Die Gartenlaube (1857)/Heft 15

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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ferdinand Stolle
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Entstehungsdatum: 1857
Erscheinungsdatum: 1857
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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No. 15. 1857.
Die Gartenlaube.
Illustrirtes Familienblatt. – Verantwortl. Redacteure F. Stolle u. A. Diezmann.

Wöchentlich 11/2 bis 2 Bogen. Durch alle Buchhandlungen und Postämter vierteljährlich für 15 Ngr. zu beziehen.


Auf der Eisenbahn.
Vom Verfasser der „Neuen deutschen Zeitbilder.“
(Fortsetzung.)


Hertel und ich kehrten nach K. zurück. Ersterer, den meine Ankunft und meine Bemühungen sichtlich aufgerichtet hatten, war wieder niedergeschlagener geworden. Mir wurden meine wenigen Hoffnungen immer geringer. Die Wahrheit zu sagen, ich hatte gar keine mehr, als auf irgend einen Zufall, auf mein Glück, das allerdings so oft in ähnlicher Lage mich begünstigt hatte.

Es sollte in der That mich auch jetzt nicht verlassen; es kam in der Gestalt eines hübschen, freundlichen Kindes zu mir. Ich saß conjecturirend, combinirend, träumend auf einer Bank vor dem Wirthshause in K., wo ich die Nacht geblieben war. Ich konnte hier nichts mehr machen, und wollte nach Hause zurückkehren. Ich wartete auf den Eisenbahnzug, der mich zurückführen sollte. Zu meinen Füßen spielte das siebenjährige Töchterchen des Gastwirths; es versuchte, eine große schwarze Haarnadel mit einem Knopfe von glänzender schwarzer Kohle in seinem lockigen Haare zu befestigen, konnte aber nicht damit fertig werden, und ich half ihm dabei. Ohne irgend eine Absicht, mechanisch, wie man mit einem freundlichen Kinde zu plaudern pflegt, fragte ich es, woher es die große, glänzende Nadel habe. Von einer schönen jungen Dame, antwortete es mir, und wie auch Kinder zu plaudern pflegen, erzählte es nun:

Vorgestern hatten zwei Damen in dem Gasthofe logirt; sie waren in dem Wagen des Gastwirths zur Eisenbahn gefahren, hatten die freundliche Kleine, mit der sie viel gespielt, in dem Wagen mit sich genommen, und diese auch auf dem Bahnhofe bis zur Ankunft des Zuges bei sich behalten. Als der Zug angekommen, waren die Damen mit dem Kinde ihm entgegengegangen, und als er gehalten, hatten sie sich nach allen Eisenbahnwagen umgesehen. Auf einmal hatte aus dem Fenster eines Wagens eine junge Dame gerufen: Tante! Tante! – Da ist sie! hatten die beiden Damen erwidert, und waren an den Wagen, wo der Ruf hergekommen, geeilt. In demselben Augenblicke war aus dem nämlichen Coupé, aus welchem die junge Dame gerufen, ein schöner junger Herr gesprungen und hatte sich eilig entfernt. Auch die Erstere hatte den Wagen verlassen und sich laut weinend in die Arme der Tante gestürzt. Diese war sehr erschrocken und hatte gefragt: Aber was fehlt Dir denn, mein Kind? Du siehst ja so sehr blaß aus. Die junge Dame hatte lange vor Weinen nicht antworten können; sie war auch wirklich sehr blaß gewesen und hatte gezittert, so daß die Tante sie kaum hatte halten können. Zuletzt hatte sie der letzteren leise in’s Ohr gesprochen, und nun war die Tante noch mehr erschrocken, daß sie nicht weniger gezittert, wie die junge schöne Dame, die aus dem Eisenbahnwagen gekommen war. Das Kind hatte auch ein paar Worte der jungen Dame verstanden. Kleine Kinder pflegen schärfer zu horchen, als die Polizei. Denke Dir, Tante, hatte sie gesagt, als ich da so allein sitze, kommt auf einmal ein fremder Mensch durch das Fenster. – Allmächtiger Gott, armes Kind! hatte die Tante ausgerufen. Darauf aber schnell die Andere erwidert: Still, still, Tante, um Gotteswillen. Das war Alles, was das Kind gehört hatte. Gleich darauf ward das Zeichen zum Weiterfahren gegeben. Die Tante und ihre Begleiterin waren mit der blassen jungen Dame zusammen eingestiegen, und hatten beinahe vergessen, von dem freundlichen Kinde Abschied zu nehmen. Während sie nun eingestiegen waren, hatte die junge Dame die schwarze Nadel mit dem Knopfe von glänzender Kohle aus ihrem Haar verloren; das Kind hatte sie aufgehoben und ihr zureichen wollen; in dem Augenblicke war aber der Zug abgegangen, und die blasse Dame hatte ihr zugerufen: Behalte sie, mein Kind. – Das war die Erzählung des plaudernden Kindes.

Diese Erzählung hatte eine Ahnung in mir geweckt, die ich anfangs selbst als eine widersinnige, tolle belachte, aber doch nicht los werden konnte, und die mich mehr und mehr, zuletzt fast gespensterhaft packte.

„Wie sah der Herr aus, der aus dem Wagen sprang?“ fragte ich das Kind.

„Es war ein hübscher junger Herr.“

„Trug er einen Bart?“

„Nein, er war ganz glatt im Gesichte.“

Das schlug meine Ahnung nieder; aber nur für einen Moment. Mit neuer Kraft, unwiderstehlich, kehrte sie zurück.

„Wie war er gekleidet?“

„Er trug einen grünen Rock.“

„Keinen Staubmantel?“

„Nein, keinen Mantel.“

„Einen Hut oder eine Mütze?“

„Einen großen, schwarzen, runden Hut.“

Das Alles paßte nicht. Allein je weniger es paßte, desto mehr, desto kräftiger wuchs meine Ahnung, die mir immer weniger toll, weniger widersinnig vorkam.

„Wo blieb der fremde Herr?“ fragte ich weiter.

Das Kind wußte es nicht und hatte nicht weiter auf ihn geachtet. Ich eilte darauf zu dem Vater des Kindes, dem Wirthe.

„Haben in der Nacht von vorgestern auf gestern zwei Damen bei ihnen logirt?“ redete ich diesen an.

„Ja.“

[202] „Wer waren sie?“

„Eine Madame Meier aus Hamburg, mit einer Verwandten oder Gesellschafterin.“

„Erwarteten sie hier Jemanden?“

„Eine Nichte.“

„Der Name der Nichte?“

„Ich habe ihn nicht gehört. Sie wollten hier auf der Eisenbahn mit ihr zusammentreffen, um sofort weiter mit ihr zu fahren.“

„Wohin?“

„Sie wollten in ein Bad.“

„In welches?“ fragte ich beinahe fieberhaft.

„Ich weiß es nicht genau. Ich glaube, nach Baden-Baden.“

„Besinnen Sie sich.“

„Ich kann es nicht bestimmter sagen.“

Der Kellner und die Stubenmagd wurden herbeigerufen. Diese wußten aber gleichfalls nichts Näheres, nichts Bestimmtes.

Nun hatte ich doch einen Anhalt; ich machte mir wenigstens einen. Die junge Dame, die Nichte der Madame Meier aus Hamburg, war noch beim Aussteigen aus dem Coupé in hohem Grade erschrocken gewesen; das Kind hatte so einfach aber doch so wahr ihr Erschrecken bezeichnet. Sie hatte gesagt, daß sie allein gesessen, daß auf einmal ein fremder Mensch zu ihr durch das Fenster gekommen sei; darüber hatte sie sich erschreckt, mit ihr noch hinterher die Tante. Das konnte nur auf der Eisenbahn geschehen sein. –

Ich eilte zum Bahnhofe, und ließ die Beamten um mich versammeln, die am vorgestrigen Tage den Morgenzug von R. nach K. begleitet hatten; zum Glück waren sie fast sämmtlich da. Anfangs wußte Keiner etwas; aber auf einmal kam Einem von ihnen eine Erinnerung. Es war derselbe, der auf der Fahrt den Waggon beaufsichtigt hatte, in welchem Hertel war.

„Wie bin ich gedankenlos gewesen!“ rief der Mann, und er erzählte nun: In R. hatte ein Mann eine sehr junge, blasse, leidend aussehende Dame auf den Bahnhof geführt und für sie ein Coupé erster Classe gesucht. Der Beamte hatte ihm eins anweisen wollen, in welchem schon ein paar Herren saßen. Der Herr hatte aber um ein Coupé gebeten, worin die junge Dame entweder allein oder in Damengesellschaft sei. Ein Coupé erster Classe, worin Damen fuhren, war nicht da. Der gefällige Beamte, – wahrscheinlich, er sagte es nicht, durch ein Trinkgeld gefällig gemacht – hatte der jungen Dame ein Coupé für sich allein gegeben, auch ihr sowohl, die sehr ängstlich, als dem Herrn, der sehr besorgt für sie gewesen, versprochen, unterwegs bis K., wo die Dame Gesellschaft erhalten werde, Niemanden zu ihr in das Coupé zu lassen. Der Beamte hatte sein Versprechen gehalten; gleichwohl besann er sich jetzt plötzlich, wie in K. aus dem Coupé der jungen Dame ein Herr gestiegen sei. Es war gerade in dem Momente geschehen, als Hertel ihm seinen Verlust mitgetheilt; er hatte deshalb nicht darauf geachtet, und es war ihm deshalb auch später in das Gedächtniß nicht zurückgekommen.

„Wie sah der Reisende aus?“ fragte ich den Beamten.

Er hatte ihn nur sehr flüchtig gesehen; die Gestalt hatte auf ihn den Eindruck eines elegant gekleideten Herrn gemacht, wie sie in den Coupés erster Classe zu reisen pflegen. Einen grauen Staubmantel und einen Bart hatte auch er nicht gesehen.

„War das Coupé der Dame weit von dem Coupé Hertel’s entfernt?“ fragte ich wieder.

Dem Beamten ging ein neues Licht auf.

„Beide Coupé’s hingen unmittelbar an einander. Der Waggon bestand aus vier Coupés zweiter, und einem Coupé erster Classe. Dieses befand sich hinten, an dem vierten Coupé zweiter Classe; in dem letzteren hatte Hertel gesessen.“

„Ist der Waggon hier?“

„Die ganze Wagenreihe ist in R.“

Auf der Stelle war mein Vorsatz gefaßt. Ich kehrte nicht nach Hause zurück, sondern fuhr zunächst mit dem ersten Zuge nach R. Hertel und der Bahnbeamte mußten mich begleiten. In R. führte der Beamte mich zu dem Waggon, in welchem Hertel gefahren war, und dieser erkannte ihn auch gleich wieder. In dem vierten Coupé zweiter Classe hatte Hertel gesessen; unmittelbar dahinter befand sich das Coupé erster Classe, in welchem die junge Dame gewesen war. Ich besichtigte sie genau. Die Thüren beider waren fünf Fuß von einander entfernt, und konnten auch von innen geöffnet werden, namentlich die des Hertel’schen Coupés. Zur Noth war in diesem das Fenster so groß, daß ein schlanker Mensch, ohne die Thür zu öffnen, hindurchsteigen konnte. War er draußen, so konnte er an dem Rande des Fensters, wie an dem festen Griff der Thür sich schwebend halten; er brauchte nicht einmal frei zu schweben, eine messingene Querstange unten an dem Wagen gab auch seinen Füßen einigen, wenn gleich geringen Halt. Hielt er sich einmal so, so konnte er, halb kletternd, halb sich schwingend, den Griff und den Rand der Thür des Coupés der Dame erreichen. Er hatte hier nicht nur einen ähnlichen Halt, wie an dem Coupé, das er verlassen, sondern auch, da er am Ende des Waggons war, den Vortheil, daß er an dem mit Stangen versehenen Rande desselben sich festhalten konnte. Er konnte dann von außen die Thür des Coupés öffnen, zur Noth auch hier wieder durch das Fenster steigen, das, wie der Beamte sich erinnere, bei dem warmen Wetter offen gelassen war.

Ich ließ einen gewandten Arbeitsburschen des Bahnhofes herbeikommen. Er mußte das Manoeuvre versuchen, aus dem Hertel’schen Coupé in das der Dame zu steigen, ohne die Erde zu berühren. Ich ließ Alles in den Stand setzen, wie es auf der Reise gewesen war, und der Bursch löste auch wirklich die Aufgabe. Er stieg durch die Fenster der beiden Coupés aus und ein, ohne daß die Thüren geöffnet waren; er konnte auch in seiner Lage beide Thüren öffnen. Ich ließ ihn das Manoeuvre wiederholen, während der Wagen auf den Schienen in Bewegung gesetzt wurde. Freilich wurde er nur langsam geschoben und alle Vorsichtsmaßregeln gegen ein Unglück getroffen. Der Bursch kam auch so aus dem einen Coupé in das andere; allerdings nur mühsam und ohne die Vorsichtsmaßregeln nur mit Gefahr. Auf der regelmäßigen Fahrt des Zuges war das Wagniß erst recht ein halsbrechendes; aber ein verwegener und gewandter Spitzbube kann für zwanzigtausend Thaler schon etwas wagen.

Das Räthsel des Verschwindens des Diebes war gelöst; wäre nur eben so leicht der Weg zu seinem Ergreifen aufzufinden gewesen. Zu allererst war die junge Dame zu ermitteln, zu welcher der freche Gesell in das Coupé eingedrungen war; sie mußte nothwendig nähere Auskunft über ihn geben können. In einem grauen Staubkittel, mit einem großen Barte war er in das Coupé eingestiegen; als eleganter Tourist, in grünem knappen Rock und mit glattem Gesichte hatte er es wieder verlassen. Das setzte Momente während seines Alleinseins mit der Dame voraus, die unzweifelhaft zu weiteren Spuren führen mußten; dabei war noch der Umstand bemerkenswerth, daß die junge Dame, von der man freilich nicht wußte, ob sie den Diebstahl erfahren, das Eindringen des Fremden zu ihr nicht bekannt gemacht, sogar geheim gehalten und selbst ihrer Tante nur als ein Geheimniß anvertraut hatte.

Die Ermittelung der jungen Dame aber hatte ihre Schwierigkeiten. Ihr Name, ihr Wohnort war unbekannt; sie war die Nichte der Madame Meier aus Hamburg, aber in Hamburg gibt es zwei- bis dreihundert Meier. Daß die Dame nach Baden-Baden gewollt, war nur sehr unbestimmt; doch ich hoffte in R. Nachricht zu erhalten, und erhielt sie auch, aber ohne dadurch weiter zu kommen. Die Sache schien sich im Gegentheile mehr zu verwickeln. Am vorgestrigen Morgen, ungefähr eine halbe Stunde vor Ankunft des Eisenbahnzuges, war auf den Bahnhof eine elegante Equipage mit zwei braunen Pferden gefahren. Ein schon etwas ältlicher Herr und eine sehr junge, blasse, kränklich aussehende Dame waren ausgestiegen. Der Herr hatte ein Billet, nur eins, für die erste Classe auf die ganze Tour des Zuges gelöst. Er hatte sich dann mit der Dame bis zur Ankunft des Zuges in den Wartesaal begeben, und sie dann zu den Wagen geführt, besorgt, daß sie ein Coupé für sich allein erhielt, sie in den Wagen gehoben, einen sehr zärtlichen Abschied von ihr genommen und an dem Wagen gestanden, bis der Zug abgefahren war. Darauf war er zu seinem Wagen zurückgekehrt, an welchem die Pferde nicht ausgespannt, und war sofort wieder abgefahren. Niemand hatte den Herrn, die Dame, den Kutscher, den Wagen und die Pferde gekannt oder sich erinnert, sie vorher gesehen zu haben. Weder der Herr noch die Dame hatten mit Jemandem gesprochen; auch der Kutscher nicht, und andere Bedienung hatte man bei dem Wagen nicht gesehen. Ich forschte zwar weiter, woher der Wagen gekommen und wohin er gefahren sei. Ueber jenes war sonderbarer Weise gar nichts zu ermitteln, wenigstens nicht sogleich. Nicht viel mehr ergab sich für das Wohin. Der Wagen hatte eine Seitenchaussee eingeschlagen, auf dieser war er aber nur bis zur zweiten Station geblieben; von da an war seine Spur verloren.

Ich selbst hatte sie bis dahin verfolgt; eine weitere Verfolgung [203] mußte mich von meinem eigentlichen Ziele zu weit entfernen. Ich hatte den Damen zu folgen, die in ein Bad, hoffentlich nach Baden-Baden gegangen waren. Ich requirirte die Polizeibehörde in R., nach dem Wagen fortgesetzte Erkundigungen einzuziehen, und das Resultat mir nach Hause mitzutheilen. Ich telegraphirte dann an die Polizei in Hamburg, mir, gleichfalls nach Hause, Nachricht zu geben, welche Madame Meier einen Paß nach einem Bade, und nach welchem erhalten habe, eventuell bei allen zwei- bis dreihundert Familien Meier in Hamburg deshalb Nachfrage zu halten. Ich reiste darauf mit Hertel nach Hause zurück. Erkundigungen, die ich noch unterwegs nach der Madame Meier und ihrer Nichte einzog - sie waren denselben Weg gefahren – blieben fruchtlos.

Hertel wurde, je näher wir der Heimath und seinem Principale kamen, immer niedergeschlagener. Der arme B. drohete unter dem furchtbaren Schlage zusammenzubrechen, denn sein Verlust war schon bekannt geworden, und unter seinen Gläubigern waren ein paar hartherzige; sie sahen nur den ruinirten Mann, nicht die Art und Weise, wie er ruinirt worden war. Sie wollten ihn in seinem Abgrunde liegen lassen. Nun wollten oder konnten auch die Anderen ihm nicht helfen. Ich hatte alle meine Autorität, alle meine viele Bekanntschaft in der Kaufmannswelt aufzubieten, um wenigstens ein vorläufiges Arrangement für ihn zu Stande zu bringen. Es gelang mir; aber dennoch sah ich ein, daß B. nie wieder ganz aufzurichten war, wenn ihm sein Geld nicht wieder verschafft wurde. Ich war entschlossen, jedes Mittel dafür bis zum letzten möglichen Schritte fortzusetzen. Ich wartete die vorbehaltenen Nachrichten aus R. und Hamburg ab; ich mußte mich ohnehin, um jenes Arrangements für B. willen, mehrere Tage in der Heimath aufhalten. Die Nachrichten kamen, waren aber völlig werthlos. Von R. wurde mir gemeldet, daß man eine frühere Spur des Wagens gar nicht aufgefunden; daß man die spätere zwar wieder entdeckt habe, aber erst nahe an der polnischen Grenze; dort sei sie völlig wieder verschwunden; der Wagen müsse über die Grenze gefahren sein, die polnischen Grenzbehörden wollten aber von nichts wissen. In Hamburg waren allerdings über zweihundert Damen Meier festgestellt; allein von diesen waren über dreißig in die Bäder gereist, und zwar in alle möglichen renommirten Bäder Deutschlands, freilich darunter auch fünf bis sechs oder noch mehr nach Baden-Baden. Ich beschloß, nach Baden zu reisen, denn es kam hier auf rasches und entschiedenes Handeln, vielleicht gar hin und wieder auf ein Wagniß an. Untergeordnete, unselbstständige Beamte hatten dazu nicht den Muth oder, was noch schlimmer war, nicht das Geschick; ich mußte deshalb selbst die Fäden der Sache in der Hand behalten. Hertel mußte mich begleiten, um, wenn der Dieb gefunden wurde, diesen sogleich recognosciren zu können. Der Minister gab mir gern weiteren Urlaub und neue Beglaubigungs- und Empfehlungsschreiben. So reiste ich mit Hertel nach Baden-Baden ab. Leider hatte ich mich nicht so sehr beeilen können, daß nicht schon beinahe drei Wochen nach dem Diebstahle verflossen waren.

Wir kamen in Baden-Baden an. Mein Erstes war, daß ich mir die Badeliste geben ließ, um darin die Madame Meier aus Hamburg aufzusuchen. Der Name Herr und Madame Meier kam ein paar Dutzend Mal darin vor; aus Hamburg waren sie fünf oder sechs Mal da, und alle waren seit acht bis vierzehn Tagen eingetroffen. Ihnen allen, soweit sie aus Hamburg waren, mußte ich meinen Besuch machen, wenn mir das Glück nicht so wohl wollte, schon bei den ersten Besuchen die rechte Familie zu treffen. Das war ein schwerer Gang; ich trat ihn nicht ohne Resignation an, und hatte in der That auch nicht das erwähnte Glück. Meine Bemühungen waren sogar völlig erfolglos, wenn ich nicht den Erfolg in Anrechnung bringen will, daß ich am zweiten Tage nach meiner Ankunft in ganz Baden als ein Narr bekannt geworden war und den Spottnamen „der Meiernarr“ davon getragen hatte. Ich hatte nämlich, wenn ich nicht meinen Plan verderben und meinen Zweck vereiteln wollte, einerseits nur unter einem fremden Namen, als der Particulier Menzel aus – in Baden erscheinen, und andererseits bei den verschiedenen Familien Meier nur unter irgend einem Vorwände mich einführen dürfen. Das mußte denn, bei der Erfolglosigkeit meiner Besuche, zu mancherlei Mißverständnissen und Conflicten Veranlassung geben, die eben so natürlich bald in der Badegesellschaft, wenigstens in einzelnen Classen und Coterien derselben, bekannt wurden.

„Ich habe die Ehre, Madame Meier aus Hamburg zu sprechen?“ fragte ich eine Dame.

„Was gibt mir die Ehre Ihres Besuches, mein Herr?“ fragte diese zurück.

Es war eine angenehme, sanft und mild aussehende Vierzigerin. Mein Signalement der Madame Meier, die in gewesen war, paßte auf sie. Ich glaubte daher, bei ihr nicht auf einem gar zu weiten Umwege vorangehen zu müssen.

„Madame, entschuldigen Sie eine Frage; waren Sie vor etwa drei Wochen in der Provinz P.?“

Sie antwortete mir zwar mit Bestimmtheit: „Nein, mein Herr!“ ich glaubte aber doch, einen leisen Zug von Verlegenheit in ihrem Gesichte wahrzunehmen, und fragte daher weiter.

„Mit einer Verwandten oder Gesellschafterin, Madame?“

Die sanfte Dame schien etwas ungeduldig zu sein.

„Aber nein, mein Herr!“

„Sie trafen dort mit einer jungen Dame, einer Nichte, zusammen?“

„Mein Gott, mein Herr, ich habe Ihnen doch nein gesagt!“

„Madame, es ist in einer sehr wichtigen Angelegenheit, daß ich mir diese Fragen an Sie erlaube.“

Die milde Dame wurde grob.

„Mein Herr, ich weiß nichts von Ihrer Provinz P. und will nichts von Ihnen und Ihren Fragen wissen! Genügt Ihnen diese Antwort?“

Sie mußte mir genügen.

Auch die Polizei muß noch lernen, auch die –sche. Du mußt höflicher werden, nahm ich mir vor. So kam ich zu der zweiten Madame Meier aus Hamburg. Mit Nichte und Gesellschafterin war sie ausdrücklich in der Badeliste aufgeführt, Ich ging deshalb mit großen Hoffnungen zu ihr, und wurde in ein Zimmer geführt, dessen Fenster sehr dicht mit Vorhängen verhüllt waren. Ich trat in eine Finsterniß, in der ich kaum die Figur einer Frau, die auf einer Ottomane lag, unterscheiden konnte.

„Was steht zu ihren Diensten, Herr Menzel?“ fragte eine unterdrückte dünne, aber freundliche Stimme.

„Sie kommen aus Hamburg, meine gnädige Frau?“

„Ja, mein Herr,“ antwortete die Stimme noch freundliche, und zugleich richtete die Dame sich auf.

O weh, das war ein Koloß. Ich meinte, Fallstaff in den lustigen Weibern von Windsor, als Frau verkleidet, vor mir sich erheben zu sehen. Sie war so fett, daß sie kaum einen Raum für ihre dünne Stimme hatte. Das war unmöglich die Dame, die ich suchte. Aber wie von ihr wieder loskommen? Sie hielt mich fest. Ich war wahrscheinlich der Erste, der diese fette Madame Meier, eine gnädige Frau genannt hatte. Sie wollte meine Höflichkeit belohnen, und erzählte mir mit ihrer unterdrückten, dünnen Stimme, daß und wie sie an den Augen litt, daß und wie ihre Nichte ein leichtfertiges Ding sei, die sie immer allein lasse, und ihr auch noch ihre Gesellschafterin entführe, die sie doch bezahle u. s. w. Endlich kam sie auf ihre Frage zurück, was zu meinen Diensten stehe.

Ich antwortete ihr, daß ich mich nur nach meinem Freunde, dem Doctor A. in Hamburg, bei ihr habe erkundigen wollen.

„Den kennen Sie auch? Ach, ein lieber charmanter Herr!“

Erst nach einer Stunde gelang es mir, mich loszureißen. Der Abend nahete schon. Dennoch, um meine Zeit nicht zu verlieren, machte ich meinen Besuch noch bei einer dritten Madame Meier aus Hamburg. Diese war eine schöne und feine Dame. Mein Signalement aus R. paßte vortrefflich auf sie. Sie hatte etwas Geistreiches in ihrem Gesichte; das mußte mir schnell den Vorwand geben, unter dem ich mich bei ihr einzuführen hatte.

„Gnädige Frau, der Buchhändler R. in Hamburg, mein Freund, hat mir viel von der geistreichsten Dame Hamburgs gesagt. Madame Meier ist ihr Name. Leider kenne ich den Namen nicht näher. Ich komme heute hier an, lese Ihren Namen in der Badeliste und fühle das Bedürfniß, zu versuchen, ob ich das Glück haben kann, die von meinem Freunde so hoch verehrte Dame kennen zu lernen.“

Das Gesicht der Dame erglänzte bei dem Complimente so geistlos, daß ich in einem Punkte sicher mich bei ihr geirrt hatte. Sie konnte deshalb aber noch immer meine Dame aus K. sein.

„Ich kenne Herrn K.,“ antwortete sie, „und ich bin ihm sehr dankbar für die gütige Meinung, die er über mich ausgesprochen hat. Ach, ich liebe die Literatur sehr, und ich mache, auch selbst einige Gedichte, freilich nur schwache Versuche.“

„Die Bescheidenheit, meine Gnädige, ist dem wahren Talent und dem wahren Berufe eigen. Sie widmen sich der lyrischen Dichtung?“

[204] „Ich mache Sonnette.“

„Ein ausgezeichnetes Genre.“

„Und so ganz geschaffen für das weiche und tiefe Gemüth des Weibes.“

„Sie dichten gewiß auch Reisesonnette?“

„O gewiß; es wirft sich jetzt ja Alles auf die Reiseliteratur. Ach, ich muß mir gleich erlauben, Ihnen von meinen neuesten Sonnetten einige vorzulesen.“

„Sie werden mir eine große Ehre erzeigen. Darf ich fragen, ob Sie direct von Hamburg hierher gereiset sind?“

„Gott bewahre, ich habe viele poetische Streifereien gemacht und nenne meine Sonnetten Kreuz- und Querzüge.“

„Welche Gegenden besuchten Sie vorzüglich?“

„Meine Lieblingsgegenden sind die Torfmoore; es ist eine so tiefe Poesie darin.“

„Ah, Sie waren in denen der Provinz –?“

„Nein, mein Herr, dort war ich nie.“

Sie sagte das so offen und aufrichtig, daß ich nicht zweifeln konnte. Gleichwohl mußte ich auch noch über eine Stunde bei der geistreichen Dame ausharren und ihre Sonnetten-Kreuz- und Querzüge anhören.

Am andern Tage erging es mir noch schlimmer. Ich kam wieder zu einer Madame Meier aus Hamburg, die ihrem Aeußeren nach die Gesuchte sein konnte, obwohl sie sehr vornehm und strenge aussah.

„Was wäre Ihnen gefällig, mein Herr?“

„Meine Gnädige, ich habe erfahren, daß Sie vor Kurzem in der Provinz – waren.“

„Wer hat Ihnen das gesagt, mein Herr?“

„Sie waren also dort?“

„Wer hat Ihnen das gesagt?“

„Einer meiner Freunde.“

„Wenn es Sie interessirt, mein Herr, ich war dort.“

„Und wann, meine gnädige Frau?“

„Sie sind der Herr Menzel aus –?“

„Ja, meine Gnädige.“

„Hat die Polizei zu – etwa auch mit mir zu schaffen?“

„Teufel! Kannte mich diese Madame Meier aus Hamburg? Oder schlug sie in ihrer Strenge auf das Gerathewohl los? Ich war in der That in Verlegenheit, was ich weiter thun sollte. Allein die Dame überhob mich aller weiteren Mühe, sie wandte mir kurz den Rücken zu und ließ mich stehen. Sie kannte mich übrigens nicht, wie ich später erfuhr.

Ich kam zu der fünften Madame Meier aus Hamburg.

„Ach, Herr Menzel aus –?“ sagte mit einem boshaft spöttischen Lächeln der Bediente, als ich meinen Namen genannt hatte. „Madame Meier ist für Sie nicht zu sprechen.“

Da war ich also schon früher angemeldet, zum Glück ebenfalls nur als Herr Menzel.

„Der Meiernarr!“ rief mir der Bediente nach, als ich eilig ging, und ich sah ein, daß ich auf dem betretenen Wege nicht weiter gehen könne. Die Polizei kann doch noch nicht Alles.

Aber was nun weiter anfangen? Ich war in halber Verzweiflung, und auf einmal so heruntergekommen, wie der ordinärste Verbrecher, der in jedem Polizeibeamten einen Häscher erblickt, der ihm sein Verbrechen ansieht und ihn einfangen will. So war mir, daß jeder Mensch mir den –schen Polizeimenschen ansehen müsse.

Indeß was anfangen? Vorläufig ein paar Tage gar nichts. Dann weiter nachdenken: auch etwa wieder auf einen glücklichen Zufall warten, unterdeß mich zerstreuen, so gut wie möglich. Ich setzte diesen Entschluß sofort in’s Werk.

In der Badeliste hatte ich den Namen der Oberstin von Wüsthof aus der Residenz gefunden, die ich kannte. Ich suchte sie auf; es war Nachmittags. Sie war nicht zu Hause. Sie machte eine Promenade und in einer Stunde werde sie zurück sein, sagte mir der Bediente.

Ich machte bis dahin gleichfalls eine Promenade, und ging um das alte Schloß Badens herum, in eines jener wundervollen Thäler, die sich nach der Murg hinziehen. Es war einsam und still in dem Schatten der riesigen Eichen und Tannen. Ich ließ mich unter einem der Bäume hinter einem kleinen niedrigen Gebüsch auf dem Moose nieder und wollte mich in Gedanken und Gefühle versetzen, die dem schönen, stillen, einsamen, schattigen Thale entsprachen. Der Teufel treibt andere Spiele mit einer Polizeiseele. Ich konnte nur an Madame Meier aus Hamburg denken; dennoch sollte bald etwas Romantisches in meinem Innern Platz finden. Ich hörte Stimmen nahen, und durch das Gebüsch sah ich nach ihnen. Ein junger Mann und eine junge Dame gingen zärtlich Arm in Arm. Es war ein großer hübscher Mann mit einem stolzen, kühnen Blick, die Dame ein sehr zartes, leidend aussehendes Wesen, mit einem außerordentlich innigen, frommen Ausdrucke des Gesichts. Ich hatte Freude an dem stolzen, kräftigen Mann, und die Dame hätte ich als meine Tochter lieben mögen, sie hegen und pflegen, daß sie in rother, frischer Gesundheit blühe, um dann – Teufel, wie war ich plötzlich so sentimental geworden – um sie dann zur Frau des jungen Mannes zu machen.

Sie ließen sich auf einen Baumstamm an der andern Seite des Gebüsches nieder, etwa fünfzehn bis zwanzig Schritte von mir. Ich war trotz meiner Sentimentalität Polizeimensch genug geblieben, um mich nicht zu verrathen, wohl aber zu horchen. Ich habe manches Liebesgespräch behorcht, behorchen müssen, heilige und unheilige. Ich wurde jetzt Zeuge eines sehr heiligen. Es wurde mir so recht klar, daß es auf Erden doch nun einmal nichts Heiligeres gibt, als die reine Liebe zweier junger Herzen. Und doch steht vielleicht die Mutterliebe noch höher.

Mit ihren Herzen waren die jungen Leute im Klaren, auch schon gegenseitig; sie hatten es sich wahrscheinlich schon hundertmal, immer mit dem süßesten Reize des ersten Geständnisses, gesagt, wie unaussprechlich, wie unendlich sie sich liebten. Aber es war noch ein anderes Bedenken da, eigentlich, wie im Laufe ihrer Unterredung sich ergab, gar zwei.

„Ach, Eduard,“ sagte das junge Mädchen, „heute kann die Antwort meines Vaters eintreffen. Wie wird sie lauten? Der Athem will mir ausgehen, wenn ich daran denke.“

„Aber Dein Vater liebt Dich, er will nur Dein Glück,“ suchte der junge Mann sie zu beruhigen.

„Und ich habe ihm geschrieben, daß ich ohne Dich sterben müsse, und auch die Tante hat es ihm geschrieben. Und ich würde und müßte ohne Dich sterben, Eduard. Schon in dem Augenblicke, als Du mich damals verließest, fühlte ich es klar, daß ich Dich wiederfinden müsse, oder nur den Tod finden könne.“

„Auch ich, auch ich,“ rief der junge Mann, „hatte seit unserer Trennung nur den einen Gedanken, Dich wieder zu sehen, nur das eine Gefühl, daß ich ohne Dich nicht leben könne!“

„Und Du hast Dein Leben gewagt, mich wieder zu sehen, und Du wagst es noch, täglich, stündlich. O, mein Gott, und ich leide das, ich lasse Dich nicht von mir, ich halte Dich. Aber ich kann ja nicht von Dir lassen. Ich kann mich nicht noch einmal von Dir trennen. Es wäre mein plötzlicher, augenblicklicher Tod; auch die Tante sieht es ein, auch Du, darum eben, nur für mich, setzest Du ja Dein Leben ein.“ –

Das waren interessante Enthüllungen für einen Beamten der Polizei. Ich sah mir durch das Gebüsch den jungen Mann genauer an. Ich verglich seine Gestalt, sein Gesicht, sein Benehmen mit allen möglichen Verbrechersignalements, die jemals durch meine Hände gegangen waren, besonders mit den fast zahllosen der politischen Flüchtlinge von 1848. Aber ich mochte deren eben wohl zu viele im Kopfe haben, und darum vielleicht fand ich kein einziges, das zutraf. Ich horchte mit einer gewissen Spannung weiter. Bald kam denn auch das zweite Bedenken zum Vorschein.

„Ich habe die Ahnung, meine gute Ottilie,“ sagte der junge Mann, „daß Dein Vater einwilligen wird. Nach seinen Grundsätzen, nach Allem, was Du mir von ihm sagst, wird er nichts gegen mich einzuwenden haben. Aber ein anderer Gedanke beunruhigt mich.“

„Und der wäre, mein Theurer?“

„Dein Glück, Ottilie. Ottilie, es gibt kein elenderes Leben, als das eines Flüchtlings!“

„Aber wir sind reich, Eduard,“ warf das Mädchen ein. „Du, ich. Du hast schon Dein eigenes Vermögen; ich bin die einzige Tochter eines reichen Vaters. Wir können uns auch im Auslande das Leben so angenehm wie möglich machen. Die Aerzte sagen ohnehin, daß ich schon mit dem nächsten Herbste in den Süden müsse. Wir gehen nach Italien, in das südliche Frankreich, nach Spanien. Die schönsten Länder stehen uns offen für unsere Liebe, für unser Glück.


(Fortsetzung folgt.)
[205]

Aus Graubünden.

Wenn der Sommer naht, dann rüstet sich die fashionable, lebensmüde und weltschmerzkranke Welt zur Reise, um bald in den Bädern den Salon-, Börsen-, Bureau- und Comptoirstaub abzuspülen, bald in der einfachen, großartigen Natur die Gebilde menschlicher und gesellschaftlicher Uebercultur auf einige Wochen zu vergessen. Doch dies ist nicht so leicht, als man glaubt, denn überall, wohin der Strom der Reisenden sich wälzt, folgt ihm auch jener blasirte Comfort, und macht sich in wohl eingerichteten Hotels und bengelhaften Kellnern breit. So ist es gekommen, daß viele Routen der Schweiz dem Naturfreunde nachgerade ganz verleidet worden sind, jene „Gänsestriche“ nach Karl Vogt, auf denen während der Reisezeit die Schaar der Touristen sich bewegt, immer denselben Weg einschlagend und verfolgend, bis der „rothe Baedeker“ in der Hand ihnen zuruft: „Nun ist’s Zeit zu halten, hier muß Das und Jenes bewundert werden“, und Alle auch gut gedrillt wie auf Commando ihren Empfindungen im bewundernden Ach und O Ausdruck geben. Ziehe nur, lieber Leser, außer mancher ähnlichen Route, von Altorf das Reußthal bis Andermatt hinauf, dann über die Furka, den Rhonegletscher, die Grimsel nach dem Haslithale, und bald wird es Dir an den überfüllten, durch telegraphische Depesche bestellten Zimmern der Hotels, ihren in mehreren Sprachen conversirenden Kellnern, den unverschämten Gasthofsrechnungen, den an verschiedenen Punkten aufgestellten, den Kuhreihen blasenden Schweizerbengeln und dem für jede Kleinigkeit unverschämt forderndem Gesindel zur Genüge klar werden, daß Du auf einen „Gänsestrich“ gerathen bist. Du hast nicht nöthig, Dir irgend eine Notiz zu machen und so den Naturgenuß noch mehr abzublassen, gib Dich ihm ganz hin, wenn Du es vermagst, jedes Jahr wird Deine Reise mit allen ihren Einzelnheiten von so und so viel Touristen beschrieben, in der ersten besten Buchhandlung kannst Du sie sammt allen Empfindungen und Eindrücken für wenige Groschen erhalten.

Der Holztransport über die Schluchten der Via mala.

Willst Du aber auf einige Zeit der „Gesellschaft und ihrem Treiben“ den Rücken kehren, Dich dem unverfälschten Naturgenusse ungestört hingeben, die Alpenwelt in ihrer ganzen Herrlichkeit und Erhabenheit genießen, ihre Bewohner in ureigner Einfachheit und Sitte kennen und lieben lernen, so vermeide alle jene Gänsestriche, gehe [206] besonders nach Graubünden, der Südostschweiz, dringe in die Alpenthäler ein und Du wirst Freude an Land und Leuten haben. Mit Ausnahme der Splügenstraße durch die Via mala wird dieser Canton vom Touristenschwarme bis jetzt nur wenig berührt, selbst in dem Engadin finden sich noch verhältnißmäßig wenig Fremde, darum ist auch noch Alles natürlich und frisch, von Uebercultur unberührt. Willst Du aber in Graubünden eindringen, so laß Dich vom ältesten, erfahrensten und berühmtesten aller Schweizerführer, dem – Rheine leiten, er versteht es, Dich wie über lachende Wiesen und fruchtbare Thalgründe, auch zu grausigen Schluchten und jähen Felsenwänden und Abgründen zu führen, Keiner ist wie er so tief in die erhabene Bergwelt eingedrungen.

Je weiter man im Rheinthale stromaufwärts vorschreitet, immer schöner und malerischer, immer großartiger wird es, bis endlich Graubündens alte Hauptstadt, Chur, vor uns, und das in neuester Zeit so oft genannte untergangbedrohte Felsberg in größter Nähe liegt. Nicht fern von Felsberg verbinden sich die beiden Rheine, der vordere, aus Westen kommend, mit dem ihm aus Süden im rechten Winkel zuströmenden Hinterrhein. Ihm wenden wir uns zu, und betreten eine Gegend, die im reichen Wechsel vom Lieblichen zum Großartigen und Erhabenen, bis endlich zum Wilden und Schauerlichen fortschreitet, und von keiner andern der ganzen Schweiz übertroffen wird. Wir sind im Domleschgthal. Zu beiden Seiten des Hinterrheins fallen die Berge steil ab, tannendüstere Bergabhänge und grüne Matten, zerrissene Felswände und sanfte Wiesengründe, hochragende in ewigem Schnee schimmernde Bergriesen und saatenumwallte Hügelreihen, wettergraue Burgtrümmern und weißleuchtende Kapellchen, freundliche Dörfer und wolkenumkreiste Sennhütten, kurz die reichste Fülle der entzückendsten Gegensätze umgibt uns.

So gelangt man bis Thusis. Dicht hinter diesem von Feuerflammen und Wasserfluthen wiederholt heimgesuchten Städtchen öffnet sich der Eingang zu der wildromantischen Via mala. Schon der erste Anblick ist gewaltig und vielverheißend. kaum daß man zwischen dem Johannisstein und der Carpteig die Via mala betreten hat, und schon findet man sich in eine schauerliche Gebirgsklause eingezwängt. Mit jedem Schritte wachsen die Felswände himmelanstrebender, mit jeder Windung wird die Kluft tiefer, in welcher der Rhein den Ausgang zu erkämpfen strebt, mit jedem neuen Aufsteigen rücken die verwitterten, moosbehangenen Felswände näher zusammen. Mit den Wurzeln krampfhaft in die Spalten der Felsen sich einklammernd hängen schwere, schwarze Bäume über den Abgrund hinaus, häufig halb erstorben, weil sie Jahrhunderte in diese Wildniß gebannt waren, ohne daß Menschenhand sie zu fällen vermochte. Bald liegen sie, vom Orkane oder der Lawine entwurzelt, gleich Schlagbäumen von einem Steinbrocken zum andern hinüber, den Ausdruck des Unheimlichen und Grausenhaften nur noch erhöhend, bald aber auch stehen sie, von vorragenden Felsen geschützt, in voller Kraft und der schönsten Entwicklung ihres Geästes, während dicht daneben sich andere unter unsäglicher Mühe im Sturme und Wetter emporgearbeitet haben. Siehe, wie zackig, knorrig und gedrungen sie sind, ihr Leib ist eisenhart und zäh durch und durch, gleichwie man es in einem Leben von Sturm und Ungemach wird. Da steht ein Stamm stolz und kerzengerad aufgerichtet, aber alle seine Zweige reichen in spitzem Winkel zum Boden, gleich ob eine Riesenfaust den Stamm oben am Gipfel umkrallt und, herunterfahrend, alle Aeste abwärts gerissen und gebogen hätte. Der Winter that’s mit seinen Eis- und Schneelasten. Andere Stämme konnten nicht widerstehen; gleich den vom Orkan auf die Seite geworfenen Masten eines Schiffes ziehen sie sich in schräger Richtung mit zum Theil aus dem Moosgrunde gerissenen Wurzeln längs des Bodens, während andere gänzlich niedergeschmettert auf dem Grunde liegen, und ihre noch immer grünen Zweige wie hülfeflehend emporstrecken; noch andere aber zu jammervollen, unheimlichen, cretinenartigen Mißgestalten verwachsen und verkrüppelt, kaum noch erkennen lassen, was sie sein könnten. Ja, hier und da erblickt das Auge einen längst gestorbenen Baum, dessen gebleichtes Gebein aus den grünen Reihen der lebenden herausblickt, oder der von oben bis unten in graue langwallende Flechtenzotten gehüllt, den Wanderer unwillkülich an den riesigen Geist der Berge erinnert.

Zwei Baumarten sind es besonders, welche die Hochflächen und Abhänge der Felsen bedecken, und die oft bis zu einer Höhe von 7000 Fuß ansteigen, die Lärche und die Arve. Jene mit ihrem helleren Grün und der reichen und zarteren Färbung ihrer Nadelbüschel und den schön geschwungenen Bogenlinien ihrer Aeste sticht anmuthig ab gegen die dunklere Farbe der Arvennadeln. Dick, knollenartig, aufwärts gekrümmt und in compacten Klumpen sitzen sie an den von Flechtenzotten behangenem Geäst. Unter welchen Mühen und Beschwerden aber der Segen der Wälder oft nur gewonnen werden kann, dies zeigt unsere beifolgende Abbildung. Sie versetzt uns in die mehrerwähnte Via mala. Die steilen Bergabhänge gestatten dem Holzschläger nicht, das auf den Höhen wachsende Holz langsam und sicher zu Thale zu fördern. Wollte er es die jähen Felswände herabstürzen, dann wäre es der menschlichen Benutzung auf immer entzogen, es würde in den unzugänglichen Schluchten faulen und verwittern, an den spitzen, scharfen Felsenkanten im Fallen zerbersten. Da mußte der Mensch auf andere Mittel sinnen, um dennoch zu seinem Nutzen die Alpenschätze auszubeuten.

Die steilen Abhänge erklimmend, errichtet man, an Ort und Stelle angekommen, eine Vorrichtung, wie sie unsere Abbildung vorführt. Ein Flaschenzug reicht vom Abhange bis zur sichern Straße, zwischen ihm läuft ein starkes Seil, an welchem der Stamm über den Abgrund hinweg bis zu jener Stelle rollt, wo er verladen werden soll. Beide Endpunkte sind hier 900 Fuß von einander entfernt, gleichwohl überwindet der Mensch alle Schwierigkeiten und läßt sein Bau- und Brennholz, sowie die im Walde gebrannten Kohlen diesen merkwürdigen Weg passiren, während unter ihm, im fast unermeßlich tiefen Grunde der Rhein dahin tobt. Aber welch’ wilder Geselle ist er hier unfern seiner Geburtsstätte! Hat man ihn nur in Deutschland gesehen, wie er blaugrün, klar und durchsichtig dahin fluthet, ein Bild der Kraft, Besonnenheit und ernsten Männlichkeit, so kennt man ihn hier nicht mehr. Durch das schauerliche Felsenlabyrinth der Via mala windet er sich in den wunderlichsten Sprüngen und in unzugänglichen Tiefen. Zwischen Felsmauern eingekerkert will er sein Gefängniß sprengen. Aus der Tiefe herauf vernimmt man sein Tosen und Kämpfen, wie er sich herauszuarbeiten bemüht ist. Schroff fallen die Felswände ab, im Laufe der Jahrtausende hat der wilde Bergstrom den Felsen unterwühlt, bis dieser nachstürzte. Da blieb dem Menschen keine Bahn, er mußte die Berge durchbrechen und sich einen Weg bahnen, von einem Ufer zum andern aber Brücken über die schauerlichsten Abgründe schlagen. Doch der Rhein zürnte dem Gebilde der Menschenhand, jene Brücken, in den Jahren 1738 und 39 erbaut, wurden ein Jahrhundert später, den 27. August 1834 in Folge eines Wolkenbruches fast zerstört. So außerordentlich tief auch der Rhein hier fließt – man kann bequem vierzehn Pulsschläge zählen, ehe ein hinabgeworfener Stein ins Wasser schlägt – seine Fluthen schwollen damals bis an den Bogen der Brücke. Nimmt er aber bei Thusis erst die Nolla, jenes aus einem Seitenthale zufließende schwarze Ungethüm auf, so verändern sich, trotz seines Sträubens, seine bisher reinen Fluthen in eine widrige, trübe, tintengleiche Masse, so daß man kaum glauben kann, wie plötzlich dieser schöne Alpensohn verwandelt werden konnte. Und so geht es fort bis zum Bodensee, in ihm läutert er sich, rein und in blaugrüner Farbe geht er aus ihm hervor, ein Bild des nach tollen Jugendstreichen geläuterten kräftigen Mannes.




Das Löchle.
Franken und seine Dichter. – Amarants als Lichtverlöscher. – Der Alte in Streitberg. – Gößweinstein und seine Kirche. – Die Heiligenbilder der neuen Kirche. – Lessing und seine Gegner. – Warmensteinach und seine Paterlesfabriken. – Die Paterles, die Kaiserin von Brasilien und die Königin Pomare. – Das Löchle. – Die Zusammenkunft der Burschenschafter. – Das Stammbuch. – Jean Paul Richter und Sand. – Des Alten Name.

Auf die Höhen! Auf die Berge! Sie sind immer das Ziel meiner Wanderungen. Deshalb ging ich auch diesmal aus den Ebenen Nürnbergs und den engen Thälern der fränkischen Schweiz, in welchen es noch ziemlich düster aussieht, den Höhen des Fichtelgebirges zu, in welchem Jean Paul Friedrich Richter geboren wurde.

Es ist ein eigenthümliches Land, dieses Franken, voll schroffer [207] Gegensätze und Widersprüche. Dem mächtigen Frankreich und der großen Nation darin hat’s den Namen gegeben, während es selbst keine Macht und kein Volk mehr besitzt. Seine Geschichte ist ein wunderliches Durcheinander von aufblitzender Geistesthat und wasserspritzender Kapuzinade. Das katholische Land des ehemaligen Erzbisthums Bamberg liegt mitten im protestantischen Land des ehemaligen Markgrafenthums Bayreuth, und zuweilen bildete die Grenze einen tief aus den Besitzungen der brandenburger Fürsten in die der geistlichen, von der Jagdlust der erstern hineingetriebenen mächtigen Keil; denn die Nimrodsgelüste und die davon nicht selten bestimmte Jagd- und Landesgrenze wurden maßgebend, ob die Bauern nach der einen oder der andern Façon selig werden sollten, wie Ritter Lang in seiner Geschichte des Fürstenthums Bayreuth berichtet. So liegen denn noch heute katholische und protestantische Orte seltsam durcheinander, und wenn man von der ehemals markgräflich bayreuthischen Universitätsstadt Erlangen den geraden Fußweg nach Bayreuth wandern will, muß man durch die sehr bigot katholische fränkische Schweiz, einen der reizendsten Erdwinkel im lieben deutschen Vaterlande, ein wahres Cabinetsstück. Ein gleiches Verhältniß ist’s mit den Geistern; in Nürnberg lebt Daumer, der unversöhnliche Feind des Christenthums, und in Anspach Herr Oscar von Redwitz, der Verfasser des Amarant, der minnesingende Feind des Pantheismus, ja sogar des unschuldigsten, zahmsten und flachköpfigsten Rationalismus, und beide Herren sind deutsche Dichter, und machen ausgezeichnet schöne Verse.

Die Nürnberger hatten 1848 und 1849 viel lebendige Köpfe unter sich, und nachher bildeten sie eine freie Gemeinde. Damit ist’s freilich vorbei, und die Spitzen dampfen nur noch leise drüben „im Lande der Freiheit,“ denn die amerikanische Luft verhindert bekanntlich das Feuerspeien. Jetzt sind die Nürnberger erst wieder bei „Soll und Haben“ angelangt. Inzwischen zeigte mir doch Einer ein allerliebstes Nippes-Stück, das er sich nach seiner Angabe von einem Silberschmied hatte machen lassen, eine ganz kleine niedliche Dame, eine Art weiblichen Däumling von echtem Silber, halb als Ritterdame, ohngefähr à la Pucelle d’Orléans, halb als Nönnchen gekleidet, mit Schwert, Lanze und Fahne ausgestattet, einen großen Harfenstein unter dem Arme, knieend und ihren Rosenkranz abbetend. Aber das Figürchen war hohl bis in den Kopf und diente als Lichtverlöscher, als „gute Nacht.“ Auf dem betreuzten Schilde des Dämchens stand mit goldenen Buchstaben: „Amarant.“ Die Idee gefiel mir, und ich gebe sie hiermit den Fabrikanten anheim, ob sie nicht aus dem prächtig klingenden Worte Amarant einen passenden Gattungsnamen für die nützlichen Lichtkäppchen machen wollen. Vielleicht erleben die Amaranten in den Läden der Blechschmiede noch einmal einen reißenden Absatz und dann mögen sich die Herren dankbar des witzigen Nürnbergers erinnern.

Ich hatte den Sonnabend in dem köstlichen Streitberg im comfortablen Posthause zugebracht, wo ich wieder viel Nürnberger schöne Welt gefunden, und ging in der frischen, herrlichen, grünen Sonntagsfrühe das Thal der Wisent aufwärts nach Gößweinstein. Eh’ ich das grüne Streitberg verließ, warf ich noch einen Blick auf seine hübschen Häuser, seine malerische Ruine und seine freundlichen Gärten zurück. In einem der letzteren saß ein nicht mehr jugendlicher Mann von auffallendem Aeußern und speiste Milchsuppe aus einem irdenen Napfe. Seine Tracht erinnerte an die Jean Paul’s, wie sie die Statue auf dem Gymnasiumsplatze in Bayreuth so treu wiedergibt: Hemd ohne Halstuch und Weste, das den Hals offen, die Brust frei ließ; alter dunkelgrüner weiter salopper Ueberrock, alter lederner Gugelhut, wie ihn die Bilder Ulrichs von Hutten zeigen. Das lange, schmale, bleiche, runzelige Gesicht mit dem großen schneeweißen Geisbart rief mir die Gestalt Friedrich Ludwig Jahn’s zurück, des Turnvaters, doch hatte das alte Gesicht auch einige Aehnlichkeit mit dem Friedrich Fröbel’s, des Kindergärtners. Der ärmliche Mann machte einen seltsam tiefen Eindruck auf mich; ich konnte den ganzen Weg über sein Bild nicht wieder los werden.

Gößweinstein ist die Perle der fränkischen Schweiz. Die noch ziemlich erhaltene Burg liegt in schwindelnder Höhe auf dem schroffen Muschelkalkfelsen des linken Ufers der Wisent. Der Altan oben, von dem man aus das Thal und die weite Umgegend schaut, erinnert an die Bastei der sächsischen Schweiz. Jenseits des Burgberges zieht sich der freundliche Marktflecken, von waldigen Höhen und Schluchten umgeben, malerisch an der Bergwand hinab. Hier ragt auf einer andern Höhe die prächtige, zweithürmige heilige Dreifaltigkeitskirche, aus Sandsteinquadern erst vor hundert Jahren erbaut, einer der schönsten christlichen Tempel in einem so edlen und großartigen Styl, daß man ihn dem vorigen Jahrhundert kaum zutraut. An den Bezirk der Kirche stößt das stattliche Franciscanerkloster mit seiner Kirche, dessen Mönche sehr freundliche und liebenswürdige Herren sind. Vom Wirthshause unten im Thale bis zur Kirche zieht sich der angenehme Weg mit überraschenden, wechselnden Ansichten auf das Thal und die umliegenden Berghöhen fast eine halbe Stunde hinauf, in kleinen Zwischenräumen mit steinernen Stationen, die unter kleinen Dächern Bilder der heiligen Dreifaltigkeit haben, besetzt.

Aus dem tiefen Thale rutschten Bauernfrauen auf den Knieen in ziemlicher Anzahl, sonntäglich geputzt, die dicken Gebetbücher unterm Arm, die Rosenkränze in den Händen, betend den hohen Berg hinauf und in die Kirche, wo sie dann lange um den Hochaltar marschirten, die Kniee als Füße gebrauchend, immer Eine hinter der Andern, eine lange bunte Reihe. Vor den Stationen machten sie Halt und beteten Paternoster, die bekanntlich am Rosenkranz abgezählt werden. Auf der Plattform, von welcher sich die Kirche erhebt, stehen in Nischen und frei um sie viele steinerne Heiligenbilder, die nicht ohne Kunstwerth sind, meist Kirchenfürsten mit dem Krummstab und Mitra und Insul. Andere mögen Apostel vorstellen. Von Leuten aus dem Volke konnte ich die Namen dieser Heiligen nicht erfahren, und ein Kleriker, der sie mir hätte angeben können, war nicht zur Hand. Ich sah mir die schönen, frommen Gestalten lange und mit prüfendem Auge an.

„Die andre Kirche fängt jetzt auch an, ihre Heiligenbilder aufzustellen,“ sagte plötzlich ein Mann neben mir, in welchem ich den milchspeisenden Alten aus dem grünen Garten in Streitberg wieder erkannte.

„Welche andre Kirche meinen Sie?“ fragte ich erstaunt.

„Die Kirche der Humanität und der Aufklärung, die Gemeinschaft aller Menschen von Geist, Gemüth und wahrer Bildung. In Frankfurt am Main steht eine solche Heiligenstatue, in Stuttgart steht eine, in Weimar eine dritte, in Braunschweig eine vierte, im nahen Bayreuth eine fünfte; Berlin und Wien haben zwei Reiterstatuen von echten Wunderthätern des deutschen Volks. Bald wird sich zu der in Weimar errichteten noch eine zweite Statue, die des großen Carl August, erheben. Wir beugen nicht das Knie vor ihnen; aber die Glieder jener Kirche, welche, wenn auch nicht an Quantität, so doch an Qualität die bedeutendste der Welt ist, werden jedesmal von jener echten Andacht ergriffen, die zur That spornt für das Heil der Menschheit, wenn sie vor solch einem ehernen Heiligenbilde stehen. Unser Deutschland ist trotz alledem der Hauptsitz dieser Kirche.“

Es schimmere feucht in des Mannes Auge. Ich gab ihm schnell die Hand mit den Worten:

„Ich bin auch ein Glied dieser deutschen Kirche. Und die Heiligenbilder in Berlin und Wien, in Braunschweig und Bayreuth sind mir gar sehr lieb und werth. Die beiden Königssöhne und Vernunftkönige sitzen natürlich zu Pferd, während die beiden schlichten Pfarrerssöhne und Humanitätspriester zu Fuß sind; aber ehrliche, herrliche Menschen waren sie alle Viere. Der Pfarrersohn in Weimar hätte es gar zu gern auch ganz ehrlich gemeint, und er hatte das Zeug dazu, aber zu seinem Unglück war er herzoglich sachsen-weimarischer Generalsuperintentent.“

„Trotz aller Amaranten und Redwitziaden in zwölf Auflagen ist Deutschland die Wiege des Gedankens, und seine Kirche wird, wenn auch langsam, wachsen und gedeihen und den andern Ländern vorleuchten, bis Italien seinem Giordano Bruno, Spanien seinem Miguel Serveto, Holland seinem Baruch Spinoza die eherne Statue errichten wird.“

Der Sprecher entschwand mir wieder im Gedränge, und ich wanderte über die Bergrücken und lieblichen Thäler durch katholische und protestantische Dörfer nach Bayreuth hinüber, wo ich vor der Jean Pauls-Statue meine Andacht verrichtete. Die Ideenverbindung führte mir zugleich die Lessingstatue aus Braunschweig in die Seele, und mir fiel eine artige Geschichte ein, die mir dort erzählt wurde.

Als der große Lichtträger in dem hervorspringenden Hause auf dem Aegidienkirchhofe in der Blüthe des Mannesalters gestorben war, todt geärgert von Zeloten, die sich christliche Priester nannten, erhoben diejenigen der letztern, welche in Braunschweig das Recht hatten, das Volk von den Kanzeln zu belehren, ein Triumphgeschrei von ihren heiligen Rednerstühlen: „Seht, der Teufel hat den verruchten Gottesleugner, den Christusschänder geholt.“ Und sie fanatisirten den Pöbel in einem solchen Grade, daß er wuthschnaubend [208] in das Leichenhaus brach und die Leiche thätlich beschimpfte, die Leiche des größten deutschen Mannes! Dreißig Schritte vom Hause, wo diese Schandthat geschah, steht jetzt das herrliche Standbild von Erz, das Lessing’s Züge treu der vernünftigen und humanen Nachwelt überliefen.

Gedankenvoll wanderte ich in eins der schönsten Thäler des Fichtelgebirges, in das der Steinach, ein. Das Wandern auf Gebirgswegen erfrischt mich stets ungemein, und so langte ich denn am Spätnachmittag in einem hochgelegenen Dorfe an, wo ich mein Nachtlager aufzuschlagen gedachte, um in der frischen Frühe des folgenden Morgens den Ochsenkopf zu besteigen und die Quellen der vier Flüsse zu besuchen, welche von diesen Berghöhen nach den vier Weltgegenden ausgehen, der Main, die Saale, die Eger und die Raab. – Das Fichtelgebirge ist das kleinste Gebirge in Deutschland, und doch hat kein anderes so viel heimlich süße Romantik, so viel echte Bergpoesie.

Das Dorf Warmensteinach ist in mehrfacher Hinsicht merkwürdig. Erblich ist der obere Theil desselben katholisch und hat eine katholische Kirche, der untere Theil dagegen protestantisch, und hat eine lutherische Kirche, Sodann liegen die Häuser des Dorfes nicht, wie in der Regel die anderer Gebirgsdörfer, im Thale hübsch nachbarlich in Reih und Glied bei einander, sondern an den Bergwänden rechts und links und auf den Höhen so einzeln und weit von einander zerstreut, daß man eine volle Tagereise braucht, um jedes Haus nur auf einige Minuten zu besuchen. Dieser Umstand gibt begreiflicher Weise dem Dorfe ein sehr malerisches und fremdländisches Ansehen. Eine dritte Merkwürdigkeit sind die vier Paterlesfabriken, armselige, am klaren Bachgerinne, dessen Wasser sie nöthig haben, gelegene Hütten.

„Was ist eine Paterlesfabrik?“ fragen die Leser verwundert. Paterles sind massive Glasperlen von mannichfacher Größe, Form und Farbe; die meisten in Größe und Rundung einer Sauerkirsche ähnlich. Die zunächst häufige Form ist die von Tauben- und Hühnereiern. Endlich werden noch ganz kleine Ringe von Glas in großer Masse fabricirt, so klein, daß sie auch nicht an den Finger eines zweijährigen Kindes gesteckt werden können.

Die vierte und für mich größte Merkwürdigkeit von Warmensteinach ist ein altes, kleines, unscheinbares Haus, in den Eingang eines engen, düstern Seitenthalgrundes hart an die steile mit Tannen dicht bewachsene Berghöhe angedrückt; doch davon will ich nachher reden.

Ich besuchte eine der Paterleshütten. Ein mächtiger Ofen, aus Stein und Lehm in Häuserform erbaut, hatte ringsum 32 Oeffnungen. Im Ofen loderte ein Feuer, „als gält’ es Felsen zu verglasen.“ Hinter jeder Oeffnung über der Gluth erblickte ich eine thönerne Pfanne mit geschmolzener Glasmasse, jede anders gefärbt. Vor jeder Oeffnung saß ein Mann mit einer eisernen Spindel in der Hand, eine andere lag neben ihn, in einem Kästchen mit nassem Thon. Auf der Base hatte er eine Brille, um die Augen vor der Feuerhitze zu schützen. Abwechselnd bald mit der einen, bald mit der andern Spindel tauchte er in die weiche feurige Glasmasse im Ofen und drehte eine Perle in der Form, die ihm beliebte, ganz aus freier Hand. Daß dazu eine nur durch lange Uebung zu erlangende Geschicklichkeit gehört, leuchtet sogleich ein. Die fertige Perle fiel in ein vor der Ofenöffnung angebrachtes Kästchen; der Mann legte die erhitzte Spindel bei Seite und ergriff die andere, tauchte ihre Spitze erst in den nassen Thon, dann in das flüssige Glas und drehte eine Perle. Diese spielende Arbeit geht außerordentlich schnell von der Hand. Ich habe vergessen, wie viele hundert Perlen jeder Arbeiter täglich drehen kann, aber ihre Anzahl setzte mich in Erstaunen und läßt sich nach dem Preise bemessen, welchen der Mann täglich verdient. Der geringste Lohn für Anfänger ist nämlich 42 Xr. rhein., der höchste für den vollendeten fleißigen Arbeiter 1 fl. 45 Xr. rhein.

Ich stand und sah dem rührigen Schaffen der Leute zu, als ich eine Hand auf meiner Schulter fühlte. Mich umwendend, sah ich in das hagere alte Gesicht meines neuen bekannten Unbekannten aus Streitberg und Gößweinstein.

„Wissen Sie auch,“ fragte er mit seinem vertraulichen Tone, „wozu diese Glasperlen zumeist verwendet werden?“

„Wozu anders als zu weiblichem Schmuck, zu Hals- und Armbändern?“ versetzte ich.

„Fehlgeschossen!“ Und mit heiserer Stimme fuhr er leise und meinem Ohre nahe fort: „Zu Rosenkränzen! Die ganze katholische Christenheit, als da vorzüglich sind die österreichischen Staaten, Belgien, Italien, Frankreich, Spanien, Portugal, Brasilien, Mexico, bezieht ihren Bedarf an Rosenkranzmaterial aus diesem Thale. Ja, mein Bester, in diesen unscheinbaren Glashütten werden Jahr ein Jahr aus Millionen Merkkügelchen für Millionen Gebete der alleinseligmachenden Kirche gedreht, und zwar von sündhaften protestantischen Händen; denn nur hier in dem lutheranischen Unterdorfe werden die Paterles von Ketzern gemacht: das katholische Oberdorf fabricirt keine. Wär’ es anders, die Fülle des Segens, die, ob solcher gottseliger Arbeit, auf diese Hütten und Perlendreher sich senken müßte, hätte ihres Gleichen in der Welt nicht; aber so – Sie sehen, wie ärmlich hier Alles aussieht!“

„Woher haben aber diese Perlen den seltsamen Namen Paterles?“ fragte ich meinen, wie es schien, gut unterrichteten neuen Bekannten.

„Eben vom Rosenkranz, der ja, wie Ihnen bekannt sein wird, von dem Gebete aller Gebete, dem Vaterunser, lateinisch Paternoster genannt wird. Das „noster“ wurde von dem Volksmund apokopirt und das Pater für die einzelne Perle mit der süddeutschen Diminutiv-Endung versehen, so entstand das neue Wort „Paterlein, Paterle.“ Cicero und die altrömischen Grammatiker hätten sich freilich nicht träumen lassen, daß das altgriechische in ihre Sprache übergegangene Wort pater im Fichtelgebirge eine solche naive Umwandlung erfahren und eine kleine Glasperle bedeuten würde. So haben auch Worte ihre wunderlichen Schicksale.“

„Und werden blos Rosenkränze aus den Paterles gemacht?“

„O nein! Sie hatten recht, auch Hals- und Armbänder in großer Anzahl. Namentlich werden die eiförmigen zu solchem Schmuck verwendet. Aus demselben Tiegel entwickeln sich die Mittel der Frömmigkeit und der Eitelkeit, und der Rosenkranz in der Hand der knierutschenden Amarant ist aus demselben Stoff wie das Halsband an ihrem Halse. Mit jenem will sie Gott gefallen, mit diesem dem Manne. Himmel und Erde liegen immer dicht neben einander, ja gehen in einander über, und Heiliger und Weltkind werden aus einem Topfe gespeist. Einer meiner Freunde aus diesen Bergen sah in der Hand der Kaiserin von Brasilien in der Kathedrale zu Rio de Janeiro einen prächtigen Rosenkranz und erkannte nicht ohne patriotischen Stolz in den Kugeln Paterles aus Warmensteinach. Hernach kam er auch auf die Gesellschaftsinseln und an den Hof der Königin Pomare. Diese prächtige dunkle fürstliche Dame war mit Perlenschnüren von grüner, rother, gelber und blauer Farbe fast ganz bedeckt. Es waren dabei welche aus Perlen von der Größe eines großen Hühnereies. Wie wuchs meinem Freunde der vaterländische Kamm, als er in diesem herrlichen Schmucke abermals Warmensteinacher Paterles erkannte! O mein Deutschland, wie bist du so reich! Die Kaiserin von Brasilien betet und die Königin von Otahiti schmückt sich aus dem irdenen Tiegel, der in diesem Ofen alte Glasperlen schmelzen läßt.“

„Von solcher Wichtigkeit sind diese Glasperlen!“ rief ich verwundert aus.

„Fragen Sie nur die speculativen protestantischen Herren von Nürnberg, die hier für ihre Rechnung arbeiten lassen, welchen Absatz sie davon nach Westindien, Südamerika, den Südsee-Inseln und Centralafrika haben, und Sie werden noch mehr erstaunen. Tag und Nacht wird in diesen vier Hütten gearbeitet, und doch ist nirgends Vorrath. Wie warme Semmeln gehen die Paterles ab. – Ganz unerklärlich bleibt die Verwendung der Paterles in der eigenthümlich kleinen Ringform. Dieser Artikel ist in der Levante, Berbern, Egypten, Ostindien und Südamerika so stark begehrt, daß man den jährlichen Absatz in dieser Sorte allein mit 1500 Centnern nicht zu hoch anschlägt, und 1000 Stück wiegen erst 1¼ bis 1 Pfund. Was machen die Leute dort damit? Jederfalls erstreben auch sie fromme und eitle, himmlische und weltliche Zwecke mit Glasringen, wie ihre Mitmenschen anderwärts mit Glasküglein. London, Paris, Leipzig, Frankfurt und Barmen beziehen meist nur kleine runde schwarze Perlen, deren Masse der Lava nachgeahmt ist, woraus dann an den genannten Orten Armbänder für die civilisirten Damen Europas fabricirt werden. Man darf den jährlichen Umsatz der vier Fabriken in Warmensteinach auf viele hunderttausend Gulden rhein. anschlagen.“

„Eine artige Summe!“ sagte ich mit voller Anerkennung, „zumal wenn man bedenkt, daß das Material nur wenig kosten kann.“

„Der Betrag ist kaum in Anchlag zu bringen. Meist entsteht diese ganze gläserne Herrlichkeit aus alten Glasscherben, die [209] im Lande für einige Kreuzer aufgekauft werden. Mittels Potasche und Soda werden sie eingeschmolzen, während welchen Processes durch andere Zusätze die Färbung bewerkstelligt wird. Bei einigen Farben können Glasscherben nicht verwendet werden, sondern zu diesen muß die flüssige Glasmasse aus Quarz, Flußspats, Land, Soda etc. erst erzeugt werden. Die Minerale werden in der Nähe gegraben, Soda und Potasche aus Unterfranken, letztere auch aus Ungarn bezogen. Die Masse wird erst in großen Tiegeln geschmolzen, aus diesen in frisch zuströmendes Wasser geschöpft, worin sie zwölf bis vierundzwanzig Stunden abgekühlt und dann in die kleineren Tiegel eingelegt wird, woraus die feinern Perlen einzeln, die ordinären in Rudeln zu zehn bis vierzehn Stück an eisernen Spindeln gedreht werden. Sie werden an der Luft abgekühlt, von Frauen an Maschen gezählt und dutzendweise zusammengebunden, worauf sie verpackt werden.“

Ich war während dieser Unterhaltung mit dem alten Manne, der mir immer interessanter wurde, aus der Hütte getreten und an seiner Seite einen lieblichen Pfad über die Sammtwiese einem engen Grunde zugewandert, der sich zwischen zwei steilen Bergen vor unsern Blicken aufthat und uns ein krystallklares Bächlein entgegen schickte. Am Eingange erblickte ich ein einfaches, mit grauen Brettern beschlagenes Haus von zwei Stockwerken und geringem Umfange, halb in Tannen und im Thalgrunde versteckt. Wir standen bald vor dem ärmlichen Gebäude. Mein Begleiter warf einen funkelnden Blick darauf. Mir schien es mehr als Zufall, daß er den Hut lüftete.

„Kennen Sie dieses Häuslein?“ fragte er mich plötzlich mit seinem heisern geheimnisvollen Tone.

„Nein!“ versetzte ich befremdet. „Was ist’s damit?“

„Ein Wirthshäusle ist’s, worin man sehr gutes Bier trinkt und äußerst schmackhafte Forellen speist. Es ist berühmt wegen dieser beiden Artikel.“

Das war wieder mit dem mir bekannten spöttischen Tone gesprochen.

„So kommen Sie herein!“ sagte ich herzlich, „und seien Sie mein Gast. Wir wollen Forellen essen und Bier trinken und uns dabei näher rücken. Wenn ich Ihnen nur halb so gefalle, wie Sie mir, so gehen wir als Freunde wieder heraus.“

Er blieb aber mit entblößtem Haupte und unverkennbarer Rührung in den altergrauen Zügen vor der schwelle stehen, faßte meine Hand und fragte mich bewegt: „Haben Sie nie vom Löchle gehört?“

Mir kam der Name nicht ganz unbekannt vor, doch fiel mir seine Bedeutung nicht bei, und ich fragte deshalb:

„Was hat das Wort zu bedeuten?“

„Es ist die landesübliche Abkürzung von Löchlein, Diminutiv von Loch, also kleines Loch. Sie haben doch auf einer deutschen Universität studirt. Waren Sie nicht ein Burschenschafter?“

„Ich hielt mich als Student von allen Verbindungen fern und studirte in den Jahren 1824 bis 1827 und zwar in Göttingen und Leipzig, wo damals die Blüthe der Burschenschaft vorüber war.“

„Das ist wahr. Nur die Jenaer und Erlanger Studenten aus jener Zeit wissen noch etwas vom Löchle zu erzählen.“

„Und doch kommen Name und Sache mir in die Erinnerung. So viel ich mich jetzt entsinne, ist es das Versteck, wo die Burschenschafter und Demagogen in den Jahren 1819 bis 1823, nachdem die seit 1815 von Jena aus gebildete allgemeine deutsche Burschenschaft von den Kalsbadischen Beschlüssen geachtet war, ihre heimlichen Zusammenkünfte hielten. Ich habe nie erfahren, wo dieses geheimnißvolle Haus lag.“

„Sie stehen davor. In diese einsame tiefe und schauerliche Bergschlucht in der Mitte Deutschlands, in dieses graue unscheinbare


Fig. 1. Duchenne de Boulogne.       Fig. 2. Künstlich Lachender.[1]

[210] Haus kam die Blüthe der deutschen wissenschaftlichen Jugend heimlich auf schwachbetretenen Gebirgspfaden von Jena und Halle an der Saale herauf, die unweit von hier über uns auf dem Berge entspringt, in der Nacht schweigsamer Tannenwälder, eine keusche, spröde Bergtochter. Ueber die Berge kamen diese herüber, und von Erlangen her wanderten andre am weißen Main herauf, in welchen auch dieses Bächlein fließt, wenn es erst in den rothen Main sich ergossen. Hier in dieser Stube saßen sie beisammen, die heißen, für Deutschlands Ruhm und Größe begeisterten Herzen, die noch für wahre Religion, für Treue und Glauben, für Tugend und Wahrheit, für Fleiß, Ordnung und Sittsamkeit, für eine keusche deutsche Wissenschaft und für freie Forschung in allen Gebieten derselben, für ein ehrliches Regiment und für den vernünftigen billigen Gesetzen schuldigen Gehorsam schwärmten. Hier hielten die Jenaer und Erlanger Burschenschaftsglieder ihre heimlichen Burschentage, wie die Heidelberger und Würzburger im Odenwalde, als der Herr Polizeiminister von Kamptz in Berlin die Burschenschafter als Majestätsverbrecher denuncirte, als die Ministerialconferenzen in Wien die Schlußacte vom 15. Mai 1820, den Hemmschuh der deutschen Geistesentwickelung, fertig machten, die Centraluntersuchungscommission in Mainz acht Jahre lang die deutsche studirende Jugend und ihre Lehrer belehrte, wie und auf welche Weise sie die Interessen des Vaterlandes zu fördern hätten.

„Sobald „die Mißverständnisse und Irrthümer“ über den Sinn des vielbesprochenen[WS 1] 13. Artikels der deutschen Bundesacte, die in den deutschen Ländern und namentlich unter der Verbindung der Burschenschaft auf den Universitäten obwalteten, so nachdrücklich in Wien, Berlin und Mainz zur Sprache kamen, und man von Köpenik aus, wo Burschenschafter in Masse in schwerem Gefängniß Geständnisse gemacht, immer stärkere Anklagen gegen den „verderblichen“ Geist der deutschen wissenschaftlichen Jugend erhob, wuchs die schwer verpönte Burschenschaft im Dunkel des Geheimnisses und der Wälder des Fichtelgebirges und des Odenwaldes reißend schnell. Und nun erst wurde zum Theil daraus, wessen man sie beschuldigt. Es ist wahr, in dieser Stube und draußen im Grunde sind Deutschlands politische Zustände einer scharfen, von Vaterlandsliebe und Jugendmuth, von stürmischer Begeisterung für eine der deutschen Bildung analoge staatliche, ausgesprochenen Kritik unterworfen worden. Freilich – freilich, es lief auch manche unreife Idee, manche hohle Phrase mit unter und die glühende Vaterlandsliebe ließ sie manche Thorheit sprechen! Mein Gott, aber auch welche flammende, welche erhabene Reden haben diese Wände vernommen!“

Wir waren unterdessen in die Stube getreten.

„Sie stehen an einer heiligen Stätte,“ fuhr der alte Mann feierlich fort, der mir in diesem Augenblicke sich um zwanzig Jahre verjüngt zu haben schien. Sehen Sie das Stammbuch der jungen redlichen herrlichen Männer um sich aufgeschlagen, die zum großen Theil in den Schlachten des deutschen Freiheitskampfes die Bluttaufe des deutschen Heldenthums erhalten, dann wenige Jahre später am unvergeßlichen Wartburgfeste die „überhand nehmende Neigung zu unfruchtbaren und gefährlichen Theorien“ auf drastische Weise documentirt hatten, und die nun hier den kühnen Gedanken aussprachen, wie solche Theorien, nach ihrer Meinung zum Heil Deutschlands und der Cultur, in die Praxis übersetzt werden könnten und müßten. Herr, Sie werden hier Namen lesen, würdig, in einem Pantheon der Menschheit zu glänzen, Namen, welche die Unsterblichkeit verdient hätten, wie irgend welche, die uns die Geschichte mit ihren heiligsten Segenssprüchen aufbewahrt hat, und die nun verhallt und verklungen sind, wie die Klage Ossians im Windsgeräusch. Ach, was ist aus ihren Trägern geworden? In den Schlachten der nordamerikanischen Union gegen die der kalten schlauen Krämerpolitik ungefügigen Rothhäute oder gegen die für die trockne Yankee-Weisheit nicht empfänglichen Mexicaner haben sie ihr edles Leben auf fremder Erde für eine fremde lügnerische Freiheit, die sie mit falschem Schimmer anzog, ausgehaucht, oder sie liegen gar in Afrika’s heißem Boden begraben, gefallen als französische Dienstknechte gegen die Bewohner der Berberei und des Atlas. Andre haben die Thränen zurückgedrängt und sich der höheren Staatsweisheit gefügt, Manche haben sich auch aufrichtig bekehrt und sind gute und treue Staatsdiener geworden. Was von diesen Namen noch lebt, ist nun alt und grau wie ich; ein leises Frösteln rinnt durch unsere Adern und ein ironisches Lächeln zuckt um unseren Mund, wenn wir die Steinmetzen der Harfensteine, diese Amarante, sich breitmachen sehen in diesen Landen und ihre zwölf Auflagen überzahlen.“

Er deutete mit der zitternden Hand auf die Tische, Thür- und Fensterbekleidungen. Da sah ich eine große Menge Namen eingeschnitten, alles Holz- und Täfelwerk war damit bedeckt. Ich las bekannte, ja berühmte Namen, aber ich nenne keinen, obgleich die besten davon die todter Männer sind. Ich las sie mit hoher Ehrfurcht. Sie gehören einer nun abgeschlossenen Periode der Geschichte an. Die Acten derselben können heute noch nicht vervollständigt werden, aber sie werden es einst, und die künftige Culturgeschichte Deutschlands wird auch von diesem „Löchle“ zu reden wissen. Damals sah nur ein deutscher Fürst, Carl August von Weimar, der Große, der „alte Herr,“ wie ihn die Gartenlaube so oft genannt hat, dem man jetzt das langverdiente Denkmal setzen wird, nur dieser eine Fürst sah klar genug, um den edlen, schönen Kern zu erkennen, der diesen Bestrebungen zu Grunde lag, und er war auch der einzige Fürst, der die großen hochfliegenden Träume der damaligen Jugend nicht geradezu verdammte und den verfolgten Jünglingen ein theilnehmender und helfender Beschützer blieb.

„Wann war wohl die erste Zusammenkunft der Burschenschafter hier?“ fragte ich meinen mir so lieb gewordenen Cicerone.

„Im Frühling 1818, als das Thal hier in üppiger Blüthe stand. Da kamen die prächtigen ehrlichen Burschen, voll von jungen Wartburgsideen, von Jena, Halle, Leipzig, Erlangen, Gießen auf einer heitern Burschenfahrt hier zusammen. Sie besuchten Jean Paul’s Geburtsstadt und die Orte, wo er gelebt und zum originellsten Dichter des deutschen Volkes aufgewachsen war, er, der die hohen heiligen Ideen der Freiheit mit glühender Seele ausgesprochen hatte, die sie nun mir glühender Seele als Thaten in’s Leben einführen wollten. Das Warmensteinacher Thal gefiel ihnen vorzüglich und das Löchle mit seinem Bier zumeist. Da war auch der unglückliche Sohn dieses Gebirges dabei, der mit Jean Paul Richter den gleichen Geburtsort hat, der beklagenswerthe Jüngling, der, dem finstern Geiste einer fanatischen Mystik verfallen, die unselige That beging, welche so großes Elend über Tausende seiner Brüder brachte, deren Folgen hemmend in die naturwüchsige Entwickelung des deutschen Geisteslebens eingriffen und ihr eine andere unerwartete Richtung gaben.“

„Sie meinen den unglücklichen Schwärmer Karl Ludwig Sand aus Wunsiedel.“

„Er hat den Beweis geliefert, daß jede Begeisterung für die heiligsten Güter des Lebens, Liebe, Vaterland, Tugend, Religion, wenn sie sich nicht eines klaren vernünftigen Zieles bewußt wird, zur unsittlichen Schwärmerei werden muß. Sand’s Geist hat sich auf ein Gebiet verirrt, wo noch nie Segen gesprossen ist, auf das der religiösen Mystik. Was er Religion nannte, ist jenes chamäleonische Wahngebilde, das den menschlichen Geist erhitzt und verwirrt, ihm die Schärfe der Vernunftschlüsse raubt und ihn zur unsittlichen That drängt, die er für ein Werk zur Ehre Gottes vollbracht hält. Keine Menschen werden dem ruhigen sichern Fortschritt der Geistescultur gefährlicher, als die religiösen Mystiker und Schwärmer, die doch gerade sie am meisten zu fördern wähnen. Darum kann man nicht genug auf die Verderblichkeit der modernen Amaranten-Schöpfungen hindeuten. Zum Glück ist die Schwärmerei der heutigen Herren Poeten eine gemachte, und das düster flammende Auge ist nicht vom Spiritus sanctus, sondern von einem andern erhitzt. Nur im kühlen Schatten der Vernunft gedeiht das wahre Heil des Menschengeschlechts. Rufen Sie die deutsche Jugend zu den Standbildern Lessing’s, Herder’s, Jean Paul’s, Friedrich’s des Großen und Joseph’s II. und machen Sie ihr begreiflich, was diese Männer in Wort und That erstrebten, und wenn sie den Geist derselben begreift, so hat Niemand Schlimmes von ihr zu fürchten.“

„Es ist ein eigenthümliches Schicksal der kleinen Gebirgsstadt Wunsiedel, daß sie einen so erhabenen Geist, wie Jean Paul, und einen unseligen Schwärmer, wie Sand, hervorbrachte, und das Thun und Treiben Beider zeigt, daß Deutschland seit einer Generation wieder zurückgegangen ist.“

„Nicht doch!“ lächelte mein Alter, „das ist nur scheinbar. Jean Paul war ein mächtiger Schritt vorwärts, Sand nur ein kleiner Schritt rückwärts. Das Löchle steht verödet, was darin einst verhandelt wurde, ist scheinbar alles vergebens gewesen; aber wie der Wind den leichten Samen der größten Gewächse weit von dannen und auf öde Felder führt, die sich dann mit fruchtbarem Grün überkleiden, so der geheimnißvolle Hauch des Geistes, der aus der abgeblühten Geistesarbeit den Samen pflückt und ihn der Nachwelt Überbringt. Ein anderes Geschlecht nimmt dann die Arbeit auf, wo wir sie [211] fallen lassen mußten; „denn Alles ist Frucht und Alles ist Samen.“ Glauben Sie mir, Lessing, Herder, Jean Paul, Carl August, König Friedrich und Kaiser Joseph haben nicht vergebens gelebt; auch nicht die jungen Männer, die hier sprachen und sangen, obgleich es ihren Ideen an der nöthigen Reife fehlte und ihre Namen vergessen sind. Auch diese graue Hütte ist eine Entwickelungsstufe des deutschen Geistes, der Weltcultur. Auch hier versuchte die Puppe den Sarg zu durchbrechen; aber die jungen Flügel waren noch nicht stark genug, ihn auf die Höhen zu tragen, von wo das Leben ganz zu überblicken ist. Vergessen Sie aber nur nicht, daß die Welt ein Ganzes ist, und in diesem All kein Sonnenstäubchen verloren geht.“

„Sie saßen also selbst mit unter den Burschenschaftern in diesem Hause?“

Sein blaugraues Auge blitzte.

„Freilich!“ entgegnete er wieder im geheimnißvollen Tone. „Auf der Wartburg war ich auch dabei.“

„Und Sie scheinen sich nicht zum Staatsdienst bequemt zu haben.“

„Nicht doch. Der paßt für mich nicht. Ich muß ein armer Mann bleiben.“

„Darf ich nicht Ihren Namen erfahren? Er wird mir unvergeßlich sein.“

„Wozu ein Name?“

„So wollen Sie mich nicht wissen lassen, wer Sie sind?“

Er sah mich eine Weile ruhig an. Dann spielte das ironische Lächeln stärker als zuvor um seine Lippen.

„Ich bin Ulrich von Hutten’s Erbe,“ sagte er spöttisch. „Als er starb, hinterließ er mir all’ seine Habe, sein Schwert und seine Feder. Ich habe sie jetzt in einem Schreine wohl verschlossen. Ich bin’s auch, der Martin Luthern die Nägel reichte, als er die Theses gegen den Ablaßkram an die Kirchenthür in Wittenberg schlug. Ich habe noch einige von diesen Nägeln; sie liegen bei Hutten’s Schwert und Feder.“

Es war Nacht geworden. Mit leisem, halb ironischen, halb wehmüthigen Lachen verlor er sich vor meinen Augen im Föhrenwalde.

War der Mann ein Wahnsinniger oder ein Fabulist? Ich habe nie seinen Namen erfahren können, so sehr ich auch danach forschte.

Am andern Morgen stand ich auf der Kuppe des Ochsenkopfs und schaute rückwärts in das sonnig überglänzte Frankenland.

Dort unten in der Eremitage bei Bayreuth hatte Friedrich der Einzige vor hundert Jahren gewohnt, im Lande seiner Väter, dort hatte Voltaire Komödie gespielt, dort hatte Jean Paul mit Frau Rollwenzel disputirt. Weiter unten sind Friedrich Rückert und August Platen geboren. Zwar liegt Redwitz nicht weit von Wunsiedel und Gößweinstein nicht weit von Nürnberg. Aber getrost! Jene Saat gesäet von Gott wird doch ihre Früchte tragen.

Ludwig Storch.




Ein Schatz des Heilmittelschatzes.
Die örtliche Faradisation.
(Zweiter Artikel.)

Herr Dr. P. Niemeyer hat in Nr. 36. der „Gartenlaube“ Jahrg. 1856. eine kurze klare Darstellung des Wesens und der Nutzbarkeit der von Duchenne erfundenen örtlichen Elektrisirungsmethode gegeben. Wir nehmen den Faden auf, wo unser College ihn fallen ließ, um den wißbegierigen Lesern der Gartenlaube theils an einigen Einzelthatsachen die Methode selbst (und deren verschiedene Früchte) zu veranschaulichen, (wozu wir die von Duchenne selbst gefertigten Photographien benutzen) – theils um an der Lebensgeschichte des Entdeckers unsern Lesern ein Beispiel zu erzählen, in welcher Weise sich heutzutage in der Naturwissenschaft die fruchtbringenden Leistungen und die neuen Entdeckungen entwickeln. In der That, sie werden nicht (wie vielleicht Mancher glaubt) aus dem Aermel geschüttelt oder mit leichter Mühe durch den Zufall gewonnen. Jahre lang muß der Forscher seine Aufmerksamkeit und Mühe auf den einen Punkt richten, wo er eine Goldader verborgen glaubt; Stück für Stück muß er das Material aus dem rohen Gestein herausarbeiten und den Blick durch ununterbrochene Beschäftigung mit demselben geschärft haben, ehe es ihm gelingt, den „Lichtblick“ des geschmolzenen Metalls zu sehen und das gefundene Naturgesetz in wenig Worten zu formuliren: so leicht ausgesprochen und anscheinend so einfach, daß wenige Zeit nachher alle Welt denkt, es sei so leicht, daß es sich von selbst verstehe.

Ein solcher Forscher, der mit seltener Ausdauer einem Zweige der medicinischen Physik über zwölf Jahre lang sein ganzes Thun und Denken hingegeben hat und jetzt die Früchte dieser Thätigkeit in überraschender Reichhaltigkeit sammelt, ist Dr. Duchenne zu Paris, „Duchenne de Boulogne,“ von seinem Geburtsorte am Pas de Calais und zur Unterscheidung von andern Namensvettern genannt.

Die Lebensgeschichte dieses Mannes ist einfach zu erzählen. Er ward 1807 geboren, zeichnete sich auf der Gelehrtenschule durch leichte Auffassung und Sinn für ernste Studien aus, bestimmte sich deshalb für das gelehrte Fach und zwar aus Vorliebe zur Naturwissenschaft (gleich Tausend anderen) für die Heilkunde. Er studirte zu Paris (1824), promovirte rasch (1831), um eine Jugendgeliebte heirathen zu können, und eilte in seine Heimath zurück, wo er einige Jahre als Arzt sehr thätig war, besonders während zweier Cholera-Epidemien. Allein das Prakticiren in einer Provinzialstadt konnte seinem Wissensdrange nicht genügen. Er gab es auf und wendete sich nach Paris, um noch einmal von Neuem „Student zu werden.“ Vier Jahre lang ging er unermüdlich aus einer Vorlesung in die andere, von einer Klinik zur andern, in jede öffentliche Sitzung der gelehrten Körperschaften, secirte und experimentirte etc. Endlich concentrirte er sein Interesse auf das damals sehr roh betriebene und von den Gelehrten fast mißachtete, den Charlatanerien nahe gestellte Fach der medicinischen Elektricität. Nicht zufrieden, die gebräuchlichsten Apparate aus Frankreich, Deutschland und England zu beziehen; fing er selbst an, dergleichen zu bauen. Er richtete sich ein Atelier in seiner Wohnung ein, und ging zu verschiedenen Handwerkern in die Lehre, um den Selbstgebrauch der Werkzeuge zu lernen. Endlich, nachdem fast eben soviel Jahre der Arbeit und der Prüfungen an Kranken und in Krankenhäusern verstrichen waren, erklärte er: „ich habe eine zukunftsreiche Entdeckung gemacht; es gilt jetzt nur zu wollen und auszuharren.“ Ein abermaliger Zeitabschnitt von Beobachtungen und Studien folgte nach; immer experimentirend, immer niederschreibend. Aber erst im zehnten Jahre dieser neuen Studien erschien Duchenne’s erste Veröffentlichung „über seine neue Methode der Elektrisirung, die locale Galvanisation genannt,“ bestehend in Leitung des elektrischen Stromes auf ganz bestimmte einzelne Muskeln. Schlag auf Schlag folgte nun eine Reihe von Denkschriften, jede voll von neuen Thatsachen und Beobachtungen, welche mehr als ein ganz neues Gebiet der theoretischen und praktischen Heilkunde eröffneten. Sie folgten sich bis heute so rasch, daß die gelehrten Körperschaften Frankreichs, denen einige davon (dem landesüblichem Gebrauche gemäß) überreicht wurden, zum Theil nicht einmal mit der Berichterstattung fertig werden konnten. Sie gingen, durch die Liberalität, mit welcher Duchenne jedem Einheimischen oder Fremden ohne Geheimnißkrämerei dieselben mittheilte, rascher in das ärztliche Publicum über, als in die Tagesordnungen der Gelehrtensitzungen. Ja, als in einer der höchstgestellten Körperschaften ein plumper Versuch gemacht wurde, den aufstrebenden Versucher auf eine vornehme Weise todt zu machen, so folgten, gleichsam als Antwort, fast unmittelbar von den medicinischen Akademien in Paris und Brüssel die ehrenvollsten Preisvertheilungen an denselben. Ende 1852, also binnen zwei Jahren, zählten wir schon sechzehn Originalarbeiten Duchenne’s und zehn Mittheilungen anderer, französischer, belgischer und deutscher Aerzte über sein Verfahren und seine Entdeckungen. Jetzt ist deren Zahl wohl verdoppelt. Außerdem faßt ein großes Werk Duchenne’s (deutsch bearbeitet von Dr. Erdmann, Leipzig 1856.) seine bisherigen Arbeiten zusammen. Allenthalben entstehen jetzt sogen, „elektrische Heilanstalten,“ in welchen, auf Duchenne’s Sätze fußend, geheilt und beobachtet wird. Namentlich in Deutschland, wo inzwischen und unabhängig von Duchenne durch die berühmten, seinen Untersuchungen des Berliner Professors Dubois Reymond [212] die Bedeutung der elektrischen Vorgänge im Haushalt des lebenden Körpers eine allgemeinere Würdigung erfahren hat.

Was Duchenne’s Persönlichkeit anlangt (s. Fig. 1.) so hat er – abgesehen von der französischen Urbanität und Pariser Eleganz – ganz auffällig ein deutsches Aeußere: hellblaue sanfte sinnende Augen, blonde seidenweiche Haare, eine von vielem Denken zeitig kahl gewordene Stirn, eine kurze behäbige dicke Figur mit rundem Doppelkinn. Von dem prätentiösen, schauspielerhaften Wesen der Mehrzahl seiner Fachgenossen zeigt er keine Spur. Seine Sprache ist sanft; seine Geduld gegen andere musterhaft. Jeden Morgen sieht man ihn Stunden lang in einem der größeren Pariser Spitäler arme Kranke unentgeltlich elektrisiren und den Hinzutretenden französischen oder fremden Aerzten die Grundsätze und Kunstgriffe seiner Methodik mittheilen. Den fremden Aerzten widmet er oft zwei und drei Nachmittagstunden. Er prakticirt gar nicht, außer in dem einen Fache und behandelt Jahr aus Jahr ein Hunderte unentgeltlich in zeitraubenden Sitzungen. – Wir überlassen unsern Lesern, Vergleiche mit dem geheimnißkrämerischen und wunderthäterhaften Gebahren vieler unserer einheimischen Elektrisirer und Aerzte (sogar solcher, die nur mit Duchenne’s Kalbe pflügen) selbst zu ziehen.

Fig. 3.      Rechts Lachender und Links Weinender.

Um die Verfahrungsweise Duchenne’s an einem in Deutschland noch weniger bekannten Beispiel zu erläutern, erwählen wir die von ihm gelehrte örtliche Faradisation einzelner Antlitzmuskeln. Diese Operation lehrte, daß jeder dieser Muskeln bei seiner Zusammenziehung (sie geschehe nun willkürlich, wie beim Mimen, oder unwillkürlich wie eben durch Elektricität) bestimmte Gemüthsaffecte ausdrückt. – Dieses Ergebniß, die scharfe Nachweisung, daß die mimischen Gesichtsausdrücke auf bestimmten mechanischen Vorrichtungen beruhen – die Méchanique de la physiognomie, wie es Duchenne nennt, hat in Paris nicht nur unter Aerzten, sondern namentlich unter darstellenden Künstlern (wie Maler, Bildhauer, Schauspieler) mit Recht großes Aufsehen erregt. Wir geben unsern Lesern hier einige Proben davon.

Duchenne wählte zu diesen Darstellungen ausdrücklich einen alten Mann mit ganz geist- und ausdruckslosen Zügen. „Diesen mache ich Euch,“ sagt er, „nach Belieben geistreich, gedankenvoll, schwermüthig, heiter, wüthend, verzweifelnd etc.,“ – natürlich nur im Gesichtsausdruck! – In Fig. 2. sind die Spitzen der den elektrischen Strom (und zwar ist der primäre Inductionsstrom erforderlich) leitenden Conductoren (der Stromgeber oder Rheophoren), nachdem sie vorher mit feuchter Thierblase überzogen worden, auf die sogen. großen Jochbeinmuskeln (zygomatici majores) beider Gesichtshälften aufgesetzt, deren Zusammenziehung den Ausdruck des herzlichsten Lachens gibt, obschon es dem armen Teufel vielleicht gar nicht so zu Muthe ist; denn die Empfindung ist nicht angenehm.

Fig. 4.       Sich Entsetzender.

Nun könnte aber irgend ein Skeptiker sagen: „der Mann ist abgerichtet; er lacht Euch zu gefallen, um dafür von Duchenne bezahlt zu werden!“ Zu dessen Widerlegung dient die 3te Figur. Hier ist der Stromgeber auf dem großen Jochbeinmuskel der rechten Wange stehen geblieben, hingegen der der linken Wange ist höher hinauf auf den kleinen Jochbeinmuskel placirt worden, welcher beim Weinen thätig ist. Der Mann lacht rechts und weint links! geneigter [213] Leser, bedecke abwechselnd eine der Gesichtshälften mit einem Blatt Papier, und Du wirst Dich davon überzeugen! – Man sagt, daß Garrick diese Kunst besessen habe, rechts zu weinen und links zu lachen: sie ist jedenfalls selten. Denn merkwürdiger Weise ist unser Wille nicht im Stande, einen einzelnen anatomischen Muskel herauszufinden, sondern wir können nur Bewegungen ausführen, die wir uns vorher bildlich in der Phantasie vorgestellt haben, und hierzu bedienen wir uns dann gewöhnlich einer Gruppe von mehreren zusammenwirkenden Muskeln (z. B. beim Weinen auch noch des Augenbrauenmuskels u. a. m.).

In der 4ten Figur sehen wir den breiten dünnen Hautmuskel, welcher auf beiden Seiten des Halses beim Menschen herabläuft und bei den Anatomen den wohlklingenden Namen Platysma myoïdes führt, mittels breitaufgelegter und mit nassem Tuch umwickelter Stromgeber in Zusammenziehung gebracht. Dadurch wird nicht nur die Haut am Halse gerunzelt, sondern auch die Kinnlade herabgezogen und der Mund geöffnet, wie ihn Staunende, Erschreckende, sich Entsetzende aufsperren. Nur wenige feinbeobachtende Maler haben jene Falten am Halse bei Darstellung dieser Gemüthsaffecte mitausgedrückt. [Wir erinnern uns nebenbei, daß der Mensch außer diesem Hautmuskel nur noch einen dergleichen besitzt, welcher die Stirn runzelt, die Kopfhaut hin- und herzieht und die Haare sträuben macht, wenn uns „die Haut schaudert.“ Viele Thiere dagegen haben bekanntlich eine solche feine Muskelschicht unter der gesammten Körperhaut und können daher, wie es z. B. die Pferde fleißig thun, über die ganze Haut schaudern.]

Fig. 5.       Gefolterter.

In der 5ten und letzten Figur ist zu der ebenbeschriebenen Erregung des Halshautmuskels die Faradisirung des Augenbrauenrunzeler’s (Corrugator supercilii) hinzugefügt,[2] welcher letztere Muskel bekanntlich den Ausdruck einer tiefschmerzlichen Gemüthsstimmung hervorbringt. (Gewöhnlich in Gesellschaft mit anderen Gesichtsmuskeln, z. B. mit dem kleinen Jochbeinmuskel, Fig. 3., sobald wir aus Schmerz weinen.) – Diese Verbindung der Thätigkeiten beider Augenbrauen- und Halshautmuskeln (nach einer trefflichen, von Nadar in Paris gefertigten Photographie) gibt dem Antlitz den Ausdruck eines mit dem höchsten Entsetzen gepaarten Schmerzes, wie z. B. bei einem Gefolterten. Zur Beruhigung für zarte Leserinnen fügen wir hinzu, daß unsre Versuchsperson von solchen grausamen Qualen gar nichts fühlt, sondern nur eine gewisse unangenehme Empfindung im Gesicht spürt, welche nach Entfernung der Stromgeber sofort verschwindet. Denn dies ist der große Vorzug der Faradisation, daß sie, obwohl ein ungeheuer mächtiges Reizmittel, doch nach Unterbrechung der Einwirkung, augenblicklich einen schmerzlosen Zustand hinterläßt.

Die hier gegebenen Beispiele genügen, um die Hauptsache der Duchenne’schen Methode zu erläutern, nämlich die genaue präcise Localisirung der elektrischen Einwirkung auf bestimmte Muskeln, und so auch auf bestimmte andere Körpertheile, z. B. Nerven (und deren Verbreitungsgebiet), Knochen, Hautstellen, und sogar auf verschiedene Eingeweide. Diese Localisirung nun eines Mittels, das bald als Reiz- bald als Beruhigungsmittel, bald als Lähmungs- bald als Krampf-widriges Heilmittel benutzt werden kann, mußte natürlich für die Zwecke der praktischen Medicin eine reiche Ausbeute gewähren; sowohl für die Erkennung von Krankheiten, als für die Heilung derselben. (S. den Niemeyer’schen Aufsatz, Gartenlaube 1856. Nr. 36.) In ersterer Hinsicht, die Diagnose betreffend, ist namentlich im Gebiete der Lähmungskrankheiten dadurch ein ganz neues Licht aufgegangen. Viele Uebel [214] von denen man bisher etwa blos wußte, daß das oder jenes Glied gelähmt sei, werden jetzt mittels Faradisirens als beiden eines oder weniger einzelner Muskeln erkannt, mancher sogen. Krampf als Lähmung und umgekehrt. So z. B. der heutzutage so allgemeine Schreibekrampf, die Quelle der sogen. schweren Hände und die Marter vieler Schreibstubenbeamten, welche dadurch oft sogar in ihrem Lebenserwerb ernstlich bedroht werden. Bei diesem Uebel (das übrigens in anderer Form auch bei Geigen-, Flöten- und Klavierspielern, Nähterinnen, Schuhmachern, Ciseleuren und anderen mit der Hand feine Sachen arbeitenden Personen vorkommt und in einem Versagen der Finger bei andauernder Berufsanstrengung beruht), – bei dem Schreibekrampf, sage ich, zeigt die Faradisirung bald eine Lähmung des Zeigefingerbeugers, bald des Zeige- und Mittelfingerstreckers, bald des Daumenballenfleisches (oft mit abgestorbenem Tastgefühl der Zeigefingerspitze); erst durch die Willensanstrengung, welche Patient macht, um diese Mangel zu überwinden, entsteht der Krampf, welcher entweder die Fingerspitzen nebst Schreibefeder nach der Hohlhand zusammenkneift, oder aber die Finger plötzlich auseinander gehen macht, so daß die Feder dem Schreibenden aus der Hand fällt.

Ganz neuerdings hat Duchenne die Quelle gewisser Lätsch- und Pferdefüße (d. h. Verdrehungen des Unterfußes) in einer Lähmung und Atrophie gewisser Unterschenkelmuskeln finden gelehrt, und damit zugleich einen Weg zur Heilung oder Linderung dieser Uebel aufgefunden, welche bisher meist nur mit plumpen und schweren, den Schwächezustand des kranken Beines nur vermehrenden Maschinen behandelt wurden.

Manche der Heilerfolge, welche Duchenne und seine Nachfolger auf diesem neuen Wege erzielt haben, grenzen an das Wunderbare und gewinnen namentlich den wissenschaftlichen Beobachter durch die Schärfe der Diagnose und die sichere Einfachheit der darauf gegründeten Behandlung. Doch wollen wir gleich hinzusetzen, daß dies nur eine Minderzahl von Fällen ist. Eine Menge von Lähmungen, Zusammenziehungen und anderen Krankheiten werden auch fernerhin noch ungeheilt bleiben, weil sie eben für die elektrische Behandlung gar keinen Anhalt darbieten. Das Publicum lasse sich vor zu großen Erwartungen von dieser Heilmethode warnen; es traue nicht Dem, der ohne Unterschied alle möglichen Krankheiten zur elektrischen Behandlung übernimmt und mit kecker Zuversicht Heilungen verspricht. Jede industrielle Ausbeutung der örtlichen Faradisation ist entschieden gegen den Geist Duchenne’s und seiner wissenschaftlichen Nachfolger.
Hermann Richter.




Die Rose.
Von L. W–t.

Es hat einen eigenthümlichen Reiz, beim Nahen des Frühlings an die Rosen zu denken. Mag Kälte und rauhe Witterung sie noch in Haft halten, um so inniger blicken wir im Voraus auf die Zeit, wo der wachsende Sonnenstrahl ihre Banden lösen und sie zur Freiheit führen wird in unsere Gärten.

So wollen wir denn auch, indem wir nur erst hinter den erwärmten Fensterscheiben die Rose blühen sehen, uns doch schon an die Gartenplätze versetzen, wo wir nach einigen Monaten unsere Lieblinge wiederfinden und an ihrer Gestalt, an ihrer Farbe, an ihrem Duft uns erfreuen werden. Niemand ist davon ausgeschlossen. Hat er nicht einen stattlichen Garten, so besitzt er doch wohl ein kleines Plätzchen, wo er die Rose pflegte, oder es ist ihm der Zutritt vergönnt in die Räume, in welchen sie blüht. Und ist sie nicht auch erfreuend in ihrer Einfachheit, wenn wir sie finden am Feldrain oder am Waldrande, am Bergesabhange oder auf felsigem Vorsprunge?

Fast allgemein verbreitet ist die Rose über die ganze Oberfläche der Erde. Nicht allein über ganz Europa, auch über die Länder Asiens, Afrika’s und Amerika’s dehnt sie sich in ihrer natürlichen wilden Form und Einfachheit aus. Nur Australien hat keine Rose im natürlichen Zustande, und auch in der Nähe des Aequators wurde bis jetzt keine wilde Rose gefunden.

Wann die wilde Rose zuerst eine Bewohnerin des cultivirten Bodens ward? Wann die Menschenhand zuerst sie pflegte und veredelte? Schon 2000 Jahre vor Christi Geburt bestanden die berühmten Gärten Babylons, – möglich, ja wahrscheinlich, daß in ihnen auch die Rose duftete, da ja Persien, im Alterthum schon bekannt durch seine Rosen, das Nachbarland war.

Ob die Bibel, das älteste Buch der Welt, für das Alter der Rose Etwas beweisen könnte? Wohl steht in ihr geschrieben: „lasset uns Kränze tragen von jungen Rosen, ehe sie verwelken,“ – „gehorchet mir, und wachset wie die Rose am Bächlein gepflanzt.“ Ebenso finden wir erwähnt die „Rose von Saron,“ die „Rose von Jericho.“ Aber war diese Rose die Rose des heutigen Tages? Wenigstens die „Rose von Jericho“ ist es nicht, sie hat mit der unsern fast keine Aehnlichkeit.

Homer, der älteste classische Dichter (ob er im zehnten, neunten oder achten Jahrhundert vor Christi Geburt lebte, ist noch nicht ausgemacht) braucht die Rose bildlich in seinen Dichtungen. Sappho (600 Jahr vor Christus) nannte die Rose „die Königin der Blumen.“

So alt schon ist diese, auch bei uns noch gebräuchliche, Benennung. Aber Vieles ging für uns verloren von den schönen Gebräuchen, mit denen man sonst die Rose auszeichnete und ehrte. Griechen und Römer schmückten sich mit Blumen bei ihren Festen, bei ihren Mahlzeiten, bei ihren Opfern, und die Rose stand da immer obenan. Der Venus, dem Amor, der Aurora war sie geweiht, ebenso dem Harpokrates, dem Gott der Verschwiegenheit.

Durch letzteren Umstand wurde wahrscheinlich auch im nördlichen Europa der Gebrauch eingeführt, daß bei gesellschaftlichen und anderen Versammlungen eine Rose an der Decke hing, – zum Zeichen, daß Jeder zu schweigen habe über Alles, was hier gesprochen wurde und vorging. – Größtenteils war es die weiße Rose, die man zu diesem Gebrauche verwendete.

Einfache, ehrwürdige Menschen, ihr gehet still vorüber an unserm Auge noch heute! Keinen Handschlag, keinen Eid, keine Unterschrift mit Siegel brauchtet ihr, um euch zu verpflichten zur Verschwiegenheit. So lange die weiße Rose über euern Häuptern schwebte, galt euch jedes Geheimniß als unverletzlich. Mochten es ernste Berathungen sein über das Wohl des Vaterlandes, oder mochte der Weinbecher kreisen in Lust und Freude: das geschenkte Vertrauen wurde unter der aufgesteckten Rose nicht verletzt.

Auf uns ist nur das Wort noch gekommen: „Freund, ich vertraue es Ihnen sub rosa.“ Wie es damit steht, weiß Jeder, – es wird leicht hingenommen, in den Wind geschlagen, als halbe Erlaubniß geachtet, daß man das Anvertraute allenfalls gegen Diesen und Jenen ausplaudern dürfte.

Nannte die Dichterin Sappho die Rose „die Königin der Blumen,“ so fehlte es auch nicht an andern griechischen Dichtern, welche die Rose ehrten durch Wort und Lied. Vorzüglich that dies der heitere Dichter Anakreon, (lebte 530 Jahr vor Christo) welcher in seiner 51. Ode sagt:

Nebst dem kranzgeschmückten Lenze
Sing’ ich dich, o holde Rose.
Auf, Geliebte, hilf mir singen!
 u. s. w., u. s. w.

Aber nicht nur die Griechen, auch die Römer stellten die Rose hoch in Wort und Lied. Häufig erwähnt Virgil sie in seinen Werken, so im Anfange des fünften Hirtengedichts, wo er die blasse Narde der erröthenden Rose gegenüberstellt. An anderm Orte rühmt er die Rosen von Pästum, wo dieselben auch im Herbst noch blühten, – obgleich Botaniker, welche Pästum besuchten, dies nicht so fanden. – Auch Cicero, Ovid, Martial, Plinius, Horaz sprechen von Rosen, – und war der Verkauf von Blumen überhaupt, so war besonders auch der Verkauf von Rosen in die Hände der schönsten Mädchen gelegt und mehrere Namen dieser Mädchen wurden durch die Gedichte der Sänger unsterblich.

Einige Schriftsteller behaupten, die Römer hätten ihren Geschmack an dieser Blume den Egyptern verdankt. Diese nämlich sendeten während der ersten Jahrhunderte der Republik alljährlich bedeutende Massen dieser Blume nach Rom. Zum Uebermaß wurde hier die Liebe zur Rose unter der Regierung des Augustus und der nachfolgenden [215] Kaiser. Auf Rosenblättern nahmen die Römer ihre Mahlzeit ein, streuten sie auf Lager und Fußboden ihrer Gastzimmer, und Suetonius erzählt vom Kaiser Nero, daß derselbe vier Millionen Sesterzen (nach unserm Geld mehr als 200,000 Thaler) verwendet habe, um für ein Fest den Rosenbedarf zu beschaffen.

Nach dem Falle des römischen Reiches fiel bekanntlich auch die Welt in Barbarei, und man bekümmerte sich weder um Rosen, noch um andere Blumen. Als aber die verwüstenden Kriege aufhörten, als die Segnungen des Friedens Gewerbe- und Ackerbau hoben, da hob sich auch wiederum der Gartenbau und mit ihm die Blumencultur. Karl der Große, im Anfange des neunten Jahrhunderts, bezeugt seine Vorliebe für die Rose. Er verlangt, daß sie in seinem Garten gezogen werde. Wie bezeichnend ist das für den Mann, der ein Reich erbaute groß und herrlich, Städte gründete und Dome schuf, – wie bezeichnend für das tiefe, sinnige Gemüth des Gewaltigen, Tapfern, Siegreichen! –

Auch in Italien kam sie dann wieder zur Bedeutung, und einige Jahrhunderte lang war es Gebrauch, daß der Papst eine goldne Rose weihte und sie dem Monarchen eines Staates als ein Zeichen seines besonderen Wohlwollens zusendete.

Ebenso wird in Persien und im ganzen Orient die Rose hoch geehrt. Hier tritt neben der poetischen Stellung, welche ihr die Dichter – gewöhnlich in Verbindung mit der Nachtigall – anweisen, die schöne Blume zugleich in das praktische Leben des Handels und Verkehrs. Die Rose nämlich wird in großen Mengen gezogen des Rosenwassers wegen.

Ansprechend ist die Sitte, durch welche man die Rose in vielen Gegenden Ungarns ehrt. Vornehme Damen nämlich gehen mit edeln Rosenreisern in der Wald oder auf ihre einsamen Spazierplätze und oculiren da die wilden Sträucher.

In Holland stand Tulpe und Hyacinthe stets höher als die Rose. Und doch darf man nicht unerwähnt lassen, daß gerade die schönste aller Rosen, die Moosrose, aus diesem Lande zuerst nach England eingeführt wurde.

In Frankreich genoß die Rose allezeit ein hohes Ansehen. An und für sich schon ist dieses Land reich an dieser Blume, und es kommen in ihm nicht weniger als neunzehn Species wildwachsend vor. Unter ihnen ist die rosa gallica die hauptsächlichste. Auch in Frankreich wird die Blume in Massen gezogen, um Rosenwasser zu bereiten. An Dichtern aber, die die Rose zum Gegenstande ihrer Lieder machten, fehlte es hier ebenfalls nicht, und wir erwähnen in dieser Beziehung nur Bernhard, Malesherbe, Saint Victor, Roger.

Bei der Rosencultur Frankreichs gedenken wir noch Einiger der berühmten Rosenzüchter, und nennen besonders Bibert und Laffay. Der Erstere gründete im Jahre 1815 sein Etablissement in der Nähe von Paris und wendete sich einige Jahre später nach Angers, wo das Klima für die Rosenzucht günstiger ist. Wir unterlassen hier, die Sorten zu nennen, welche durch Herrn Bibert in’s Leben traten. Nicht minder glücklich ist in der Rosenzucht Laffay gewesen. Sein Wohnsitz ist zu Bellevue, einige Meilen von Paris. Hier lebt er, umgeben von Rosen und Kastanienbäumen, in seinem Garten, welcher eine weite, herrliche Aussicht gewährt. Sowohl Bibert als Laffay sind durch Cultur der Rosen sehr reich geworden. Seit 1850 übergab Bibert sein Etablissement an seinen ersten Gehülfen Robert. Viele, zum Theil sehr schöne Sorten, namentlich Moosrosen, wurden von Robert in den Handel gebracht und waren jedenfalls noch Pfleglinge des frühern Besitzers dieses Etablissements. Laffay bewohnt noch sein schönes Grundstück Bellevue und hat die Rosenwelt mit bewundernswerthen neuen Sorten bereichert, – besonders mit neuen Moosrosen. Uebrigens müssen wir noch der Rosen im jardin du Luxembourg zu Paris gedenken, – unstreitig die schönste Rosensammlung in Frankreich, aus welcher aber keine oder nur wenige in den Handel kommen.

Auch England hat für diesen Culturzweig große Etablissements, und die Zahl der Rosenliebhaber Englands ist gegenwärtig so überaus groß, daß das Verzeichniß sehr stark werden müßte, wenn wir auch nur Diejenigen anführen wollten, welche vorzügliche Sammlungen besitzen. Besonders seit dem Jahre 1829 erhob sich die Rosencultur in England sehr hoch. Im genannten Jahre nämlich erschienen in Frankreich Kataloge, welche schon über 2000 Varietäten beschrieben. Das reizte die Engländer zur Nacheiferung und der Erfolg davon ist bewundernswerth. Daß die Rose in früherer Zeit in England schon eine Rolle spielte, ist bekannt aus den Kriegen der Häuser York und Lancaster – dem „Kriege der Rosen.“ – Von Dichtern wurde diese Blume auch hier gepriesen und dasselbe war der Fall auch in Deutschland. Wohl hunderttausend gute und schlechte Gedichte, dargebracht der Königin der Blumen, besitzen wir. Hinsichtlich der Cultur der Rose müssen wir ebenfalls Einiges erwähnen, was in Deutschland der Beachtung verdient. Früher waren die Sammlungen zu Cassel berühmt, jetzt wird im Park bei Coburg die Rose großartig gepflanzt und gezogen und im wahren Sinne des Wortes heißt dieser Park „Rosenau.“ Ein Gleiches gilt von der Pfaueninsel bei Potsdam, wo der König Friedrich Wilhelm III. ein großes Rosarium anlegen ließ. Mit Liebe und Sorgfalt nimmt sich hier der Hofgärtner Fintelmann der Rosenpflege an. Auch Düsseldorf war berühmt seiner Rosensammlungen wegen, und gegenwärtig findet man in den Gärten der Herren Deppe zu Witzleben bei Charlottenburg, und bei Herrn Herger zu Köstritz (berühmt auch wegen seinen Georginen) reiche, großartige Sammlungen, aus welchen der Verkauf schöner Sorten sich über ganz Deutschland erstreckt.

Um noch einmal zurückzukommen auf die Dichter aller Nationen, welche die Rose besungen haben, so müssen wir sagen, daß gerade ein Deutscher die Rose verherrlicht hat wie sonst Keiner. Ernst Schulze war’s in seiner „bezauberten Rose,“ und wir können gegenwärtigen Artikel nicht schöner schließen, als wenn wir aus dieser reichen, romantischen Dichtung einige Strophen wiederklingen lassen.

Und horch, er singt, wie leis’ aus tiefen Keimen
In sichrer Nacht der Rose Kelch sich webt,
Und dicht umhegt von grünen Blättersäumen
Vom frischen Quell der künft’gen Düfte lebt.
Und wenn auch schon in ihren engen Räumen
Die reiche Form sich üppig drängt und hebt,
Doch still der Geist, von Lust und Leid geschieden,
Noch schlummernd ruht in unbewußtem Frieden.

Doch wenn der Lenz mit seinem Wehn und Wallen,
Mit seiner Lust durch Erd’ und Himmel dringt,
Wenn weit umher das Lied der Nachtigallen,
Der Biene Flug, der Quelle Rieseln klingt,
Wenn Blüthen rings entkeimen, blühn und fallen,
Und jede Nacht den reichen Schmuck verjüngt,
Dann fühlt auch sie in ihrer dichten Hülle
Der Hoffnung Lust, des Lebens sel’ge Fülle.

Und wenn gemach die Hüllen sich entfalten
Und sich mit Gold des Busens Tiefe füllt,
Blickt heller stets durch seines Kerkers Spalten
Mit frischer Lust das hold verschämte Bild,
Und freut sich still der wechselnden Gestalten,
Die bunt umher die neue Welt enthüllt.
Ihr frühster Duft, des Athems erstes Weben
Ist Liebe schon, und wähnt, er sei nur Leben.

Und freier jetzt vom hellen Licht umwaltet,
Und inniger durchströmt vom blauen Wehn,
Läßt reicher stets und üppiger entfaltet
Der volle Kelch die irren Tiefen sehn.
So scheint, weil stets ihr Glanz sich neu gestaltet,
Uns aus der Lieb’ erst Liebe zu entstehn;
Denn wandelbar mit ewig bunter Welle
Rinnt unversiegt des Lebens heil’ge Quelle.




Blätter und Blüthen.

Herzog August von Gotha-Altenburg. Den Lesern wird der in Nr. 7. d. Bl. enthaltene Artikel über Herzog August gewiß erinnerlich sein, und ich will hier noch einige Züge aus dessen Leben mittheilen. – Die scharfe und verletzende Bitterkeit seines Witzes möge ein Beispiel beweisen. Nach der Hoftafel pflegte der Herzog eine kleinere Anzahl Gäste auf sein Zimmer rufen zu lassen, wo er mit ihnen den gemeinschaftlichen Kaffee genoß. In diesem auserwählten, engeren Kreise, in dem oft die tollste Laune herrschte, wurde eines Tages über Körperstärke gesprochen, und jeder der Anwesenden wußte Beispiele davon zu erzählen. Endlich begann der Herzog und sagte, er wisse Etwas, was alles Bisherige weit überträfe. „Sie sehen,“ fuhr er fort, „mein geheimer Rath ist äußerlich eine gerade nicht kräftige Figur; dennoch hat er mir mein ganzes Zeughaus in der Tasche [216] nach Paris getragen.“ Alle mußten über diesen beißenden Spott laut lachen, und der Betroffene verließ sofort das Zimmer. August hatte nämlich an Maximilian Joseph von Baiern sein Zeughaus für 180,000 Thlr. verkauft, und eine gleiche Summe verbrauchte der geheime Rath während seines halbjährigen Aufenthaltes als Gotha-Altenburgischer Gesandter in Paris.

Der Hang zur Satire, der mit dem Alter bedeutend zunahm, zeigte sich schon in August’s Jugendjahren. Sein Vater, Herzog Ernst II., der bekanntlich ein sehr genauer, ja geiziger Haushalter war, hatte eine Anzahl mit Geld gefüllter Fässer erhalten, die vor seinem Cabinete standen. Als der Erbprinz nun seinem Vater zur Tafel folgte, und an dem Gelde vorüber kam, klopfte er an eines der Fässer und sprach halblaut für sich: „Seid ruhig, euer Erlöser lebt noch!“ Ernst hatte diese Worte gehört und murrte vor sich hin: „simplex.“ Als nun einige Zeit darauf die Gemahlin des Erbprinzen schwanger wurde, fragte Ernst denselben, welchen Namen er dem Kinde, wenn es ein Sohn wäre, wohl gäbe. „Simplex III.,“ antwortete August. Zur Strafe für diesen Witz erhielt er einige Tage Stubenarrest.

Daß August aber, wenn man ihn mit Ironie angriff, nicht so empfindlich, war, beweist das Folgende. Bei einer Hofmaskerade ging er mit seinem Reisemarschall den Saal entlang und durchwandelte die Reihen der Masken. Unter diesen erkannte er sogleich eine junge Dame, Fräulein Auguste von Z., mit der er sich schon früher manchen Scherz erlaubt hatte, und redete sie mit den Worten aus Schiller’s Wallenstein

 „Was? Der Blitz!
„Das ist ja die Gustel von Blasewitz!“

an. Fräulein von Z., durch diese Anrede nicht in Verlegenheit gebracht, antwortete ihm:

„I freilich; und er ist wohl gar, Mußjö,
„Der lange Peter von Itzehö,
„Der seines Vaters goldne Füchse
„Verjagte,
„Und gen die Büchse
„Die Feder zu vertauschen wagte.“

„Die ist schmählich grob,“ wandte sich August zu seinem Begleiter; „aber grob ist mir doch noch tausendmal lieber, als dumm.“

Sehr groß war seine Gerechtigkeitsliebe und Vorsicht bei der Wahl von Staatsdienern. Ein Fräulein von D., welche mit August auf sehr vertrautem Fuße lebte und sehr viel bei ihm vermochte, hatte ein Kammermädchen, das in einem Liebesverhältnisse zu einem Candidaten stand. Dieser hatte sie versprochen, für ihren Bräutigam beim Herzoge eine gerade erledigte sehr einträgliche Pfarrei zu erbitten. Bei einer günstigen Gelegenheit theilte denn Fräulein von D. ihren Wunsch demselben mit, erhielt aber die wohl unerwartete Antwort: „Emil (unter dieser pseudonymen Bezeichnung schriftstellerte der Herzog) würde Ihnen Ihre Bitte sofort gewähren, August muß aber erst mit seinen Räthen Rücksprache nehmen.“ – Der Candidat, der eine so gute Stelle nicht verdiente, erhielt dieselbe wirklich auch nicht.

Rudolph Günther.


Die Gauchos, die in den Platastaaten die Pampas bewohnenden Landleute, sind ohne Zweifel die unermüdlichsten, verwegensten und geschicktesten Reiter der Welt. Von frühester Jugend an das Pferd gewöhnt, werden sie bald mit diesem so vertraut, daß Reiter und Roß nur Eins bilden. Den ganzen Tag durchstreifen sie die Pampas, diese Grasmeere der argentinischen Republik, jagen sie die zahllosen Rinder, Pferde oder die schnellfüßigen Strauße, und nur des Nachts trennen sie sich von ihrem Liebsten, dem Pferde. Ihre Reitergeschicklichkeit ist in der That staunenerregend, und was wir als die halsbrechendsten Tollkühnheiten ansehen würden, sind bei ihnen nur unschuldige Spielereien. Um in ihren Bewegungen vollkommen frei zu sein, ist der Sattel ganz eben, ohne Erhöhung, weder hinten noch vorn (in Chili gleichen die Sättel mehr denen unserer Husaren). Dadurch ist es ihnen möglich, den höchsten Grad der Jagdgeschicklichkeit zu zeigen. Bewaffnet nur mit einem Riemen, welcher sich am Ende in drei spaltet, deren jeder eine bleierne Kugel (gewöhnlich in Eierschalen gegossen) trägt, jagen sie dem Strauße nach, ihre Waffe um den Kopf schwingend. Glauben sie sich des Wurfes sicher, so bringen sie das Pferd zum Stürzen, schnellen über den Hals des Thieres hinweg, und schleudern die Kugeln nach den Beinen des Straußes, so daß sie von den Riemen umschlungen werden und das Thier am Laufen gänzlich gehindert ist. Diese Kugeln und der Lasso sind auch im Kriege ihre Waffen und furchtbar genug können sie werden, besonders der Infanterie. Das eine Ende des Lasso am Sattel befestigt, das andere mit der Schlinge um den Kopf drehend, stürmen sie gegen die Linie der Soldaten bis auf etwa zehn Schritt, schleudern mit sicherer Hand die Schlinge und blitzschnell wenden sie und stürmen davon, ihr unglückliches Opfer nachschleifend. Die Kugeln dienen besonders zur Verfolgung der berittenen Feinde, um diese durch Umschlingung der Hinterfüße der Pferdes an der Flucht zu hindern und zur Ergebung zu zwingen. Der bekannte Dictator Rosas verdankte seinen Sieg über den General Don José Maria Paz in der Provinz Santa Fé nur dem Umstande, daß dieser sich zu weit vorgewagt und sein Pferd auf die angegebene Weise zum Stürzen gebracht wurde. Auch ein deutscher Officier, Namens Rausch, kam dabei auf gleiche Weise in Gefangenschaft. Um jedoch einem gleichen Schicksale zu entgehen, gewöhnen die Gauchos ihre Pferde daran, mit umwickelten, an jeder freien Bewegung gehinderten Hinterfüßen zu laufen, oder besser gesagt, zu springen. Ein solches Pferd wird denn hochgeschätzt von seinem Herrn, es ist ihm eine Garantie seiner Freiheit, Unabhängigkeit und seines sorglosen, abenteuerlichen Lebens. – Die Kleidung der Gauchos besteht in Poncho (ein viereckiger Mantel, der über den Kopf gezogen wird), Hemd und weiten, gewöhnlich lichten Hosen. Letztere sind der Luxusgegenstand, auf den die Frauen den größten Fleiß verwenden und durch höchst kunstfertige Nähereien und Stickereien wahre Kunstwerke schaffen. Um den Kopf winden sie ein buntseidenes Tuch und bedecken ihn dann mit einem kleinen Strohhute. Die Stiefeln sind höchst eigenthümlich, aus Einem Stücke ohne Naht, und werden folgendermaßen hergestellt. Man schneidet den Schenkel eines Pferdes oben ab, ebenso unten die Fessel nebst Huf, löst Knochen und Fleisch aus und schnürt ihn dann vorn zusammen. Man erhält auf diese Weise eine Art Stulpenstiefel; die Hacke des Pferdebeines nimmt auch die Hacke des menschlichen Fußes auf. Es ist dies gewiß eine ebenso eigenthümliche, als leicht herzustellende solide Fußbekleidung.




Folter in Neapel. In dem glücklichen Neapel ist neuerdings wieder ein neues Strafinstrument zu den vielen bereits im Gefängnißwesen bestehenden hinzugefügt. Es heißt die Mütze des Schweigens (cuffia di silenzio), und sowohl für den besondern Zweck, zu welchem sie bestimmt, wie auch als Folterinstrument im Allgemeinen, übertrifft dieselbe vielleicht noch an Raffinement die berühmte eiserne Maske und andere Marterwerkzeuge des Alterthums. Die Erfindung macht dem Genie des Signor Baiona, Polizeiinspector von Palermo, alle Ehre und scheint dieselbe so sehr gefallen zu haben, daß man den menschenfreundlichen Herrn sogleich mit dem Orden Franz I. decorirte.

„Diese Mütze,“ berichten die „Illustrirten Londoner Neuigkeiten“ vom 28. März, denen wir die Abbildung und die nachfolgende Notiz wörtlich entnehmen, „besteht aus einem Ringe von Stahl, welcher den Kopf über den Augen umschließt, mit einem halbkreisförmigen Bande von demselben Metall, das über den Scheitel von einem Ohre zum andern geht; an diesen obern Theil des Instruments ist ein Kinnhalter befestigt von Stahldraht, welcher, nach unten breiter werdend, die Kinnlade vollständig umgibt und es gänzlich unmöglich macht, einen articulirten Laut hervorzubringen, sobald die Schrauben an den Kopfbändern gehörig geschlossen sind. Um diese Einrichtung zu vervollständigen, ist noch ein Lederriemen mit einer Schnalle an dem Kinnhalter befestigt, welcher, um denselben in seiner Lage zu erhalten, unter den Ohren hinweg um den Nacken herum geht. Man sagt, daß die ersten Versuche mit diesem neuen Folterwerkzeuge an zwei Personen, Lo Re und de Medici, gemacht wurden und daß der Erstere so sehr davon litt, daß er eine Zeit lang bewußtlos war und ein Gefangenwärter, welcher ihn sah und glaubte, der Mann würde sterben, sogleich nach einem Aerzte und einem Priester lief, ohne zuvor Signor Baiona’s Erlaubniß einzuholen. Als der Arzt und der Priester ankamen, erlaubte Signor Baiona, daß dem Unglücklichen die Mütze abgenommen werde, und kehrte derselbe nach Anwendung eines Aderlasses und anderer Mittel endlich wieder in’s Leben zurück; der Gefangenwärter jedoch wurde mit fünfzehn Stockschlägen bestraft, um für die Zukunft sein übermäßiges Mitleid abzukühlen.“




Zur Orientirung. Der Herr Verfasser der sehr interessanten Skizze über das Wasserglas sagt auf Seite 199 Zeile 2 von unten in Nr. 13. der Gartenlaube, daß die Kieselsäure nicht im geringsten die Eigenschaften einer Säure habe, aber bei Berührung mit basischen Körpern unter günstigen Umständen den Charakter einer solchen annehme. Da diese Bemerkung leicht eine ganz unrichtige Ansicht über die Bedeutung der beiden Begriffe „sauer“ und „basisch“ veranlassen kann, so sei uns folgende Bemerkung gestattet:

Im alltäglichen Leben denken wir uns allerdings unter einer Säure eine sauer riechende und sauer schmeckende Substanz; in der Wissenschaft dagegen ist „sauer“ ganz unabhängig von den Eigenschaften eines Körpers, indem man mit sauer nur einen eigentümlichen Zustand bezeichnet, der nie von Anfang an in einem Körper vorhanden oder wahrnehmbar ist, sondern erst dann in manchen zusammengesetzten Substanzen zum Vorschein kommt, wenn man sie mit andern in unmittelbare Berührung bringt, wobei die letzteren einen entgegengesetzten, den sogenannten basischen Zustand annehmen. Sauer und basisch sind, wie die zwei entgegengesetzten Elektricitäten, zwei Zustände, die sich wieder aufzuheben vermögen, und gerade, wie sich zwei entgegengesetzt elektrische Körper anziehn, so findet eine Anziehung und chemische Vereinigung zwischen dem in den sauren und dem in den basischen Zustand gerathenen Körper statt, in Folge dessen die beiden sich ausgleichenden Zustände wieder verschwinden und eine neutrale Substanz, das Salz, entsteht.

Wasserglas und Seife haben nur das mit einander gemein, daß sie auf solche Weise entstanden und daher Salze sind; sie gleichen sich aber nicht mehr, als sie überhaupt allen übrigen Salzen gleichen. –

H.


Avis. Viele unserer geehrten Abonnenten werden es uns Dank wissen, daß wir sie auf die Erzählungen eines Reisenden „Aus dem Walde“ aufmerksam machen, die von Nr. 13. an in der Zeitschrift „Aus der Fremde“ (Leipzig, Ernst Keil, vierteljährlich 16 Ngr.) mitgetheilt werden, zu dem Spannendsten gehören, was seit langer Zeit erschienen ist und von Niemandem ohne Herzpochen dürften gelesen werden können.



Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.

  1. Zu dem folgenden Artikel: „Ein Schatz des Heilmittelschatzes“ gehörig.
  2. Die Wirkung jedes dieser Muskeln für sich unterscheide der Leser, indem er gefälligst bald die obere, bald die untere Gesichtshälfte mittels eines Papierblättchens bedeckt.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: vielbesprocheen