an der innern Seite seines Rockes vorgefunden, mit denen die Brieftasche dort festgenäht war; sie waren, dem Anscheine nach, mit einem Messer oder einem andern scharfen Instrumente durchschnitten. Hertel hatte auch den speciellen Betrag der Kassenscheine und der Banknoten angegeben, von letzteren sogar einzelne Nummern; sein Geschäftsnotizbuch hatte seine Angaben bestätigt. Diese stimmten auch mit den Notizen, die B. mir in der Eile noch mitgegeben hatte. Durch Vernehmung der Eisenbahnbeamten war festgestellt, daß der von Hertel beschriebene Mensch in R. zu ihm in das Coupé gestiegen und bei der Ankunft des Zuges in K. nicht mehr da gewesen, auch nirgends anderswo ausfindig gemacht worden sei; daß ferner der Zug unterwegs kein einziges Mal angehalten oder langsamer als gewöhnlich gefahren habe; endlich, daß nach der übereinstimmenden Aussage aller Beamten, welche den Zug begleitet, während der Fahrt Niemand den Zug verlassen habe, oder ihn nur habe verlassen können, indem, wenn dies wirklich geschehen sei, nothwendig wenigstens Einer der Beamten es habe gewahren müssen. Das Verschwinden des Diebes war also auch hiernach unerklärlich geblieben. Zum Ueberfluß war sofort eine Locomotive von K. nach R. zurückgeschickt, um auf der ganzen Tour genau nachsuchen zu lassen, ob der Verschwundene nicht etwa bei einem – allerdings jedenfalls halsbrechenden Versuche des Entspringend aus dem Coupé unter den Zug gekommen sei. Auch das hatte zu keinem Resultate geführt; man hatte auf der Bahn weder einen Leichnam, noch eine Blut- oder andere Spur gefunden.

Gleichwohl hatten die Behörden mit Recht die sämmtlichen am Ort und in der Gegend stationirten Gensd’armen und Polizeibeamten in allen Richtungen nach dem Entflohenen ausgesandt, sowie Steckbriefe hinter ihm erlassen, die namentlich sofort durch den Telegraphen auf alle Eisenbahnstationen befördert waren. Gensd’armen und Polizeibeamte waren bereits unverrichteter Sache zurückgekehrt. Das Resultat der übrigen Schritte wurde noch erwartet; ohne große Hoffnung. Auch ich hatte sie nicht.

[188] Eins hatte man allerdings übersehen: eine öffentliche Bekanntmachung der Nummern der entwendeten Banknoten, sowie der Beschaffenheit der Brieftasche Hertel’s. Ich veranlaßte, daß sie sofort erfolgte und zwar durch den Telegraphen an alle Bank- und Börsenorte Deutschlands. Ich versprach mir freilich, nach so manchen Erfahrungen, auch davon keinen Erfolg.

Im Uebrigen war von den Behörden des Städtchens mit Geschick und Umsicht verfahren. Und dennoch konnte und mußte noch Manches vorgenommen werden, um einerseits dem Verbrechen näher auf den Grund, und andererseits denn Verschwundenen auf die Spur zu kommen. Ich leitete es ein.

Zuvörderst nach der Seite der näheren Feststellung des Verbrechens. Ich hatte für meine Person keinen Zweifel gegen die Angaben des Bestohlenen. Aber als Beamter, zugleich als Freund B.’s, hielt ich es für meine Pflicht, die Wahrheit so weit als möglich zu ermitteln. Ich ersuchte den Richter des Orts, den Bestohlenen auf der Stelle zu sich vorladen zu lassen, um ihn noch über einige Punkte, die ich als möglicherweise erheblich darstellte, zu vernehmen.

Nachdem Hertel am Gerichte erschienen war, kehrte ich in den Gasthof zurück, ließ mir unter dem ersten besten Vorwande das Zimmer Hertel’s aufschließen, und durchsuchte hier seine Sachen.

Zum Teufel, Mensch, wenn Du mich hier verwundert ansiehst und gar das Gesicht der sittlichen Entrüstung aufsetzest, wofür gibt es denn eine Polizei?

Also – ich durchsuchte Alles, Schrank, Kommode, Ofen, Bett, die Ritzen zwischen den Dielen. Ich fand nichts, keine Brieftasche, keinen Cassenschein, keine Banknote. Der Reisesack des jungen Mannes stand offen im Zimmer; ich nahm seinen Inhalt Stück für Stück heraus; ich nahm jedes Stück auseinander. Vergeblich. Der Reisekoffer war noch da. Er war verschlossen. Der Schlüssel war nicht da. Aber was wäre die Welt ohne eine gute Polizei? Und wie könnte es eine gute Polizei geben ohne Nachschlüssel? Ich schloß den Koffer auf, durchsuchte ihn, wie alles Andere, noch sorgfältiger, noch genauer. Ich fand nichts, weder eine unmittelbare, noch eine mittelbare Spur, die auf den Verdacht hätte hinleiten können, daß Hertel den Diebstahl vorgespiegelt, daß er das Geld seinem Herrn unterschlagen habe. Auch seine Correspondenz, die ich genau durchsah, ergab nichts. Es waren nur Briefe seines Principals da, die blos Geschäftliches betrafen, und außerdem nur ein Brief seiner Mutter, die ihm zu seinem Geburtstage Glück gewünscht, ihm aber sonst nichts von Interesse geschrieben hatte. Der Ton des Briefes zeugte von einem schönen Verhältnisse zwischen Mutter und Sohn.

Ich beendete meine Untersuchung mit der Beruhigung – zum Teufel, wieder dieser verwunderte Blick! Ich sollte wohl die Unruhe der Scham oder gar heftige Gewissensbisse verspüren! Und im Ernst, der Polizeibeamte muß nun einmal über Manches sich hinwegsetzen, und er darf es, ja er muß es, wenn es zu einem guten Zwecke geschieht, und die Mittel nicht an sich verwerflich sind. Eine Durchsuchung fremder Papiere aber machen unter ähnlichen Umständen manche Gesetze und, wo nicht geradezu die Gesetze, manche beamtliche Instructionen sogar zur Pflicht. Ich schloß meine Untersuchung mit der Beruhigung der von Neuem bestärkten Ueberzeugung, daß Hertel wirklich bestohlen sei, und daß ich es mit einem sehr ordentlichen, seinem Herrn treu ergebenen redlichen jungen Mann zu thun habe.

Desto eifriger und sorgfältiger hatte ich nun die Spuren des frechen Diebes zu ermitteln. In K. war hierfür nichts mehr zu thun. Gericht und Polizei hatten vernommen, was zu vernehmen war. Aber in R., wo der Dieb eingestiegen, mußte eine Spur von ihm zu ermitteln sein. Irgend Einer mußte ihn dort gesehen haben. Vielleicht war er gar dort bekannt. Wenn das nicht, so hatte er dort wahrscheinlich in einem Wirthshause übernachtet.

Die leiseste Spur von ihm, einmal gefunden, mußte weitere Spuren ergeben. Ich fuhr mit dem nächsten Zuge nach R., Hertel mußte mich begleiten. Ich erkundigte mich zuerst auf dem Bahnhofe nach dem Fremden; Hertel beschrieb ihn auf das Genaueste.

Nur der Billetverkäufer und ein Bahnwärter hatten ihn gesehen, und nur erst unmittelbar vor dem Abgange des Zuges. Sie hatten ihn nicht gekannt, nicht einmal bemerkt, woher er gekommen war; sie konnten sich nicht erinnern, ihn jemals vorher gesehen zu haben. Ich begab mich in die Stadt; ich fragte mit Hülfe der Polizei in allen Gasthöfen und Krügen nach, von dem ersten und besten bis zu dem letzten und schlechtesten. Keine Spur. Nachfragen in den Krügen und Wirthschaften der Nachbarschaft blieben eben so erfolglos. Niemand kannte den Fremden, Niemand hatte ihn gesehen, keinem Gensd’armen, keinem Polizeibeamten war sein Signalement bekannt. Uebrigens war er erst in R. auf die Eisenbahn gekommen; die Beamten, die den Zug nach R. gefahren hatten, wußten nichts von ihm. Allein auch mit keiner Post war er in R. angekommen, und kein Lohnkutscher hatte ihn gefahren.

Das war eine verzweifelte Lage für einen Polizeibeamten, der etwas ermitteln wollte. Ich fuhr gleichwohl noch eine Station weiter zurück auf der Eisenbahn. Auch dort waren jedoch alle Nachforschungen vergeblich. Von dem Diebe keine Spur. Er war in R. plötzlich erschienen, Niemand wußte, woher. Er war von K. plötzlich verschwunden, Niemand wußte, wohin.

(Fortsetzung folgt.)



Gräfe und die Augenklinik.

Wenn man in Berlin in den Mittagsstunden zwischen ein und drei Uhr längs der Louisen-, Neuen Wilhelm- und Karlsstraße bis in die Nähe des Unterbaums wandert, so begegnet man täglich zu derselben Zeit verschiedenen Personen männlichen und weiblichen Geschlechts, welche mehr oder minder durch ihre Haltung, oder durch andere äußere Kennzeichen verrathen, daß das edelste Organ ihres Körpers erkrankt ist, daß der Quell des Lichts, ihr Auge, leidet. Die Meisten tragen charakteristisch blaue Brillen und der Berliner Volkswitz hat den Patienten den Namen „Gräfinnen“ gegeben, weil sie dies auf Anordnung des berühmten Augenarztes Gräfe thun. Wir schließen uns der immer größer werdenden Menge von Kranken an, und gelangen mit ihnen zu gleicher Zeit vor einem großen, vierstöckigen Hause in der Karlsstraße an, welches über der Thür die einfache Aufschrift „Augenklinik“ trägt. Das ziemlich große Vorzimmer ist mit Hilfesuchenden so gefüllt, daß Viele noch auf dem Hausflur Platz suchen müssen. Wir werfen einen flüchtigen Blick auf die Anwesenden, welche größtentheils dem unteren Bürgerstande und der arbeitenden Classe angehören. Hier begegnen wir dem kräftigen Maschinenbauer, dem bei seinem schweren Werke ein Metallsplitter in das Auge gedrungen ist, dort schützt ein junges Mädchen lichtscheu ihr Auge vor den blendenden Strahlen der Sonne. Jene arme Frau begleitet ihren Mann, den Ernährer einer Familie, der in Gefahr steht, zu erblinden; eine zärtliche Mutter beruhigt ihr weinendes Kind, dessen starre, unbewegliche Pupille ein tieferes Leiden des Sehvermögens verräth, und ihr mütterliches Herz mit schwerem Kummer erfüllt. In einem größeren Zimmer erblicken wir mehrere junge Männer mit diesen Patienten beschäftigt, ihre Klagen anhörend und ihre Meldungen entgegen nehmend. Mitten unter ihnen sitzt ein schlanker Mann von ungefähr neunundzwanzig Jahren. Sein edles, geistreiches Gesicht ist von langen dunklen Locken umgeben, die fast bis auf die Schultern reichen, ein voller Bart zieht sich um Wangen und Kinn. Vor ihm steht ein Tisch, auf welchem sich mehrere Gläser mit medicinischen Flüssigkeiten, einige Pinsel und verschiedene augenärztliche Instrumente befinden. Jetzt winkt er und ein Patient setzt sich vor ihm auf den Stuhl, der junge Arzt sieht ihn mit prüfenden Blicken an, richtet einige kurze, aber bestimmte Fragen an den Leidenden, taucht den Pinsel ein, oder greift nach den vor ihm liegenden Instrumenten, und entfernt mit Blitzeschnelligkeit einen fremden Körper, oder träufelt einen kräftigen Heilstoff in das kranke Auge. Im nächsten Augenblick schon sitzt ein anderer Patient auf dem Stuhle, und dasselbe Schauspiel wiederholt sich im Laufe der wenigen Stunden mehr als hundertmal. Dazwischen wendet sich wohl auch der junge Arzt an einige ältere Herren, und spricht einige kurze Worte über den vorliegenden Krankheitsfall.

[189]

Dr. Gräfe.

Diese Fremden, welche aus Belgien, Frankreich, England und aus allen Theilen Deutschlands herbeiströmen, verfolgen mit gespannter Aufmerksamkeit sowohl die Operationen, wie die eingestreuten Bemerkungen des jugendlichen Mannes. Es sind Aerzte, die hierher gekommen sind, um ihre Kenntnisse zu bereichern.

Immer mehr Kranke kommen aber in das Zimmer, um Rath und Hülfe für ihre Leiden zu suchen. Die Thätigkeit eines Menschen kann unmöglich ausreichen. Einige Assistenten theilen sich in die Arbeit; der Eine von ihnen führt das Krankenjournal, worin jeder einzelne Fall genau vermerkt und numerirt wird, der Andere verschreibt die nöthigen Recepte und ein Dritter beschäftigt sich mit der genauesten Untersuchung in einer besondern dunklen Kammer, welche von einer Lampe auch am Tage künstlich erleuchtet wird. Hier werden nicht nur die Störungen des Sehvermögens, sondern auch die tiefern, innern Veränderungen des Organs vermittelst des Augenspiegels geprüft und in überraschender Weise festgestellt. Endlich sind alle Patienten befriedigt. Der junge Arzt erhebt sich und thut noch einen Gang nach den obern Sälen des Gebäudes, wo sich noch 80 bis 100 Patienten in der s.  g. stabilen Klinik befinden.

Hier wandert er von Lager zu Lager, den Kranken Hülfe und Trost spendend. Von zwei Heildienern geführt, erscheint jetzt vor ihm ein gänzlich Erblindeter mit jenem unendlich rührenden, klagenden Zug im Angesicht. Wem fallen nicht dabei die schönen Worte des deutschen [[Dichters ein:

O, eine edle Himmelsgabe ist
Das Licht des Auges. – Alle Wesen leben
Vom Lichte, jedes glückliche Geschöpf –
Die Pflanze selbst kehrt freudig sich zum Licht,
Und er muß sitzen, fühlend, in der Nacht
Im ewig Finstern – ihn erquickt nicht mehr
Der Matten warmes Grün, der Blumen Schmelz,
Die rothen Firnen kann er nicht mehr schauen –
Sterben ist nichts – doch leben und nicht sehen,
Das ist ein Unglück. –

[190] Ein solcher Unglücklicher steht jetzt vor dem jungen Arzte, und erwartet von seiner Hand das goldene Licht oder ewige, hoffnungslose Nacht. Aus einem zierlichen Kästchen zieht der Operateur ein kleines Messer und eine Nadel hervor. Seine Assistenten halten das Haupt des Kranken, der auf einem Lehnstuhl sitzt. Mit sicherer Hand stößt der Arzt sein Messer in den Augapfel, ein kurzer Schrei ertönt von den Lippen des Blinden, einige Blutstropfen rieseln über seine Wimpern und schon im nächsten Moment sieht er froh schaudernd das Licht des Tages und die Gesichter der Umstehenden. Freudig zitternd dankt er seinem Retter; doch schnell wird die schützende Binde über sein Auge gelegt, da das eben operirte Organ der größten Schonung bedarf, und noch nicht die Helle des Tages ertragen kann. – Jetzt nähert sich ein reizendes Kind an der Hand des Vaters; aber das anmuthige Gesicht wird durch häßliches „Schielen“ entstellt. Zitternd läßt sie sich auf den Stuhl nieder, während der besorgte Vater beruhigend hinter ihr steht. Ein einziger Schnitt lost die Spannung der Muskeln und hebt diese Verunstaltung des lieblichen Mädchens. – Dort der alte Mann ist ein merkwürdiger Patient; auch sein Sehvermögen ist gestört und er steht in Gefahr, zu erblinden. Der Grund seines Leidens war bisher ein Räthsel geblieben, und erst der Augenspiegel hat darüber die nöthige Aufklärung gegeben. Betrachtet man mit demselben und einer Lupe das somit zugängliche Innere des Auges, so entdeckt man in der Tiefe desselben einen weißen, herumschwimmenden Körper in Gestalt einer Blase. Deutlich sieht man einen Kopf, der sich hin und her bewegt. In der That, wir haben es mit einem lebenden Wesen, einem Wurm zu thun, der sich in das edle Organ eingenistet hat und dasselbe zu vernichten droht. Durch eine kleine Oeffnung wird das Thier mittelst einer Nadel herausgezogen, und das Auge so gerettet. – Noch manche interessante Operation findet im Laufe des Vormittags statt, dann wendet sich der Arzt an die Genesenden. Für jeden hat er ein freundliches Wort, einen theilnehmenden Blick. Sie drängen sich um ihn, sie danken ihm bald laut, bald stumm, aber um so inniger; der Familienvater, dem er das Augenlicht wiedergegeben, und den er somit zur neuen Arbeit fähig gemacht hat; der Handwerker, der Gelehrte, die Mutter, welche ihre Kinder wieder sehen kann; das junge Mädchen, das mit frischer Lust der erhellten Zukunft entgegensieht; der Jüngling, den er seinen Studien wiedergegeben hat, und das zarte Kind; sie Alle danken ihm das größte Glück des Lebens, das Licht der Sonne, den Anblick der Natur, ihrer Lieben, ihrer Freunde.

Dieser glückliche Arzt nun, der kühne Operateur, der geniale Lehrer in einem Alter, wo Andere meist noch Schüler sind, ist, wie der Leser bereits errathen haben wird, kein Anderer, als der berühmte Augenarzt Albrecht von Gräfe. Sein Vater, der ausgezeichnete Chirurg Carl von Gräfe, starb mit Hinterlassung eines bedeutenden Vermögens, während Albrecht noch im Kindesalter stand. Für seine Erziehung sorgte mit aufopfernder Liebe seine Mutter, Auguste von Alten, durch die Wahl trefflicher Lehrer, unter denen besonders Dr. Güzel einen bedeutenden Einfluß auf seinen Zögling ausübte. Ihm verdankte Gräfe, daß seine großen Anlagen für Mathematik frühzeitig geweckt und ausgebildet worden sind. Er ging auch in der That mit der Idee ernstlich um, vorzugsweise Mathematiker zu werden. Erst später wandte er sich den Naturwissenschaften zu, von denen er die Chemie und Physik wieder mit großer Vorliebe trieb. Sie führten ihn allmälig und naturgemäß zur Medicin, wobei vielleicht das Vorbild des würdigen, verdienstvollen Vaters, die Erinnerungen aus der Kinderzeit nicht ohne Einfluß geblieben sind. Gräfe beendete die vorgeschriebene Studienzeit in Berlin, woselbst er auch promovirte und sein Staatsexamen ablegte.

Im Jahre 1848 trat der noch sehr junge Doctor, er war damals erst zwanzig Jahre alt, in Begleitung einiger Jugendfreunde, die seine Studiengenossen waren, zu seiner weitern Ausbildung als Arzt eine wissenschaftliche Reife an. Er wandte sich zunächst nach Prag. Dort nahm ihn die neue Richtung in der Medicin, namentlich der diagnostische Theil derselben, in vollen Anspruch. Außerdem knüpfte er schon damals ein einflußreiches und dauerndes Freundschaftsverhältniß mit den Professoren Jaksch, Arlt und Dietrich an. Gräfe hat noch heute eine tiefe Vorliebe für die alte böhmische Königsstadt bewahrt, weil er dort, so zu sagen, die Zeit der ersten Liebe für die Medicin verlebte. Seitdem besucht er fast in jedem Jahre noch sein geliebtes Prag. Von hier begab er sich nach Wien und später nach Paris, wo er am längsten verweilte. Dort ist er gewissermaßen heimisch geworden, und die ersten Männer der Wissenschaft, wie Desmares und Sichel, zählt er noch heute zu seinen Freunden. Auch für Paris hat Gräfe eine große Neigung behalten, und so oft er kann, eilt er dahin, doch bleibt ihm daselbst nur wenig Zeit für sich, da er auch dort von Augenleidenden vielfach in Anspruch genommen wird. Nach einem kürzeren Aufenhalte in London, Dublin und Edinburg kehrte er endlich nach Berlin zurück, um daselbst als praktischer Arzt zu wirken. Schon in Prag fing Gräfe an, sich mit einer gewissen Vorliebe für die Augenheilkunde zu interessiren. Sein damaliger Freund, Professor Arlt, hat sicher das Verdienst, ihn zuerst dahin geleitet zu haben. In Wien eröffnete ihm bald Professor Jäger den Zugang zu dessen reichhaltigem Material. Doch konnte sich ein Mann wie Gräfe nicht mit dem vorhandenen Material und mit den Beobachtungen Anderer begnügen. Er schuf sich bald seine eigne Klinik, die nicht mit kranken Menschen, sondern mit kranken – Kaninchen belegt war. Gräfe hat mit seinen Freunden oft den ganzen Tag dazu verwendet, diese improvisirte Klinik abzuhalten und sich so fast spielend auf seinen künftigen Beruf vorzubereiten. Oft belief sich die Zahl dieser thierischen Patienten gegen achtzig, ja auch hundert Stück, welchen allen auf künstlichem Wege die verschiedensten Augenkrankheiten octroyirt waren. Ein jedes dieser Thiere hatte seine Nummer auf einem blechernen Täfelchen an einem Ohrringe hängen, und ebenso seine Nummer im klinischen Buche, worin auf das Genaueste sein Befinden von Tag zu Tag eingetragen wurde, bis der Sectionsbericht den Schluß der Krankengeschichte bildete. Diese Arbeiten in der Kaninchenwelt haben den größten Einfluß auf Gräfe’s weit und tief gehendes Beobachtungstalent am Menschen ausgeübt.

So vorbereitet und ausgerüstet, eröffnete er seine praktische Laufbahn mit einem überraschenden Erfolg. In kurzer Zeit war er bekannt und bald der gesuchteste Augenarzt der Residenz. Aus der Provinz, nicht nur aus dem preußischen Staate, auch von den fernsten Gegenden und Ländern strömen Augenkranke herbei, um die Hülfe und den Rath des trotz seiner Jugend so berühmten Arztes zu suchen. Nicht nur das Volk, sondern die vornehmsten Stände, selbst mehrere fürstliche Personen, haben ihm ihr Zutrauen geschenkt; nicht junge Studenten allein, sondern viele weit ältere Aerzte finden sich in seiner Klinik ein, um von dem berühmten Lehrer zu lernen. Einen solchen Erfolg kann nur das wahre Talent, nur das ächte Genie erringen, wenn man auch den günstigen äußern Umständen Rechnung tragen muß, welche Gräfe zu Statten kommen. Er hatte von seinem Vater einen schon berühmten Namen und ein so bedeutendes Vermögen geerbt, daß ihm die nothwendige Unabhängigkeit und die Mittel gesichert waren, um seine Pläne in einem großartigen Maßstabe auszuführen, und seine Laufbahn frei von jedem äußeren Hindernisse zu beginnen, womit sonst das Talent Jahre lang zu kämpfen hat, ehe es sich Bahn bricht und die gewünschte Anerkennung findet. Gräfe’s Verdienste um die Wissenschaft bleiben immer groß genug, wenn wir auch die ihm zu Gebote stehenden materiellen Hülfsmittel noch so hoch veranschlagen.

Er hat der Augenheilkunde einen neuen und kaum geahnten Aufschwung in einer so kurzen Frist gegeben, daß die Summe seiner Leistungen kaum glaublich scheint; ja es dürfte nicht zu viel gesagt sein mit der Behauptung, daß die außerordentliche Entwickelung der Ophthalmologie in den letzten Jahren sich meist in den Arbeiten Gräfe’s concentrirt. Er hat die Augenheilkunde, welche mehr oder minder als ein Anhängsel der übrigen Medicin und besonders der Chirurgie betrachtet wurde, zu einer Specialität erhoben, nicht aus Mangel an generalisirendem Geiste, nicht in der Weise einzelner Zeitgenossen, die über dem Studium der thierischen Zelle, oder vertieft in die wunderbaren Erscheinung der Physik und Chemie sich polypenartig auf einen Punkt fixiren, sondern weil der üppige Reichthum seiner Forschungen und die reichen Früchte seiner Beobachtungen und Erfahrungen auf einem beschränkten Boden nicht genügend ausgebreitet und mit einem getheilten Interesse nicht begriffen werden können. – Das Auge ist, wie bekannt, von allen Theilen des Organismus der Forschung am zugänglichsten, [191] denn in seinem Baue gleicht es am meisten einem physikalischen Apparate und die Erfindung des Augenspiegels, auf die wir bald zurückkommen werden, hat ein Mittel zur Erkennung und Deutung aller krankhaften Veränderungen auf den Häuten des inneren Auges geliefert, welches für die Diagnose dieses Organs eine fast unumstößliche Gewißheit gibt. Alle diese Hülfswissenschaften, besonders die Mathematik und Physik, standen nun Gräfe in einem hohen Grade zu Gebote; dies in Verbindung mit einer streng physiologischen Auffassung und mit einer genialen Combinationsfähigkeit der theoretischen Regel mit der praktischen Thatsache machten es ihm möglich, die Augenheilkunde zu einer so streng gegliederten, mit feinen mathematischen Linien durchzogenen Wissenschaft zu erheben, als welche sie heutigen Tages von jedem gebildeten Arzte anerkannt wird. Ein besonderes Verdienst hat sich Gräfe durch die Anwendung des Augenspiegels erworben. Die Ehre dieser genialen Erfindung gebührt dem Professor Halmholtz in Königsberg, aber erst Gräfe hat dieselbe im ausgedehntesten Maße zu nutzen gewußt. Vermittelst dieser höchst einfachen Vorrichtung wurde es erst möglich, die tiefer liegenden und bisher verborgenen Zustände und Erkrankungen des inneren Augapfels zu erkennen und darauf ein neues und zweckmäßigeres Heilverfahren zu bauen. Die Construction des Augenspiegels gründet sich auf die Erfahrung, daß uns die Pupille des fremden Auges deshalb dunkel erscheint, weil die von den leuchtenden Körpern in das Auge fallenden Lichtstrahlen, welche von diesen zurückgestrahlt werden, wieder nach der Richtung der ersteren zurückfallen, so daß ein Auffangen derselben durch den direct in dieselbe Richtung vor das fremde Auge tretenden Beobachter, der auf diese Weise das Licht abschneidet, nicht möglich ist. Können wir daher unser eigenes Auge so postiren, daß wir diesen Uebelstand vermeiden, so werden wir das zu beobachtende, fremde Auge in vollster Beleuchtung ungehindert sehen und bis in seine Tiefen untersuchen können. Dies geschieht, indem wir durch einen in der Mitte perforirten Spiegel, den wir durch passende Beleuchtung zum Ausgangspunkte eines Strahlenkegels gemacht haben, nun in das fremde Auge blicken.

Mit dieser Erfindung ausgerüstet hat Gräfe der ganzen Augenheilkunde eine neue Gestalt und einen bestimmteren Inhalt gegeben, bisher ungekannte Zustände entdeckt, die innere Natur zwar bekannter, aber keineswegs erklärter Krankheiten dieses Organs aufgehellt und daraus ein sicheres, oft in seinen Resultaten überraschendes Heilverfahren hergeleitet. Unmöglich können selbst den gebildetsten Laien die einzelnen, wenn auch noch so wichtigen pathologischen Entdeckungen Gräfe’s in dem Maße interessiren, wie den Arzt, der mit gerechtem Staunen seine Leistungen auf diesem Gebiete bewundern wird. Nur mit einigen Andeutungen wollen wir uns daher begnügen, um nicht ganz den Beweis des Gesagten schuldig zu bleiben. So hat Gräfe z. B. eine schleichende Entzündung des inneren Augapfels (sclerotico-chorioditis posterior) zuerst als eine häufige Ursache der hochgradigen Kurzsichtigkeit und der darauf meist folgenden Erblindung durch Staar und Störungen auf der Netzhaut erkannt und durch zeitige Anwendung von Blutentziehungen mit Glück bekämpft. Mit Hülfe des Augenspiegels ist es ihm ebenfalls in jüngster Zeit gelungen, ein häufiges Leiden des Glaskörpers, unter dem Namen "der grüne Staar" bekannt, im Beginne sogleich zu entdecken und durch eine eben so einfache als geniale Operation die traurigen Folgen zu beseitigen. Derartige Patienten, welche früher rettungslos und zwar meist auf beiden Augen erblindeten, verdanken Grafes Forschungen von nun an ihr Augenlicht. Aeußerst interessant sind die verschiedenen Eingeweidewürmer, welche durch Gräfe in den Flüssigkeiten des Auges beobachtet und mit Glück entfernt worden sind. Auch diese seltene Krankheitsform führte früher meist unausbleibliche Erblindung herbei. Ein Hauptverdienst Gräfe’s besteht auch noch in der genauen Erforschung der Augenmuskeln und ihres Einflusses auf die verschiedenen Störungen des Sehorgans. Seine Arbeit über die Physiologie und Pathologie der schiefen Augenmuskeln, ebenso wie die über das Schielen gelten mit Recht als classisch.

Wir verlassen jetzt mit Gräfe seine Klinik. Er hat schon heute viel gethan; er ist um sieben Uhr früh aufgestanden und hat bis neun Uhr des Morgens gearbeitet, dann seine gewöhnliche Vorlesung abgehalten, die zum größten Theil von fremden Aerzten besucht wird. Bis drei Uhr nach Tisch dauerte der klinische Unterricht und die Abhaltung der Poliklinik, die von 100 bis 150 Augenkranken täglich besucht wird. Auch einige größere oder kleinere Operationen hat er bereits abgethan. Jetzt besteigt er den Wagen und sieht noch einige Patienten in der Stadt. Es ist bereits fünf Uhr, wenn er ermüdet in der Wohnung seiner Mutter anlangt, wo das Mittagbrod auf ihn wartet. Zuweilen nimmt er sich nicht einmal zum Essen Zeit und die Speisen werden ihm in den Wagen hineingereicht und schnell verzehrt. Um sechs Uhr beginnt die Privatsprechstunde in seiner Wohnung, die einige Stunden dauert und wo er ebenfalls täglich fünfzig bis achtzig Kranke empfängt und ihnen Rath ertheilt. Für jeden derselben hat er ein freundliches Wort, einen beruhigenden Trost und meist auch, wenn es nicht schon zu spät ist, sichere Hülfe. Jetzt erst beginnt Gräfe’s Arbeitszeit, die oft bis spät nach Mitternacht andauert. Wenig Männer in solch’ jugendlichem Alter und unter ähnlich glänzenden Verhältnissen dürften einen so hohen Grad von Selbstverleugnung besitzen und ihr ganzes Leben in dem Grade der Wissenschaft und dem Wohle der leidenden Menschheit weihen.

Gräfe’s einzige Erholung besteht in der Zusammenkunft mit seinen Jugendfreunden, mit denen er wie vor Jahren als lustiger Student an bestimmten Tagen sich vereint und in heiterer Ungebundenheit erfreut. Im Winter macht er mit ihnen seine gewohnte L’hombrepartie, im Sommer schiebt er am liebsten im Freien seinen Kegelstamm. So einfach sind seine Vergnügungen. Nur ungern erscheint er in größerer Gesellschaft, um so lieber bewegt er sich in einem kleinen Cirkel von gebildeten Frauen und Männern, zu denen einige Schriftsteller und eine rühmlichst bekannte und durch ihre Liebenswürdigkeit ausgezeichnete Künstlerin gehört. Hier herrscht ein heiterer, unbefangener Ton und auch Gräfe entfaltet dann seinen natürlichen Frohsinn und eine ansprechende Gemüthlichkeit. Gräfe hat den Grundsatz: Was man thut – ordentlich. In Folge dessen arbeitet er neun Monate ununterbrochen über Menschenkräfte; dafür gönnt er sich drei Monate, welche er auf Reisen zu seiner Erholung und Belehrung zubringt. In seiner Abwesenheit versehen seine Assistenten die Klinik und seine bedeutende Privatpraxis. Den größten Theil dieser Ferien verlebt er in den Hochgebirgen der Schweiz und Italiens, wo der Monte Rosa einer seiner Lieblingspunkte ist. Jeder noch so unzugängliche Paß ist ihm dort bekannt, jede lohnende Spitze hat er bestiegen. In jenen Gegenden ist er wie in Berlin als Augenarzt, als Alpenfreund und rüstiger Bergsteiger bekannt geworden. Er fühlt sich stets zu seinen Bergen hingezogen. Ein wahrer Wanderbursche zieht er dann unter Sang und Scherz mit einigen Freunden fröhlich über Berg und Thal, alte Studentenlieder anstimmend und in der herrlichen Natur, von reineren Lüften angeweht, Stärkung und Erholung suchend. Nur ungern ertheilt er auf diesen Reisen Consultationen; wenn er jedoch gezwungen wird, gibt er sich mit mehreren Patienten an verschiedenen Orten ein Rendez-vous; so im letzten Jahre auf Isola Bella mit mehreren russischen Familien, welche seinen Rath und seine Hülfe suchten. – Neben diesem Sinn für Natur hat sich Gräfe einen regen Antheil an der Kunst, besonders an der Musik, trotz seiner vielen Beschäftigungen zu bewahren gewußt. In früherer Zeit interessirte er sich auch noch für Philosophie, er war ein leidenschaftlicher Anhänger des Hegel’schen Systems und viele Jahre ein eifriges Mitglied eines in Berlin bestehenden Hegelkränzchens.

Sein Charakter zeichnet sich besonders durch einen tiefen Gerechtigkeitssinn gegen sich und Andere aus in allen seinen Handlungen und Urtheilen. Gern erkennt er die Verdienste Fremder an, während er selbst mit der größten Bescheidenheit auftritt. Seinen Collegen gegenüber erscheint er eben so human, als zuvorkommend. Im Verkehr mit den Kranken entwickelt er eine wohlthuende Theilnahme; er flößt durch wenige Worte schon das größte Vertrauen ein. Arme und Reiche behandelt er mit derselben liebevollen Aufmerksamkeit. Seine Klinik steht den Dürftigen unentgeltlich offen und seine Wohlthätigkeit beschränkt sich nicht blos auf die Ertheilung eines Rathes. Einen großen Theil seiner bedeutenden Einkünfte verwendet er lediglich zum Wohle seiner Mitmenschen und zur Verbesserung ihrer Lage. Er hat schon Vielen nicht nur das Augenlicht, sondern auch das Brod gegeben. Seinen Freunden ist er der beste Freund, getreu in Leid und Freud’; zu diesen zählt er zunächst seine sämmlichen Assistenten, die mit ihm nicht nur seine Beschäftigungen, sondern auch seine Erholungen theilen. Er lebt mit ihnen auf ganz gleichem [192] Fuße und rechnet sie in jeder Beziehung zu seinen nächsten Angehörigen und Hausgenossen. Auch seine Dienerschaft, zu der seine Amme und der alte Kutscher Paddenheim, ein Erbstück der Familie, zählt, erfreuen sich einer selten humanen Behandlung. – Gräfe geizt nicht nach äußeren Zeichen der Anerkennung, die ihm in seiner Stellung leicht zu erreichen wären. Er hat sich in jeder Beziehung eine beneidenswerthe Unabhängigkeit zu bewahren gewußt. – Für unsere Leserinnen dürfte auch die Nachricht nicht uninteressant sein, daß der berühmte Arzt noch unverheiratet ist.

Nur selten wird ein Mann bei so jungen Jahren eine ähnliche Stellung und in so kurzer Zeit erlangen. Gräfe verdankt dieselbe nicht nur seinem Talente, sondern weit mehr dem unermüdeten Fleiße und dem ernsten Streben, die ihn beseelen. Sein ganzes Leben legt dafür das schönste Zeugniß ab. Dadurch daß er sich ganz dem Dienste der Menschheit gewidmet hat, Alles seinem Berufe opfert, fast gänzlich auf die gewöhnlichen Zerstreuungen verzichtet, die Selbstverleugnung bis zur strengsten Askese treibt, Tag und Nacht der Wissenschaft nur lebt; hat er mit neunundzwanzig Jahren ein Ziel erreicht, das sonst nur dem gereiften Alter, der jahrelangen Erfahrung und einem Zusammenflusse günstiger Umstände zu Theil wird. Sein Name ist in ganz Europa bekannt, aber sein schönster Ruhm lebt im Munde von Tausenden, denen er das halbe Leben, den Quell des Lichts, die Sehkraft des erblindeten Auges bewahrt, oder wiedergegeben hat.

Max Ring.




Feld- und Gartenpredigten.

Nr. 1.

Werthgeschätzte Feldgenossenschaft und Gartengemeine!

Man sagt von Dir, daß Du in raschem Fortschreiten nach dem Besseren begriffen seist, und ich glaube es auch; denn stagnirende Sümpfe wandeln sich in üppige Felder; wo sonst Disteln und Dorngestrüpp wucherten, da streckt jetzt der Obstbaum seine blühenden Aeste; die Düngerstätte ergießt ihre trüben, aber Goldsand führenden Flüsse nicht mehr in die Straßen, und sonst noch haben rationelle Grundsätze in Deinen Gehöften, in Deinen Viehställen, auf Deinen Feldern siegreich sich Bahn gebrochen. Aber doch giebt es in Deinem Bereiche gewisse Ecken, an die Du Dich in behaglicher Ruhe seit Jahrhunderten anlehnst, Du kümmerst Dich nicht um den Unrath, der in den anstoßenden Winkeln seit undenklicher Zeit sich anhäufte, rührst nicht die Hand, den unerquicklichen Haufen fortzuschaffen.

Alle Ehre dem Compost, aber nur da, – wohin er gehört! Während unter dem gewaltigen Fortschritte des Zeitgeistes rings umher Alles erzittert und neu sich gestaltet, bilden jene Ecken ebenso viele in unbeweglicher Ruhe verharrende Schwingknoten und - der Zopf, der hängt Dir hinten!

Meine vielgeliebten Zuhörer! Nach Millionen lassen sich die Verluste berechnen, welche jährlich durch die Verheerungen der Raupen an Obst und Waldbäumen durch das Benagen der Wurzeln oder Blätter verursacht werden, durch die Erdflöhe an den Schotengewächsen, durch Blattläuse an den Fruchtbäumen und Hülsenfrüchten, durch Käfer und andere Insecten an allerhand Pflanzen, welche des Lebens Nahrung und Nothdurft abwerfen, durch Ratten und Mäuse, welche die Ernten mit Dir theilen. Der Schöpfer hat es weislich so geordnet, daß jedem Feld und Gartenfeinde ein Wächter beigegeben ist, der dafür sorgt, daß er in naturgemäßen Schranken bleibe. Ja noch mehr, in demselben Maße, in welchem die Insecten und andere Pflanzenfeinde an Zahl zunehmen, in demselben Maße wächst auch die Zahl der Wächter, welche unter den ungebetenen Gästen die Zucht zu üben und ihrer allzugroßen Vermehrung Schranken zu setzen haben. Jene nach Millionen zu berechnenden Verluste würden um ein Bedeutendes reducirt werden, wenn Du nur der Natur etwas nachhelfen oder sie wenigstens ungestört wirken lassen wolltest. Aber das ist es eben, was ich sage, – der Zopf, der hängt Dir hinten!

Denn kann man wohl hinter einem Gartenzaune weggehen, ohne auf einen zu Tode gesteinigten Igel zu stoßen? Und doch besteht seine Nahrung aus Nichts, als aus Insecten oder deren Larven, und Maikäfer sind sein Leibessen. Eine Spitzmaus darf sich eben so wenig sehen lassen, denn Du meinst ja, sie sei eine wirkliche Maus und Körnerfresserin. Schau ihr aber in das Maul und Du wirst an der Zahnbildung erkennen, daß sie zu den Raubthieren zu zählen ist und keine Pflanzenstoffe mag, sondern Engerlinge und Würmer, deren Häute Du auch in dem Magen des kleinen Thieres finden wirst. – Großvater seliger und Vater sind hinter dem Maulwurfe hergewesen und haben ihm, wo er sich sehen lassen, das Genick eingestoßen, und Du thust es auch, aber darum mehren sich auch Regenwürmer und Engerlinge so sehr, daß Du Dich ihrer nicht mehr zu erwehren weißt und von Deinem leidigen Vorurtheile und Ungestüm schlechten Dank hast. Wenn der Maulwurf – kommt her, weil er Mull oder lockere Erde aufwirft – Dein Gartenbeet oder Deine Wiese verunstaltet, so ebene es in Gottes Namen ganz ruhig und gelassen, denn Du hast den Vortheil, daß er Dir die Erde hübsch auflockert.

Meine liebe Gemeinde! An Deinen Scheunenthoren hängen scheußliche Cadaver von Eulen, großen und kleinen, angenagelt, wiewohl sonst häufiger, als jetzt, und Du bildest Dir auf diese Deine Jägerei ordentlich etwas ein, und doch giebt es kaum ein Thier, welches die Feld- und Waldmäuse so sicher in den gebührenden Schranken hielte, als die nächtlich raubende Eule. Euere jungen Hühner, Gänse und Enten, nach denen sie mitunter einmal Appetit bekommt, könnt Ihr schon vor ihr schützen, und ein einziger Bube, der um die Schule herumläuft und zuchtlos durch Wald und Gärten streift, vernichtet oft an einem Tage mehr Vögel, als eine Eule das ganze Jahr hindurch zu fangen Gelegenheit hat.

Die Fledermäuse sind allgemein gehaßt und verfolgt, und schön und liebenswürdig kann ich sie auch nicht nennen, aber doch vertilgen sie eine Menge von Insecten, welche in der Dämmerung und des Nacht’s[WS 1]fliegen. Ich fand einst auf dem Dachboden eines alten Schlosses, wo sich eine zahlreiche Fledermaus-Republik angesiedelt hatte, die Diele mit Flügeldecken, Flügeln, Beinen und Bruststücken von Maikäfern und Nachtschmetterlingen Zoll hoch überdeckt. Man sollte daher, statt sie zu verfolgen, für Herstellung dunkler Räume Sorge tragen, in denen sie ihre Residenz aufschlagen könnten.

Auch die Kröten, Eidechsen und Blindschleichen muß ich vor Euch in Schutz nehmen, meine lieben Zuhörer, und vor Eueren Büblein, kleinen und großen; denn sie leisten uns durch Vertilgung schädlicher Insecten bedeutendere Dienste, als Ihr meint, und wir könnten wohl, zum Dank dafür, ihr oft abschreckendes Aeußeres übersehen. Und liegt denn nicht auf Deinem Hofe, wie in Deinem Garten so Manches, was eben auch kein großes Wohlbehagen bei Dem hervorbringt, der nicht an dergleichen Dinge gewöhnt ist? Ihr müßtet nur Euere Kleinen über die Stellung dieser und anderer Thiere in der Haushaltung der Natur gehörig aufklären und der Schulmeister müßte es auch thun und dafür lieber die Liste der Berge und Flüsse in Asien und der Inseln im Weltmeere etwas kürzer zuschneiden, dann werden Vorurtheil und Thorheit bald aus dem bequemen Neste ziehen müssen, in dem sie sich so lange wohl befunden.

Was soll ich nun aber, meine geliebten Zuhörer, über die armen kleinen Singvögel sagen, die Euere größten Wohlthäter sind in Garten und Feld? Wüthet man nicht gegen diese Boten Gottes, die ihre Sendung mit so bewunderungswürdigem Geschick und Eifer ausführen, als wären sie Länder verheerende Bestien?

Rechnet nur zusammen, wie viele Insecten fressende Vögel, Rothkehlchen, Meisen, Nachtigallen, Grasmücken, Staare u. s. w. in einem einzigen Dorfe auf Leimruthen, in Fallen, Sprenkeln, Garnen und Schneußen gefangen werden und in der Gefangenschaft fast ohne Ausnahme elendiglich umkommen. Zählet dazu die Menge der Eier und Jungen, welche im Laufe eines Sommers aus den Nestern genommen und zertrümmert oder zu Tode gequält werden, und wundert Euch dann nicht mehr, wenn der Spaniol Euch beides, Blätter und Blüthen, abfrißt, daß Euere Obstbäume kahl stehen, wie Rapsstroh.

[193] Du weißt, meine liebe Feld- und Gartengemeinde, daß man den Regierungen keine scharfen Predigten halten darf. Hat man ihnen Etwas zu sagen, so soll dieses fein sänftiglich geschehen. Fühlte ich mich nun dazu berufen, auch ihnen eine Feld- und Gartenpredigt zu halten, so würde ich den Schafpelz anziehen und also sprechen: Hochzuverehrende Regierung, auf meinen Wanderungen durch einen Theil von Deutschland hat sich mir überall die Wahrnehmung aufgedrängt, wie ungenügend der Feld- und Gartenschutz gehandhabt, wie dadurch der Ertrag vom Grund und Boden bedeutend geschmälert und Manchem die Lust zum Obst- und Gartenbau verkümmert wird. Vor allen Dingen wird es nothwendig sein, daß auf jegliche Weise diejenigen Thiere in Schutz genommen werden, denen von der Natur die Vertilgung schädlicher Insecten aufgetragen worden, denn keine menschliche Thätigkeit richtet darin so viel aus, als die Natur selbst durch die in das Feld gesandten Schaaren. Mit Strenge sollten alle diejenigen bestraft werden, welche die Nester gewisser Vögel ausnehmen oder zerstören, oder Vögel wegfangen, gleichviel auf welche Weise und zu welchen Zwecken. Die Eltern aber müßten für ihre Jungen verantwortlich sein. Es sollte nicht zu den gleichgültigen und von der Ortspolizei geduldeten Dingen gehören, wenn Igel, Fledermäuse oder Eulen unnützer Weise verfolgt oder getödtet werden. Und über das Alles, jeder Gartenbesitzer oder Landwirth, welcher versäumt in seinem Obstgarten Raupen oder beim Pflügen die Engerlinge auflesen zu lassen, sollte mit einer Pön belegt werden, denn was hilft es mir, wenn ich meine Bäume sauber halte und Bruder Liederlich, mein Nachbar, läßt die Raupennester in allen Astwinkeln sitzen? Wer eine Anzahl von zweckmäßigen Brütkästen in seinem Garten anbrächte, sollte aus den eingegangenen Strafgeldern prämiirt werden. Aber die im Interesse des Feld- und Gartenschutzes gegebenen Bestimmungen dürften nicht nur auf dem Papiere stehen, sondern müßten mit aller Energie gehandhabt werden, und die Ortspolizei sollte auf die Erfüllung des Gesetzes eidlich verpflichtet sein. Das Alles, aber nur ausführlicher und mit Zahlen belegt, würde ich den Regierungen an das Herz legen, wenn ich mich dazu berufen fühlte.

Wenn Du aber nicht selbst ein Einsehen hast, liebe Feld- und Gartengemeinde, dann wird Alles nicht fruchten. Du mußt selbst das Beste dabei thun. Ein Jeder von Euch muß es sich zur Aufgabe machen, die Natur in ihrer Arbeit, der allzugroßen Vermehrung von Pflanzenfeinden Einhalt zu thun, zweckmäßig zu unterstützen. Alle ausgebildeten Insecten, so viel Ihr deren habhaft werden könnt in jenen Stunden, in denen Ihr müßig in Feld und Garten umherschlendert, müßt Ihr tödten, denn in jedem einzelnen vernichtet Ihr eine ungeheuere Nachkommenschaft. Die aufgesprungene Borke, Moos und Flechten müssen sorgfältig von den Stämmen und Aesten der Bäume abgekratzt und verbrannt werden; denn nicht nur, daß Euere Bäume dadurch an äußerem Ansehen gewinnen und ihre Gesundheit befördert wird, man entzieht dadurch auch einer Menge von Insecten den Grund und Boden, auf dem sie ungestört ihre Eier ablegen, sich entwickeln und überwintern können.

Alle abgefallenen Früchte, auch die kleinsten unreifen, müssen gesammelt und schnell verwendet werden, sei es zur Essigbereitung, sei es als Viehfutter; denn meistens fallen sie ab, weil ein feindliches Insect in ihm hauset, das nun auf oder in dem Boden seine weitere Ausbildung vollendet. In Obstkammern vorzüglich muß man jedes etwa ausbrechende Insect vertilgen, weil es von da aus wider die Obstbäume anfliegt und seine Eier absetzt.

Samen, die auf dem Boden aufgeschüttet werden, muß man öfters gründlich durcharbeiten, um dadurch die Entwickelung schädlicher Käfer und Motten zu hindern.

Auch ist es gerathen, im Garten alle verkrüppelten und sonst krankhaft afficirten Samenkapseln und Schoten, sowie an Bäumen und Sträuchern alle welk werdenden oder abgestorbenen Zweige zu entfernen und zu verbrennen, weil sie in der Regel von Insectenlarven bewohnt werden, die nur der bevorstehenden Metamorphose harren, um Euch eine ganze Brut auf das erste beste Blatt oder Zweiglein zu setzen. Aus gleichem Grunde müssen auf den Pflanzenbeeten alle diejenigen Stengel ausgezogen werden, welche ein mißfarbiges Ansehen bekommen, denn in der Regel ist auch hier der böse Feind eingezogen. Wo Blätter zusammengesponnen oder gerollt sind, wo sie gekräuselt oder durchlöchert erscheinen, wo Gespinnste oder körnige Excremente sich zeigen, die Rinde durchfurcht oder wohl gar von Fluglöchern durchbrochen ist, seid nicht säumig, das Krankhafte hinwegzunehmen und die Fresser zu entfernen, ehe sie sich in’s Unendliche vermehren und Euere Sorge und Arbeit um das Tausendfache vervielfältigen.

Meine werthgeschätzten Zuhörer! Ihr sprecht: das Alles ist uns nicht unbekannt, und Du sagst uns nichts Neues.

Wohl, aber warum ermannt Ihr Euch nicht zum Vertilgungskriege gegen Euere Feinde, und warum schreitet Ihr nicht energisch gegen Alles ein, was Euch die Früchte Eueres Schweißes verkümmert? Oder glaubt Ihr, ein paar zerfressene Blätter oder ein entblätterter Ast haben nicht viel zu bedeuten? O dann seid Ihr in einer argen Täuschung befangen, denn das Blatt ist Organ der Athmung, der Ausdünstung und der Aufnahme der in der Atmosphäre verbreiteten gasförmigen Nahrungsstoffe, und so wenig der menschliche Körper gedeihen kann, wenn die Haut durch Schmutz oder Flechten gehemmt oder die Lunge verderbt ist, so wenig können auch die Pflanzen eine gesunde Frucht erzeugen, oder sich zu vollkommener Schönheit entwickeln, wenn die Blätter oder Gefäße durch Schmutz, schmarotzende Gewächse, durch Raupenfraß oder Borkenkäfer leiden.

Das wissen auch die Gärtner sehr wohl; darum reinigen sie die Blätter der in Gewächshäusern gepflegten Pflanzen mit einem nassen Schwamme oder durch Bespritzen mit Wasser sorgfältig von allem Staub und Schmutz, und entfernen auch die verletzten Blätter, um neuen Bahn zu machen.

Ehe ich Euch aber mit einigen probaten Mitteln zur Bertilgung Euerer Cardinalfeinde zur Hand gehe, möchte ich Euch noch zu einem Einblick in die bewundernswürdige Oekonomie der Natur Gelegenheit geben.

Gleichwie jede Pflanze eine ihr mehr oder weniger eigenthümliche Insectenart beherbergt, so sind auch die letzteren den Angriffen gewisser Raubinsecten ausgesetzt, die selten eine andere Art anfallen. Ganz besonders haben die Schlupfwespen das Amt, einem zu ausgedehnten Raupenfraße Einhalt zu thun.

Sie sind zum großen Theile mit einem Legestachel versehen, den sie in den Körper der Raupen und Larven oder des ausgebildeten Insectes einsenken und so die Eier absetzen. Bald wimmelt es in dem befallenen Thiere von Larven, die den unfreiwilligen Wirth bei lebendigem Leibe auffressen und sich in ihm oder außer ihm verpuppen. Andere Schlupfwespen legen sogar ihre Eier in die Eier von Schmetterlingen, so daß die Entwickelung derselben schon im Keime zerstört ist. Im Herbste des vorigen Jahres wimmelte es allenthalben in den Kohlpflanzungen von Raupen des Kohl- und des Rübenweißlings. Aber bald stellten sich auch gewaltige Schaaren einer gewissen Art von Schlupfwespen ein, welche eine Raupe nach der andern anbohrten. Eine nach der andern färbte sich schmutzig gelb, eine nach der andern schleppte sich aus dem fetten Kohle nach einem Schlupfwinkel, um da zu sterben, und bald waren alle Pflanzen von den ungebetenen Gästen befreit.

Die Namen, welche die Gelehrten den verschiedenen Arten von Schlupfwespen gegeben, deuten fast alle auf die segensreiche Thätigkeit derselben hin; eine heißt bellator, der Krieger, eine andere necatorius, der Todbringende, eine dritte vulnerator, der Verwunder, eine vierte instigator, der Anbohrer, eine andere pugillator, Fechter u. s. w.

Fast eben so segensreich wirken die kleinen Käferchen, welche Eueren Kindern unter dem Namen Marienkühchen wohlbekannt und befreundet sind. Ihre Larven wüthen unter den Blattläusen ärger, als Löwen und Tiger unter den warmblütigen Thieren. Ein solcher Blattlauslöwe würgt in einem Tage eine Menge von Pflanzensaftsaugern, und überdies thut auch die Blattlausfliege das Ihre, denn sie bohrt die Blattläuse eben so an, wie die Schlupfwespen die Raupen.

Solche Thiere nun, welche Euere Bäume und Gemüsepflanzungen von den schlimmen Gästen reinigen, solltet Ihr kennen zu lernen und zu schätzen suchen, denn auch sie müssen manche Unbill erdulden, nicht weniger, als die lieben kleinen Singvögel.

Ich schließe hiermit den ersten Theil meiner Feld- und Gartenpredigt, in der ich Euch nur Allgemeines an das Herz legen wollte. Wenn es nur Etwas fruchtet! Es wird doch ein Samenkörnlein auf guten Boden fallen!

Gott befohlen, meine liebe Feld- und Gartengemeinde, – und Nichts für ungut!
C. R.

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Englisch-ostindische Civilisation.

Wer Zeitungen liest, begegnet jetzt alle Tage Ereignissen und Betrachtungen, die sich auf Ostindien beziehen. Perserkrieg, Bombardement Cantons, Eisenbahn in Kleinasien und Persien, Oberlandspost, Meetings und Petitionen in England, Anträge und Debatten und Abstimmungen, Interpellationen und schnöde Antworten im Parlamente, diplomatische Verhandlungen und Intriguen, geheime Beiträge und offene Unverträglichkeiten, nähere oder fernere Aussichten auf russisch-englischen Krieg in Asien und russisch-französische Alliance, Unbehagen und Arbeitslosigkeit in England bei verdoppelter Ausfuhr (seit 1849), Unsicherheit des Friedens, der Geschäfte und des Credits in Asien, Europa und Amerika dazu – Alles dies steht oft mit Ostindien in Verbindung, mit der fabelhaften Thatsache, daß etwa hundert Millionen Menschen Tausende von Meilen weit von ein Dutzend Kaufleuten in Leadenhallstreet zu London und deren Beamten, Söhnen der englischen Aristokratie und ihren Günstlingen, beherrscht, ausgebeutet und ruinirt werden, und England, der Staat und das Volk, nie zur Ruhe darüber kommen, nie genug kriegen und das Deficit desto mehr steigern, je mehr sie Land und Leute in Ostindien unterjochen und ausweiden. Es ist das seltsamste, schandbarste Verhältniß, das je zwischen Eroberern und Unterjochten in der Geschichte auftrat. Wir können’s hier nicht erschöpfen und geben blos zu den früher geschilderten häuslichen Lebensverhältnissen der Engländer in Ostindien noch einige Bilder und Scenen, welche zur Veranschaulichung dieses Verhältnisses beizutragen geeignet erscheinen.

Die Times sprach unlängst mit ungewöhnlicher Ehrlichkeit die Worte aus: „Wir (Engländer) haben bisher noch nicht einmal so gethan, als ob wir auch etwas zum Wohle der Indier zu thun Lust hätten.“ Nicht einmal den Schein, geschweige etwas von That. Man mache sich einmal, nicht die bodenlose Grausamkeit und Barbarei dieser Thatsache, sondern deren unbegreifliche, blinde Dummheit klar. Ganze Schaaren von englischen zweiten Lordssöhnen und Taugenichtsen strömen fortwährend als Beamte der Compagnie nach Ostindien und strömen fortwährend zurück mit Hunderten und Tausenden von Pfunden jährlicher Einkünfte, Früchte ihrer „Ersparnisse“ während ihres Satrapirens. Die Compagnie besteht durch Ostindien aus Millionären und macht jedes Jahr Millionen von Gewinn, besonders durch ihr Monopol auf Opium. Ostindien ist also die Reichthumsquelle für immer neue Heerden von Engländern, die so glücklich waren, vom Staate als Gouverneurs oder von der Compagnie als Steuereintreiber hingeschickt zu werden. Zudem sagt man, die Engländer seien ein praktisches, kaufmännisches Volk. Ist es praktisch oder kaufmännisch, die Quelle des Geschäfts, den Strom von Steuern und Einkünften auszutrocknen, und nicht einmal „so zu thun,“ als wolle man sich diese Quelle erhalten? Vor den Richterstuhl der Menschlichkeit dürfen wir diese Wirthschaft gar nicht schleppen. Die unglaubliche Grausamkeit und Dummheit, welche in der englischen Mißhandlung Ostindiens liegt, läßt sich nur durch das „après nous le déluge“ erklären. Jeder kratzt und raubt so viel zusammen, als er irgend kann, um mit den Früchten wieder heimzukehren. Um seinen Nachfolger bekümmert er sich nicht. So machten’s die römischen Gouverneure in den eroberten Provinzen, die persischen Satrapen in eroberten Ländern, so die Spanier in Amerika. Wie macht man’s denn aber eigentlich in Indien? Einige Thatsachen aus der neuesten Zeit können als Antwort dienen.

In Calcutta, der Hauptstadt des besten Theils vom englischen Indien, Bengalen, konnten’s neuerdings anständige und menschliche Engländer nicht mehr mit ansehen, wie die Indier behandelt wurden. Sie setzten also eine Petition an den General-Gouverneur auf, und baten ihn um Einsetzung einer Commission von unparteiischen Ehrenmännern, welche das Polizei- und Justizwesen, wie es gegen die Indier geübt wird, untersuchen sollten. Der General-Gouverneur wies sie rund ab. Die anständigen, menschlichen Engländer haben sich nun an’s Parlament in England gewandt, welches das Ding untersuchen und helfen soll, wie sich auch sechs indische, abgesetzte Fürsten, zum Theil seit Jahren persönlich (darunter der ganze Hof von Oude), an das Parlament gewandt haben, daß man ihnen Gerechtigkeit verschaffen möge. Man tröstet sie so lange, als sie noch Gold und Diamanten haben, und läßt sie dann laufen (zwei sind schon auf diese Weise an den Bettelstab getröstet worden). Das Parlament läßt das Polizei- und Justizwesen im besten Falle untersuchen, und entrüstet sich dann über die Ergebnisse, wie über die ebenfalls untersuchte Tortur beim Steuereintreiben (worüber wir früher in der Gartenlaube berichteten; aber nicht desto weniger wird das Geschäft der Steuereinnahme mit Tortur fortgesetzt. Die dreißig Millionen Indier in Bengalen gehören den Engländern seit hundert Jahren. Man hat auch hier während der Zeit nicht einmal nur so gethan, als ob man ihnen etwas Recht und Menschlichkeit für die ihnen abgemarterten Steuern geben wolle. Im Jahre 1835 veröffentlichte ein englischer Richter in Calcutta, F. J. Shore, „Bemerkungen über indische Zustände“ („Notes on Indian Affairs“), Zustände von Corruption, Grausamkeit, Tyrannei und Willkür, die Einem die Haare zu Berge treiben, lauter Thatsachen aus eigensten Erlebnissen und Erfahrungen in seinem Gerichtsbezirke Furruckhabad. Das Buch wirkte bis in das geheimnißvolle Ostindien-Haus, Leadenhallstreet, London. England und Indien waren in höchster Entrüstung über die enthüllten Grausamkeiten. Die Directoren erließen deshalb am 20. Januar 1836 einen Befehl an den ostindischen General-Gouverneur, das Polizeiwesen zu reformiren und zu reinigen und dabei keine Kosten zu scheuen.

Das sah ganz menschlich aus. Auch ließ der Gouverneur untersuchen und rapportiren und eine Commission darüber examiniren. Unter den vernommenen Zeugen war auch der damalige Secretair des Gouverneurs R. D. Mangles. Er widersetzte sich jeder Reform, weil sie zu viel kosten würde, obgleich die Directoren gesagt hatten, man solle keine Kosten scheuen, sie würden’s bezahlen. Es unterblieb auch auf Grund dieses Zeugen jede Art von Reform. Und dieser Zeuge ist jetzt Mitglied der Directoren der ostindischen Compagnie und Parlamentsmitglied. – Hatte er doch dem „Lande“ Geld erspart. – Mochten es doch die Directoren mit ihrem großmüthigen Ausspruche, keine Kosten zu scheuen, nicht ernstlich gemeint haben. Mochte doch Mr. Mangles nicht ermangelt haben, dies zu erfahren und zu beherzigen.

Polizei, Steuer- und Gerichtswesen blieb bis heute, wie es Shore vor mehr als zwanzig Jahren erlebt und geschildert hatte. Alle drei Functionen sind in einer Person vereinigt. Der Steuereintreiber ist Magistratsrichter und Polizeidirector. Einer dieser dreieinigen Beamten sagte vor der Commission 1837 ganz offen aus: „Das Steuerdepartement, die Einnahme, muß als erste Rücksicht gelten. Das Polizei- und Gerichtswesen ist dieser ersten Rücksicht immer untergeordnet.“ Man kann sich leicht denken, was das für Wirthschaft giebt, aber kaum, daß es so weit geht, wie neulich in einem Briefe aus Calcutta (vom 7. Januar 1857) geschildert ward, nämlich daß, wenn Indier dem Hauseinbrecher (Steuereinnehmer) bezahlt und schwärmende Legionen des sogenannten Rechts auf den Hals bekommen haben, sie diese Letzteren noch dafür, daß ihnen kein Recht gegen Rechtsverletzungen geschehe, schwer bezahlen. Ihre größte Angst, wenn ihnen Unrecht geschehen, wenn sie bestohlen, beraubt, geschimpft, geschlagen, torturirt wurden, besteht darin, daß dieses ihnen geschehene Unrecht bekannt werde. Wird’s bekannt, werden sie vor Gericht geschleppt, damit ihnen Recht werde. Um dies zu vermeiden, bezahlen sie lieber bis auf’s Herzblut, um das ihnen geschehene Unrecht zu behalten und geheim zu halten. Der Indier bekommt nämlich niemals Recht, wenn ihn ein Engländer bestahl, beraubte, torturirte u. s. w. Das Zeugniß seiner braunen Landsleute gilt dem weißen englischen gegenüber nicht. Er muß also furchtbar dafür büßen, wenn es bekannt wird, daß ihn ein Engländer bestahl oder sonst das Gesetz an ihm verletzte. Das nennt man „Verbreitung der westlichen Civilisation in Indien, der Wiege der Menschheit.“ Jeder Staat, auch der despotischste, gibt für die den Unterthanen abgenommenen Steuern, für gesetzliche Schranken und Unterdrückung mancher Freiheiten immer etwas als Entschädigung: Schutz der Person und des Eigenthums und wie die Geschenke des Staats sonst heißen mögen. Die Engländer nehmen den Indiern ihre „Gehalte“ mit Tausenden von Renten (wenn sie nach 10 bis 15 Jahren heimgekommen sind), ihre Pensionen, ihre Dividenden, die ungeheuern Kosten für Recht, Polizei [195] und Regierung, das Geld zum Bombardiren für die Interessen des Opiumschmuggels, zu geheimer Hauseinbrecherei in Persien u. s. w. ab; was geben sie dafür? Recht, für welches die Indier bezahlen, nur damit man es ihnen nicht gebe.

Schutz der Person und des Eigenthums? Folgende Thatsache corrigirt diese Vorstellung gründlich. In einer vor mir liegenden Zeitung von der Insel Ceylon heißt es: „Die Cholera wüthet in Indien immer ärger, als irgendwo. Jetzt hat sie die schönen Inseln Mauritius und Bourbon fast ganz entvölkert. Diese Inseln werden ungemein reichlich mit Schweinefleisch von Calcutta aus versorgt, auch von Patna. Hier aber wie in Calcutta sorgt die englische Regierung dafür, daß die Eingebornen nicht beerdigt, sondern in den heiligen(!) Ganges geworfen werden. Wenn man vom Gouvernements-Gebäude aus oder an den drei Canälen, welche Calcutta umgeben, früh spazieren geht, sieht man stets Heerden Schweine geschäftig, die über Nacht in’s Wasser geworfenen Leichname zu verzehren. Hier, wie bei Patna, sieht man Hunderte von Leichen am Ufer angeschwemmt, und Heerden von Schweinen sie grunzend durchwühlen und auffressen. Die Polizei begnügt sich damit, die übrig bleibenden Skelette und zerfressene Stücke den Tag über zu versenken. Aber die Schweine finden jeden Morgen dieselbe neue Nahrung. Diese so gemästeten Schweine werden nun geschlachtet, in Speck und Schinken und Pökelstücke zerschnitten, verpackt und auf den Markt gebracht. Der größte Markt für dieses von Leichen (und Choleraleichen) gewonnene Schweinefleisch ist Bourbon und Mauritius. Ein ganzes solches Schwein kostet in Calcutta nicht mehr als 3 bis 4 Schillinge (1 Thlr. bis 1 Thlr. 10 Sgr.), so daß man auch die von Indien nach England fahrenden Schiffe damit verproviantirt. So kommt es auch auf die Märkte von Europa und Amerika.

Solche Geschäfte blühen unter englischer Regierung. Dazu denke man an die Steuereinnehmertortur, an die absichtlich unterdrückte Polizeireform, an den Ueberfall in Persien, an die von Lord Palmerston 1849 (Blaubuch, Seite 137 wörtlich abgedruckte) erlassene Drohung, daß er die ganze Stadt Canton zerstören und kein Haus stehen lassen wolle, wenn man den monopolisirten Opiumschmuggel der ostindischen Compagnie noch ferner behindere, an den wirklich für diesen Opium geführten Krieg, an das wirklich bombardirte Canton – und man hat vorläufig genug zu der Vermuthung, daß die menschlicheren (wir wollen nicht sagen: christlichen) Staaten ein Recht haben würden, sich etwas mehr Constitutionalismus und Menschlichkeit von England auszubitten, als England sich gegen Neapel anmaßen zu wollen schien. In Neapel soll die Polzei schlimm sein, aber es ist noch lange keine Polizei von Calcutta. In Neapel begräbt man die Todten auch nicht sanft, aber man füttert doch auch nicht in constitutionell-westlich-civilisirter Weise die Schweine damit.




Der Lappe und sein Rennthier.

Hoch im Norden Scandinaviens und des von ihm begrenzten Rußland, in dem nördlichsten Theile Europa’s, lebt in Zerstreuung und Vereinzelung das Volk der Lappen, zwar nur noch etwa 11,000 Köpfe zählend, von denen die Hälfte auf Norwegen kommen mag, aber gleichwohl merkwürdig in Sitte und Lebensweise. Tritt man von Westen, über die dem nördlichen Norwegen vorgelagerten Inseln der Loffoden kommend, in die norwegischen Finnmarken ein, so ist es die wilde Erhabenheit der großen Westfjords, jener tiefen Meerbusen, welche in wunderlicher Verschlingung schluchtenartig in die hohe, mit steilen Felswänden umsäumte Küste hineinragend, das Auge mit Staunen, das Herz mit Erbeben erfüllen. Hinter dem hohen Küstenwalle und auf den ihn umlagernden gleich hohen Inseln, ragen Hunderte von schwarzen Bergen empor, meist mit weißleuchtenden Schneefeldern den größten Theil des Jahres hindurch oder an ihren Abhängen mit Gletschern bedeckt, die im goldenen Schmuck von Morgen- und Abendroth, im magischen Schimmer des Vollmondes und in der feurig düstern Pracht des Nordlichtes blitzend, ein Schauspiel darbieten, welches in unverlöschlichen Zügen in der Seele des Wanderers fortlebt. Dies ist die großartige Stätte, auf welcher einen Theil des Jahres der Lappe seine zeltartige Hütte, die Gamme oder Kote aufschlägt, um bald darauf weiterziehend sie wieder abzubrechen und an anderen Stellen aufzurichten. Denn der Lappe ist Nomade, seine Lebensweise wird durch das Renn bestimmt, jenes sonderbare Thier, das ihm Pferd, Kuh, Kameel und Schaf zugleich ist, und ihm Alles gewährt, was er zu seinem Dasein bedarf.

Die Lappen sind Glieder des großen Finnenstammes und, soweit unsere geschichtliche Kenntniß reicht, die frühesten Bewohner Scandinaviens, ehe sie von den germanischen Stämmen aus ihren alten Wohnsitzen in die gegenwärtigen verdrängt wurden. Von Person sind sie fast durchgängig klein, die meisten Männer messen unter fünf Fuß, eine Größe, welche die Weiber nicht einmal erreichen. Für gewöhnlich ist ihre Kleidung sehr einfach. Alle, ohne Unterschied des Geschlechts, tragen bis auf die Knöchel reichende Beinkleider von grobem Wollenzeug, über welche sie Halbstiefeln von gegerbtem Leder, und im Winter, wo ihr ganzer Anzug Pelzwerk ist, von Rennthierfellen ziehen. Diese dichten, weichen Stiefeln werden, um das Eindringen des Wassers beim Durchwaten der vielen Sümpfe auf den Hochmooren zu verhindern, mit Riemen so fest zusammengebunden, daß kein Anderer als der Lappe dies zu ertragen vermöchte, und selbst dieser bekommt dünne Beinknochen und schiefe Knöchel. Gleichwohl ist er behend, bei den mühsamen Wanderungen durch Sümpfe und über Klippen und Felsen seiner Gebirge so ausdauernd, daß es nicht leicht ein Normanne mit ihm aufzunehmen vermag. Den Oberleib des Lappen bedeckt zur Sommerzeit ein blaues oder braunes grobwollenes, blousenartiges Hemd, welches von einem mit Messing oder Zinn, wenn nicht mit Silber verzierten Gürtel zusammengehalten wird. In ihm liegen sein Messer, seine Ringe, sein Geld, ja selbst einige metallene Figuren, Amulette gegen Zauberei, an welche die Lappen noch fest glauben, wogegen sie wiederum von den Normannen, Schweden und Russen für gewaltige Zauberer nicht allein gehalten, sondern selbst mit den furchtbarsten Todesstrafen belegt worden sind. Namentlich stehen sie in dem Rufe, das „Wetter“ machen zu können, und der Stadtvogt Lee in Tromsoe, ein unterrichteter, trefflicher Mann, erzählt, daß er die Acten eines alten Hexenprocesses durchgesehen, in welchem der angeschuldigte Lappe die Frage: ob er Wetter machen könne? nicht allein mit Bestimmtheit bejahete, sondern auch eingestand, er könne sowohl Sturm erregen, als den Wind blasen lassen, woher er wolle, trotzdem daß ihm dies Geständniß den Tod brachte.

Eine ziemliche Verschiedenheit herrscht unter den Lappen, doch bilden den eigentlichen ursprünglichen Kern dieses Volkes jene nomadisirenden, welche auf den hohen Fjellen oder Bergflächen mit ihren Rennthierheerden weiden und, je nach der Jahreszeit, bald nach der Meeresküste, bald nach den tiefer gelegenen Waldregionen hinabziehen. Von diesen Berglappen, welche wir als den eigentlichen Kern später auf ihren Zügen begleiten und sonach näher kennen lernen werden, haben sich als halbverkümmerte Zweige die Bettel- und Fischlappen geschieden, während die Waldlappen der unteren Bergregionen mehr feste Wohnsitze aufgeschlagen und die unstät nomadisirende Lebensweise verlassen haben. Der Bettellappe treibt sich theils als Vagabund auf den hohen Fjellen herum, nicht selten vom Rennthierraube lebend, theils ist er unter die ansässige Bevölkerung in die Kirchspiele hinabgestiegen, um als fleißiger und geschickter Mann sich durch mancherlei, selbst die schmutzigsten Arbeiten zu nähren. Gleich dem indischen Paria ist ihm das Brandmal der Verachtung aufgedrückt. Ein freieres Naturleben führen die Fischerlappen. Wir finden sie in festeren Wohnungen, Baracken von Brettern und Zweigen, auch als Besitzer von einigen Rennthieren, doch vermindert sich deren Zahl immer mehr, da eine Rennthierheerde von weniger als zweihundert Stück bald zu Grunde geht. Die Hauptbeschäftigung des Fischlappen besteht in dem Fischfange in den Flüssen und Seen [196] der mittleren Regionen Schwedens, dem südöstlichen Abfalle des hohen Gebirgsrückens. Eine Lachsart wird besonders von ihm gefangen und frisch verzehrt oder auch getrocknet, in welchem Zustande der Fisch sich lange hält. Sein Boot ist sehr klein und überaus leicht gearbeitet, meist ganz ohne Verwendung des Eisens. Muß er einen der zahlreichen Wasserfälle umgehen, dann stülpt er den Kahn wie einen großen Hut über den Kopf, hackt seine Axt in den Schnabel, und regiert mit ihr die sonderbare Bürde beim schnellen Laufe durch das Gebüsch und die niederhängenden Baumäste. Dabei trägt er in der linken Hand das Fischergeräthe; am Halse hängt der Beutel von Rennthierfell mit seiner übrigen Habe. Der Fischlappe ist ein ungeselliger Mann und lebt meist vereinzelt, wenn nicht größere Fischereien ihn geradezu nöthigen, sich mit seinen Standesgenossen zu verbinden. Dem Gaste sein Brod zu brechen, fällt ihm gar nicht ein. Dieses für unsere Gaumen fast ungenießbare, Brod genannte Gebäck ist ein Gemenge aus Fichtenrinde und Fischen. Will der Reisende den Fischlappen sich geneigt machen, dann muß er mit der Branntweinflasche kommen, ein Juckastaka, d. i. ein Schluck, macht ihn zum lieben Bekannten. Die Gastfreundschaft der Araber, dort unter den Palmen im Wüstensande, findet man nicht, wo die Lappen unter düsteren Fichten auf Schnee und Eis hausen. Hier muß man mit schwedischen Redensarten, mit blankem Silbergelde und Branntwein versehen sein, will man nicht in ernstliche Gefahr gerathen und weiter kommen.

Die Rennthierlappen sind die eigentlichen Lappen. Man findet sie in den oberen Berg- und Waldregionen, und theilt sie deshalb auch in Berg- und Waldlappen. Letztere bilden den cultivirteren, mehr ansässigen Theil dieses Volksstammes in Schweden, wogegen der Berglappe, der interessanteste, ein wahres Hundeleben führt. Auf offenem Gebirge muß er bei dem Unwetter, Tag und Nacht seine Rennthiere pflegen. Der dürftige Wald der oberen Abhänge des hohen Gebirgsrückens gewährt gegen Sturm und Regen keinen hinreichenden Schutz, ja oft vermag er sich nicht einmal an einem Feuer zu erwärmen und zu trocknen, auf seiner hohen Lagerstatt wächst nur die Zwergbirke. In voller Kleidung muß er sich, so naß er auch sein mag, in die Hütte werfen; daher auch der Mangel an aller Reinlichkeit. Seine ganze Lebensweise wird durch das Renn bestimmt, und nirgends findet sich eine innigere Naturbeziehung zwischen Menschen und Thieren, als beim Lappen. Sein Land zerfällt in Berg- und Waldland. Ersteres findet sich in Norwegen und geht als hoher, breiter Gebirgsrücken bis an’s weiße Meer. Während dieser Hochrücken nach Westen zu steil in’s Meer abfällt, und die oben erwähnte höchst wilde Scenerie bildet, sendet er auf der östlichen Seite langgestreckte, sich allmählich verflachende Ausläufer tief in’s Land hinein. Zwischen diesen Gebirgszweigen haben zahlreiche Gewässer ihren Lauf. Sie sowohl, wie überhaupt jene Gebirgsausläufer und Flußthäler sind die Wegweiser für die Wanderzüge der Rennthiere. Nie bewegt sich die Heerde von einem Flußthale zum andern, immer geht es längs der bewaldeten Seitenabhänge hin bis in die oberen Bergregionen. Während des Winters weilt der Lappe in den unteren Walddistricten, deren Boden mit dem weichen Rennthiermoose bekleidet, obwohl vom Schnee bedeckt ist. Das kluge Thier weiß schon seine Nahrung unter der Schneedecke zu erlangen. Eine Anzahl Stangen, meist sechzehn bis zwanzig, kreisförmig in der Erde befestigt, oben zusammengebunden, bis auf eine Oeffnung für den Rauchabzug und mit Filz oder grobwollenem Stoff bedeckt, bilden seine Wohnung oder Gamme. Zwar ist sie leicht genug, um von heftigen Stürmen umgeworfen zu werden, doch reicht sie aus, ihn gegen das Wetter zu schützen, und das Feuer in ihrer Mitte mag das Uebrige thun.

Kommt das Frühjahr, dann verläßt der Lappe den Wald und zieht hinauf in die höheren Gegenden der Gebirgsausläufer bis zum Waldessaum, wo der Baumwuchs aufhört. Dies geschieht indeß nicht nach eigener Wahl, das Rennthier bestimmt ihn dazu. Der wilden Dasselfliege in den Wäldern zu entgehen, bricht es von selbst in’s höhere kühlere Gebirge auf, sein Herr muß ihm folgen, wenn er, der dem Rennthiere seine Gewohnheiten längst ablauschte, ihm nicht zuvor kam. Das eine seiner Renne am Riemen führend schreitet er voran, während die andern in langen Reihen hinter ihm herziehen. Bald ist der Platz abgeweidet, die Heerde zieht weiter; der wandernde Hirt wird zum Nomaden. Auf dem Rücken der hohen Fjellen, an jenen fürchterlichen abflußlosen Sümpfen, wo neben Moos und Flechte die Moltebeere als einzige Frucht zur Reife kommt, findet der Sommer die Heerde. Aber die Tage werden immer heißer, die Sonne geht nicht mehr unter, sie beschreibt um den Himmel einen Kreis, der um Mittag seine bedeutendste, um Mitternacht, wenn man trotz der am Himmel stehenden Sonne es so nennen kann, seine kleinste Entfernung vom Horizonte hat. Graue Wolken von Mücken, Schnaken und Stechfliegen umschwärmen die weidende Heerde und verursachen ihr die fürchterlichste Pein. Die gemarterten Thiere werden unruhig und wenden sich der kühlen Meeresküste zu, wo heftige Stürme die Schwärme des Ungeziefers verwehen. Der Lappe muß folgen, folgen bis auf die Inseln der Fjorde, welche das Rennthier schwimmend erreicht. Und wenn der Herbst naht, brechen die Thiere wieder auf und wenden sich rückwärts, erst den oberen, dann den niederen Waldregionen zu, um nach Jahresfrist genau dieselbe Wanderung wieder einzuschlagen. So abhängig ist der Lappe vom Renn; wollte er seinem Triebe nicht Genüge leisten, die ganze Heerde würde davonlaufen oder zu Grunde gehen und ihn zum „Bettellappen“ machen.

Doch wir besuchen den Lappen während des Spätsommers in seiner Gamme. Er ist von der Meeresküste zurückgekehrt und weidet wieder auf den nackten Felsenwüsten. Hundegebell kündigt uns von fern schon die Nähe des Lappenlagers an. Da regt es sich an der braunen Bergwand, einige Rennthiere werden sichtbar; nur noch wenige Schritte und wir sehen, wie am Rande eines kleinen Gebirgssees eine Rauchsäule emporsteigt und vor uns die Lappenhütte liegt. Wir heben die Thür der Hütte auf und treten tiefgebückt ein. Es ist Mittagszeit. In der Mitte brennt am Boden ein Feuer, über welchem, von an den Zeltstangen befestigten Ketten getragen, der dem Lappen unentbehrliche kupferne Kessel hängt. Der Rauch erfüllt den ganzen Raum und zieht sich behaglich nach dem oberen Luftloch. Mücken gibt es zwar nicht, doch können nur Lappländer hier ausdauern. Der Hausherr bereitet eben das Mahl; er kocht Rennthiermilch, brockt Käse dazu und würzt das Gericht mit Rennthierblut. Er ist ein reicher Mann, seine Heerde mag, wie wir später erfahren, gegen 2000 Stück zählen, darum hat er auch Salz und etwas Mehl zum Anrühren. Rings um das Feuer am Rande der Hütte liegen die Schlafstellen, Birkenreißig mit Fellen bedeckt. Dem Eingange gegenüber sitzt der Vater, neben ihm seine Frau, zur Seite die Kinder, gegenüber die Dienstboten und Verwandte, welche deren Stelle vertreten. Uns wird, nachdem man die Hand zum Willkommen gereicht, der Ehrenplatz zwischen dem Ehepaare eingeräumt. Wären wir Lappen, so würde beim Willkommen unter vielen unnützen Redensarten die Nase gegenseitig nach Stand und Würden tüchtig gerieben werden. Vor und nach Tische wird baarhäuptig still und kurz gebetet; beim Mahle liegt man, denn die Gamme ist viel zu niedrig, um darin aufrecht stehen zu können. Wir treten nach abgehaltenem Mahle mit unserm Wirthe in’s Freie. Der Lappe zieht aus seiner Blouse ein Fläschchen mit aufgelöstem Pech hervor und frischt den mückenfeindlichen Geruch seines Gesichts an, ganz wie wir es mit unserer Eau de Cologne thun. Der Abend naht, wiewohl die Sonne noch hoch am Himmel steht, und die Heerde kehrt heim von den höher gelegenen Fjellen.

Jetzt ist Alles Leben und Thätigkeit. Schon von Weitem vernimmt man das eigenthümliche Knicken der Renne, das oft mit dem Ueberspringen eines elektrischen Funkens verglichen worden ist, und von einem länglichen Knochen unter dem Horne des Hufes herrührt. Die freundliche Natur gab ihm diesen Knochen, damit sich die Thiern im dichten Schneetreiben nicht von einander entfernen möchten. Gleich einem Strome ergießt sich die Heerde von der Höhe herab. Die Hirten treiben sie mit lautem Rufe dazu an, die Hunde mit ihrem Gebell. Plötzlich drängt sich die Heerde zusammen, die Geweihe bilden einen wandelnden Wald. Wäre all’ dieses Geäst belaubt, man würde unwillkürlich an Macbeth’s Birnamwald erinnert. Alles strömt einem lockeren Gehege zu, und zwar stellen sich die Thiere so, daß der Rauch jener Feuer sie bestreicht, die man zum Schutze gegen die Mücken längs der Windseite für sie angezündet hat. In der Mitte dieses Geheges ist ein Stangengerüst, an welches jede Kuh zur Erleichterung des Melkens gebunden wird. Das Renn ist ein unbändiges Thier, es sträubt sich, hält die Milch zurück und Melker und Melkerin tractiren es mit Faustschlägen, so daß die Haare reichlich in das Melkgefäß stäuben. Kleine Lappenbuben fangen jedes zu melkende

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Eine Rennthierfahrt.

[198] Rennthier mittelst Schlingen, die sie geschickt zu werfen verstehen, ein und führen es dem Melker zu. – Endlich bricht die Nacht herein. Alle Glieder der Familie wechseln stundenweise mit der Bewachung der Heerde. Die Uhr haben sie am Himmel und, ist dieser bewölkt, im Kopfe. Wer seine Wache gethan hat, kommt in die Gamme, kriecht mit seinen Hunden – jeder hat seinen bestimmten Wachtgehülfen – über die Schläfer hinweg und schickt seine Ablösung fort. Der Hund ist klein, schmutzigbraun, hat zottiges Haar und aufrecht stehendes Ohr. Der Lappe liebt ihn, theilt mit ihm seine Speise, was er seinen Brüdern sicherlich verweigern würde. Dies eine Scene aus des Lappen Sommerleben.

Wie’s manchmal im Winter zugeht, namentlich auf Reisen, erzählte uns Unna, unser Wirth. Er war mit Anund, einem benachbarten Berglappen, in dem mehr als achtzig Meilen entfernten Kautokaino, wo Sjoibma um die Tochter seines Bruders freite. Eltern und Anverwandte des Freiers waren beisammen und zogen nach der Hütte der Braut. An der Spitze des Zuges schritt der Freierhauptmann, der vom Freier gewählte Wortführer. Er wandte sich an die Eltern des Mädchens, die übrigen an deren Anverwandte, an Branntwein war kein Mangel, denn „mit Branntwein freien“ ist lappischer Gebrauch. Die freie Zeche hatte für geneigte Gedanken empfänglich gemacht, der Zweck des Besuches ward bei zunehmender Fröhlichkeit theils in Reden, theils[WS 2] im Gesang immer deutlicher ausgedrückt, mit Freiergeschenken, hauptsächlich in Silbergeräth, als Löffeln, Bechern und Gürteln bestehend, war nicht gekargt worden, zudem war Sjoibma ein hübscher Lappenbursche, der mehr als tausend Renne als Erbtheil zu erwarten hatte: kurz der Heirathshandel ward abgeschlossen und schon in den nächsten Tagen die Trauung in der Kirche zu Kautokaino vollzogen. Unna und Anund kehrten nach zehn Tagen zurück. Hohe Schneemassen deckten die Erde, nur ein Lappe konnte sich mit seinem wunderbaren Ortssinne hier zurecht finden. Im Pulk, dem lappischen, bootartigen Schlitten sitzend, vom besten Rennthiere gezogen, in doppelte Rennthierpelze gehüllt, die Füße von Pelzstiefeln umschlossen, den Kopf mit der lappischen Pelzmütze bedeckt, so können sie es wohl aushalten, obwohl es eine grimmige Kälte ist. Das Rennthier ist vorn an der Spitze des Schlittens mit einem Zugstrange befestigt, der ihm zwischen den Füßen durchgeht und sich am Halse mit der Halfter vereint, während über ihm der mit Schellen und flatternden Haarbüscheln verzierte Bogen der Schlittenkufen sich wölbt. Die Reise ging vortrefflich, kein Unfall unterbrach sie, wohl fünfzehn nordische Meilen – 221/2 deutsche – wurden an jedem der beiden ersten Tage zurückgelegt. Das Rennthier lief bald in kurzem Trabe, bald in Sprüngen galoppirend, wo es aber steil hinabging, da schoß es blitzschnell in die Tiefe mit dem Schlitten. Nur einige Male wurden unsere Lappen umgeworfen, das Rennthier hörte nicht auf zu laufen, die Reisenden saßen in dem kleinen Boote dicht auf dem Schnee und wurden so auf diesem fortgeschleppt, bis es ihnen gelang, das Fahrzeug im vollen Laufe wieder aufzurichten.

So brach der dritte Tag an, trübe Wolken hatten schon gestern einen Schneesturm angekündigt, immer dichter wurden die Nebel, Schneemassen stürzten herab. Da blieb nichts übrig als zu dem gewöhnlichen Mittel zu greifen, Löcher in den Schnee zu graben und dort geduldig zu warten, bis es besser würde. Unsere Reisenden sind bald zugeweht, die dicken Pelze schützen sie in dem weißen, feinen Bette. Das Rennthier war ihre einzige Sorge, würde es jetzt davonlaufen oder von Wölfen und Bären angefallen, sie waren in der unermeßlichen Schneewüste verloren. Das treue Thier liegt im Schnee gleich seinen Herren begraben, und scharrt mit dem Hufe nach der nährenden Flechte. So liegen sie fast einen Tag, der Sturm legt sich und mit ihm der Schneefall. Man bricht auf und rüstig geht die Fahrt den ganzen Tag über weiter. Aber noch ein zweites Abenteuer erwartet die Reisenden am letzten Tage. Schon hat man die Waldregion erreicht, immer höher werden die Fichten- und Birkenstämme. Es ist gegen Mittag, die Sonne steht gleich einem gewaltigen Feuerballe hell und strahlend nur wenig über dem Horizonte, um baldigst unter zu gehen. Plötzlich gewahrt man, wie aus der Ecke eines eben durcheilten Waldes, tief in Schneenebel verhüllt, ein dunkles Rudel Thiere herausstürzt. Daß es Wölfe sind, ist unsern Lappen nicht zweifelhaft. Unna führt den Lenkriemen in der Hand, das Rennthier hat das heisere Geheul der gierigen Rotte vernommen, und stürzt angsterfüllt mit der Schnelligkeit des Windes auf der hügeligen Fläche vorwärts, während Anund, ein tüchtiger Schütze, der oft schon den Vogel im Fluge mit der Kugel tödtete, die Lappenflinte zur Hand nimmt. Sie ist mit einer Kugel geladen. Eben hat er losgedrückt und einen der vordersten Wölfe niedergestreckt, als plötzlich unweit des Schlittens ein zweiter Wolf aufspringt und mit dem Rennthiere ein Wettrennen beginnt. Das erschreckte Thier bäumt hoch auf, erwartet seinen Feind, schlägt den anspringenden Wolf mit einem furchtbaren Schlage seines linken Vorderfußes nieder und eilt in Hast davon, während Anund noch zwei der näher gekommenen Wölfe durch sicher gezielte Schüsse tödtet. Das hungrige Rudel stürzt über die getödteten Cameraden und zerfleischt sie mit gierigem Zahne, so daß Anund und Unna es bald aus dem Gesichte verlieren. Die Nacht bricht herein, doch eine Nacht, die nicht Nacht ist; das strahlende Nordlicht schuf Tageshelle, bis wenige Stunden darauf das Gebell der Hunde die Nähe einer Gamme verkündigte. Es war Unna’s Gamme, jene achtzig Meilen waren, trotz des Aufenthaltes, in noch nicht fünf Tagen wohlbehalten zurückgelegt worden.

Die Schnelligkeit des Rennthieres im Schlitten ist eine außerordentliche, und grenzt oft an’s Unglaubliche. Norwegische Beamte versichern, daß sie oft achtzehn Meilen mit demselben Rennthiere in einer Tour zurückgelegt haben, ja auf dem Schlosse zu Drottningholm zeigt man ein Gemälde, ein Rennthier nebst Schlitten und Treiber vorstellend, unter folgender Erklärung: In Folge eines plötzlichen unvermutheten Einfalls der Norweger in das schwedische Gebiet im Jahre 1699 wurde ein Officier auf einem mit einem Rennthiere bespannten Schlitten nach Stockholm abgeschickt, um Kunde von dem Vorfalle zu bringen. Derselbe that dies in solcher Eile, daß er 124 schwedische Meilen, gegen 180 deutsche, in 48 Stunden zurücklegte. Gleich nach seiner Ankunft in der Hauptstadt sank das treue Thier leblos auf dem Ritterplatze nieder.




Das Wasserglas.
Eine geschichtliche, technisch-chemische und volkswirthschaftliche Skizze.
Von Dr. Franz Doebereiner.

Auf der Rückreise von der Weltausstellung zu Paris im Jahre 1854 hatte Herr von Liebig Gelegenheit, in Lille ein großartiges Etablissement, wo Wasserglas dargestellt wird, kennen zu lernen und in Erfahrung zu bringen, daß dieses Fabrikat in Frankreich bereits eine sehr verbreitete Anwendung finde. Liebig machte darüber alsbald in dem Abendblatt der „Neuen Münchener Zeitung“ eine Mittheilung (s. unten), welche in die gelesensten Zeitblätter überging und dadurch eine bereits vor etwa vierzig Jahren gemachte deutsche Entdeckung in Erinnerung brachte. Liebig’s Worte scheinen nothwendig gewesen zu sein, um die Aufmerksamkeit des deutschen Publikums auf diese Entdeckung zu leiten.

Das große Interesse, welches das Wasserglas in unseren Tagen nicht allein bei den Gewerbtreibenden und Künstlern, sondern auch bei jedem Gebildeten erregt, so wie auch die Wichtigkeit, die dasselbe bald in der Land- und Volkswirthschaft erzielen wird, haben mich veranlaßt, in diesen der Belehrung und Unterhaltung gewidmeten weit verbreiteten Blättern eine skizzenhafte Auffassung über die Geschichte, die Darstellung, Eigenschaften und Verwendung des Wasserglases und dessen volkswirthschaftlichen Werth bekannt zu machen, wozu ich mich aus besonderen Gründen verpflichtet und, da ich mich selbst vielseitig mit Versuchen über Wasserglas beschäftige, berechtigt fühle.

„Professor Fuchs in München verdient für die Entdeckung des Wasserglases den Dank der Welt, und dieser wird ihm werden, denn die Erfahrung lehrt, daß die Welt sich stets für die Arbeiten desjenigen Chemikers interessirt, welcher geneigt ist und [199] sich bemüht, seine durch wissenschaftliches Forschen gewonnenen Kenntnisse möglichst zu popularisiren. Fuchs hat dieses gethan und er wird dafür, außer jenem Dank, auch noch die Freude haben, von den Architekten zu erfahren, daß sein Wasserglas das Holz nicht allein relativ unverbrennlich, sondern auch fähig macht, sich mit der Stein- oder Erdmasse, womit man die Zwischenräume eines hölzernen Baugerippes auszufüllen pflegt, chemisch zu verbinden und in Folge dieser Verbindung dem Gebäude selbst mehr Dauer und Festigkeit zu geben. Wären unsere Wohnungen noch wie ehedem ganz von Holz, was sich gewiß Viele der Gesundheit wegen wünschen, so würde der Verbrauch des Wasserglases so bedeutend sein, daß die Darstellung desselben eine größere Zahl von Fabriken, als die des gewöhnlichen Glases, beschäftigen würde.“

Diese Worte der Anerkennung der Verdienste Fuchs’ wegen des von ihm im ersten Viertel unseres Jahrhunderts entdeckten Wasserglases wurden von meinem verstorbenen Vater vor nahe dreißig Jahren bereits ausgesprochen. Dieser war durch die Frau Großfürstin Marie, Großherzogin von Weimar, im Jahre 1828 in Stand gesetzt, in Verbindung mit dem Mechanicus Dr. Körner zu Jena großartige Versuche über die Bereitung der zu optischen Zwecken dienenden Glassorten anzustellen. Mein Vater dehnte diese Versuche auch über das einige Jahre zuvor von Fuchs entdeckte und nach diesem benannte Wasserglas aus; er änderte nicht allein die Zusammensetzung ab und erhielt dabei ein leichter schmelzbares Glas, das heute noch in chemischen Lehrbüchern zum Unterschied von dem Fuchs’schen Wasserglas als Döbereiner’sches Krystallglas oder Wasserglas aufgeführt wird, sondern ermittelte auch mehrere Eigenschaften desselben, wie die oben angedeutete chemische Durchdringung mit der zum Bauen dienenden Stein- oder Erdmasse, die Verwendung zur Darstellung von künstlichem Meerschaum u. s. w.

Weder Fuchs noch meinem Vater war es von der Vorsehung gestattet, eine Anerkennung von der allgemeinen Wichtigkeit der Entdeckung des Wasserglases und eine Erfüllung der darüber gehegten Hoffnungen zu erleben, obgleich beide Männer noch lange nach jener Entdeckung und der Würdigung derselben der Wissenschaft und Wirksamkeit als Lehrer erhalten blieben. Hatte auch Fuchs die Freude, seine Erfindung bei dem Neubau des Münchener Theaters in Anwendung bringen zu können, um das Holzwerk und andere leicht feuerfangende Gegenstände gegen die flammende Verbrennung zu schützen, und wurde auch nach meines Vaters Vorschlag das Wasserglas zur Bereitung von künstlichem Meerschaum benutzt, so blieben doch diese beiden Fälle vereinzelt und dem großen Publikum fast gänzlich unbekannt.

Die deutsche Entdeckung blieb – wie auch sonst so häufig – bei uns unbeachtet und kam fast gänzlich in Vergessenheit; das Wasserglas figurirte buchstäblich nur in chemischen Lehrbüchern. Das Vorhandensein einer Fabrik auf Wasserglas in Böhmen war nur Wenigen bekannt, und noch geringer mochte die Zahl derjenigen sein, welche die Verwendung des dortigen Fabrikates kannten. Nur die Benutzung des Wasserglases zu Frescomalereien, welche seit 1847 von Kaulbach eingeführt worden war, wurde in weiteren Kreisen bekannt, aber doch im Ganzen auch nur wenig beachtet.

Unsere westlichen Nachbarn wußten indessen die deutsche Entdeckung gehörig zu würdigen und auszubeuten. Liebig fand im Jahr 1854 zu Lille in Frankreich eine große Fabrik auf Wasserglas vor, worüber er und über die Verwendung des Fabrikates nachstehende, in dem Abendblatt der „Neuen Münchener Zeitung“ enthaltene Mittheilung machte, in der leider vermißt wird, seit welcher Zeit dort die Fabrikation des Wasserglases im Betrieb ist.

„Ich hatte“ – sagt Liebig in jener Mittheilung – „die Weltausstellung in Paris gesehen, und begleitete auf meinem Wege nach England meinen langjährigen Freund Kuhlmann nach Lille, seinem Wohnsitze; er hatte versprochen, mir in der chemischen Fabrikation mehreres Neue zu zeigen, was mich überraschen würde, und meine Neugierde, übersättigt von dem, was ich in Paris gesehen, war nicht wenig gespannt.

„Was ich Ihnen in Lille zeigen will, – sagte mir mein Freund, – ist das Mittel, das den Zerstörungen durch Feuer, Fäulniß und Verwitterung eine Grenze setzt; es ist das von ihrem berühmten Landsmanne Fuchs in München entdeckte und für diese und andere gleich wichtige Zwecke vorgeschlagene Wasserglas; ich habe es in Frankreich eingeführt, wo es eine unendliche Verbreitung gefunden hat. Unsere Architekten wenden es an, um die mit gewöhnlichem oder hydraulischem Mörtel überzogenen Mauern, um Häuser und Kirchen, aus verwitterndem Stein aufgeführt, vor dem Zahn der Zeit zu schützen; mit verschiedenen Farben gemischt, dient es zum Anstrich auf Holz, Stein und Eisen; es wird in den Kattundruckereien und Tapetenfabriken auf Papier und Baumwolle verwandt; das Holz, mit Wasserglas getränkt, verliert seine Entzündlichkeit.

„Ich war in der That überrascht, als ich in der Nähe von Lille die Wasserglasfabrik meines Freundes besichtigte, deren großartige Ausdehnung, wie sich leicht wahrnehmen ließ, berechnet war, Tausende von Centnern dieses Produktes dem Handel und den Gewerben zu liefern. Ich war erstaunt und beschämt; – beschämt, weil in Deutschland das Wasserglas im eigentlichen Sinne nur in den chemischen Handbüchern existirt, und weil ich wußte, mit welchen Widerwärtigkeiten mein Freund Fuchs viele Jahre zu kämpfen hatte, um nur eine einzige der vielen nützlichen Anwendungen, deren es fähig ist, verwirklicht zu sehen.

„Das merkwürdige Product, das Fuchs mit dem Namen „Wasserglas“ bezeichnet hat, ist ein Glas, welches sich im Wasser löst; es wird in der Regel durch einfaches Zusammenschmelzen von 15 Theilen Quarz, 10 Theilen Pottasche (oder 9 Theilen Soda) und 1 Theil Kohle dargestellt, und ist im trocknen Zustand wasserhell, hart und etwas schwer schmelzbar; wenn es fein gepulvert in siedendes Wasser getragen wird, so löst es sich, bei fortgesetztem Sieden, in 5 bis 6 Theilen Wasser vollkommen zu einer syrupdicken Flüssigkeit auf, die, auf Glas, Mörtel, Holz aufgestrichen, zu einem unverbrennlichen Firniß eintrocknet. In Lille wurde diese Flüssigkeit direct durch Auflösung von Quarz (Feuerstein) in einer starken Natronlauge in eisernen Kesseln, unter einem Druck von 7 bis 8 Atmosphären, also ohne vorangehende Schmelzung dargestellt.

„Es gibt einen sehr einfachen Versuch, welcher die wichtigsten Eigenschaften des Wasserglases anschaulich macht; es ist folgender: Man lege in eine Auflösung von Wasserglas, welche etwa zehn Procent trockene Substanz enthält, ein Stück gewöhnlicher Schreibkreide, vorher benetzt mit gewöhnlichem Wasser, und lasse es vier bis fünf Tage darin liegen. Wenn man es nach dieser Zeit aus der Flüssigkeit herausnimmt und trocknet, so wird man wahrnehmen, daß die Kreide alle ihre gewöhnlichen Eigenschaften verloren hat; aus einer weichen, färbenden Substanz ist sie in eine steinharte Masse übergegangen, welche mit dem Fingernagel keinen Eindruck mehr annimmt und, mit einem glatten Körper gerieben, Politur erhält; diese Aenderung in der ersten Beschaffenheit erstreckt sich tief in das Innere des Stückes, je nach der Dauer der Einwirkung des Wasserglases, und rührt von einer wahren Verbindung desselben mit dem Kieselglase her, zu einer Masse, die durch Wasser und Kohlensäure nicht mehr angegriffen wird. Man wird hieraus den Nutzen des Wasserglases auf Mauern und Kalkwänden und auf porösem, verwitterndem Baustein leicht verstehen; wenn sie damit bis zur Sättigung getränkt werden, so wird ihre Oberfläche wie verkieselt und gegen die Einwirkung der Witterung mehr als durch irgend ein anderes bekanntes Mittel geschützt.“

Diese Mittheilung über das Wasserglas erregte in ganz Deutschland ein großes Interesse, ob nun deshalb, weil sie von Liebig kam oder weil die deutsche Entdeckung erst im Ausland gewürdigt werden mußte, mag ich nicht entscheiden. Gewerbtreibende und Künstler prüften die Angaben und stellten nach verschiedenen Seiten hin neue Versuche mit dem Wasserglas an. Die Nachfrage um Wasserglas vermehrte sich so, daß alsbald auch in Deutschland Fabriken darauf begründet wurden. Dr. Marquart in Bonn ist wohl der Erste in Deutschland gewesen, welcher nach der Liebig’schen Bekanntmachung eine Fabrik auf Wasserglas errichtete und zugleich durch ein kleines Schriftchen „Anleitung zur Anwendung[WS 3] des Wasserglases. Eilenburg, 1856“ für die Verbreitung desselben wesentlich beigetragen hat. –

Das Wasserglas ist eine Verbindung, welche in der chemischen Sprache ein Salz, im Besonderen ein Sauerstoffsalz genannt wird, indem in ihm neben einer sauerstoffhaltigen Basis eine sauerstoffhaltige Säure zu einem neuen Ganzen gebunden enthalten ist. Die Basis ist im Wasserglas das Kali oder Natron, im Döbereiner’schen Krystallglas beide neben einander, die Säure hingegen eine Substanz, welche zwar für sich nicht im geringsten die Eigenthümlichkeit einer Säure hat, aber bei Berührung mit basischen [200] Körpern unter günstigen Umständen den Charakter einer solchen annimmt, indem sie wie die eigentlichen Säuren vermögend ist, die Eigenthümlichkeiten der basischen Körper durch die Verbindung damit, wenn auch nicht gänzlich aufzuheben, doch sehr wesentlich zu modificiren. Diese Substanz ist die Kieselerde oder Kieselsäure, aus welcher die Kieselsteine, der Feuerstein und der Sand hauptsächlich bestehen; sehr rein findet sie sich im Quarz und vollkommen rein im Bergkrystall. Wir finden aber auch die Kieselerde als die kieselschalige Absonderung von Infusorien mitunter in bedeutenden Ablagerungen, wie z. B. in Berlin der Grund und Boden eines Theiles der Friedrich-Wilhelmsstadt, der Kochstraße u. s. w. aus solcher Infusorienerde besteht und ganz vor Kurzem bei Hannover eine meilenweite Ausdehnung derselben gefunden worden ist.

Das Wasserglas hat in der Zusammensetzung eine große Aehnlichkeit mit der Seife. Auch in dieser ist das Kali oder Natron als basischer Körper, dagegen das während der Verseifung in seiner Zusammensetzung wesentlich modificirte Fett oder Oel als sauere Substanz enthalten. Dieses veränderte Fett oder Oel zeigt für sich auch keine bestimmte Eigenschaften einer Säure und ist wie die Kieselerde im Wasser unlöslich; tritt es aber mit Kali oder Natron zusammen, so werden dadurch auf gleiche Weise wie im Wasserglas die Eigenschaften dieser Basen wesentlich modificirt und das veränderte Oel oder Fett wie die Kieselerde in Wasser löslich gemacht. Aber nicht allein in der Zusammensetzung, sondern auch in den Eigenschaften findet sich eine große Aehnlichkeit zwischen der Seife und dem Wasserglas, denn wie in ersterer das Kali oder Natron die Eigenschaft, wenn auch in etwas gemäßigtem Grade, behält, auf fettige Stoffe noch lösend oder auflockernd zu wirken, so daß diese dann aus damit verunreinigten Stoffen durch den Vorgang des Wassers beseitigt werden können, so hat auch das im Wasserglas gebundene Kali oder Natron dieselbe Eigenschaft. Das Wasserglas wirkt, wie die Seife, reinigend auf pflanzliche und thierische Fasern und daraus verfertigte Zeuge und die zu energischen Wirkungen des reinen Kali’s oder Natrons werden, wie in der Seife, durch das Binden an das veränderte Fett oder Oel, in dem Wasserglas durch die Vereinigung mit Kieselerde gemildert.

Die Darstellung des Wasserglases kann auf zweierlei Weise unternommen werden, nämlich entweder daß die Kieselerde mit ätzender Kalilauge oder Natronlauge, d. h. mit der durch Kalk ätzend gemachten Lösung von Pottasche oder Soda (kohlensaurem Kali oder Natron), längere Zeit hindurch gekocht wird, oder daß man trockene Pottasche oder Soda einfach mit Kieselerde zusammenschmilzt.

Zur Ausführung der ersteren Methode ist es nothwendig, daß die Kieselerde höchst fein zertheilt ist und daß das Kochen derselben mit der ätzenden Kali- oder Natronlauge unter einem erhöhten Druck, der bis auf 7 oder 8 Atmosphären zu steigern ist, geschieht. Ist die Kieselerde und die Lauge rein, so wird bei diesem Verfahren sogleich eine reine Lösung von Wasserglas gewonnen. Wird hingegen eine unreine Kieselerde, wie z. B. die oben erwähnte Infusorienerde, zur Lösung in der Lauge verwendet, so muß die dieser anhängende Thonerde und der phosphorsaure Kalk aus der noch heißen Lösung durch einen Zusatz von Kalkwasser entfernt werden.

Die zweite Methode zur Darstellung des Wasserglases ist die gewöhnlichere. Das Zusammenschmelzen der Pottasche oder Soda oder beider zugleich mit der feingepulverten Kieselerde geschieht bei starker Rothglühhitze in einem Tiegel von Thonmasse oder Gußeisen. Dieser muß aber so geräumig sein, daß er dem Raum nach wenigstens das Doppelte des Gemisches von Pottasche oder Soda und Kieselerde faßt, indem durch die Einwirkung der Kieselerde auf die Pottasche oder Soda die in dieser gebundene Kohlensäure in Freiheit gesetzt wird und diese wegen ihrer luftförmigen Beschaffenheit in der zähe schmelzenden Masse ein Aufschäumen verursacht, wodurch diese selbst, wenn der Tiegel nicht hinreichend geräumig wäre, aus ihm zum Theil herausfließen würde.

Man hat bei der Bereitung des Wasserglases durch Zusammenschmelzen von Pottasche oder Soda und Kieselerde ganz besonders darauf zu achten, daß die Materialien frei von Kalk und anderen basischen Körpern sind. Das Wasserglas ist nämlich nur dann im Wasser löslich, wenn es nur aus kieselsaurem Kali oder Natron besteht. Ist die Bedingung zur Bildung eines anderen kieselsauren Salzes vorhanden, z. B. die Pottasche oder Soda mit Kalk oder Magnesia verunreinigt oder die zu verarbeitende Kieselerde mit einem Metalloxyd verbunden, so bildet sich neben kieselsaurem Kali oder Natron zugleich eine Verbindung von Kieselerde mit Kalk, Magnesia oder einem Metalloxyd, die sogleich mit dem kieselsauren Kali oder Natron zu einem Doppel- oder [WS 4] zusammentritt und dieses in eine der gewöhnlichen Glasmassen verwandelt und damit in Wasser vollständig unlöslich macht.

Sowohl die Pottasche, wie die Soda, jede derselben für sich mit der Kieselerde einer hohen Temperatur ausgesetzt, geben nur schwierig schmelzbare Glasmassen. Nach meines Vaters Beobachtung wird die Glasmasse so leicht schmelzbar, daß man sie im Kleinen über der Flamme einer Berzelius’schen Weingeistlampe darstellen kann, wenn man Pottasche und Soda zu gleichen chemischen Aequivalenten mit der Kieselerde erhitzt. Das so erhaltene Döbereiner’sche Krystallglas zeichnet sich vor dem Fuchs’schen Wasserglas dadurch aus, daß seine Lösung bei gleichem Gehalt an fester Substanz weit dünnflüssiger und nicht so leicht gerinnbar ist, daher also leichter in die Poren des Holzes und anderer Körper eindringt.

Das durch Schmelzen gewonnene Wasser- oder Krystallglas muß behufs seiner Verwendung in den meisten Fällen wieder flüssig gemacht, d. h. in Wasser gelöst werden. Dieses geschieht dadurch, daß man es nach dem Erkalten auf mechanischem Wege in ein höchst feines Pulver verwandelt und dieses in kleinen Portionen zu siedendem Wasser giebt; das Kochen muß, wenn man eine stark gesättigte Lösung des Wasserglases erzielen will, bei einem Ueberschuß von Wasserglaspulver einige Stunden hindurch fortgesetzt werden.

Ob diejenige Wasserglaslösung, welche durch Kochen von Kali- oder Natronlauge mit fein gepulverter Kieselerde geschieht, in einigen ihrer Eigenschaften sich anders verhalte, als die durch Lösen des geschmolzenen und gepulverten Wasserglases in kochendem Wasser hervorgebrachte, und ob dadurch die Art der Anwendung zu modificiren ist, hat man bis jetzt noch nicht beachtet. Aus wissenschaftlichen Gründen läßt sich wohl annehmen, daß beide Flüssigkeiten einige Abweichungen zeigen können, wodurch vielleicht die Anwendung derselben in ähnlicher Weise modificirt werden muß, wie die des Kali- und des Natronwasserglases, von denen man bereits verschiedene Fälle kennt, wo das eine erfolglos oder zweckwidrig ist, während das andere ausgezeichnete Dienste leistet. Die Erforschung dieser Abweichungen beider Flüssigkeiten soll der Gegenstand meiner nächsten experimentalen Thätigkeit sein.






Dringende Bitte und Erklärung.

Da ich weder ein unwissender Quacksalber, noch ein geldmachender Charlatan bin und also niemals einem Kranken eher einen ärztlichen Rath ertheile, als bis ich denselben genau untersucht habe, so erkläre ich hiermit abermals auf das Bestimmteste, daß ich brieflich Niemand und um keinen Preis ärztlich behandele. Ich bitte deshalb, mich doch endlich einmal mit Briefen, zumal mit solchen, die schon ein Honorar an Geld enthalten, verschonen zu wollen.

Leipzig.

Prof. Dr. Bock.



Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: des Nach’s
  2. Vorlage: theis
  3. Vorlage: Anwen-/wendung
  4. Vorlage: Tripelsatz