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Die Gartenlaube (1859)/Heft 40

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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ferdinand Stolle
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Entstehungsdatum: 1859
Erscheinungsdatum: 1859
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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No. 40. 1859.
Die Gartenlaube.
Illustrirtes Familienblatt. – Verantwortl. Redacteure F. Stolle u. A. Diezmann.
Wöchentlich 1 1/2 bis 2 Bogen. Durch alle Buchhandlungen und Postämter vierteljährlich für 15 Ngr. zu beziehen.

Die beiden Doppelgänger.
Von Fr. Gerstäcker.

Hoch oben in den californischen Bergen, an einem Bache, der seine Wasser etwa eine Stunde von dort in den Macalome ergoß, stand ein kleines Lager von Goldwäschern, wie gewöhnlich aus der wunderlichsten Mischung von Menschen und Zelten zusammengesetzt.

Niemand dachte natürlich an eine regelmäßige Aufstellung der verschiedenen Wohnungen, und wo eine stattliche Eiche Schatten gegen die Mittagssonne, und eine zufällige Erhöhung trockenen Boden bei eintretendem Regenwetter versprach, da wurde das Zelt von den Eigenthümern desselben aufgeschlagen, ja dieser einmal genommene Lagerplatz nicht einmal streng festgehalten, sondern oft gewechselt, je nachdem die Besitzer weiter oben oder unten am Bache Lohn für ihre Erdarbeiten zu finden hofften.

Die Amerikaner sind in solchen Lagerplätzen auch stets die unstätesten und am leichtesten bereit, ihre Wohnung wieder zu wechseln. Am hartnäckigsten hängt der Deutsche an dem alten Platz, und wo er einmal sein Heerdfeuer angezündet hat, treibt ihn nicht leicht eine augenblickliche Laune wieder fort.

Der kleine Lagerplatz hier oben in den Minen an Devil’s creek oder dem „Teufelsbach“ gelegen, bot davon auch ein treffliches Beispiel, denn im Anfang bestand der kleine Ort aus großentheils amerikanischen Zelten, und nur einige Deutsche hatten sich zwischen ihnen niedergelassen. Ob den Amerikanern der Bach aber nicht „reich“ genug gewesen, oder ob ihnen die nächsten Spiel- und Trinkzelte zu weit ablagen, sie zogen sich nach und nach fast alle wieder fort, während mehr und mehr Deutsche an ihrer Statt eintrafen und der Devil’s creek zuletzt fast nur ein deutsches Lager wurde.

Weshalb der kleine reizend gelegene Bach mit seinem krystallhellen Bergwasser Teufelsbach getauft worden, wußte Niemand. Die Indianer hatten ihn früher in ihrer bilderreichen Sprache das Krystall- und Diamantauge genannt – und nannten ihn in der That noch so. Unter den eingewanderten Fremden war aber der Name Devil’s creek gangbar geworden, und wie es mit solchen Benennungen geht, er hing einmal an dem Ort und ließ sich jetzt nicht mehr abschütteln.

In allen jenen dicht bewaldeten Bergen, in denen jetzt der Boden von Tausenden von Menschen nach dem edlen Metall durchwühlt wurde, hätte man aber wohl kaum ein romantischer gelegenes Plätzchen finden können, als dieses Lager, in dem die bunten Zelte unordentlich zerstreut theils unter dichtem Gebüsch, theils unter den riesigen Bäumen der Waldung standen. Nach dem Macalome zu fiel dabei der Hügel schroff ab und gestaltete dadurch eine herrliche Fernsicht gen Norden, von hinter einander sich aufthürmenden Gebirgsrücken, die bis jetzt vielleicht noch nie der Fuß eines Weißen betreten hatte. Aber auch ihre Zeit kam, und wie jetzt die goldgierige Bevölkerung von Osten und Westen zugleich hereindrückte, breiteten sich die Menschenmassen langsam aber sicher nach allen Seiten aus und die Zeit war nicht mehr fern, wo sie den rothen Sohn der Wälder, der dieses schöne friedliche Land seine Heimath nannte, weit in die Schneegebirge hinaufdrücken mußten – dort sein Leben kümmerlich zu fristen oder – unterzugehen. Was lag den Weißen daran, wenn sie nur Gold fanden?

Die Deutschen hatten noch das meiste Mitleiden mit den eingeborenen Stämmen, behandelten sie jedenfalls am freundlichsten, wo sie mit ihnen in Berührung kamen, ohne sich jedoch ein Gewissen daraus zu machen, daß sie ebenfalls dabei halfen, ihre Jagdgründe zu zerstören und das ihnen gehörende Gebiet zu besetzen; ja die Meisten dachten nicht einmal daran. Sie wollten ja nur nach Gold graben, und sonst hätten die Indianer mit dem übrigen Land machen können was sie wollten – so weit sie nämlich betheiligt waren. Der Deutsche ist überdies kein Groß-Politiker, und war es nie – wenigstens schon so lange nicht mehr, als sein eigenes Vaterland zerstückelt wurde, und er jetzt daheim alle Hände voll zu thun hat, nur wenigstens noch die einzelnen Stücken zusammen zu halten.

Mit einem lecken Schiff getraut sich kein Seemann hinaus auf den offenen Ocean, sondern fährt vorsichtig und schüchtern an den nächsten Küsten umher. Nur wer ein festes, sicheres Fahrzeug unter sich fühlt, eilt keck hinaus in die See, denn er weiß, daß er mit leichter Mühe allen Stürmen und Gefahren Trotz bieten und sie besiegen kann.

Doch was kümmerten sich die leichtherzigen Goldwäscher um derlei Dinge? Eine Vergangenheit gab es für sie nicht, kaum eine Gegenwart, und nur die Zukunft malten sie sich mit glühenden und bunten Farben aus, wenn sie als reiche Leute, schwer mit Gold beladen, in die Heimath zurückkehren würden – und was wollten sie daheim dann Alles mit ihren gewonnenen Schätzen anfangen? – Ob sie die ganze Woche und auch heute umsonst gehackt und gegraben, oder doch nur eben ihren Lebensunterhalt gewonnen, was that’s? der morgende Tag oder ein anderer brachte sie vielleicht an die schon lang ersehnte Stelle, an der sie ihre Säckel füllen konnten, und der Gedanke ließ sie immer wieder voll neuen Vertrauens die schwere Arbeit mit jedem jungen Morgen beginnen. Wer wußte denn, ob nicht gerade die heutige Sonne für sie die glückliche war?

Und was für ein buntes Gemisch von Kräften hatte sich hier [566] gesammelt! Da kam nichts darauf an, welchem Stand die Goldwäscher früher angehört hatten, welchem sie vielleicht später einmal wieder angehören würden. Da kümmerte sich Niemand um den Grad von Bildung, den der Nachbar oder Arbeitsgefährte besaß und der sonst in jedem wilden Lande im gewöhnlichen Ansiedlerleben immer eine gewisse Grenze zieht, so daß nur die recht eng zusammenhalten, die sich auch an Bildung näher stehn. Hier galt nur die Kraft und Arbeitsfähigkeit des Einzelnen, und Handwerker und Edelleute, Künstler und frühere Tagelöhner, Kaufleute und Gelehrte, Alles mischte sich bunt und ungescheut durcheinander. Wenn man nur den Namen dessen wußte, mit dem man zu verkehren hatte, das Andere war Nebensache und kümmerte Niemanden.

Fünf Zelte standen also hier oben an Devil’s creek, nur von deutschen Compagnien zu dreien und vieren, das größte sogar von sechs Arbeitern bewohnt, und in den letzten Tagen war noch ein neuer Landsmann hinzugekommen, der sich aber die kurze Zeit seines Aufenthalts von den Uebrigen ziemlich zurückgehalten hatte und wenig mit ihnen verkehrte. Sein Name war Schütz, und seinem ganzen Wesen und Benehmen nach hatte er in Deutschland bessere Zeiten gesehen, als sie ihm hier Spitzhacke und Schaufel bringen konnten. Nichts destoweniger arbeitete er tüchtig, wenn auch immer allein, und war freundlich und gefällig gegen seine Nachbarn, wo sich ihm irgend Gelegenheit dazu bot, ohne sich aber je ihren fröhlichen und oft sehr lauten Abendgesellschaften anzuschließen. Er saß dann still und allein vor seinem Zelt bei einem flackernden Feuer, und las entweder oder starrte auch nur, vor sich hinträumend, in die Flamme.

Im Anfang versuchten die anderen Deutschen, die das für Schüchternheit hielten, ihn davon abzuziehn, und forderten ihn auf, zu ihnen herunterzukommen. Aber er wich ihren Einladungen freundlich. doch bestimmt aus, und man ließ ihn zuletzt seinen eigenen Weg unbelästigt verfolgen. Hatte doch Jeder hier in den Minen das Recht, zu thun, was ihn eben freute!

Daß sich die Uebrigen indessen nicht durch den mürrischen „Einsiedler“, wie er bald allgemein hieß, in ihrer Geselligkeit stören ließen, verstand sich wohl von selbst, und Abend nach Abend versammelte die Schaar um die lodernden Feuer, theils mit Kartenspiel und Trinken, theils mit vaterländischen Gesängen die lange Nacht zu kürzen – und diese Gesellschaft müssen wir uns doch ein wenig näher betrachten.

In dem einen Zelte lagerten drei junge Deutsche zusammen: ein Zinngießer Bollenheck, ein junger Edelmann, Baron Köllern, und ein heruntergekommener Kaufmann oder Reisender Namens Steinert. In dem Nachbarzelt schliefen ein junger Arzt, Dr. Meier, ein früherer Bedienter oder Lakai einer Herrschaft, denn er wußte immer viel von großen Diners zu erzählen, Namens Pauig, und ein Apotheker Rostiz.

Außer diesen waren noch ein paar Maurer aus Hannover, ein Schiffskoch Reutler, ein Bäcker, ein Schmiedegesell, ein Schreiber, ein polnischer Schneider und verschiedene andere Individuen, die keinem bestimmten Stand anzugehören schienen – oder auch zu bescheiden waren, ihn zu nennen. – Kurz, es blieb eine bunte, gemischte Gesellschaft, die sich hier in den schönen Bergen zusammengefunden hatte, nur mit dem einen festen Ziele vor sich: Gold!

So abgesondert die Leute aber auch den Tag über ihren eigenen Interessen nachgingen und ihre Minenrechte wahrten und achteten: Keiner dem Anderen in den einmal beanspruchten „claim“ zu kommen, so schwand doch Abends jeder Unterschied, und gewöhnlich um ein großes Feuer gelagert, plauderten sie nicht etwa von ihren Erfolgen den Tag über, denn die hielt Jeder geheim, sondern von zu Haus, von ihren Reisen, von ihren Erfahrungen in Californien und von den Leuten, die sie unterwegs getroffen und denen sie vielleicht hie oder da in den verschiedenen Minen wieder zufällig begegnet waren.

Hier führte besonders Steinert das Wort, der mit einer Karawane über die Felsengebirge aus den Vereinigten Staaten herüber gekommen war, und auf der Reise die wunderbarsten Abenteuer und Kämpfe mit umherstreifenden Indianerhorden erlebt haben wollte.

Etwa zweihundert Schritt von ihnen entfernt, auf einem kleinen flachen Hügel, der den Lagerplatz überschaute, brannte ein einzelnes Feuer, an dem jener einsame schwermüthige Deutsche ausgestreckt lag und dumpf vor sich hinbrütend in die Flamme schaute.

Dr. Meier hatte schon ein paar Mal den Kopf dahin gewandt, endlich frug er leise seinen Nachbar, den Herrn von Köllern, der auf einem herzugerollten Holzklotz kauerte und gerade in einem Blechmaß Wasser auf die Kohlen schob, sich einen Grog zu machen:

„Sagen Sie einmal, Köllern, Sie haben ja neulich eine lange Unterredung mit dem Einsiedler da drüben gehabt. Was ist denn das für eine Art von Homo?“

„Gott weiß es,“ erwiderte der Gefragte; „ich werde nicht aus ihm klug. Er muß sich in Deutschland in der besten Gesellschaft bewegt haben; jedenfalls hat er studirt, und seine Bemerkungen zeigen einen klaren, hellen Verstand, aber es liegt etwas auf ihm, das er nicht abschütteln kann oder will.“

„Meine Herren,“ mischte sich hier Steinert, der an Köllern’s anderer Seite saß, in das Gespräch, „die Sache liegt tiefer. Lieber Köllern, Sie kennen die Menschen noch nicht so wie ich, Sie haben natürlich die Erfahrung nicht;

Doch Jener dort, den Ihr für fromm gehalten,
Von dem sein Grab so rühmlich spricht,
Der war gewiß ein Bösewicht.“

„Sein Grab?“ sagte der Zinngießer, der jetzt auch aufmerksam geworden war, „wer ist denn gestorben?“

Steinert schüttelte unwillig den Kopf. Dr. Meier aber sagte: „Sie glauben, daß dem Mann irgend ein Verbrechen auf der Seele liegt?“

„Ich bin davon überzeugt,“ erwiderte Steinert, der in seinem zerrissenen und überaus schmutzigen Minenanzug selber weit eher einem Strauchdieb als einem ehrlichen Menschen glich.

„Und wissen Sie etwas Genaueres über ihn?“ frug Rostiz, der sich ebenfalls für den Fremden interessirte.

„Genaueres? hm,“ sagte Steinert, sich den struppigen Bart streichend, „dem Patron braucht man eben nur in’s Gesicht zu sehen. Das, was den peinigt, sind Gewissensbisse, und ich möchte nicht zu tragen haben, was er trägt – Donnerwetter, Köllern, der Grog riecht vortrefflich“ – und damit nahm er ohne weitere Umstände das Blech vom Feuer, roch daran und that einen kräftigen Zug, der es fast bis zur Hälfte leerte.

„Bah,“ sagte Köllern, „wie ein Verbrecher – bitte Steinert, lassen Sie mir auch noch etwas in dem Becher, denn so weit ich mich entsinne, hatte ich ihn für mich selber an’s Feuer gesetzt – wie ein Verbrecher sieht der Mann nicht aus.“

„In’s Herz kann man Niemandem sehen,“ sagte Steinert, sich den Mund wischend – „ich gebe Ihnen mein Ehrenwort, ich habe mit einem Manne meine erste Seereise gemacht – wir waren Cojennachbarn und ganz vertraute Freunde – auf den ich den größten Eid abgelegt hätte, daß er ein Ehrenmann sei – und doch war es, wie sich später herausgestellt hat, nur ein ganz gemeiner Spitzbube.“

„Sie scheinen bittere Erfahrungen gemacht zu haben, Herr Steinert,“ sagte Dr. Meier, der den Burschen nicht leiden konnte.

Hab’ ich auch, Herr Doctor, hab’ ich auch,“ erwiderte seufzend der Reisende, „aber der Schmerz, den wir dabei empfinden, erhöht auch wieder das Vergnügen:

Bei Gütern, die wir stets genießen,
Wird das Vergnügen endlich matt,
Und würden sie uns nicht entrissen,
Wo fänd ein neu Vergnügen statt?“

„Na, nu laß einmal Deine langweiligen Verse, Steinert,“ sagte aber Pauig, der an einem schönen Abend, als Beide von Grog selig gewesen, mit Herrn Steinert Brüderschaft getrunken hatte. „Komm, laß uns eins singen; daß ist heute der rechte Abend dazu.

Du – Du liegst mir im Herzen,
Du – Du liegst mir im Sinn –
Du – Du machst mir viel Schmerzen,
Weißt nicht, wie gut ich Dir bin.“

„Du – Du!“ fiel der Chor von fünf oder sechs der Uebrigen dröhnend ein, und einmal im Gang, löste bald ein Lied das andere ab, so daß von den Nachbarzelten weiter unten am Hang bald einige Amerikaner und Irländer heraufkamen, die Deutschen singen zu hören.

Von Köllern hatte langsam seinen ihm noch von Steinert übrig gelassenen Grog ausgetrunken und war dann aufgestanden, weiter ab vom Feuer unter einer Eiche hingeworfen, den Mond aufgehen zu sehen, der eben in voller glühender Scheibe hinter den mächtigen Waldesstämmen auftauchte, und sein magisches Licht über die Scene goß. Meier folgte ihm nach einiger Zeit, setzte sich zu ihm nieder, [567] und schweigend schauten die beiden jungen Leute, jeder mit seinen eigenen Gedanken beschäftigt, nach dem wunderbaren Feuerball hinüber, bis er sich oben in den dicken Wipfeln barg.

„Solch ein Abend hier in den Bergen,“ brach endlich der Doctor das Schweigen, „ist doch wirklich ein Hochgenuß und gleicht Manches wieder aus, was man den Tag über zu ertragen hatte.“

„Das Minerleben hat überhaupt einen eigenen Reiz,“ sagte von Köllern leise, „und – wenn die Erinnerung an die Heimath nicht wäre, könnte man sich ihm mit voller Seele wohl hingeben.“

Und gerade die Erinnerung an die Heimath läßt es mich so leicht ertragen,“ sagte Meier. „Wer von uns hat die Hoffnung aufgegeben, sie wieder zu sehen?“

Köllern seufzte und sah still vor sich nieder.

„Und was für fröhliche Erinnerungen,“ fuhr Meier lebendiger fort, „wird uns dann, einmal erst wieder daheim, unser jetziges californisches Leben bieten! Mit was für wunderlichen Gesellen verkehren wir hier, in welche Gesellschaft werden wir geworfen, von der wir daheim kaum eine Ahnung hatten – und was für Erfahrungen sammelt man in dem Land!“

„Wie mein Compagnon Steinert,“ lächelte Köllern vor sich hin.

„Der mag freilich wunderliche Erfahrungen gesammelt haben,“ sagte der Doctor. „Ich begreife überhaupt nicht, Köllern, wie Sie sich haben mit dem Menschen so nahe einlassen können. Seinen Umgang kann man allerdings hier in den Minen nun einmal nicht vermeiden, aber zum Zeltcameraden und Mitarbeiter wäre er der Letzte, den ich mir unter allen Uebrigen wählen würde, selbst den schmutzigen Polen nicht ausgenommen.“

„Ich bin selber nicht freiwillig zu ihm gekommen,“ lächelte der junge Mann. „Herr Steinert war so gütig, mir zu erklären, daß ich in den Minen noch vollständig ungeübt, ein wahres Kind sei, und seine Hülfe nothwendig brauche. Mit einem Wort, er nistete sich bei mir ein, und ich bin ihn seitdem nicht wieder los geworden.“

„Weil er selber kein Zelt und keine Maschine hatte,“ sagte Meier, das sieht dem unverschämten Burschen ähnlich – ich hätt’ ihn zum Teufel gejagt.“

„Lieber Gott, er dauerte mich im Anfang, und da er einmal im Zelte war, mocht’ ich ihn doch auch nicht wieder hinausschicken. Uebrigens arbeitet er ziemlich fleißig, und wenn er seine alten Streiche wieder beginnen will, setzt ihm mein Zinngießer schon den Kopf zurecht.“

„Bollenheck ist ein prächtiger Kerl,“ sagte der Doctor, „immer fleißig und guter Laune, und dabei höchst anständig. Den Polen und Steinert sollten wir eigentlich in ein Gespann thun, oder einen von den Beiden unserem Einsiedler dort hinauf schicken, dann hätt’ er Unterhaltung.“

„Der arme Schütz dauert mich,“ sagte von Köllern. „Jedenfalls nagt ihm ein geheimer Gram am Herzen.“

„Sie hatten heute eine lange Unterhaltung mit ihm –“

„Ueber gleichgültige Dinge – wir sind übereingekommen, unsere mitgebrachten Bücher gegen einander auszutauschen.“

„Und sieht der Mann wie ein Verbrecher aus?“

„Wahrlich nicht. Herr Steinert ist darin kein competenter Richter.“

„Und doch glaub’ ich beinah,“ sagte der Doctor, „daß er wirklich unter derartigen Leuten manche Erfahrung gesammelt hat. Er besitzt eine sehr verdächtige Fertigkeit, von Pferdehaaren und Binsen allerliebste Dinge zu machen, und schnitzt mit seinem Federmesser Ketten und sonstige Dinge aus Holz, Dinge, die man nur an Orten lernen kann, wo man außerordentlich viel müßige Zeit hat.“

„Ich glaube Sie thun ihm Unrecht, Doctor,“ sagte Köllern. „Schon auf Schiffen wird mancherlei Derartiges getrieben. Doch wie dem auch sei, ich hab’ ihn einmal zum Compagnon und werde mit ihm, wenigstens noch für kurze Zeit, vorlieb nehmen müssen. – Aber wie ich sehe, brechen die Anderen auf. Es ist spät geworden, und wir wollen zu Bett gehen, denn morgen müssen wir wieder früh bei der Hand sein.“

Die verschiedenen Compagnieen zogen sich in der That nach ihren Zelten zurück, denn mit Tagesanbruch ging es schon wieder an die Arbeit, und um dann munter und bei guten Kräften zu sein, durfte man Abends nicht zu lange schwärmen. Bald lag auch das kleine Lager in tiefem Schlaf; die Feuer brannten langsam nieder, der Mond stieg höher und höher, und tief aus dem Thal herauf scholl das dumpfe Rauschen des Macalome, der sich schäumend durch sein enges, felsiges Bett dem San Joaquin entgegen drängte.

Kaum dämmerte aber im fernen Osten der erste Schein des jungen Tages, als die Goldwäscher aus allen Zelten, noch halb schlaftrunken, vorgekrochen kamen, die Feuer wieder anzündeten oder aufschürten, Wasser auf die Kohlen setzten und ihr frugales Frühstück, so rasch das anging, bereiteten. Dann, ihr Werkzeug auf der Schulter, die großen Blechpfannen – in denen erst kurz vorher das Mehl zu einem unschuldigen Pfannkuchen angerührt worden – unter dem Arm, schlugen sie die verschiedenen Richtungen nach ihren Arbeitsplätzen ein, und bald war das Rasseln der Maschinen und das Schlagen der Aexte, die im Wege stehendes Holz wegräumen mußten, das einzige Geräusch, das den stillen Morgen unterbrach.

Von Köllern, Bollenheck und Steinert arbeiteten im kleinen Bergstrom, kaum drei- oder vierhundert Schritt von ihrem Zelt entfernt, zusammen, und zwar, wie das gewöhnlich der Fall war, abwechselnd Einer an der Maschine, Einer in dem gegrabenen Loch und Einer die Erde aus diesem zu der Maschine tragend.

Herr Steinert saß an der letzteren, Bollenheck schlug mit der Spitzhacke den goldhaltigen Boden los, und von Köllern schleppte dieselbe dem Weinreisenden zu, bis das Gewonnene, gewöhnlich nach 24–30 Eimern voll Erde, mit dem schwarzen, eisenhaltigen Sand in die Blechpfanne gelassen und besonders ausgewaschen wurde.

Hierzu versammelten sich denn gewöhnlich alle Drei, das erhaltene Resultat zu sehen, und nachher eine neue Maschine zu beginnen.

Der Ertrag war nach den ersten dreißig Eimern ziemlich reichlich gewesen, und als von Köllern die Blechpfanne selber am Bach ausgewaschen hatte, glänzten ihm wohl zwei Unzen der vollen gelben Körner, mit einigen größeren Stücken dazwischen, entgegen. Steinert stand daneben, und hielt eine lange Rede über die Glückseligkeit des Minerlebens, und Bollenheck hatte die Pfanne auf den Schooß genommen, die einzelnen größeren Stücke aufmerksam zu betrachten.

Sie wechselten danach ab, und der Mittag versammelte Alle wieder bei den Zelten. Bollenheck war aber außerordentlich still, sprach kein Wort und ging zuerst wieder zu ihrem Arbeitsplatz hinunter. Köllern folgte ihm bald, und Steinert kann wie gewöhnlich zuletzt. Da er seinen Platz auch wieder an der Maschine hatte, nahm er diesen augenblicklich ein und schaukelte, von dem guten Erfolg heute noch mehr aufgeregt, aus Leibeskräften, ja sang sogar dazu einige von Gellerts Fabeln nach eigener und fremder Melodie lustig ab.

Wo man singt, da laß dich ruhig nieder,
Böse Menschen haben keine Lieder.

Dem Sprüchwort nach schien Herr Steinert ein sehr guter Mensch zu sein, denn er sang wie eine Lerche.

Die Maschine war ausgewaschen; Bollenheck hatte es diesmal übernommen, und während seine beiden Cameraden, die Hände auf die Kniee gestützt, neben ihm standen und ihm aufmerksam zuschauten, wusch er den schwarzen Sand so viel als möglich aus und untersuchte dann die einzelnen Körner Gold.

„Lassen Sie’s gut sein, Bollenheck,“ sagte Köllern, „diese Maschine hat nicht so viel ausgegeben, wie die vorige. Die nächste wird vielleicht wieder besser. Wollen Sie jetzt losschlagen oder Erde tragen, Steinert?“

„Ich glaube, Herr Steinert wird keins von beiden mehr thun, wenigstens nicht in diesem Claim,“ sagte Bollenheck, dessen Gesicht jeder Blutstropfen verlassen hatte. „Steinert, wollen Sie so gut sein, und einmal Ihre Stiefeln ausziehen.“

„Was habt Ihr Beide denn?“ sagte Köllern erstaunt. „Zum Henker auch, Einer sieht noch bleicher aus wie der Andere!“

„Ich – ich begreife nicht.“ stammelte Herr Steinert, „begreife gar nicht, was Bollenheck will. Herr, ich brauche nicht.“

„Was Sie brauchen oder nicht, wird sich gleich zeigen,“ sagte aber Bollenheck, dessen Gesicht mit keiner Muskel zuckte. „Ich behaupte hier, daß Sie gestohlen haben. Ziehen Sie Ihre Stiefeln aus.“

„Gestohlen?“ rief Steinert, und alles Blut schoß in einem Strom in sein Gesicht zurück. „Herr, die Anschuldigung werde ich Ihnen mit meiner Faust zwischen die Zähne zurückwerfen!“

„Machen Sie keinen unnöthigen Lärm,“ erwiderte aber Bollenheck vollkommen ruhig, – „die Nachbarn brauchen nichts davon zu wissen – ausgenommen, Sie haben selber ein Interesse dabei, Sie durch Ihr Schreien heranzulocken, und in dem Fall würde ich nicht die geringsten Einwendungen machen. Jetzt aber ziehen Sie einmal Ihre Stiefeln aus.“

[568] „Ich will verdammt sein, wenn ich es thue!“ rief aber Steinert trotzig, „das hab’ ich nicht nöthig. Wer will mich dazu zwingen?“

„Ich,“ sagte Bollenheck vollkommen ruhig, indem er die Pfanne hinsetzte und aufstand.

„Bollenheck, keine Schlägerei!“ bat Köllern.

„Nein,“ sagte der Zinngießer, „eine Schlägerei soll es nicht werden. Diesem nichtswürdigen Hallunken nur will ich die Kehle ein Bischen zusammenschnüren, bis ihm die Stiefeln abfallen, weiter nichts.“ und der handfeste Bursch ging dabei so entschieden auf den erschreckten Steinert zu, daß dieser scheu ein paar Schritte vor ihm zurückwich.

„Ich will Ihnen etwas sagen, Steinert,“ meinte da der Zinngießer, noch einmal eine Unterhaltung anknüpfend, „Ihretwegen wahrhaftig nicht, denn Sie verdienten das Schlimmste, aber weil Sie ein Deutscher sind, und ich nicht haben will, daß sich die hochnasigen Amerikaner nachher vor ihren Zelten erzählen können: Einer von der „deutschen Bande“ hätte gestohlen, so soll die Sache unter uns bleiben und nicht weiter getragen werden – aber geben Sie gutwillig das Gold heraus, das Sie schon wieder diesen Nachmittag – von dem heute Morgen gar nicht zu reden – gestohlen haben. Ich kenne die Stücke genau, ich habe sie selber in die Erde gesteckt und vorher mit meinem Messer gezeichnet. Haben Sie keines von denen an sich, so will ich gelogen haben; im andern Fall aber –“

Köllern war ein Stück von den Beiden fortgegangen und hob etwas vom Boden auf; es war ein kleines Stück Gold, das er Bollenheck hinhielt.

„Ist dies eines davon?“ sagte er.

„Ja – wo haben Sie das her?“ rief Bollenheck rasch.

„.Herr Steinert hat es eben aus Versehen fallen lassen,“ sagte Köllern ruhig.

„Aber meine Herren, ich gebe Ihnen mein Ehrenwort –“

„Ziehen Sie die Stiefeln aus!“ rief Bollenheck.

„Lassen Sie es gut sein,“ beschwichtigte diesen von Köllern. „Herr Steinert, es thut mir leid, Ihre Bekanntschaft auch von dieser Seite gemacht zu haben. Bollenheck, thun Sie mir den Gefallen, wiegen Sie das ausgewaschene Gold ab, geben Sie ihm seinen Antheil und lassen Sie ihn laufen.“

„Aber was er gestohlen hat –“

„Mag er behalten, wenn er es nicht freiwillig herausgibt. Ich verlange nichts davon. Sie haben ganz Recht, lassen Sie uns kein Aufsehen machen.“

„Meine Herren,“ rief Steinert, „Sie behandeln mich, einen vollkommen unschuldigen Menschen, auf eine empörende Weise. – Herr Bollenheck lügt wie gedruckt – aber ich verachte ihn:

Du mußt es nicht gleich übel nehmen,
Wenn hie und da ein Geck zu lügen sich erkühnt,
Lüg auch und mehr als er, und such ihn zu beschämen,
So machst Du Dich um ihn und um die Welt verdient!“

„Jetzt muß er die Stiefeln ausziehen,“ sagte aber Bollenheck, jedoch ohne die geringste Leidenschaftlichkeit. „Gott straf mich, er hat mich einen Lügner genannt.“

„Lassen Sie ihn laufen, Freund,“ beschwichtigte Köllern, dem die ganze Sache höchst fatal war.

„Ehe ich meine Stiefeln ausziehe,“ schwur Steinert, in einer etwas theatralischen Stellung den Arm emporhebend und das rechte Bein vorsetzend, „eher sterbe ich. Meine Ehre ist fleckenlos – ein Zinngießer soll sie mir nicht beschmutzen.“

„Das ist recht,“ sagte Bollenheck; „haben Sie jetzt auch noch das große Maul. Aber gut, Sie können andere Gesellschaft zum Stiefelausziehen bekommen, denn weigern Sie sich jetzt, die Sache unter uns abzumachen, so ruf’ ich, so wahr mir Gott helfe, den Augenblick die Nachbarn zusammen, und dann wird nachher auch oben im Zelt Nachsuchung gehalten, verstehen Sie mich?“

Herr Steinert, trotz seiner Frechheit, entfärbte sich doch bei dieser Drohung, und Köllern, dem es nicht entging, sagte:

„Seien Sie vernünftig, Steinert – Bollenheck besteht einmal darauf, weil Sie ihn einen Lügner genannt haben. Noch sind wir unter uns, und es mag unter uns bleiben, aber jetzt bitte ich selber darum, daß Sie die Stiefeln ausziehen.“

„Es geht sich auch unbequem mit Stücken Gold darin,“ sagte Bollenheck.

Steinert wollte sich noch weigern, als er aber sah, daß die beiden Männer entschlossen auf ihrem Verlangen bestanden, sagte er mit aller Verachtung, die er in seine Stimme hineinlegen konnte:

„Wohl, es sei – ich will Ihnen den Beweis meiner Unschuld geben, dann aber schüttle ich den Staub von meinen Füßen und verlasse ein paar Undankbare, denen ich bis jetzt nur Wohlthaten erwiesen habe.

Der Herr, der alles Fleisch erhält,
Wird mir, so viel ich brauche, geben.
Ihm werth zu sein, der Tugend nachzustreben,
Dies sei mein Kummer auf der Welt.“

Damit ging er bis dicht zum Wasser, setzte sich an des Baches Rand, und wollte sich die Stiefeln ausziehen. Bollenheck war aber klug genug, zu merken, was er dabei beabsichtigte, denn im Nu war er mit der Pfanne bei ihm, und diese unterhaltend, sagte er:

„Es wäre schade, wenn was in’s Wasser fiele.“

Steinert warf ihm einen grimmigen Blick zu, war aber jetzt zu weit gegangen, um noch zurückzukönnen. In der That hatte er einige Stücke grobes Gold in seinen Stiefeln versteckt gehalten, und Bollenheck, der schon von Morgens an Verdacht auf ihn gehabt und ihn beobachtet hatte, war das nicht entgangen. Jetzt suchte er vergebens seine bisherigen Cameraden zu täuschen; das Gold wurde gefunden, und wenn Herr Steinert auch jetzt noch mit schamloser Stirne den Versuch machte, abzuleugnen, daß er es dort absichtlich verborgen habe, und erklärte, es müsse ihm zufällig beim Schaukeln hineingefallen sein, erwiderte ihm keiner der Beiden ein Wort darauf. Von Köllern ersuchte ihn, seine Stiefeln wieder anzuziehen, und Bollenheck wünschte ihm eine angenehme Reise.

Steinert stand auch auf, stieg den Hang hinauf, ohne daß sich weder Kollern noch Bollenheck weiter um ihn bekümmert hätten, packte dort seine Sachen zusammen und verließ, selbst auf den Antheil des an diesem Nachmittag ausgewaschenen Goldes verzichtend, ohne von irgend Jemand Abschied zu nehmen, den Teufelsbach.

(Fortsetzung folgt.)




Ein Geiermahl in Süd-Nubien.
Von Dr. A. E. Brehm.

Wir hatten die Wüstensteppe Bahinda hinter uns, und zogen längs des Nil durch die öde, aber malerische Enge des Wadi-Rherri. Die Regenzeit war nahe und die Hitze fürchterlich; mehr noch als sie aber drückten und behinderten uns die glühenden Sandstürme, welche den heranziehenden Frühling einzuleiten pflegen. Ein solcher Gluthwind beendete eines Morgens kurz nach dem Aufbruche unsern Ritt, und wir waren äußerst froh, bald nach Beginn der rasenden Windsbraut ein kleines Dorf zu erreichen. Hier lag eine vor uns aus Mittelnubien gekommene, im höchsten Grade entkräftete Karawane, welche sich vor der Weiterreise nach dem unfernen Charthúm erst einigermaßen erholen wollte. Ihren Ausrüster, einen reichen türkischen Kaufmann, fanden wir in der besten Strohhütte des Dorfes; er theilte sie aber sogleich bereitwillig mit uns,

Wie es bei solchen Begegnissen zu geschehen pflegt, erzählten wir uns gegenseitig ausführlich unsere letzten Erlebnisse, und so erfuhren wir denn, daß unsere neuen Bekannten einen Brunnen der Steppe verfehlt, und ihre Kameele deshalb ungemein gelitten hatten.

„O Herr,“ sagte Hawadje Hussëin, „es ist sehr traurig, wenn man sehen muß, daß die Nissúr[1] das beste Kameel zerfleischen mit ihren furchtbaren Schnäbeln und von dem guten Thiere kaum die Knochen übrig lassen. Zwei Stück haben wir bereits eingebüßt; aber mir thut blos ein armer Knabe aus Dongola leid, welcher sein ganzes Besitzthum, eine treffliche Kameelstute, wohl heute noch verlieren wird; denn sie schleppt sich schon seit drei Tagen, obwohl

[569]

Ein Geiermahl in Süd-Nubien.

Marabu. Ohrengeier.
Fahler Geier. Rüppelgeier. Fahler Geier. Wüstenraben.
Aasgeier. Raubadler.

[570] ledig, nur mit Mühe neben uns her. Bewahre der Prophet jeden Gläubigen vor den Giftwinden, die uns betrafen! Nur bei Gott, dem Erhabenen, allein ist die Stärke: – sonst wären auch wir erlegen. Denn der Arm des Todes griff nach uns Allen, und die Pforten der Hölle waren geöffnet. Aber – el hamdu lillahi! (Gott sei Dank) wir haben wieder Nilwasser getrunken!“

Unser Mann würde gewiß noch länger in diesem Tone fortgefahren haben, wäre nicht der erwähnte Kameeltreiber soeben in die Hütte getreten. Auf seinem Gesichte war die Anzeige eines großen Verlustes zu lesen; aber er sprach kein Wort.

„Nun, Mann, wie geht es, was thun die Kameele?“ fragte Hawadje Husseïn.

„Nädjedi maht, ja sidi“ (Meine Kameelstute ist todt, Herr). Nur bei Gott ist die Stärke; gelobet sei Er und sein Prophet: – aber ich bin ein Bettler geworden! Hauen Allah aleïhi!! (Möge Gott mir helfen!)

Amsu ja radjel! (So sei es, Mann). Du Gläubiger, erhebe Dein Haupt und schüttle den Trübsinn von Dir; Gott wird weiter helfen, denn bei ihm ist die Hülfe!“

Aber der Arme wollte sich nicht trösten lassen. Wir gaben ihm Geld; er nahm es dankbar an und schwieg. Hin und wieder perlten ihm einzelne Thränen über die dunklen Wangen herab; dann und wann seufzte er tief. Endlich sagte er noch höchst betrübt:

„Zehn Jahre lang besaß ich das vortreffliche Thier; – jetzt liegt es draußen in dem Bauche der Felsen, und die Geier werden es fressen!“

„Aber, Mann,“ erwiderte ich ihm, „wo sollen denn hier die Geier herkommen? Weit und breit ist nichts zu sehen, als eine Einöde, in welcher man kaum einen Raben antrifft – warum also fürchtest und hassest Du jene?“

„Weil sie“ – der Kameeltreiber beantwortete den letzten Theil meiner Frage zuerst und dann den ersten zuletzt – „nedjes (unrein) sind vom Uranfang an, und der Gläubige, welcher die Gesetze des Propheten – Gottes Frieden über ihn! – achtet, sie von sich fern hält; weil sie den ermüdeten Wanderer in der Steppe anfallen, wie ein todtes Aas; weil sie den Reisezügen des Menschen folgen, wie der Teufel, – vor welchem der Herr seine Erwählten beschützen möge! Nur ihre Leber besitzt heilsame Kraft; aber es ist dem Gerechten verwehrt, sich ihrer zu bedienen, und blos dieser oder jener verruchte Zauberer benutzt sie zu seinen höllischen Werken. – Woher sie kommen, fragst Du? Sie werden erscheinen ohne Zahl und den Himmel bedecken mit ihrer Menge.“

Diese in unseren Augen höchst angenehme Voraussetzung wurde von allen Eingeborenen so einstimmig bestätigt, daß wir beschlossen, hier zu bleiben und die Geier zu erwarten. Das Aas war zur Beobachtung und Jagd der Vögel sehr geeignet: es lag allerdings „im Bauche der Felsen“, wie der Nubier sagte, und die Felsen boten uns treffliche Verstecke dar. Um etwaige Raubversuche der Hyänen abzuhalten, wurde unser Jäger beordert, Nachts in der Nähe des gefallenen Thieres Wache zu halten; er ging jedoch nur mit größtem Widerstreben auf seinen Posten, denn „die verruchten Zauberer nehmen ja leider Nachts die Gestalt der Hyäne oder des Nilpferdes an, und ein Zusammentreffen mit ihnen ist dem Gläubigen höchst schädlich; der böse Blick aus dem Auge des Zauberers kann das Blut in den Adern des Gerechten zum Stocken, das Herz zum Stillstehen bringen, die Eingeweide ausdörren und den Verstand verwirren;“ – anderer Gefahren gar nicht zu gedenken! Unser Jäger war aus allen diesen Gründen von der Bedenklichkeit seiner Lage, den verwandelten Hyänenmenschen gegenüber, so durchdrungen, daß - ihm nur unsere Versicherung, auf einen Schuß von ihm zu seiner Hülfe herbeizueilen, einige Beruhigung gewährte. Er ging also, – es erschienen keine Hyänen: – der Mann hatte die erflehte Hülfe des Gottgesandten erhalten!

Am andern Morgen lösten wir ihn frühzeitig ab, weil wir glaubten, daß die Geier wohl in den ersten Stunden erscheinen würden; wie wir jedoch heute zum ersten Male erfuhren, irrten wir uns sehr.

Es war noch kühl, einsam und still in der Nähe des fahlen Sterbebettes, als wir bei dem Kameele ankamen. Nur einige Steinschmätzer und Ammerlerchen, die Bewohner auch des Innersten der Wüste, fangen ihr Morgenliedchen, – sonst sah und hörte man nichts Lebendiges. Bald nach Sonnenaufgang aber entdeckte Aali’s scharfes Auge einen eben in unseren Gesichtskreis gelangten Raben, dessen weiße Brust uns den wirklich schönen Corvus scapulatus des Innern Afrika’s erkennen ließ. Er flog erst langsam, schien aber plötzlich das Aas zu sehen, und näherte sich ihm nun mit raschen Flügelschlägen. Bei seiner Ankunft umkreiste er es mehrere Male schreiend in immer geringerer Höhe, senkte sich dann schief herab, schwang sich nach vorn und oben und betrat, die seinen, spitzen Flügel zusammenlegend, in einiger Entfernung von demselben den Boden. Jetzt schauete er sich vorsichtig um, stolzirte ernst auf den Leichnam zu und umging ihn, scheinbar sehr zufrieden, mit bedächtigen Schritten. Ein Wüstenrabe (C. umbrinus) gesellte sich zu ihm, und bald folgten von beiden Arten mehrere nach; in kurzer Zeit mochten über ein Dutzen Raben versammelt sein. Nun erschienen immer neue Gäste. Die hier sehr häufigen schmutzigen Aasgeier (Neophron percnopterus und N. pileatus) hatten die Rabenversammlung bald ausgewittert und eilten aus allen Richtungen der Windrose in Schaaren herbei. Schmarotzermilane (Milvus parasiticus) kreisten schreiend über der Gruppe, dann ließ sich auch von ihnen einer nach dem andern zur Erde nieder. Nach Verlauf einer Stunde war eine sehr zahlreiche Gesellschaft zusammengekommen. Alle Mitglieder derselben blickten lüstern auf das Aas; aber nur die Aasgeier versuchten es, die Augen auszuhacken und von der heraushängenden Zunge einige Bröckchen abzupicken, obgleich ihnen dies nur in geringem Maße gelang. Die Schnäbel sämmtlicher hungrigen und sehr eßlustigen Tischgäste waren viel zu schwach, als daß sie die starke Lederhaut des Kameeles hätten zerreißen können.

Da schoß plötzlich ein großer Raubadler (Aquila rapptor), den wir nicht hatten kommen sehen, auf den Kopf des Kameeles nieder und riß mit einigen Schnabelhieben die Augenhöhle auf, um das Auge auszulösen. Er hatte aber kaum diese Arbeit beendet, als sich von allen Seiten die Schmarotzermilane schreiend und stoßend auf ihn stürzten, um das von ihm Errungene zu ihrem eigenen Nutzen auszubeuten. Es entstand ein unglaubliches Getümmel und ein wahres Zetergeschrei um den Adler, welcher, entrüstet über die zudringliche Bettlergesellschaft[2] schließlich ihnen seine Beute stolz zuwarf und es ihnen überließ, sich nun unter sich um dieselbe zu balgen und zu verfolgen. Er wandte sich von Neuem zu seiner Tafel: aber nunmehr war auch die Zeit erschienen, in welcher die eigentlichen Vorleger der Speise auf dem Schauplätze ankamen.

Meines Dieners Falkenauge entdeckte fern von uns in sehr bedeutender Höhe den ersten in Schraubenwindungen sein Jagdgebiet absuchenden Ohrengeier (Vultur auricularis). Ich fand den Vogel erst nach langem Suchen auf; er erschien mir als kleiner schwarzer Punkt am dunklen Himmel – viel kleiner, als uns ein in den höheren Lustschichten sich tummelnder Mauersegler vorzukommen pflegt. Dieser Punkt nahte sich uns ungemein rasch, ohne irgendwelche Flügelbewegung, kreiste zwei oder drei Mal über dem Aase und zog plötzlich die Schwingen ein. Jetzt schwebte er nicht mehr, sondern fiel wie jeder andere schwere Körper mit der bekannten, sich von Augenblick zu Augenblick vergrößernden Geschwindigkeit sausend nieder. Es machte einen eigenthümlichen Eindruck, das gewaltige Thier mit solcher fabelhaften Schnelle näher und näher kommen zu sehen. Der dunkle Punkt verwandelte sich während einiger Secunden in einen Vogel, welcher den Schwan an Größe übertrifft! Es schien, als müßte der Geier bei seiner Luftfahrt zerschmettert werden; allein er wußte dem vorzubeugen. Denn schon in einer Höhe von etwa dreihundert Fuß über der Erde breitete er seine Schwingen wieder aus und minderte dadurch die Schnelligkeit des Falles mehr und mehr, bis er schließlich gemächlich herabschwebte.

Sein Erscheinen auf dem Aase scheuchte das kleine Gesindel augenblicklich zur Seite, wie die Ankunft des amerikanischen Königsgeiers (Vultur l’apa) die dortigen Aasgeier (Vultur aura und Vultur Jota) selbst mitten im Fressen von der Tafel jagt. Entsagend saßen alle Schwächlinge um den Gewaltigen; der Adler allein nahte sich ungescheut. Der Geier lief mit raschen Schritten auf das Aas zu, schwang sich auf dessen Leib, blickte stolz in die Runde und begann seine Mahlzeit. Mit zwei bis drei Schnabelhieben hatte er die starke und feste Haut zerrissen und wühlte nun in dem Fleische; bei jedem Bissen, welchen er abriß, schleuderte er größere oder geringere Brocken zur Seite; diese wurden [571] von dem Bettlergesindel, nach manchem Kampf unter sich, begierig aufgefangen. Während dem hatte sich die Gesellschaft um mehrere andere Geier (Vultur Rüppellii und Vultur fulvus) vermehrt, welche, wie der Ohrengeier, mit unbeschreiblicher Gier dem Aase zueilten. Da trat ein neuer Ankömmling auf: der Marabu (Leptoptilus crumenifer). Er schien gewillt, den Geiern ihre Mahlzeit streitig zu machen. Mit weit geöffnetem Schnabel stelzte er heran; der Ohrengeier richtete sich stolz auf und bereitete sich vor, den Frechen nachdrücklich zu empfangen. Er sah wahrhaft königlich aus, während er sich rüstete. Die Schwingen gebreitet, den nackten Hals und Kopf in Zornesfalten gelegt, den furchtbaren Schnabel geöffnet, erwartete er den gefräßigen, mit riesigem Keilschnabel bewehrten Gegner. Dieser schien diesmal nicht gesonnen, einen Kampf anzunehmen, sondern blieb in seiner Fechterstellung stehen, und die Mahlzeit der Geier ging weiter.

Unser treffliches Versteck gestattete uns zwar einen ganz vorzüglichen Ueberblick der Gesellschaft, schien uns jedoch noch etwas zu entfernt, um später mit Erfolg unter die Schmaußenden zu feuern. Ich vertraute also endlich den Versicherungen meines Dieners, daß man an fressende Geier bis auf zwanzig Schritte herangehen könne, ohne sie in die Flucht zu jagen, und schlich mich, durch die Felsen gedeckt, bis auf etwa dreißig Ellen an die Vögel an. Der Erfolg zeigte, daß Aali wahr gesprochen; zugleich aber machte ich die später oft wiederholte Bemerkung, daß die noch herbeifliegenden Geier, wenn sie ihre Genossen auf einem Aase sitzen sehen, ohne die geringste Scheu dicht über und neben dem heranschleichenden Jäger vorbei nach dem Schmauße fliegen.

Von dem Gewimmel, welches jetzt am Aase stattfand, kann ich nur eine sehr dürftige Beschreibung geben, weil mir die Worte fehlen, es gehörig zu schildern. Die Geier zeigen während ihrer Mahlzeit eine Gier, als wollten sie sich auf Monate mit Speise versorgen. Mit wagrecht vorgestrecktem Halse, erhobenem Schwanze und schleppenden oder ausgebreiteten Flügeln eilen sie in mächtigen Sätzen auf das Aas zu, und hier beginnt nun ein Getreibe, ein Arbeiten, Streiten, Zanken, Beißen, Schlagen mit den Flügeln, Kreischen und Schreien, welches man gesehen und gehört haben muß, um im Stande zu sein, sich eine Vorstellung davon machen zu können. Die Ohrengeier halten sich mehr an die äußeren Fleischlagen des Aases; die langhälsigen Geier aber öffnen mit ein paar Hieben die Bauchhöhle, stecken ihren Hals bis zur weißen Krause in dieselbe und wühlen in den Eingeweiden herum. Manchmal reißt einer einen Darm heraus, sucht sich so viel als möglich davon zu sichern und zieht denselben, hastig vom Aase weglaufend, ellenlang aus dem Leibe; da stürzen sich dann die andern wüthend auf diesen leckeren Bissen, helfen den Darm noch länger ausziehen, suchen ihn für sich zu gewinnen, werden von andern ihrer Art wüthend angefallen; und es entsteht nun allemal ein heftiger Kampf, ein tolles Lärmen und ein wahrhaft babylonisches Wirrsal von Tönen und Gestalten. Alle Waffen gelten bei solcher Balgerei; die Vögel gebrauchen nicht blos Schnabel und Klaue, sondern auch die Flügel, um das Erworbene damit zu decken oder andere Gierige durch Schläge mit ihnen zu vertreiben. Beständig langen hungrige Gäste an und beginnen sofort Kampf und Streit mit den Fressenden, welche sich unter ingrimmigem Gekreische ihrer Haut wehren. Die Marabus und, wenn das Aas in der Nähe bewohnter Ortschaften liegt, auch alle Hunde des Dorfes benutzen solchen Zwiespalt und nahen sich während des Kampfes der Speise; die ersteren schlingen dann rasch ungeheure Bissen hinab und füllen in einer Minute ihren Kropfsack so an, daß er fußlang ausgedehnt wird; die Hunde eilen zähnefletschend zwischen den gefährlichen Vögeln hindurch und reißen, mit ihren Füßen sich anstemmend, rasch ein Maul voll Fleisch herunter; denn die Geier dulden keine Beeinträchtigung ihres Gewerbes. Kaum erblicken sie die fremden Eindringlinge, so lassen sie von allem Zwist und Hader unter sich ab und stürzen sich auf Jene. Jetzt beginnt ein neuer Abschnitt des Kampfes. Weder die Hunde noch die Kropfstörche weichen gutwillig, sondern beide vertheidigen sich nach Kräften. Knurrend und bellend springen und schnappen die Hunde nach den auf sie zustürzenden Geiern, diese weichen dem Bisse aus und hauen nun ihrerseits mit dem Schnabel nach den Vierfüßlern. Gelingt es ihnen, einen derselben zu treffen, dann hört man lautes Geheul und gleich darauf wüthendes Bellen, Knurren und Kreischen, bis zuletzt der Hund seine Tracht Hiebe weg hat und mit eingeklemmtem Schwanze heulend das Feld räumt. Der Marabu haut mit seinem schweren Schnabel rücksichtslos in solches Getümmel und sucht sich nach allen Seiten hin das Feld frei zu halten; aber auch er wird gar nicht selten von den Geiern besiegt. Ueber der ganzen Gruppe schweben und flattern während eines solchen Kampfes alle kleineren Schlecker beobachtend umher, nur darauf lauernd, für einen Augenblick eine freie Stelle des Aases zu erspähen, auf welche sie dann im Nu herabstürzen, um hier bis zu ihrer Verdrängung sich gütlich zu thun.

Auf ein solches Schauspiel waren jetzt unsere Blicke gerichtet. Der Marabu hatte uns erspäht und spazierte, scheinbar mit der größten Seelenruhe, auf und davon; die Geier aber waren viel zu sehr mit ihrer Mahlzeit beschäftigt, als daß sie uns beachtet hätten. Ich gebot Aali, sein Gewehr zu spannen und so bereit zu halten, daß ich es sofort erhalten könnte, wenn ich das meinige abgeschossen haben würde. Nun suchte ich mir das dichteste Gewimmel aus und zielte auf die Köpfe von sechs bis acht eifrig beschäftigten Geiern. Die ersten beiden Schüsse brachten eine außerordentliche Wirkung hervor. Zwei oder drei Geier sanken im Feuer zusammen; die übrigen erhoben sich nach einem Anlaufe von zwei senkrechten Sprüngen in die Luft. Das Gewimmel war aber so arg, daß einer den andern durch seine Flügelschläge am Fliegen hinderte und hierdurch ein wirrer Klumpen durcheinander flatternder Vögel entstand. Ich feuerte ohne allen Erfolg unter dieses Wirrsal der Vögel und war in so hohem Grade überrascht, daß ich beinah versäumt hätte, einem der Verwirrung entronnenen und ganz niedrig über mich wegfliegenden Ohrengeier die ganze Ladung des letzten Rohres in die Brust zu jagen. Trotz der geringen Entfernung schien der wohlgezielte Schuß wirkungslos geblieben zu sein. Der Geier zog ruhig weiter, hatte sich bereits in ziemliche Höhe erhoben und schien uns verloren zu sein; da legte er plötzlich seine Schwingen zusammen und stürzte, schon in der Luft verendet, senkrecht zur Erde. Seine übrigen Genossen schienen mehr erstaunt, als erschreckt zu sein. Die Raben und Milane hatten schon längst die Höhe gewonnen und schrieen uns aus Leibeskräften ihre Verwünschungen zu, die Geier dagegen waren nur theilmeise verschwunden. Eine große Anzahl hatte sich nach den Schüssen sofort wieder niedergelassen und saß ruhig auf den nächsten Felsenzacken und auch im Thale selbst. Der Versuch, sich ihnen zu nahen, war jedoch vergeblich. Sie hatten blos die Ursache der Unterbrechung ihrer Tafel erforschen wollen und ergriffen scheu die Flucht, als wir mit frisch geladenen Gewehren auf sie zugingen. Blos zwei von ihnen liefen ganz unbefangen auf und nieder; ihre hängenden Flügel belehrten mich, daß es flügellahm Geschossene waren. Als sie mich auf sich zukommen sahen, erbrachen sie zunächst alle im Kröpfe aufbewahrte Nahrung und flüchteten dann laufend. Ich holte den einen mit Mühe ein und schickte mich an, ihn zu ergreifen. Dies war aber keine leichte Aufgabe, Der Verwundete kehrte sich gegen mich, duckte sich etwas nieder und lauerte mit eingezogenem Halse blitzenden Auges auf den Augenblick, mich mit seinem furchtbaren Schnabel ergreifen zu können. Meine Bemühungen, ihn mit dem Gewehrlaufe niederzudrücken, waren umsonst; denn er wußte sich immer frei zu machen. Da kam mir Aali zur Hülfe und fing den Vogel mit leichter Mühe, indem er ihm sein Umschlagetuch über den Kopf warf und ihn darin verwickelte. Er wurde gebunden und auf den Rücken gelegt; dann gingen wir dem zweiten nach. Dieser schien sich fast erholt zu haben und wäre uns sicher entkommen, wäre einer seiner Flügel nicht unbedeutend verletzt gewesen. So wurde auch er eingeholt und zu den andern gebracht. Das Ergebniß der Jagd war sehr zufriedenstellend: wir hatten zwei Ohren-, drei langhälsige und einen armen schmutzigen Aasgeier erbeutet, und zogen stolz auf unsere stinkende Beute dem Dorfe zu, um dort das mühselige Geschäft des Abbälgens und Ausstopfens vorzunehmen.

Später habe ich während meines Aufenthaltes in Charthúm drei Monate nach einander auf Geier gejagt. Dabei hatte ich Gelegenheit, dieselben so oft und so genau zu beobachten, als ich mir wünschen konnte. Die Ergebnisse dieser Beobachtungen habe ich zum Theil schon hier mit erwähnt; das noch Fehlende erzähle ich vielleicht ein anderes Mal an dieser Stelle.

Der beistehenden Abbildung liegen sorgfältige Studien lebender Geier und meine eigenen Angaben zu Grunde; sie darf sich in jeder Hinsicht einer großen Treue rühmen.



[572]
Ein literarischer Abend des alten Dresden.
Von A. v. Sternberg.

Die Uhr auf dem Neustädter Rathhause schlug sechs, als eine Reihe Wagen in die kleine Gasse am Kohlmarkt einfuhr und vor einem Hause mit einer ansehnlichen hohen Einfahrt und einem mit Quadersteinen gepflasterten Hofe stille hielt. Hier wohnte die Frau Reichsfreiherrin von der Recke, eine Dame aus dem kurländischen Adel und Schwester der schönen Herzogin Dorothea von Kurland. Sie gab heute eine ihrer literarischen Zusammenkünfte, die in Dresden in kurzer Zeit zu einer Art Berühmtheit gelangt waren und dieses theils der Persönlichkeit und dem Range der Gastgeberin, theils dem Umstande dankten, daß Tiedge, der Dichter der „Urania“, eines fromm didaktischen Epos im Geschmacke von Klopstock’s Oden, bei der Reichsfreiin als ihr immerwährender Gast und Hausgenosse lebte. Dieses Zusammenleben eines schönen Geistes mit einer Dame von Stande war damals nichts Neues, und bot durchaus keinen Stoff dar zur Bespöttelung oder zum frommen Kopfschütteln; das öffentliche Urtheil nahm es an wie etwas, was sich von selbst versteht und durchaus nichts gemein hatte mit jenen zärtlichen halbverschleierten Verhältnissen, die die Liebe knüpfte und das Geheimniß unter seine Obhut nahm. Man hatte die Fürstin Galitzin, eine Dame, die nach Deutschland kam, um die Philosophie zu studiren, mit Herrn Hemsterhuys herumziehn sehn; dann entschlüpfte aus dem gräflichen Hause zu Ziebingen eine der reizenden Töchter und schloß sich dem Dichter Tieck an. Endlich machte die Frau von Staël in Begleitung August Wilhelm von Schlegel’s ihre berühmten Reisen in der Verbannung, und in neuester Zeit haben wir Frau von Hahn mit ihrem Freunde, der zugleich ihr Führer und ihr Schutz war, ihre beschwerlichen Fahrten auf die Höhen des Libanons antreten sehn.

Drei hohe, mit alterthümlicher Pracht ausgestattete Räume waren an diesem Abende den Gästen geöffnet. Wer außer den Empfangabenden kam, fand Frau von der Recke mit ihrem Freunde in einem Cabinete, in welchem ein Kamin brannte und wo in einer Nische ein kleines grünes, hartgepolstertes Sopha sich befand, auf dem die Hausfrau ruhte, während ihr Freund ihr etwas vorlas. Heute war dieses Cabinet verschlossen, gleichsam das Allerheiligste war den Blicken entzogen. Eine Reihe von Kupferstichen, unter denen sich einige Gemälde von Hackert befanden, schmückte die Wände, die im Styl der pompejanischen Wandflächen bemalt waren. Die Kupferstiche stellten die Gegenden vor, die die Dame auf ihrer letzten Reise nach Italien besonders beachtet hatte. Zwischen diesen Bildern eingestellt befanden sich auf Consolen kleine Vasen und Büsten, und auf den Tischen und Commoden standen Alterthümer in Bronze. Dies war das erste Zimmer; das zweite enthielt als einzigen Schmuck der Hauptwand das lebensgroße Bild der Herzogin von Kurland, gemalt in der Mode zur Zeit des Consulats und die schöne Frau darstellend, wie sie sich träumerisch auf die Seitenlehne eines antiken Ruhebetts stützt. Man konnte den Zügen dieses Gesichts ansehn, daß es schwankte zwischen dem weltlichen Gelüste, zu gefallen als schöne Frau, und dem Bestreben, die Würde einer Fürstin festzuhalten. Die andern Wände nahmen Familienportraits ein, und man sah hier manchen ehrenvesten alten kurländischen Baron, steif wie die Lehne seines Stuhles, mit einem frommen und nichtssagenden Gesichte dasitzen, während neben ihm seine Gemahlin sich bemühte, mit zierlicher Handbewegung eine Nelke oder einen Vogel empor zu halten. Das dritte Gemach, in welchem ein Helldunkel herrschte, sehr vortheilhaft für den Teint und die Formen der alten Damen, die sich hier zusammenfanden, war in Form eines Zeltes mit Behängen von rosenrothem und weißem Mousselin bekleidet, und wurde von einer von der Decke herabhängenden antiken Ampel erleuchtet, die mit einer Kuppel von purpurrothem Glase bedeckt war. Hier standen die L’hombre Tische für die Herren, die ungestört von dem Geräusch der daranstoßenden Empfangsgemächer hier ihr „Spielchen“ machen wollten. Ein Amor von Alabaster, der in beiden Armen ein Bouquet Wachskerzen emporhielt, stand auf der Marmorplatte des Tisches unter dem alterthümlichen Spiegel. Diese Zimmer, die nach den Anforderungen, die man heutzutage macht, nicht für prächtig, nicht einmal für reich angesehen werden konnten, hatten etwas, was unsere Säle nicht an sich haben, sie gaben den Geist, die Eigenthümlichkeit, ja sogar den Charakter ihrer Bewohner wieder. Man wußte, wo man war. Man befand sich bei einer Frau von Stande, die sich mit der Literatur und den Künsten der Musen beschäftigte. Zugleich liebte diese Frau, eine Menge Antiken um sich her zu sammeln; dies zeigte an, daß sie bereits eine Reihe von Jahren durchlebt hatte, und daß sie, weit entfernt, es wie eitle Frauen zu machen, die die Zahl ihrer Erinnerungen sorgsam verstecken, es im Gegentheil vorzog, öffentlich das Zeugniß zu geben, daß sie sich eines langen, reichen Lebens mit Wohlgefallen erinnere.

Als die Wagen vorfuhren, schwebte eben Fräulein Hermione durch den Saal, um den Dienern, die ihr folgten, noch einige dunkel gebliebene Stellen der Eingangsthüre gegenüber zu zeigen. Dieses Fräulein, das nicht mehr jung war, hatte nichtsdestoweniger etwas höchst Anmuthiges in ihrem Wesen, und da sie stets unhörbar kam und verschwand, so wurde sie scherzend die Sylphe genannt. Sie war eine der vielen Pflegetöchter der Frau von der Recke, die sie in früher Jugend aufnahm, um sie, wenn sich eine passende Heirath für sie fand, reich beschenkt wieder zu entlassen. Als das Geschäft mit den Dienern beendet war, näherte sich Hermione einer jungen Dame, die in der Ecke im Fenster saß und in einem Notenhefte blätterte. Bei ihrer leisen Annäherung erhob sich die Träumende und ordnete rasch vor dem nahen Spiegel ihre schönen, dunklen Locken, die ihr nach der Mode der Zeit tief in die Stirne hingen. Ein weites Florgewand von blendender Weiße, dicht unter den Armen mit einem goldenen Gürtel fest gehalten, umschloß die schlanke jugendliche Gestalt, die unendlich viel Biegsamkeit und Leichtigkeit in ihren Formen zeigte. Ebenso war das Gesicht von einer Munterkeit im Ausdruck, die unwillkürlich mit sich fortriß; das Lächeln der dunkeln Augen, aus dem Schalkheit und Jugendfrische blitzten, war verführerisch. Mit einem Worte, diese junge Frau war in Allem, was reizte und gefiel, die Tochter ihrer Mutter, der berühmten Herzogin von Kurland; seit kurzer Zeit erst vermählt mit dem Erbprinzen von Hohenzollern-Hechingen. Zum Besuche bei ihrer Tante, nahm sie dieser einen Theil der Pflichten einer Wirthin ab, und sie war es, die diesen Salons Licht und Leben gab.

„Schon die Gäste!“ rief die Prinzessin; „und ist meine Tante sichtbar?“

„Noch nicht, die gnädige Frau sitzen noch in ihrem Cabinet.“

„So gehen Sie doch, liebes Hermionchen, und sagen Sie ihr, daß man schon kommt. Und auch an das Studirzimmer Herrn Tiedge’s klopfen Sie. Ich kann doch unmöglich ganz allein mit all den Leuten sein.“

Während die „Sylphe“ entschwand, wandte sich die schöne Prinzessin der Eingangsthüre zu, die sich öffnete und mehrere Herren und Damen einließ. Das Bewillkommnen ging vor sich, und es war, da die leichteren Umgangsformen, die von Paris ausgegangen, sich noch nicht bis hierher erstreckt hatten, von einer ermüdenden Ausführlichkeit. Die Titel durften nirgends vergessen werden, und der jungen Fürstin, die hier fremd war, fiel es schwer, sich auf diese oder jene seltsam klingende Würde zu besinnen. Zum Glück waren nicht alle Herren und Damen betitelt; die schönen Geister hatten gewöhnlich gar keinen Titel, und es war darum auch in dieser Beziehung leichter, mit ihnen zu verkehren. Ein kleiner buckliger Mann trat zuletzt herein, und auf diesen stürzte sich die Prinzessin, gleichsam wie auf einen Rettungsengel; dieser Mann war der Freiherr von Maltitz, ein bekannter und beliebter humoristischer Schriftsteller, der in diesem Kreise nie fehlte und einer der ältesten Freunde des Hauses war.

„Mein theurer Baron,“ rief die Prinzessin, indem sie sich an dessen Arm hing, „kommen Sie, lassen Sie uns die Tante aufsuchen, die wieder einmal in andern Welten schwebt und uns hier allein läßt.“

Der kleine bucklige Baron schlüpfte mit seiner schönen Gefährtin durch eine Tapetenthüre in einen Gang, der in das Arbeitscabinet Elisa’s führte. Die stießen hier auf Hermionen, die soeben zurückkam, ohne die alte Dame in ihrem Schreibzimmer gefunden zu haben. Sogleich kehrte der kleine Zug um, und begab sich auf andern Wegen in das Allerheiligste des Hauses, nämlich in eine nach dem Hofe gehende Stube mit einer kellerartigen Oeffnung und einer Treppe in den Souterrain versehen, die Herr Tiedge zu seinem Arbeitszimmer erkoren hatte. Durch diesen geheimnißvollen Eingang [573] und durch diese Treppe empfing der Dichter der „Urania“ diejenigen Besuche, die zu ihm kamen, ohne die Absicht zu hegen, sich von der Dame des Hauses erblicken zu lassen. Hier saß nun Frau von der Recke, vollkommen zur Soirée geputzt, und ging mit ihrem Freunde die Strophen eines Gedichtes durch, das ihr die Begeisterung, sehr wenig achtend auf passende Zeit und Gelegenheit, in diesen Abendstunden eingegeben.

„Mein Kind,“ rief sie zur Prinzessin und sprach ein paar Strophen laut vor sich hin, „wie findest Du diesen Gedanken? Nicht wahr, er ist schön, er ist erhaben? Aber was willst Du? Ist es schon Zeit? Soll ich kommen?“

„Gewiß sollen Sie kommen, meine engelgute Mama,“ rief der Baron, der als alter Freund des Hauses das Recht hatte, die edle Elisa mit diesem vertraulichen Titel anzureden.

„So werd’ ich kommen. Gib mir den Arm, mein Kind, daß ich mich stütze. Hab ich auch keinen Tintenfleck auf dem Kleide?“

„Keinen!“ rief der Baron, „aber hier – o hier ist ein Lorbeerblatt.“ Er ließ sich auf’s Knie nieder und löste vom weißen Gewande ein kleines Stückchen grünes Band ab.

Frau von der Recke war auf eine einfache, aber dennoch imposante Art geputzt. Da sich Niemand mehr puderte, puderte sie sich noch. Ihr Haar, stark toupirt, war aus der Stirn gestrichen und in einer vollen Wölbung auf dem Scheitel mit einer Art Krone von Flor, Spitzen und Band zusammengehalten. Diese Mode gab dem Gesichte etwas Matronenhaftes und dennoch nichts Altmütterliches. Man hätte denken können, eine altrömische Matrone vor sich zu sehen. Die Züge, obgleich sie spitz und hart waren, ersetzten an Würde, was ihnen an Anmuth abging. Der Hals, durch eine enganliegende Spitzenkrause mit einem Diamantschloß umkleidet, trug steif und ungebeugt das Haupt, in welchem zwei dunkle Augen funkelten, denen man etwas mehr Sanftmuth und etwas weniger Eigenwillen und Herrschsucht gewünscht hätte. Und doch galt Elise für das Modell einer edlen, sanften, liebevollen Natur. Sie war es nicht. Ihre Umgebung, und besonders Herr Tiedge, den sie ihren Freund nannte, hatte nicht selten von ihrer herrschsüchtigen Laune zu dulden. Sie ertrug nie Widerspruch und niemals durfte selbst ein Günstling es wagen, mit dieser Frau von einer harten, unerbittlichen Frömmigkeit wie mit einer andern sterblichen Matrone heiter zu scherzen und vertrauungsvoll sich ihr zu nahen.

So trat sie denn auch jetzt wie eine regierende Fürstin, auf den Arm ihrer Nichte gelehnt, in den Salon und empfing ihre schon versammelten Gäste ganz in der Weise, wie es Fürstinnen thun. Herr von Maltitz und Tiedge folgten den Damen.

Während Frau von der Recke ihre Gäste begrüßte, theilte Herr Tiedge mit leise klagender Stimme dem Baron mit, wie er heute sich übel befinde, wie „Mama“ zwar mit ihm ausgefahren sei, aber wie es nicht erlaubt worden, die Fenster des Wagens herabzulassen, so daß bei dem schönsten Frühjahrswetter auch nicht der kleinste frische Luftstrom seine Lunge berührt. „Und heute,“ klagte der Dichter, „soll ich einen ganzen Gesang meiner „Urania“ vorlesen! Wo die Stimme hernehmen? Ich fühle mich so welk, so matt wie eine Blume auf der Haide, die ihr Köpfchen hängen läßt.“

Und dabei lehnte der arme Sänger in Wirklichkeit sein Haupt leise auf die hohe Schulter seines Freundes. Aber ein Blick Elisens, den sie auf die Zurückbleibenden warf, brachte ihn schnell wieder in die Höhe, und mühsam die verkrüppelten Füße einen vor den andern setzend, beeilte er sich, seiner Freundin nachzukommen, indem er, den Finger auf den Mund legend, dem Baron ein Zeichen gab, kein Wort von dem eben Gesagten verlauten zu lassen.

Als Elisa ihren Platz eingenommen, gruppirten sich die Herren um sie her. Einige, und diese waren alte Freunde des Hauses, nahmen die drei bis vier Tabourets ein, die in der unmittelbaren Nähe der Dame und so gestellt waren, daß die Inhaber dieser Plätze demjenigen Ohre ihrer Wirthin nahe waren, das besser hörte als das andere. Zugleich liebte es Elisa, sich halb zur Seite biegend, mit einem geheimnißvollen oder schalkhaften Lächeln bald diesem, bald jenem ihrer Vertrauten etwas zuzuflüstern, ein Merkmal ihrer ganz besonderen Gunst. Heute saßen auf diesen Stühlen ohne Rücken und Seitenlehne der Oberconsistorialrath W., der Oberbibliothekar F. und der Dichter Winkler, der unter dem Namen Theodor Hell die Spalten der viel gelesenen Abendzeitung redigirte. Diese drei Herren gaben sich Mühe, ein feines und unterwürfiges Lächeln stets auf der Lippe zu haben und ihren Blick unausgesetzt auf ihre Gönnerin zu richten, um nicht den Moment zu versäumen, wo es dieser gefallen würde, etwas „bei Seite zu flüstern.“

Fünf Anstandsdamen, unter denen sich Eine befand, die noch Roth auflegte und Schönpflästerchen anklebte, flankirten auf der linken Seite der Wirthin, und die hohen Lehnen ihrer Stühle dienten einigen alten Herren, die über ihre Füße nicht ganz gut mehr disponiren konnten, zum Stützpunkte. Eine lange Ruhebank auf vergoldeten Füßen und mit rothem Damast überzogen diente dem jüngeren Theile der Gesellschaft zum Sitz, und hier saß die junge schöne Erbprinzessin von Hechingen, und über die Rücklehne der Bergère bog sich der Minister von Jänkendorff zu ihr, der unter dem Namen Arthur von Nordstern gern gelesene Beiträge in metrischer Form wie in Prosa dem Taschenbuche für Liebe und Freundschaft, das der Dichter Friedrich Kind herausgab, lieferte. Der Prinzessin zur Linken saß eine junge Frau von blühendem Aussehen, bekannt als Malerin und Dichterin, Frau von Hellwig, geborne Imhof. Vor ihr stand der geistvolle Baron Ernst Brunnow, der mit Herrn von Maltitz das Schicksal theilte, mit den Vorzügen des Geistes die Mißgestaltung des Körpers verdecken zu müssen. Das Gesicht dieses Mannes glich dem Bilde, das man sich von Hamlet macht: es herrschte darin ein düsterer Zug von Melancholie, gemischt mit einer Ader von Spott und Sarkasmus. Obgleich er demnach nicht schön war, so ruheten doch die muntern Augen der Frau von Hellwig mit ganz besonderem Wohlgefallen auf ihm, und sie schien sich’s angelegen sein zu lassen, allemal durch einen heitern Einfall die Wolken wieder zu vertreiben, die sich auf der Stirn ihres Lieblings sammelten. Frau von Hellwig hatte ihre Freundin mitgebracht, Charlotte von Ahlefeld, ebenfalls eine Schriftstellerin von Ruf, und beide junge Frauen saßen, Eine den Arm auf die Schulter der Andern gelegt, in einer Gruppe, die an ein Gemälde von Grassi erinnerte, der die allegorischen Figuren der Unschuld und der Freude auf diese Art dargestellt hatte. Diese Aehnlichkeit wurde auch sogleich von einer Gruppe Herren entdeckt, die in der Ecke des Zimmers sich aufgestellt hatte und von dort aus die Damen betrachtete, wie ein Blumenliebhaber ein schönes Feld seltener Blumen anschaut, deren Zusammenstellung und Pflege sein Werk ist.

Das Gespräch im Salon war ein Flüstern; es war gegen den Gebrauch, hier im Hause laut zu sprechen, eben so wenig, als es erlaubt war, zu lachen. Die Herren glitten über den Boden, indem sie ihre in schwarzseidene Strümpfe mit Schuhen und Schnallen gehüllten Beine zierlich und geräuschlos hinsetzten. Mit Anmuth beugte man sich über den Stuhl einer Dame, und man sah ihr in’s Gesicht mit einem überraschten und sanften Lächeln. Nie durfte die Conversation so lebhaft werden, daß man sie hörte. Von Zeit zu Zeit erhob sich die winkende Hand der Dame des Hauses, die bald diese, bald jene junge Dame herbeirief, die dann kam, sich tief verbeugte und mit niedergebeugtem Ohr die Worte aufnahm, die man ihr zugedacht hatte, und die oft in einer scherzhaften Zurechtweisung oder in einem mit einer kleinen Bitterkeit versetzten Lobe bestanden.

So angenehm und ehrenvoll auch dieses Alles war, so fanden sich doch einige Mißvergnügte, die die Gelegenheit benutzten, unvermerkt in den zweiten Salon zu entschlüpfen, wo „Vater Tiedge“ an einem kleinem Tische saß, den Wink seiner Freundin erwartend, um die „Vorlesung“ zu beginnen. Ein elegantes Exemplar der Urania, mit unzähligen kostbaren Einlegeblättern und Buchzeichen verziert, lag vor ihm aufgeschlagen, und der muntere Mann benutzte die Pause, wo er von seiner Gebieterin unbemerkt war, um mit dem jungen Anwuchs des Parnasses auf eine ungezwungene Art zu scherzen. Hier sah man Kinder mit Lockenköpfchen, die dem Vater Tiedge auf’s Knie hüpften und ihn um einen Kuß baten. Es befanden sich junge Mädchen von zwölf bis sechzehn Jahren dabei, künftige Sterne dritter und vierter Größe, die bereits angefangen hatten, ihre Verse der Abendzeitung in anonymen und pseudonymen Briefen zu übersenden. Um dieses kleine literarische Serail in Augenschein zu nehmen, eilten die alten Herrn ziemlich zahlreich zu ihren Spieltischen. Aber bei dem Nahen eines Uneingeweihten stob der kleine Schwarm rasch auseinander und verlor sich in die Winkel des Gemachs.

Neben Vater Tiedge, mit gleicher Freude wie dieser an dem jungen Anwuchse, saß Böttiger, berühmter Archäolog und Kunstkenner. Er war aus dem ersten Saale emigrirt unter dem Vorwande, seinem alten Freunde noch einige wichtige literarische Betrachtungen mitzutheilen, in Wahrheit aber, um den jungen Dichterinnen, [574] diesen Melusinen, Theodolinden, Thekla’s und Amenaiden Gesellschaft zu leisten. Das Gesicht des Verfassers der „Sabina“ hatte eine große Menge Züge aufzuweisen, die alle dasselbe ausdrücken, nämlich unbeschreibliches Wohlgefallen an jugendlichen und sich entwickelnden Reizen, und eben brachte er den ganzen Vorrath dieses Muskelspiels in Anwendung, als er zu seinem Schrecken bemerkte, daß eine Bewegung im ersten Salon stattfand, wodurch die Blicke einiger alten Damen in das Nebenzimmer gelenkt wurden.

Elisa erhob sich, um das Zeichen zum Beginn der Vorlesung zu geben. Sie legte die Fingerspitzen auf den Arm ihres Verwandten, eines Reichsgrafen von Medem, und dieser führte sie in den zweiten Salon. Der ganze Zug, Herren und Damen, folgte. Zugleich begab sich die Prinzessin von Hechingen an das Clavier, denn das Recitiren der Verse sollte mit Musik durchflochten und einzelne Lieder aus dem Texte, von Himmel componirt, frei vorgetragen werden.

Eine tiefe Stille herrschte im Gemache. Man hatte sich gestellt und gesetzt in einer gewissen Ordnung; die Herren standen, die Damen saßen. Die Thüren zum Spielzimmer waren geschlossen, denn dort saßen einige alte Herren, die, unbekannt mit den Reizen der Urania und wenig lüstern, sie kennen zu lernen, es sich nicht nehmen ließen, ihren Beifall oder ihr Mißfallen über die erhaltenen Karten, nebst einem Gezänk mit ihren Mitspielern laut werden zu lassen.

Während Herr Tiedge las, füllte sich der vordere Saal mit Gästen, die zu spät kamen und den Vortrag nicht stören durften, demnach nur durch Zeichen aus der Entfernung ein Einverständniß mit ihren darin sitzenden Freunden zu unterhalten suchten. Zu diesen Exilirten gehörten die beiden Brüder von Kügelgen, das seltne Zwillingspaar in der Kunst wie im Leben, Gerhard und Karl, der eine Landschaftsmaler, der andre Portraitmaler, Frau von S–, die geniale mimische Künstlerin, Fräulein von K–, die die Kunst besaß, auf bewundernswürdige Weise Silhouetten zu fertigen, und die daher immer mit einer Scheere und einigen Blättern schwarzes Papier sich in die Gesellschaft begab, und dann einige Herrn, die bereits aus einem andern literarischen Vereine kamen, aus dem poetischen Kreise, dessen Mittelpunkt „Philalethes“ war.

Die ersten funfzig Verse waren gesprochen und das erste Glas Zuckerwasser war geleert; es trat eine kleine Pause ein, während welcher sich die Zuhörer ihrer enthusiastischen Exclamationen entluden. Aber Elisa war mit ihrem Poeten nicht zufrieden. Sie schüttelte leise ihr Haupt, und Herr Tiedge, der auf dieses Zeichen achtete, senkte seinen Blick kummervoll auf die Blätter des Buches. Jetzt ergoß sich der Strom der Melodien. Es wurde das Verzweifeln einer Seele geschildert, die an Gott nicht glauben kann, dann aber, als sie die Pracht des Frühlings sieht, sich entschließt, ihre feindlichen Gefühle aufzugeben, um sich dem allgemeinen Zuge der Herzen zum Himmel anzuschließen. Die Stimme der schönen Prinzessin von Kurland hatte noch nie so seelenvoll geklungen, das Recitativ und der darauf folgende Chor von fünf Männerstimmen thaten ihre volle Wirkung, und die trüben Wolken auf Elisa’s Stirn begannen zu weichen.

Während der Accorde der Musik war ein bleicher, schlanker, noch junger Mann eingetreten, mit feinen, ausdrucksvollen Zügen und einer eigenthümlichen Senkung des Hauptes nach einer Seite. Dieser Mann blieb an der Thüre stehen, halb von einem Fenstervorhang versteckt, und lauschte. Er war jetzt bemerkt worden, und ein freudiges Geflüster ging den Kreis herum; es war der Held des Tages, der erschienen war, Carl Maria von Weber. Elisa erhob sich, und gefolgt von einigen ihrer Vertrauten, ging sie dem Gaste entgegen, eine Ehre, die hier im Hause nicht leicht Jemand empfing. Der berühmte Componist küßte die Hand der Dame und begleitete sie zu ihrem Platze zurück. Hier stellte er sich hinter ihren Stuhl und beantwortete die Fragen, die sie und die zunächst sitzenden Damen an ihn richteten.

Der Abend hatte hier seinen Höhen- und Glanzpunkt erreicht; von da ging es abwärts. Herr Tiedge las, aber man war nicht mehr sehr aufmerksam. Die Damen betrachteten Weber, und die Herren fingen an sich nach dem Souper zu sehnen, das im Nebenzimmer angerichtet wurde. Noch einmal ertönte die Musik, dann wurde das Clavier geschlossen, die Prinzessin erhob sich und erntete die Lobsprüche der Gesellschaft ein. Der Minister ging durch den Saal, indem er Herrn Tiedge an einem Arm und Frau von Hellwig am andern führte. Alles hatte sich erhoben und bewegte sich durch alle drei Säle. An den Spieltischen warf man die Karten zusammen, und ein paar alte Damen, die eingeschlummert waren, wurden erweckt, indem man sie anstieß und ihnen eine Prise Tabak anbot. Die geschminkte und gepuderte Excellenz benutzte einen günstigen Augenblick, um sich im Spiegel zu betrachten und ein lose gewordenes Pflästerchen wieder anzuheben. Fräulein von K–, an einem Seitentisch stehend, beschäftigte sich, unbemerkt die Silhouette Weber’s zu fertigen, und wurde darin gestört, indem ein Herr mit einem breiten Rücken und einem schwarzen Tituskopfe sich beständig zwischen sie und ihren Gegenstand stellte. Herr von Maltitz eilte mit flüchtigen Schritten durch den Saal, bald hier bald da einen lustigen Einfall anbringend, während Ernst von Brunnow, immer tiefsinnig und düster, aus einem Winkel die Gesellschaft beobachtete. Die beiden Brüder Kügelgen, einig in der Kunst wie im Leben, hatten sich zwei der schönsten Damen ausgesucht, und waren im lebhaften Gespräch mit ihnen begriffen. Der junge Parnaß tummelte sich in der Nähe des Speisesaals, durch den Spalt der Thüre hineinblickend und die Schüsseln und Lichter zählend, die in dem Heiligthume erglänzten.

Endlich eröffnete den Zug der Minister mit der im Range am höchsten stehenden Dame, ihm folgte die Dame des Hauses mit ihrem Verwandten, dann Paar auf Paar die übrigen Gäste. Man aß und trank gut und viel, und blieb weit über eine Stunde sitzen. Gesundheiten wurden ausgebracht, Trinksprüche, komische Reime. Mit einem Worte, der literarische Abend schloß heiterer und ungezwungener, als er begonnen. Jedoch blieb sich die Dame des Hauses immer gleich. Nie verließ sie das Gefühl ihrer Würde, nie entglitt ihr ein lautes Wort, ein Scherz, ein Lachen. Die Gesellschaft trennte sich, als die Neustädter Rathhausuhr halb elf schlug.




Hier hast du nun, mein Leser, einen literarischen Abend des alten Dresden. Nicht wahr, er ist etwas steif, etwas pedantisch, allzu förmlich? allein vergleichst Du ihn mit dem, was heutzutage diesen Namen trägt, so wirst Du finden, er hat seine unleugbaren Vorzüge. Vor allen Dingen: es war eine Vereinigung. Kann man aber das lose, zerstreute, in Form wie in Inhalt zerfahrene Zusammenkommen von Männern und Frauen, die sich mit der Literatur beschäftigen, heutzutage so nennen? Unsere Zusammenkünfte sollen natürlich und ungezwungen sein, aber sie sind roh. Unter dem Vorwande, sich frei zu äußern, sagt man sich Beleidigungen und tritt die Sitte mit Füßen. Es ist wahr, die Genialität fand keinen Platz in jenen Gesellschaften, sie stieß überall, wo sie sich zeigte, auf alte Verhacke und Regeln, auf Prüderie und Conventionalismus; allein ist das, was sich heute in unsern Salons breit macht, Genialität? O nein; es ist Salopperie, es ist ein Sichgehenlassen, es ist eine Unkenntniß der Form, die man bereits so lange nicht geübt, daß man sie vergessen hat. Und dann, was lernen wir noch aus jenen Gesellschaften? Daß bei allen literarischen Fehden es vier Stunden an einem Abende geben kann, wo sich die Talente vertragen, wo sie mit einander verkehren, ohne sich den Rücken zu kehren und sich einander auf die Hühneraugen zu treten, mit einem Worte, ohne den Streit aus den Büchern in den Gesellschaftssaal mitzubringen. Das ist etwas – was sage ich! das ist viel.




Vom Bier in Bayern und vom Hofbräuhaus in München.
Von Albert Henrich.
(Mit Abbildung.)

Uns Bayern hat unsere Bierglückseligkeit viel argen Verdruß schon eingetragen: wir sind als ein schwerfälliges, geistigem Leben abholdes, an der Materie und am Aberglauben haftendes Geschlecht verschrieen, und unser Getränk soll es sein, das unser Blut verdickt, unsern Sinn vernebelt, das zwar den Körper stärkt, aber den Geist schwächt. Der mächtige Aufschwung, den in den letzten Jahrzehenden namentlich München unter der Aegide zweier großer Könige in Kunst und Wissenschaft gewonnen, soll nicht ein gesundes, [575] nicht ein aus dem Bewußtsein und Bedürfen des Volks entsprungenes Leben, sondern eine künstlich gepfropfte und gepflegte Treibhauspflanze sein, die auf diesem Boden und in dieser Luft nimmer mehr allgemeine Verbreitung finden und erfreuliche Ernten bringen werde.

Trotz dieser und anderer Vorwürfe trinken wir unser liebes Bier herzhaft nach wie vor; die Consumtion hat nicht ab-, sondern zugenommen, wenn auch nicht in demselben Maßstabe, wie die Production, da wir zu der fast unglaublichen Vermehrung der letzteren mit Genugthuung eben diejenigen fleißigen Anlaß geben sehen, welche uns um unsers phlegmatischen Trinkstoffs willen verspotten: der Export desselben mehrt sich von Jahr zu Jahr, und gar die Fremden, so bei uns zukehren, pflegen fast mit noch viel geringerer Mäßigkeit sich’s schmecken zu lassen, als wir selbst. Das Bier ist es nicht, was schwer und schlaff und träge macht, das weiß Jeder, der es kennen gelernt, und bekennt es Niemand inniger und lauter, als der Arbeiter, der aus wein- und branntweintrinkenden Landen hierher kommt; sein Genuß gibt Nahrung und Kraft, wie kein anderes Getränk, und selbst das Uebermaß davon ist weniger schädlich, als jedes andere.

Der Mittel- und Schwerpunkt alles und jedes Genusses – das soll nicht geleugnet werden – ist uns allerdings das Bier. „Kein Geld, kein Schweizer,“ ist ein viel verbreitetes, vielfach bekämpftes Sprüchwort; „kein Bier, kein Bayer“ wird dagegen von diesem selbst, wenn auch mit Achselzucken, zugestanden werden. Keine Freude, kein Genügen, wo das Bier fehlte, wo es nicht gut wäre. Es ist das Bindemittel, das überhaupt die Gesellschaft bedingt, und die elendeste Spelunke, wenn sie gutes Bier schenkt, wird von dem Münchener dem elegantesten Locale, der feinsten Küche, der kurzweiligsten Unterhaltung vorgezogen.

So ist das Bier in Bayern, am meisten jedoch in München, ein Lebenselement des Volks, ein charakterisirendes Merkmal von Land und Stadt und Leuten geworden. Die Bierfabrikation hat sich bei uns so ausgebreitet und vermehrt, daß Bayern seine gesammte Staatsschuld (natürlich mit Ausnahme der Eisenbahnschuld, für welche die Betriebsrente ausreichen sollte) fast ausschließlich von dem Aufschlag, den es auf die zum Brauen verwendete Gerste gelegt, nicht nur verzinst, sondern auch tilgt. Es kann und darf in Bayern nämlich nicht ein einziger Scheffel Gerste „versotten“ werden, von welchem der Brauer nicht vorher dem Staate 5 fl. Aufschlag bezahlt hat, eine Steuer, die im letzten Jahre 6,413,000 fl. einbrachte. Außer diesem Staatsaufschlage lastet auf der Brauerei aber noch verschiedener Localaufschlag, welcher in derselben Weise und zugleich mit jenem für gewisse Gemeindezwecke erhoben wird; in München beträgt diese letztere Steuer weitere 2 fl. 30 kr. von jedem Scheffel Gerste, und mehrere der großen Bauten, die hier der Fremde bewundert, sind auf Kosten des „Bierpfennigs“ errichtet, um welchen wir jede Maß unseres Getränkes theurer bezahlen. Denn diesen Aufschlag entrichtet nicht eigentlich der Brauer: da der Preis des Bieres nach gesetzlich festgestellten Normen auf Grund der Marktpreise des Materials, auf Grund der weiteren Betriebskosten und mit Vergünstigung eines angemessenen Gewinnes von der Obrigkeit von Termin zu Termin vorgeschrieben wird, so wird bei Berechnung dieser Biertaxe der Kostenpreis der Gerste um so viel höher angesetzt, als der Aufschlag erfordert, und die Steuer trifft nicht im Mindesten den Producenten, der sie nur auslegt und der, wie jeder Gewerbtreibende, gesonderte Abgaben entrichtet, sondern den Consumenten, der sie pfennigweise bezahlt.

Obschon es nach dieser Darstellung nun auch scheinen möchte, als sei die Brauerei in Bayern in erdrückende Fesseln gelegt, da dem Fabrikanten die Quantität seiner Erzeugnisse von Amts wegen genau controlirt, die Qualität derselben beaufsichtigt und mit Confiscation und sehr empfindlichen Strafen deren Unpreiswürdigkeit geahndet wird, da selbst der Verkauf des Fabrikats an vorgeschriebene, unüberschreitbare Taxen sich bindet, so ist sie doch eines der angesehensten und einträglichsten Gewerbe. Kein größeres Rittergut, kein Herrschaftssitz im Lande, wo nicht die Brauerei auch vom höchsten Adel unmittelbar selbst betrieben würde, keine Stadt und kein Flecken, wo nicht die Brauherren zu den ersten und wohlhabendsten Bürgern zählen. Namentlich in München, dessen Biere von je eines vorzüglichen Rufes genossen, dessen Einwohnerzahl den meisten Bedarf bedingt, und wo der Export ein auffallend bedeutender ist, haben die Brauereien und ihre Besitzer in hohem Maße sich emporgebracht; ihre Anzahl ist hier freilich verhältnismäßig nur eine geringe: während in dem benachbarten Augsburg ihrer gegen neunzig bestehen, gibt es in der Hauptstadt bei mehr als dreimal größerer Bevölkerung nicht einmal dreißig; aber diese betreiben ihre Geschäfte so großartig, daß eine einzige von ihnen, „zum Löwen“ genannt, im vorigen Jahre die Summe von 170,000 fl, als den oben beschriebenen Malzaufschlag zu bezahlen hatte, also nahe an 23,000 Scheffel Malz versotten hat.

Nun verzapfen zwar alle Brauereien auch im Detail, allein was wären ihre dreißig Zechstuben für die Menge durstiger Kehlen? Es gibt in München über 300 Bierschenken, ungerechnet die Gast- und Kaffeehäuser, in denen aber ebenfalls Bier getrunken wird. Aus den Brauereien wird täglich, von schweren feurigen Hengsten gebogen, auf lange Wagen hoch aufgeschichtet, die benöthigte Anzahl von Fässern vor jedes der einzelnen Wirthslocale gefahren, und so die Gelegenheit zum Trinken nicht nur vervielfältigt, sondern nach der äußern Erscheinung und Bequemlichkeit auch abgestuft. Denn während die feinfühlendere und prüdere Welt in den glänzenden Sälen und an den gedeckten Tischen der Café’s sich niederläßt, zieht sich der breitere Strom in die ordinären Kneipen, und für die Brauhäuser selbst bleibt das eigentliche Kennerpublicum, das auch den weiteren Weg, vielleicht an den Thüren mehrerer Wirthschaften vorüber, nicht scheut, um dort an der Originalquelle zu schwelgen. Es wäre schwer, einen Begriff davon zu geben, mit welcher Subtilität, mit welcher Sachkenntniß und Gründlichkeit ein solcher Bierkieser sein Thema behandelt, welchen Sprachschatz von Ausdrücken er zur Bezeichnung jedes einzelnen Vorzugs, jedes einzelnen Mangels desselben besitzt, und wie er jedes kleinen und großen Vortheils und Kunstgriffs sich bedient, seinen himmlischen Nektar in möglichster Frische und Würze, in höchster Vollkommenheit sich zu verschaffen.

In die Schenklocale der Brauereien selber also muß man gehen, wenn man der echten Bierkenner ansichtig und wenn man ihrer stillen Freuden Zeuge sein will. Sie sind ein gar niedlich und wirklich interessantes Völklein, diese hartgesottenen, ausgepichten Helden vom Gerstensaft, und es verlohnt sich schon, ihre Bekanntschaft zu machen. Jedes Brauhaus hat deren einige als treue Anhänger und tägliche, oft durch Jahrzehende erprobte Stammgäste; sie bilden, je nach dem Hause, dem sie anhängen, Parteien, wohl die konsequentesten, die schärfst ausgeprägten, die es gibt, denn jede schwärmt und schwört für die Fahne, die sie einmal erkoren; doch gibt es auch nicht wohl tolerantere: das „Hie Welf, hie Waiblingen!“ wird ihnen nie zu einem „Hie Schlaibinger, hie Augustinerbräu!“ jeder achtet des Anderen Glauben und Ueberzeugung, läßt ihn ungestört seines Weges ziehen – hinwärts! auf dem späten Heimwege sind sie sämmtlich ohnedies nur mit sich selbst beschäftigt.

Die meisten Anhänger und die in unverbrüchlicher Treue ergebensten zählt das königliche Hofbräuhaus, das zu so großem Rufe gekommen, seitdem München vermöge gerade diametral entgegengesetzter Besitzthümer jährlich von Tausenden von Fremden besucht wird. Diese haben in dem bescheidenen, anspruchslosen Tempel des Gambrinus ein Originalstück unseres Volkslebens entdeckt, haben ihn aus seiner verborgenen, bislang nur Einheimischen und Eingeweihten gewidmeten Thätigkeit an’s helle Licht gezogen, und ihn ebenfalls zu einer Merkwürdigkeit unserer Stadt gestempelt, die Niemand darf ungesehen lassen, weil hier allein und ausschließlich die Bierlust des bayrischen Volks, diese blos im und durch das Trinken genossene Seligkeit, noch unzweideutig zu Tage tritt. Alle andern Brauereien haben in ihren Localen, was deren Aussehen, Einrichtung und Bedienung anlangt, seit lange den Forderungen der Zeit nachgegeben, und haben sie reinlicher, eleganter, bequemer geschaffen; das Hofbräuhaus hat den ursprünglichen Typus bewahrt, nur wenige Concessionen, diese nur mit Widerstreben und sogar zur theilweisen Unzufriedenheit seiner Gäste gemacht. Es hat die Talglichter entfernt, und die Gasbeleuchtung, wenn auch spärlich genug, eingeführt; es hat in seinem Hofraum die bekannten „Arkaden“, finstere Winkel unter der Kühlrinne des Sudkessels, durch einen hellen, freundlichen Säulengang ersetzt; aber die Hausfreunde schmollen über jede solche Aenderung, sie wollen die gute alte Zeit erhalten wissen, die Zeit, wo nicht für Flinker- und Flunkerwerk Ausgaben gemacht, sondern alle Aufmerksamkeit lediglich auf Herstellung eines vollkommenen Fabrikats gerichtet war, sie wollen allen Verbesserungen und Verschönerungen ihr Heiligthum verschließen, weil die Hauptsache, ihr Bier, nicht verbessert werden könne, der Geist der Neuerung aber grundsätzlich ausgeschlossen bleiben müsse, da er nur allzuleicht auch bis in die Manipulation des Brauwesens vordringen könnte.

[576] So steht das Hofbräuhaus, ein fast unberührter Zeuge herkömmlicher Sitte und Volkseigenthümlichkeit, ein Wahrzeichen, wie andere Städte deren von Stein oder Erz an altem Gemäuer aufbewahren, so dieses hier ein in seinem Treiben lebendiges, sich stets erneuerndes. Den Namen des „Hofes“ führt es nun freilich sehr uneigentlich, und dies nicht nur deshalb, weil Alles, was darin um- und vorgeht, das gerade Widerspiel von Etikette und Erlesenheit ist, sondern schon darum, weil die Brauerei mit dem Hofe, mit der Civilliste in gar keinem Zusammenhange steht, sondern Staatsanstalt ist und auf Rechnung des Budgets durch ein eigenes, hierfür aufgestelltes Brauamt verwaltet wird. Die Brauerei ist bei Weitem nicht eine der größten Münchens, weder in Bezug auf ihre Räumlichkeiten, noch auf ihren Betrieb; allein da sie das Eigenthümliche hat, daß sie ihr Fabrikat, welches im Rufe des Vorzüglichsten zu erhalten ihr als Ehrensache gilt, nicht versendet, ja sogar (Detailverkauf an Privatpersonen ausgenommen) nicht außer dem Hause verzapft, so ist ihre Schenke die frequenteste, an der vom frühen Morgen bis zur Mitternacht das inbrünstigste Werben um den delicaten Stoff und das heilloseste Gedränge nicht aufhören.

Es ist ein unscheinbar, niedrig, alterthümlich Haus, dieses Hofbräuhaus, in einem abgelegenen Stadtviertel, in dessen Thorweg wir eintreten und in einen Hof gelangen, der schon – auch bei kühler und unfreundlicher Witterung – von mannichfachen Gruppen erfüllt ist. In den „Arkaden“, die auf der einen Seite sich hinziehen, auf den Bänken, welche die andere Seite einnehmen, auf den umgestürzten leeren Fässern, die in der Mitte als Stuhl und Tisch dienen müssen, haben die buntesten Haufen sich breit gemacht. Der Anblick fesselt Dich, Lieber, der Du vielleicht gar ein Norddeutscher bist. Obwohl die Gesellschaft Dir gemischt erscheinen mag, obwohl das stets feuchte Pflaster Dich nicht angenehm anmuthet, obschon die Atmosphäre, besonders gegen den eben durchschrittenen Thorweg zu, nichts weniger als angenehm ist, so deucht Dir doch der Aufenthalt nicht gar so abstoßend. Aber Du hast mehr noch zu sehen, und trinken willst Du ja doch auch – so mußt Du schon mit in das Innere kommen, denn zugetragen, servirt wird Dir hier nicht, also: Du mußt Dich, wenn auch dann und wann eine Kellnerin mit Seideln in der Hand erscheint, selbst bedienen, bis zum Fasse vordringen, und die Unbequemlichkeit wird Dir erst noch recht unbequem gemacht. Eine schmale, enge Thüre führt uns in’s Haus; wir stehen in einem Vorplatze, einer mit Glasfenstern versehenen Wand gegenüber. Innerhalb derselben befindet sich die Küche – eigentlich nur ein großer Heerd voll brodelnder Kessel, aus denen die Köchin und deren Gehülfin den eintretenden Gästen ununterbrochen Suppe, Rindfleisch oder Kalbsbraten reicht, wozu diese dann aus einem neben der Thüre befindlichen Korbe sich Messer und Gabel mitnehmen mögen. Du hast Dir um neun Kreuzer ein tüchtig Stück Braten erworben, das Bestecke nicht vergessen, und magst nun sehen, wo Du zur Mahlzeit schreiten kannst. Nirgends Platz! – so folge denn meinem Rathe und setze Dich auf die Stufen der Treppe, die neben der Küchenthüre in’s obere Stockwerk führt, verzehre, den Teller auf den Knieen haltend, Dein Mahl; doch spute Dich dabei, denn ein essender Gast hat im Hofbräuhause kein Anrecht zu längerem Aufenthalt, und Andere kommen und verlangen, ebenfalls auf kurze Frist, nach Deinem Sitze. „Aber beim Trinken darf man verweilen?“ – Ja freilich! wohlan! treten wir ein!

Wenn Du glaubtest, in gewöhnliche, wohlanständige Wirthszimmer zu kommen, so bist Du freilich in großem Irrthum gewesen, in einem Irrthum, über den ich schon manchen Fremden an der Schwelle, vor der wir stehen, habe verdutzt innehalten oder straucheln sehen. Vor Dir öffnen sich vier weite Kellergewölbe, feucht, düster, rauchig; die Wände tünchte nur der Qualm, den Estrich fegen nur die Füße der darauf Gehenden; alles Geräthe, Tische, Bänke von einer Ursprünglichkeit, wie man sie kaum in den Räumen unter der Erde gelten läßt, und doch sind wir oben, durch die rußigen Fensterscheiben bricht mühsam der Sonnenstrahl. Aber wenn Dein Auge sich gewöhnt hat, entdeckst Du hin und wieder an der Wand kühn entworfene Kohlen- und Kreidezeichnungen, unregelmäßig die eine auf die andere geschoben; Du erkennst in der einen das Portrait eines neben Dir stehenden Mannes, eines alten Stammgastes, dem eine Fratze die Nase aufstülpt; in der andern einen geistreich erfaßten, in meisterhaften Conturen hingeworfenen mythologischen Gedanken; aus einer jeden, daß in diesen wüsten Räumen auch die genialsten der Münchener Künstler in froher Laune oder bei Erläuterung gelegentlicher Gespräche Spuren ihrer Anwesenheit hinterlassen haben. Auch ein paar politische Reminiscenzen aus dem Jahre 1848 finden sich hoch oben an der Wand – doch vorüber an ihnen – zum Trinken!

Dazu gehört vor Allem ein Gefäß. Woher das nehmen? Zerbrechliche Gefäße kann es im Hofbräuhause aus Zweckmäßigkeitsgründen gar nicht geben, man kennt da nur steinerne Krüge, und damit ist schon ausgeschlossen, daß Jemand ein Seidel tränke, es muß ein Jeder eine Maß sich geben lassen. Aber auch ein solcher Krug ist nicht vorräthig; so suchen wir darnach; wir drängen uns durch die Bankgassen, zählen an jedem einzelnen Tische erst die daran sitzenden Zecher, dann die darauf stehenden Krüge, und preisen unser Geschick, wenn wir schon vor einer halben Stunde einen übrig gebliebenen, d. h. so eben von einem Andern geleerten, erobert haben. Mit ihm geht’s wieder hinaus zur Schenke, vorher jedoch zu dem ihr gegenüber befindlichen Brunnen, in dessen Trog und an dessen Wasserstrahl wir ihn säubern, doch schwerlich ohne von dem gleicherweise beschäftigten Nachbar gehörig bespritzt und begossen zu sein. Nun aber merke Dir wohl die auf dem Zinndeckel Deines Kruges eingegrabene Nummer, halte Deinen Sechser in der andern Hand bereit, und menge Dich in den Haufen, der den Schenktisch belagert. Mehrere Minuten, ein Viertelstündchen magst Du im Gedränge aushalten müssen, der rußige Arbeiter reibt sich an Deinem noch nassen Rock, der gigantische Cürassier-Unterofficier tritt Dir auf die Füße – und wehe, wenn die Geduld Dir ausgehen, ein Wort des Unmuths Dir entfahren sollte, das allgemeine Hohngelächter, auch gelegentliche Schimpfworte würden Dich schnell belehren, daß wenigstens an dieser Stelle die Dräng- und Preßfreiheit eine Wahrheit ist. Doch Du bist endlich bis zum Tische gelangt, hast dem Wirthe Deine Steuer hinübergereicht, wogegen der Schenkknecht Deinen Krug nebst noch sechs andern hinwegraffte, alsbald aber wieder bringt und, die Nummern ausrufend, ihn zurückschiebt. „2417“ ruft er; das bist Du, Du willst darnach greifen, aber ohne daß Du laut und vernehmlich „Hier!“ geantwortet, wird Dir Deine bezahlte Maß nicht überantwortet.

Die vollen Krüge vor uns haltend, treten wir nun eine Pilgerschaft durch die Hallen an, ein Plätzchen zu finden, auf dem wir mit Ruhe und mit Muße das mühsam Errungene genießen könnten. Wir Thoren! da ist Alles, Alles längst besetzt, und wir sind zuletzt froh, an einer Tischecke so viel Raum zu gewinnen, daß wir die Krüge darauf postiren, uns aber daneben stellen zu können. Da betrachten wir denn das Gewühl des Ameisenhaufens, in den wir hineingerathen, und wenn das Ohr von dem betäubenden Gesumse und Geschrei sich erholt, das Auge über den Qualm Herr geworden, auch die Nase an manche unangenehme Wahrnehmungen sich gewöhnt hat, so erstaunst Du wohl über den Anblick, der sich Dir bietet. Der nächste Tisch besteht aus einer Gesellschaft ehrbarer Bürger, zwischen denen jedoch drei Soldaten sich eingezwängt haben, und die noch einem hochwürdigen geistlichen Herrn zugerückt sind. Dort sitzen kohlschwarze, ungewaschene Feuerarbeiter, zwischen ihnen und lebhaftest conversirend ein wohlbestallter Stadtgerichtsrath. Hier ein Tisch voll Künstler, und ich nenne Dir ein paar Namen davon, die Dir wohlbekannt sind, in ihrer Mitte ein paar herrschaftliche Reitknechte, mit denen sie in tiefes Gespräch verwickelt sind. Alles durcheinander – hier gilt kein Stand, kein Name – Officiere und Trompeter, Räthe und Schreiber, Herren und Knechte, Meister und Gesellen gemüthlich neben- und durcheinander, vereinigt sie alle das klebende Bier! – Zwischen sie hindurch und durch die aufgestellten Glieder der Wartenden drängt sich ein eigenes Geschlecht, das der Nuß- oder Radiweiber, im Winter Nüsse, im Sommer Rettige anbietend, die häßlichste, runzligste, aber auch die gröbste und zungenfertigste Sorte des schönen und sanften Geschlechts; über ihre Naturgeschichte munkelt man mancherlei: gewiß ist nur, daß das Nußweib, wenn es als solches zur Welt kommt, schon mindestens 40 Jahre alt ist und eine ungekannte Vergangenheit hinter sich hat. Aber dort drüben stehen ein paar Gesättigte auf, sagen ihren Genossen Gute Nacht; eilen wir, ihre Plätze einzunehmen! – „Ja, verzeihen’s, dort mein Bruder und sein Freund warten schon lang auf mich, denen haben wir unsern Sitz versprochen.“

So stehen wir denn weiter, bis das ferne Wirbeln des Zapfenstreichs plötzlich Viele zusammen abruft, und die Bänke sich lichten. Da aber unterdessen die Köpfe etwas begeisterter geworden sind, so tönt, gewißlich zuerst aus der hintersten Ecke, wo eine Schaar von Studenten sich ergötzt, manch’ Lied durch den ungestörten Tumult

[577]

Das Hofbräuhaus in München.

[578] dahin. Haben aber die einen vollen, vierstimmigen Gesang begonnen, so mischt sich leicht aus der andern Ecke ein brüllender Gassenhauer drein, ein wilder Chor kreischt und krächzt ihn mit, schlägt mit den steinernen Krügen den Tact dazu, und endet seine Lust mit einem allseitigen, schallenden Gelächter und Gejohle. – Streit und Zank kommen hier selten vor: wer den Landfrieden stört, wird schnell vor die Thüre gebracht, von wo er gewöhnlich, nach genossener Abkühlung, still und beruhigt wiederkehrt, als ob nichts vorgefallen wäre; – die Gensd’armen, wie zahlreich sie um ihrer selbst willen auch gegenwärtig sind, kennen diese Lynchjustiz und würden sich erst in ihren Mißbrauch einmischen.

Doch die Zeit eilt – Mitternacht rückt heran, und mit dem Hammer, der 12 Uhr schlägt, schlägt auch der Zapfer das Faß zu. So drängen wir uns, denn dem guten Saft müssen wir nun doch volle Gerechtigkeit widerfahren lassen, also ebenfalls und noch einmal bei der Schenke mit hinzu, um von dem letzten „Banzen“, dem’s heute noch an den vollen Bauch geht, unser Theil mit hinwegzukriegen. Da stürzt, wenn er das Klopfen am Spundloch hört, mancher wackere Recke noch einmal herbei, als habe er heute nicht schon zehn, ja zwölf und vierzehn Mal sich füllen lassen; da rechnet der Wirth mit seinem Bleistift in der Hand die Summe des heute verbrauchten Quantums zusammen und ist zufrieden, daß die Durchschnittszahl von neunzig Eimern (5400 Maßen) überschritten ist; da drücken auch wir seelenvergnügt und urgemüthlich uns wieder in die Ecke, der vor Mitternacht gefüllte Krug gibt uns das Recht, sitzen zu bleiben und gemüthlich das Ende der Dinge noch zu beobachten. Allmählich wird es leerer, Gestalt um Gestalt wankt hinaus, Licht um Licht verlöscht, ein paar dienstbare Geister erscheinen, die Fenster zu öffnen, die stehen gebliebenen Krüge zu sammeln und sie bis morgen – statt aller andern Reinigung – in den Trog des Brunnens zu legen. Ein paar Uebermüthige sind eingeschlafen, die Nachbarn hatten theilnahmlos sie verlassen, der Wirth macht noch die Runde, ermahnt sie zur Heimkehr und sagt auch uns im Vorübergehen bedeutungsvoll „Gute Nacht!“

Und mit diesem „Gute Nacht“ gehen auch wir und legen uns mit dem süßen Bewußtsein nieder, morgen frisch und wohl zu erwachen, denn wir haben hier kein „krankes Bier“, wie in Norddeutschland getrunken.




Türkische Eisenbahnen.

Locomotiven und Türken, das klingt wie rothe Republik und Polizeipräsident, wie Biene und Faulthier. Und doch ist der Türke schon auf dem Wege, seine krummen Beine seufzend in das Coupé zu schleppen und mit Verzweiflung die Erfahrung zu machen, daß man sich darin nur auf das Gesäß und nicht auf die Beine setzen kann, oder dieser Wirtschaft stumm den Rücken zu kehren, auf den Tod zu warten und Tabak dazu zu rauchen.

In der Türkei werden wirklich schon Eisenbahnen gebaut, andere sind projectirt und werden in Angriff genommen. Die erste fertige Bahn auf dem Terrain des Korans ist die zwischen Suez und Alexandria, ein Stück Weg zwischen Indien und England und Europa überhaupt. Um diesen Weg noch bedeutend zu kürzen, beabsichtigt man, zwischen Antiochien, Bagdad und Bassorah die sogenannte „Euphrat-Thal-Eisenbahn“ zu ziehen. Die für diesen Zweck gebildete Compagnie hat sich für die Richtung von der Mündung des Orontes über Aleppo nach dem Taber-Schlosse am Euphrat entschieden. Aleppo mit seinen 70,000 Einwohnern treibt bedeutenden Handel mit eigenen Export- und europäischen Import-Artikeln auf Eseln und Kameelen, welche durch schnellere, unermüdliche Dampfpferdekräfte ersetzt und auf das Zehn- bis Fünfzigfache vermehrt werden sollen.

Kleine Dampfer werden zwischen der Mündung der Bahn und Bassorah am Kopfe des persischen Meerbusens die große projectirte Eisenbahn zwischen dem persischen Meerbusen und dem mittelländischen Meere (= 1200 engl. Meilen) auf dieser Stelle ergänzen, bis sie vollendet sein wird.

Dies wird noch lange dauern; aber schon die Erreichung des alten Culturflusses Euphrat ist von der größten Wichtigkeit für die modernen Verhältnisse und Bedürfnisse der Menschheit, die keine faulen Flecke auf der runden Erde mehr dulden soll und will. Der Euphrat öffnet die große ungeheure Ebene Mesopotamiens bis Bagdad und Bassorah, einst die Mitte des üppig blühenden babylonischen Reichs. Bagdad ist schon jetzt eine bedeutende Handelsstadt für den westlichen Theil Persiens. Die ganze Bahn wird Bombay und Malta auf eine Reise von 14 Tagen nähern. Der Weg über’s rothe Meer kostet 20 Tage bis einen Monat.

Zunächst kommt es der Compagnie auf Vollendung der Strecke von Suédiah, dem Thore Kleinasiens, in’s Innere an. Suédiah liegt an der Antiochien-Bucht an der Mündung eines großen Flusses, der in fruchtbare Getreide-, Seide-, Früchte- und Viehheerden-Thäler führt. Diese Thäler sind durch hohe Waldgebirge gegen trockene Winde geschützt. In letzteren schlummern reiche Kohlen-, Kupfer- und Eisenadern. Das Klima ist weich und warm. Schöne, fließende Berggewässer liefern Frische, Fruchtbarkeit, Kühlung und Schönheit. Die alten Römer machten diese Gegenden, so lange sie Syrien besaßen, zur Perle Kleinasiens und Antiochien zu ihrer Hauptstadt. An der Küste entlang kommen wir nach Smyrna, dem großen Hafen dieser Abtheilung des türkischen Reichs für das mittelländische Meer. Früher war Smyrna der Endpunkt der Karawanenzüge aus dem Innern zum Austausch herrlicher Früchte etc. mit europäischen Fabrikaten. Aber durch Eröffnung einer neuen Handelsstraße über Trebisond und Erzerum verfiel Smyrna. Nur Feigen, Getreide und Farbestoffe hielten es aufrecht. Ein innerer Knotenpunkt des kleinasiatischen Handels ist Aidin. Dieser wird durch eine Eisenbahn mit Smyrna verbunden, sodaß die englischen, französischen, italienischen und deutschen Kaufleute von da aus fleißiger und flüssiger mit Marseille, Genua, Livorno, Triest etc. werden verkehren können.

Im Norden Kleinasiens finden wir Samsun, das ein Knotenpunkt der großen europäisch-indischen Straße über die begonnene Moldau-galizische Eisenbahn und über Diarbekir und Bagdad werden wird. Die türkische Regierung hat eine englische Compagnie zur Erbauung einer Eisenbahn zwischen Samsun, Tokat und Siwas bevollmächtigt. Siwas ist nicht weit von Diarbekir, der ersten wichtigen Stadt im lachenden Tigris-Thale, das sich als fruchtbare Ebene bis Mosul und Bagdad erstreckt und einer Eisenbahn gar keine besonderen Schwierigkeiten entgegensetzt. Die ungeheure Ebene ist üppig fruchtbar mit manchen Städten und Dörfern besäet, die für die Ueberfülle ihres Bodens nur Käufer bedürfen, um fleißig, civilisirt und reich zu werden. Die Eisenbahn wird ihnen Abnehmer auf Hunderte von Meilen verschaffen. Der bisherige Transport auf Thier-Rücken ist langsam, kostspielig und deshalb unfähig, dort Cultur zu begünstigen und zu verwerthen. Alles schläft und faulenzt daher in jenen Thälern alter Cultur. Die Eisenbahn wird ihnen wieder Kraft, Frische und Leben schaffen.

Tokat hat unerschöpfliche Kupferminen. Siwas ist der Mittelpunkt eines an levantischen Produkten reichen Districts. Die große Eisenstraße von Calais bis Galatz, vollendet über Deutschland hinweg und in einem Theile Galiziens, wird dahin und bis Indien führen. Es fehlt nur noch der Theil Eisenbahn durch die Moldau, um einen großen Dampfweg von England bis Siwas herzustellen. Die Pforte hat für die betreffende Eisenbahn 7 Procent garantirt und sich verpflichtet, ein Drittel der Actien zu realisiren, so daß das Unternehmen als gesichert und profitabel betrachtet werden kann. Die Pforte hat sich durch diese und andere Eisenlinien das Thor zu einer neuen, wenn such vielleicht unmuselmännischen Zukunft eröffnet. Die Türkei ist der freihändlerischste Staat in der Welt und quält und brandschatzt die Handels- und Culturartikel fleißiger Menschen von allen Zöllnern am wenigsten. Wird erst wirklich producirt und gehandelt in der Türkei, so kommt der Segen des freien Verkehrs auch zu seiner segensreichen Geltung. Leider steht nur zu befürchten, daß sich höhere, westliche Civilisation an Grenzen und Häfen festsetzen und sich Steuern erbitten wird.

Das sind Eisenbahnen für die asiatische Türkei. In der europäischen finden wir auch eine Menge theils projectirte, theils bereits begonnene Bahnen. Die wichtigste ist hier zunächst die von [579] Constantinopel über Adrianopel nach Belgrad, die alte Heerstraße der Römer von der östlichen Hauptstadt nach Mösien. Adrianopel, Philippopel, Sophia und Belgrad liegen alle fast genau in einer geraden Linie nach Wien. Doch das ganze Unternehmen von Constantinopel nach Wien ist eins der großartigsten und schwierigsten, da die Schluchten des Balkan und viele andere Höhen und Thäler durchbrochen und geebnet werden müssen. Weniger kostspielig ist das Project einer Eisenbahn von Rustschuk, dem großen Getreide-Emporium der untern Donauländer, nach Enos am mittelländischen Meere, unterhalb der Dardanellen, nicht über, sondern um den Balkan herum. Eine kürzere Linie ist zwischen Rustschuk und Varna projectirt. Das sind noch Projecte. Für die Bahn zwischen Kustendsche und Czernawoda, welche die große Zunge von Unter-Bulgarien oder die Dobrudscha durchschneidet, ist das Capital schon gezeichnet und der Anfang schon gemacht worden. Man sehe sich eine gute Karte an und man wird finden, daß die Donau, statt hier ihren östlichen Lauf zu verfolgen, einen großen nördlichen Umweg nimmt und dann in mehreren seichten Ausflüssen das schwarze Meer erreicht. Diese Ausflüsse sind nur bei gutem Wetter mit leichten Fahrzeugen schiffbar und sehr vernachlässigt worden. Dabei hat der Handel von Galatz, dem Hafen der Moldau, und Ibraila, dem Handelsmittelpunkte der Walachei, seit 1838 mehr als fünfzehnfach zugenommen. Kann man nun mit Eisenbahn diese beschwerlichen, kostspieligen Straßen der Donaumündungen umgehen, so wird der Verkehr mit den von Natur so reichen Ländern Moldau und Walachei vielleicht auf’s Dreißigfache gesteigert uns und ihnen zu Gute kommen. Von den westlichen Theilen der Walachei wird das Getreide auf schlechten Landwegen nach Kalafat und von da in Donaubarken nach Ibraila befördert. Von der inneren Walachei, der Moldau und Bulgarien bedient man sich elender Karren, um den goldenen Ueberfluß auf die Donau zu bringen. Agenten von Kaufleuten handeln das Getreide direct von den Bauern ein und schaffen es auf die angedeutete, mühsame, riskante Weise in die Emporien und Häfen. Dabei blühen Lug und Trug, Verzug und Verlust, Mord und Todtschlag, wofür auch wir büßen und bezahlen müssen, da zu wenig Getreideüberfluß und zu theuer auf die Weltmärkte kommt und alle Viergroschenbrode der Welt abhält, die gehörigen Dimensionen für den gemeinen und armen Mann anzunehmen.

Bisher kommen ungeheure Getreidelasten für Europa, besonders für England, in der angedeuteten Weise aus den unteren Donauprovinzen. Aber es fehlt an wohlfeilen und hinreichenden Transportmitteln in’s schwarze Meer. Daher leiden die Donaubauern an Ueberfluß unverwerthbaren Getreides, in Folge davon an Faulheit und Demoralisation aller Art, und wir an Mangel der nöthigen Lebensmittel, deren die Erde bei nur einigermaßen erträglicher Bewirthschaftung und guten Straßen für doppelt so viel Menschen, als jetzt nicht genug zu essen haben, in Hülle und Fülle liefern würde. Die projectirte Eisenbahn will dem Ueberflusse der untern Donau einen Weg nach dem schwarzen Meere und so nach dem westlichen Europa bahnen, und überdies dem von Natur reichsten, aber künstlich armen Lande Bulgarien Menschen verschaffen, die golden lohnender Ackerbau und blühende Viehzucht hierher locken wird. Die Eisenbahn zwischen Kustendsche und Czernowada wird dies thun. Kustendsche, das alte Constantia, war ehemals eine blühende Stadt mit lebendigem Hafen. Die Ruinen alter Kirchen, Ueberbleibsel alter, prächtiger Hafenbauten u. s. w. legen noch Zeugniß davon ab. Hinter ihr breiten sich große offene Ebenen mit dem fruchtbarsten Alluvialboden aus. Das Terrain steigt und ist ungemein gesund. Nur ein Fluch lastet auf der von Natur gesegneten Gegend: der Krieg mit seinem Gefolge. Wer diesen Fluch von den Donauländern nähme, würde sich allerdings um die Menschen dort und überall verdienter machen, als die Eisenbahn-Compagnie. Kustendsche kann mit einigen Wasserbauten zu einem Hafen, sechsmal größer, als der von Odessa, erweitert werden. Außerdem ist hier das Wasser stets eisfrei und zweihundert englische Meilen näher dem Bosporus als Odessa.

Die Dobrudscha besteht aus 5000 englischen Quadratmeilen reichen, lockeren, porösen Bodens, im Allgemeinen 300 Fuß höher, als die Meeresfläche. Nur im Norden steigen die Hügel auf bis zu 2500 Fuß hohen Waldgebirgen, welche das Land vorn gegen kalte Winde schützen und vor dem Austrocknen bewahren. Der Boden ist wellig von Hügel und Thal mit vielen malerischen Sectionswindungen. Flüsse bleiben bisher freilich größtentheils in Sümpfen stecken, doch können die Thäler leicht zu ordentlichen Flußbetten verbunden werden. Der Boden ist bis zu beträchtlicher Tiefe reicher Humus, der Bäume, Cerealien, Küchengewächse und Blumen üppig in die Höhe treibt. Die Eisenbahn wird an einer Reihe von Seen, Nebengewässern der Donau, hingeführt und zwar auf einem vier bis sechs Fuß hohen Dammwerk, das am 22. October vorigen Jahres begonnen ward.

Das sind die projectirten oder in Angriff genommenen türkischen Eisenbahnen, denen jedenfalls bald andere folgen werden, da die Regierung selbst die politische und sociale Nothwendigkeit derselben einsieht und alle möglichen Begünstigungen bietet. Die politische Wichtigkeit besteht besonders in Verbindung ferner, durch Wüsten getrennter Regierungsstädte, die bis jetzt schwer zugänglich, schlecht zu controliren waren, so daß die Regierungsbeamten in Bestechung und Corruption aller Art das Land nur für ihren Beutel aussaugten, ohne daß Constantinopel etwas davon erfuhr oder dagegen etwas zu thun im Stande war. Die sociale und ökonomische Wichtigkeit leuchtet ein, wenn man bedenkt, daß hauptsächlich Mangel an Communicationsmitteln die reichsten Strecken auf Hunderte von Meilen in traurige Wüsten verwandelte.

Wir haben angedeutet, daß diese Eisenbahnen „hinten weit in der Türkei“ auch dem „Haben“ in unsern Contobüchern zu Gute kommen werden, ohne daß wir Actien nehmen. Bei der allseitigen und flüssigen, schnellen Verbindung aller Weltmärkte kann sich Jeder in jedem Winkel der Erde freuen, wenn irgendwo etwas Gescheidtes zur Erleichterung des Austausches der Producte und Fabrikate der Erde, von Waaren oder Ideen gethan wird, denn in irgend einer Weise kommt es uns immer zu Gute, wo wir auch stecken und was wir auch thun und treiben.

Das ist das Wesen und die Macht, der Segen und Reiz des sogenannten Kosmopolitismus, der nicht in Worten und Hirngespinnsten besteht, sondern die Welt wirklich in allen Fugen und Poren, in allen Muskeln und Nerven bewegt, und den wir uns nur etwas klar zu machen, zu Herzen zu nehmen brauchen, um über Elend und Misere des Tages und localer Scheerereien hinweg getragen zu werden und auf dem großen Erdenrund zu finden, was wir in unserer nächsten Umgebung oft vergebens suchen.




Blätter und Blüthen.

Ein Krokodilkönig. Die Malaien waren, ehe sie zum Islam bekehrt wurden, wahrscheinlich größtentheils Buddhisten, wenigstens findet man Ruinen von Buddha-Tempeln noch auf Java, Sumatra und Borneo, und die Lehre von der Seelenwanderung hat durch die mohammedanische Lehre nicht ganz ausgetilgt werden können. Ich wollte einst auf Sumatra einen Tiger schießen, der einem Malaien, bei dem ich logirte, bereits mehrere Büffel geraubt hatte, doch mein gewissenhafter Wirth gab mir zur Antwort: „Dieser Tiger ist mein Großvater, ich will daher wegen ein paar Büffeln nicht eine so blutige Rache nehmen. Ein Anderes wäre es, wenn er einen Menschen getödtet hätte.“ Dieser Grundsatz ist ziemlich allgemein, man verfolgt selten Tiger oder Krokodile, wenn sie nur Vieh geraubt haben. Mit einem andern Malaien fuhr ich einst einen kleinen Fluß aufwärts; am Ufer lagen mehrere Krokodile, und ich hätte sie mit leichter Mühe schießen können, doch mein Begleiter bat mich dringend, dies zu unterlassen. Sein Haus stand nicht weit vom Fluß, und seine Ziegen und Büffel löschten täglich ihren Durst in demselben, dennoch kam es höchst selten vor, daß die Krokodile ein Stück Vieh raubten. Dagegen fürchtete er die Rache der Krokodile, wenn ich auf sie schießen würde. Es ist übrigens gewiß, daß in einigen Flüssen eine gewisse Krokodils-Humanität zu herrschen scheint, und weder Menschen noch Vieh durch diese Thiere angegriffen werden, während sie in andern Flüssen außerordentlich gefährlich sind. Die Ursache hiervon ist wahrscheinlich die, daß in Flüssen, welche besonders fischreich sind, die Krokodile Nahrung genug finden, während sie, wenn ihnen in anderen Gewässern diese fehlt, aus Hunger Menschen und Vieh anfallen.

Eine sehr komische Geschichte trug sich während meiner Anwesenheit in Pontianak, auf der Westküste von Borneo, zu. Die Malaien haben hier den Aberglauben, daß auf dem Grunde des Meeres oder Flusses ein König der Krokodile in einem prächtigen Palast residirt; wenigstens glaubt dies ein großer Theil des gemeinen Volks.

Damals (1852) lebte in Pontianak ein wohlhabender Malaie, mit [580] Namen Tuwan Ali. Er hatte einen Diener, der ein höchst träger Bursche und zugleich liederlich war, und dem guten, aber etwas dummen Tuwan Ali vielen Kummer machte. Er hätte ihn längst aus seinem Dienst entlassen, wenn ihm Kapak, so hieß der Knecht, nicht eine ansehnliche Summe Geldes schuldig gewesen wäre.

Eines Tages ist Kapak spurlos verschwunden; Niemand weiß, wo er geblieben. Indessen hatte man seine Däta (Kopftuch) auf dem Wasser schwimmend gefunden, und man vermuthete mit Recht, daß Kapak von einem Krokodil verzehrt sei. Tuwan Ali war ganz untröstlich, denn das Krokodil hatte mit Kapak zugleich 150 Rupien verzehrt, welche er als orang-ber-utang[3] seinem Herrn schuldig war. Das übrige Gesinde meinte, Kapak hätte den Tod verdient, weil er ein Erz-Lügner und Aufschneider, Opiumraucher und Spieler gewesen sei; einige nannten ihn sogar einen Dieb.

Es waren vier Wochen seit dem Verschwinden Kapak’s verflossen, als Tuwan Ali eines Abends vor seinem Hause, welches dicht am Flußufer stand, auf und ab wandelte. Der Mond beleuchtete mit seinem silberfarbenen Licht den Strom; das Staatsboot Tuwan Ali’s lag an seiner gewöhnlichen Stelle am Ufer und der aus Holz geschnitzte Drachenkopf, mit dem das Boot am Vordertheil verziert war, schien vorwurfsvolle Blicke auf ihn zu werfen, denn bei solchem schönen Mondlicht pflegte er sonst den Fluß zu befahren, um zu fischen. Bei diesen Gelegenheiten war es aber stets Kapak gewesen, der das Boot lenkte, denn kein anderer Diener war so gewandt im Rudern, keiner so geschickt im Schwimmen und Tauchen, wenn dies bisweilen nöthig war, um einen Fisch herauf zu holen, oder wenn das Wurfnetz auf dem Grunde fest saß. Es war daher nicht zu verwundern, daß wehmüthige Erinnerungen an Kapak in Tuwan Ali auftauchten, sodaß er schwere Seufzer ausstieß, welche halb den verlorenen 150 Rupien, halb den wirklich seltenen Verdiensten Kapak’s als Ruderer, Schwimmer und Taucher galten. Da plötzlich vernimmt er die Stimme Kapak’s aus dem Wasser, der wehmüthig, aber ganz vernehmlich seinen Namen ruft. Er traut seinen Ohren nicht, aber noch einmal ruft es noch schmelzender: „Tuwan Ali!“ Er ist eben im Begriff Reißaus zu nehmen, als er den Kopf Kapak’s jetzt deutlich auftauchen sieht; mehr und mehr erhebt sich die Gestalt des verlorenen Dieners aus den Wellen und tritt endlich feierlich an’s Ufer. Tuwan Ali konnte nicht mehr laufen, sonst wäre er sicher nicht stehen geblieben, er war wie festgezaubert durch diese Erscheinung, denn wer anders als der Geist Kapak’s konnte dies sein?

„Ich beschwöre Dich beim Propheten,“ ruft er in Herzensangst Kapak zu, „mich nicht zu beunruhigen; kommst Du wegen Deiner Schuld, sie ist Dir längst erlassen; ich bitte Dich, weiche von mir, kehre zurück in Dein nasses Grab.“

Doch Kapak ließ sich nicht beschwören; er blieb fünf Schritte vor seinem Herrn stehen, hob seine Hände auf und rief feierlich: „Ich segne Dich, Tuwan Ali, und bringe Dir einen Gruß vom Krokodilkönig, ich bringe Dir frohe Botschaft, ich bringe Dir großes Glück; denn wisse, ich bin kein Geist, sondern Dein treuer Diener Kapak leibhaftig, der volle vier Wochen Diener bei Sr. Majestät dem Krokodilkönig war, nun aber, aus purer Anhänglichkeit und Liebe zu Dir, wieder zurückkehrt in diese elende Oberwelt.“

Wer vermag das Erstaunen, die Freude des vor Schreck zitternden Tuwan Ali zu schildern? Er war keines Wortes fähig und eilte, ganz betäubt von diesem wunderbaren Ereigniß, mit dem von Wasser triefenden Diener in seine Wohnung. Hier erzählte nun Kapak folgendermaßen: „Ich badete mich wie gewöhnlich vor dem Schlafengehen auf dem Rakit[4], als mich der Schlag eines Krokodils in’s Wasser stürzte. Ich verlor die Besinnung und weiß nicht, was weiter mit mir vorging. Jedenfalls nahm mich das Ungeheuer in seinen Rachen und fuhr mit mir abwärts in die Tiefe. Als ich aus meiner Ohnmacht erwachte, befand ich mich im Palast des Krokodilkönigs, welcher auf einem herrlichen goldenen Kissen saß und behaglich eine Opiumpfeife rauchte. Es ist ein sehr leutseliger Herr, denn nachdem ich ihm den Pantoffel geküßt, klopfte er mich auf die Schulter und sagte: „Du treuer Diener, ich habe Dich lange beobachtet; Tuwan Ali hat die Perle nie genug geschätzt, welche er an Dir besaß, darum habe ich den Auftrag ertheilt, Dich aus deiner unwürdigen Stellung zu befreien. Du bist von jetzt an erster Aufseher in meinem Palast.“ Zugleich überreichte er mir diesen kostbaren, mit Edelsteinen verzierten, goldenen Dolch.“ Mit diesen Worten zog Kapak einen sehr schmutzigen, alten Dolch aus seinem Gürtel.

„Gold und Edelsteine!“ rief Tuwan Ali, „aber ich bitte Dich, das ist ja eine ganz gewöhnliche hölzerne Scheide.“

„Ja, das ist der Zauber,“ rief Kapak, „ich habe mir es beinah gedacht, sobald diese Kostbarkeiten an die Oberwelt kommen, verwandeln sie sich in ganz unansehnliches Zeug. Da, seht diese Jacke an, Tuwan Ali!“ hierbei wies er auf eine zefetzte blaue, kattunene Jacke. „Vor einer halben Stunde war dieser Stoff noch kostbarer Goldbrocat, diese Knöpfe große Diamanten; es ist ganz zum Verzweifeln, so bin ich also wieder ruinirt. In dieser Tasche trug ich ein Päckchen kostbarer Edelsteine, wovon ich Euch einige verehren wollte; laßt sehen, was aus ihnen geworden ist.“ Mit diesen Worten langte Kapak ein Päckchen hervor, öffnete es hastig und schien ganz bestürzt, als es nur elende Kieselsteine enthielt. „O, dieser verdammte Zauber!“ rief er ganz wüthend, „so bin ich also wieder ein armer Lump wie vorher, und allein wegen meiner großen Ehrlichkeit, meiner Anhänglichkeit an Euch; ich wollte meine Schuld, die 150 Rupien, bezahlen. Es war keine Kleinigkeit, aus dem Palast zu entfliehen; ich mußte alle Schlauheit anwenden, um dies auszuführen.“

Tuwan Ali standen die Thränen in den Augen vor Rührung, und es fehlte wenig, so hätte er Kapak die Schuld erlassen; jedoch besann er sich noch bei Zeiten; denn wunderliche Zweifel kamen in ihm auf. Die Verwandlung des Dolches und der Edelsteine war doch etwas seltsam, auch sah Kapak sehr abgemagert aus, welches er doch mit dem herrlichen Leben, das derselbe geführt haben wollte, nicht zusammen reimen konnte. – Kapak behauptete indeß auch hier, daß dies Alles mit Zauberei zugehe, er wäre noch vor fünfzehn Minuten so wohl genährt gewesen, daß er wahrhaft vornehm ausgesehen hätte. Man stritt hin und wieder in Pontianak über Kapak’s Abenteuer; man bedauerte ihn und bewunderte ihn, oder schalt ihn einen nichtswürdigen Lügner, je nachdem man mehr oder weniger an das Dasein des Krokodilkönigs glaubte.

Da traf zum Unglück für Kapak die Nachricht ein, daß man ihn in einem funfzehn Meilen von Pontianak entfernten Dorfe während seiner Abwesenheit gesehen haben wollte. Kapak lächelte nur verächtlich über solche Verleumdungen und behauptete, daß er als erster Aufseher allerdings hätte Einkäufe machen müssen, und daß es daher gar kein Wunder sei, wenn man ihn auch hin und wieder an anderen Orten gesehen hätte.

Warum Kapak wieder zu seinem Herrn zurückkehrte, ist schwer zu sagen. Es scheint, daß er während seiner Reisen eben kein besonders gutes Leben führte, und sich daher nach der guten Kost in Tuwan Ali’s Hause zurücksehnte. Denn ohne Zweifel war es seine ursprüngliche Idee, davonzulaufen, um nie wieder in das Haus seines Schuldherrn zurückzukehren.

v. K.




Schulze-Delitzsch, als Berichterstatter der Frankfurter Commission in der Einigungsfrage am 16. September, nachdem er zur Vertheidigung seines von ihm entworfenen Statuts gesprochen hatte, nahm Bezug auf das altgermanische Institut der Geschworenen, wie es sich in unserm Brudervolke in England erhalten habe, und schloß mit den begeisterten Worten:

„Wenn die Geschwornen dort zusammentreten, so dürfen sie nicht eher die Stätte verlassen, als bis sie sich über den Wahrspruch vollständig geeinigt haben.

„Sie, die hier Versammelten, sind die Geschworenen des deutschen Volks in dieser großen Frage, und Sie dürfen diesen Saal nicht verlassen, bis Sie den Wahrspruch gefunden haben über die von der ganzen Nation heißersehnte Einigung.

„Geistige Wächter hüten den Eingang und scheuchen Alle zurück, die entweichen wollen. Es sind der Schmerz und Jammer unseres Volks, seine zertretene Größe, seine geschändete Ehre. Die brennendste Schaam müßte mich verzehren, wenn ich ohne Frucht von diesem Einigungswerke zurückkehren sollte zu denen, die mich gesendet; die brennendste Schaam, die es gibt, nicht blos in der eignen Seele, die Schaam in der Seele meines Volks!

Man kann sich denken, welchen tiefen, nachhaltigen Eindruck diese erschütternden Worte hervorbrachten.

Die Bewegung zur Schaffung einer einheitlichen deutschen Gewalt, welche durch die Eisenacher Beschlüsse zuerst hervorgerufen wurde, schreitet übrigens mächtig vorwärts und wird nicht ohne Resultat bleiben. Daß selbst die reaktionäre Presse, welche sich mit aller Macht gegen die Richtung der Reform anstemmte, die Berechtigung und Gesetzlichkeit dieser Bewegung anerkennt und ihr freien Lauf wünscht, beweist die „Augsburger Allgemeine Zeitung“, die anfangs mit Spott und Hohn gegen die Eisenacher Versammlung ankämpfte. Sie sagt in ihrer neuesten Nummer:

„Bedauerlich wäre es, wenn diese oder jene Bundesregierung auf den Einfall geriethe, einem ihrer Staatsbürger die Betheiligung an einem Verein zu verwehren, der eine Verschmelzung liberaler und radicaler Meinungen behufs einer Neubildung Deutschlands zum Gegenstand hat. Meinungen und Bestrebungen im politischen Leben der Völker hintertreiben oder auch nur polizeilich controliren wollen, heißt dem politischen Fortschritt unseres Volks Fesseln anlegen und einer gedeihlichen Entwicklung unserer Nationalität entgegenarbeiten. Wer die gegenwärtige Bewegung unbefangen ansieht, der kann sich nur darüber freuen, daß wir endlich in Deutschland auf dem Punkte angelangt sind, wo Wünsche, Anschauungen, Standpunkte laut werden können. Um wie viel befriedigender wäre die letzte Krisis abgelaufen, wenn in den deutschen Ländern in demselben Maße Preß- und Vereinsfreiheit respectirt worden wäre, als dies gegenwärtig der Fall ist!“




Jahn’s Grabdenkmal in Freiburg a. d. Unstrut. Es ist etwa zwei Jahre her, daß die Zeitungen die Nachricht verbreiteten, es haben die Anhänger und Freunde des deutschen Turnwesens beschlossen, dem Altmeister Jahn in Freiburg a. d. Unstrut, seiner Grabstätte, ein einfaches Denkmal zu errichten, als ein Zeichen der dankbaren Verehrung, welche man seinem volksthümlichen Streben als Schriftsteller, Vaterlandsfreund und Turnmeister zollt. Die Turnvereine unseres deutschen Vaterlandes haben redlich ihr Scherflein beigetragen, daß das Werk zu Stande komme, und so haben wir denn die Enthüllung des Denkmals in nächster Zeit zu erwarten.

Dasselbe besteht aus einem Unterbau von polirtem Granit (Stufe und Sockel). Das sehr schöne, groß-körnige Material hierzu ist aus dem Steinbruch „zum Riesenstein“ bei Meißen genommen, und die Höhe des Unterbaues beträgt circa sechs Fuß. Der Verfertiger desselben ist der Steinmetzmeister Uhlmann in Dresden. Hierüber wird sich die etwa ein und einhalb lebensgroße, vom Bildhauer Johannes Schilling in Dresden modellirte, von der Nürnberger Kunstgießerei in Bronze ausgeführte Büste Jahn’s erheben. Ein kürzlich in Dresden ausgestellt gewesener Gypsabguß des Modells zeigt den alten Turnvater in guter Portraitähnlichkeit und im Ganzen gelungener Individualisirung; auch die Verhältnisse des ganzen Denkmals, das zu dem Abguß provisorisch mit ausgestellt war, bekundeten schönes Ebenmaß. Die feierliche Enthüllung des Denkmals ist auf den 16. October d. J. angesetzt und wird voraussichtlich unter zahlreicher Betheiligung jüngerer Turner wie älterer Männer aus den Jugendfreunden und Anhängern Jahn’s stattfinden.


Verlag von Ernst Keil In Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.

  1. Plural von „Nissr“ – Geier – wörtlich „der Zerfleischende“.
  2. Ich habe später diese Vögel beobachtet, wie sie einem Bewohner Charthúms ein Stück Fleisch aus einer Mulde nahmen, welche dieser offen auf dem Kopfe trug.
  3. Orang-ber-utang sind Schuldner, welche, so lange sie nicht ihre Schuld bezahlt haben, gegen Kost und Kleidung arbeiten müssen. Auf Borneo ist diese Art Dienstbarkeit allgemein, und alles Gesinde der wohlhabenden Malaien sind solche Schuldner.
  4. Rakit, ein hölzernes Floß. Die Malaien baden sich, indem sie mittelst eines Gefäßes Wasser über sich gießen.