Die Gartenlaube (1861)/Heft 16

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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ferdinand Stolle
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Entstehungsdatum: 1861
Erscheinungsdatum: 1861
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[241]

No. 16.   1861.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Verantwortl. Redacteure F. Stolle u. A. Diezmann.


Wöchentlich bis 2 Bogen.    Durch alle Buchhandlungen und Postämter vierteljährlich für 15 Ngr. zu beziehen.



Am Scheidewege.

Von Th. Mügge.
(Fortsetzung.)


3.

Der Lieutenant Bonaparte ging nicht in das hohe, finstere Haus, in welchem er wohnte, sondern an dessen Thür vorüber und Straßen und Gassen hinab und hinauf, bis er endlich wieder an den Strom und zwischen die Felder und Gärten gelangte, wo er ruhelos weiter irrte. Er war in großer Aufregung, sein Blut glühte in allen Adern, tausend verschiedene Vorstellungen kreuzten durch seinen Kopf. Dieser tückische Carlo Andrea hatte ihn mit Nadeln zerstochen. Er hatte ihm unter scheinbarer Theilnahme und Bestimmung die schmählichsten Dinge gesagt: daß er mit Hülfe eines Mädchens, mit einer Speculation auf ihre Hand sich der Hofpartei empfehlen lassen wollte; daß er den Adel der Bonaparte’s bezeugt habe, obwohl alle Corsen wußten, wie es mit diesem Adel stand und welchem Einfluß die Bevorzugung zu der Zahl der Vierhundert zu danken war. Und dieser Hohn verschärfte sich durch die Art, wie Pozzo di Borgo von dem Capitainspatent und Oberstenrang gesprochen hatte, die den Segen der Schwiegermutter und die Umarmungen der Verwandten bewirken sollten; endlich aber wirkten die falschen Zweifel und Einreden, mit welchen Carlo Andrea die Erklärung aufgenommen, daß keine Speculation, sondern wahre Liebe die Triebfeder zu Napoleon's Plänen und Wünschen sei, und was er weiter daraus folgerte, wie Stacheln, deren Stiche er nicht länger zu ertragen vermochte und die ihn fortgetrieben hatten.

Und nun er in Nacht und Dornenhecken umherlief, brannte ihm der Kopf noch mehr davon. Was der kaltblütige, so sanft und freundlich sprechende und doch so hinterlistige Mensch gesagt, ließ sich mit aller Gewalt nicht Lüge nennen. Er hatte mit seinen schwarzen, stillen Augen bis auf den Grund gesehen und mit unbarmherziger Sicherheit jede sophistische Täuschung abgeschlagen und vergolten. Dürstete Napoleon nicht nach Thaten, nach Ruhm, nach Auszeichnung? War sein Kopf nicht voll heißer Träume, seine Gedanken in ewiger Arbeit, sein Gehirn voll ehrgeiziger Pläne, voll fieberheißer Vorstellungen? Und was er heute gedacht, verwarf er morgen; wonach er jetzt gestrebt, zerriß er in der nächsten Stunde. Mächtigen Männern empfohlen zu werden, rasch aufzusteigen zu den Höhen des Lebens, mit kühner Hand in die Geschicke eines mächtigen Volkes zu greifen – welch bezauberndes Bild! Aber wer waren diese Protectoren? Die Herren, die Feinde des Volks! Sie die aller Haß traf, sie die zu einer Kaste von Bevorrechteten gehörten, die vernichtet werden mußten, wenn die neue Zeit, die Zeit der Gleichheit, der Gerechtigkeit anbrechen sollte. Und Carlo Andrea halte ihm diese Protektion hohnvoll vorgehalten, den Abfall von seinem Vaterlande, Abfall von den Lehren der Freiheit und Wahrheit. Ein Speculant, der sich den Feinden des Volks verkauft, ein Speculant, der ein Weib betrügt, um mit deren Hülfe in die Zahl der Bedrücker aufgenommen zu werden!

„Nein; nein!“ rief er mit Heftigkeit, „es ist Lüge! Was ich will, ist gerecht! ich verkaufe mich nicht, verrathe mich nicht! Ich will einen Platz einnehmen, wo ich den tugendhaften Männern beistehen kann, die für Recht und Wahrheit kämpfen; ich will die Fahne des Volkes tragen, ich will sein Arm und sein Schwert sein! Das ist mein Ziel, ihm soll mein Leben geweiht bleiben. Speculant!“ fuhr er fort, „ich verachte diesen nichtswürdigen Namen. Ich liebe Beatrice, ich liebe sie! Ich will es beweisen, will es diesem elenden Spötter beweisen. Ist sie nicht schön und liebenswürdig, edel und gut? Und mir gehört ihr Herz allein. Ja, Beatrice, ich liebe Dich! ich liebe Dich! vor aller Welt will ich es bekennen!“

Er hatte einen hohen, kahlen Hügel erstiegen und am jähen Rande desselben sich auf einen Stein gesetzt. Von unten brauste der Strom dumpf herauf, oben am Himmel kündete ein mattes Leuchten im Osten den nahenden Tag an. So saß er mit glühendem Gesicht lange Zeit, den Rücken an einen wilden Oleander gelehnt, den Hut neben sich am Boden, mit starren Blicken in die dunkle Tiefe schauend. Und wie mit Rabenflügeln rauschte es um seinen Kopf, und vor seinen Augen spannen sich finstere Fäden und Netze, die über sein Gesicht fielen. Es war ein Zustand halb Traum, halb Wachen, er vermochte sich nicht zu rühren, aber an seinem Ohr hörte er die tiefe Stimme Pozzo di Borgo’s, welche laut und langsam sprach: „Geh hin, Du Thor, geh und vollführe Deine kindischen Pläne, mich erfreuen sie. Verachte Dein Vaterland, verrathe Dein Volk, wirf Dich in die Arme seiner Tyrannen, Du gehörst zu ihnen und wirst mit ihnen verderben. Deine eitle Blindheit sieht nicht, wie das Verderben ihnen naht, sieht nicht, wie der tarpejische Felsen schon vor ihnen steht, von dem sie Alle hinabgestürzt werden, ihrem Könige nach, der zuerst hinunter muß. Siehst Du nicht, daß dies eine Revolution ist, die sie Alle verschlingt? Siehst Du nicht, daß keiner dieser stolzen Uebermüthigen verschont bleibt? – Laß Dich ihnen nur empfehlen, hoffe nur auf ihre Gunst und Gnade; Du wirst in Spott und Schande mit ihnen enden, verflucht, verdammt von allen besseren Menschen, ein Verräther, ein Elender, der die Freiheit verkauft und verrathen hat!“

„Nein, nein!“ stöhnte Bonaparte, „ich bin ein Sohn des Volks.“

[242] „Du ein Sohn des Volks? Du ein Held der Menschheit?“ rief die Stimme hohnvoll; „Du könntest ihre Geißel werden. Wo sind die Hoffnungen, welche Paoli auf Dich setzte? Er, der edle, tugendhafte Greis, der sich täuschen ließ von Deinen Lügen? Wo sind Deine Grundsätze, die Du heucheltest und die Du mit Füßen trittst? Wo ist Dein Muth, mit dem Du vorgabst der Freiheit und der Tugend Dein Leben zu weihen und für Wahrheit und Recht zu kämpfen bis zum Tode?“

„Ich will! ich will!“ murmelte Bonaparte sich qualvoll windend.

„Du willst nicht!“ sprach die Stimme an seinem Ohre, „es ist Alles falsch an Dir, Alles erlogen, nichts wahr und gewiß, als Dein unersättlicher Ehrgeiz. Du bist ein Corse, ein echter Corse mit allen seinen schlimmen Eigenschaften und seinen Lastern, ohne seine Tugenden zu besitzen. Treue kennst Du nicht, Freundschaft hat keinen Werth für Dich, nur Deine Vortheile berechnest Du und Deine Liebe verkaufst Du. Lüge nicht, Tu weißt, daß es so ist. Lüge nicht. Du betrügst sie Alle, nur mich nicht und Dich selbst nicht. Lüge nicht, Du liebst Beatrice nicht, Du liebst keinen Menschen auf Erden und magst keinen lieben; das wird Dein Loos sein und Verlassenheit Dein Ende!“

„Fort von mir!“ schrie Bonaparte mit wüthender Gebehrde und in gewaltiger Anstrengung richtete er sich empor, da war das gespenstische Traumbild verschwunden. Er blickte verstört umher, seine Lippen zuckten und zitterten, seine Hände ballten sich krampfhaft, er bedeckte das bleiche, blutlose Gesicht. Oede und einsam war es Überall, aber vom Himmel strömte ein rosiges Leuchten aus und vor ihm sank es nieder auf das Thal und auf den Garten am Strome und auf das Landhaus mit dem hohen Dache, das unter den Bäumen hervorschaute. Und wie er darauf hinabsah, schien das Laub sich Heller zu röthen, und die Blumen nickten zu ihm herauf, und der Wind kam geflogen und flüsterte ihm etwas zu, daß er plötzlich aufsprang und beide Arme ausstreckte. „Zu Dir, meine Beatrice!“ rief er, „errette Du mich vor diesem Spuk! Ein Höllenwerk ist es,“ schrie er auf, und seine rollenden Augen blickten in den feurigen Punkt am Himmel; er legte die geballte Hand auf sein Herz. „Ich liebe sie, ja, ich liebe sie! Ich will zu ihr, will es mit tausend Eiden schwören. Es soll kein Mensch, kein Gott daran zweifeln!“

Er raffte seinen Hut auf und ging mit vorsichtigen Schritten an der Hügelwand hinab, wo ein schmaler Pfad über das Gestein führte, und bald stand er an der kleinen Pforte, wo die weinbelaubten Terrassen sich an den Berg lehnten. Einen Augenblick blieb er dort stehen und schien in Gedanken versunken. Jetzt war es, als wollte er sich entfernen, ein widerwilliges Empfinden drückte sich in seinen Mienen aus; doch in der nächsten Minute verschwand dies. Rasch und lächelnd öffnete er die Thür und trat hinein. Die Rebengehege verbargen ihn, leise ging er darunter fort, die Stufen hinab und schaute in die stillen, noch halb in Morgenduft gehüllten Gänge. Es regte sich kein Blatt. In der Ferne murmelte die Fontaine, durch die Blumen ging ein Flüstern, in den Baumkronen schaukelte sich das Licht und in der höchsten begann ein Vogel zu singen.

Wo die Reben endeten, befand sich eine Laube, und vor ihr zu beiden Seiten standen zwei Kirschbäume mit tiefhängenden Zweigen, dicht bedeckt von dunkelrothen, süßen Früchten. Auf der Bank unter dem einen dieser Bäume setzte sich Bonaparte nieder, und seine Augen hefteten sich auf das Landhaus auf ein Fenster im oberen Geschoß, das zwischen den hohen Lorbeerrosen, die daran hinaufreichten, sichtbar wurde. Als er darauf hinsah und seine Blicke nur brennender wurden, hörte er hinter sich in der Laube ein Rauschen und leises Lachen, und als er aufsprang mit ahnungsvollem Lauschen, fand er Beatrice Colombier halb versteckt unter dem grünen, reichen Geblätter, halb vorgebeugt ihn erwartend.

Die Hände nach ihr ausgestreckt, regte er sich doch nicht und näherte sich nicht. Er betrachtete sie einige Augenblicke, wie von seiner Ueberraschung gefesselt; in lieblicher Verwirrung ließ sie es geschehen. In dem weißen, leichten Morgengewande sah sie wunderbar schön aus. Braune Locken fielen frei in ihren Nacken, ein süßes Liebeslächeln schwebte auf ihren Lippen, dabei blickten ihre Augen schüchtern und fast furchtsam in seine unbeweglichen Mienen.

Mit einem Male aber verschwand diese Starrheit und verschmolz in einem auflodernden Feuer. „Meine liebe, meine angebetete Beatrice!“ rief er, während er die weißen, kleinen Hände mit Küssen bedeckte. „Wie vielen Dank, wie viele Freude empfinde ich in diesem Augenblick! Ich wähnte mich allein mit meiner Sehnsucht, vergessen von der, mit der mein ganzes Denken sich beschäftigt; der Gedanke erstickte mich, nun bin ich herrlich davon erlöst!“

„O,“ sagte Beatrice, indem sie sich an ihn schmiegte und schmeichelnd schmollte, „hatte mein Freund so wenig Vertrauen? Versprach ich nicht gestern, beim ersten Morgenscheine hier zu sein? und noch ehe dieser kam, da es noch ganz finster war, befand ich mich schon in der Laube und wartete und ängstigte mich.“

„Warum, theure Beatrice, warum?“

„Weil – weil – Ich weiß es nicht, es war Thorheit. Ich konnte nicht schlafen, mein Herz ließ mich nicht schlafen. Ein böser Geist flüsterte mir zu: Es ist vergebens. Da schlagen die Glocken schon vier Uhr. Du kannst das Kreuz der Kapelle an der Brücke sehen. Es ist zu spät.“

„So läuteten böse Geister auch mir ihre Glocken!“ rief Bonaparte fröhlich. „Doch wir jagen sie in die Flucht. Ich bin hier, um allen falschen Stimmen zu trotzen, hier bei meiner geliebten Freundin, und diese fürchtet sich nicht mehr.“

Er blickte sie an, sie schüttelte lächelnd den Kopf, und als er sie inniger umfaßte, ließ sie es geschehen und sträubte sich nicht.

„Beatrice vertraut mir?“ fuhr er fort.

Sie nickte ihm zu. –

„Sie glaubt an mich ?“

„Alles! Alles!“

„Daß ich Dich liebe, daß ich Dich anbete?“ rief er mit steigender Leidenschaft so laut, daß es schallte.

Beatrice blickte scheu umher, kein Lauscher war zu entdecken. Seine zärtlichen Schwüre fanden keinen Widerstand mehr, sie legte ihre Hand auf ihn, und ihre leuchtenden blauen Augen sagten ihm noch mehr, als ihre Worte.

„Liebst Du mich denn auch ganz allein, so wahr und treu, wie ich Dich liebe,“ flüsterte sie, „mein theurer, mein einzig geliebter Freund?“

„Zweifle nicht daran, zweifle nicht!“ rief er, und seine schwarzen Augen funkelten brennend. Er beugte sich von ihr zurück und schaute sie an. „Ob ich Dich liebe? Frage nicht, meine edle, meine schöne Beatrice. Ich liebe die Ehre, ich liebe den Ruhm, nichts kann mich von ihnen trennen; doch mein Herz gehört Dir allein, keine Andere soll es jemals mit Dir theilen!“

„Und willst Du in Glück und Noth mich lieben, willst Du mir treu bleiben bis in den Tod?“ fragte Beatrice ihn festhaltend.

„Treu will ich Dir sein, treu mein Herz, treu meine Liebe. Wie ich meinem Vaterlande, meinem Volke treu bin bis in den Tod, so Dir bis an meine letzte Stunde.“

„So will ich glücklich sein!“ rief Beatrice, „und meine Mutter wird uns segnen. Sie wird nicht länger zweifeln, sie wird Dir vertrauen, wie ich es thue.“

„Deine Mutter?“ fragte er, und seine Mienen wurden ernsthaft, die Begeisterung verschwand aus seiner Stimme. „Hat Deine Mutter mit Dir gesprochen?“

„Ja,“ sagte Beatrice, „gestern Abend, als Tu gegangen warst und wir allein zurückblieben. Sei unbesorgt, meine Mutter ist gütig, sie ist Dir gewogen, mein geliebter Freund.“

„Sie weiß es also,“ sprach, er halb vor sich hin.

„Sie hielt mich in ihren Armen fest, küßte mich und sah mir in die Augen. Tu siehst so geheimnißvoll aus, mein liebes Kind, sagte sie dabei. Warte doch und werde nicht roth, laß uns noch ein wenig plaudern. Setze Dich her zu mir. Wie hat Dir der junge Pozzo di Borgo gefallen, der so unerwartet uns mit seinem Besuche erfreute? – – Er hat mir sehr gut gefallen, liebe Mama, denn er ist sehr höflich und weiß zu unterhalten. – Gefällt er Dir bester als der Lieutenant Demarris? – Er gefällt mir viel besser, denn er hat viel mehr Geist und Anstand, Mama. Aber ich glaube, es ist ein versteckter Charakter, dem man nicht allzuviel trauen darf.“

Bonaparte schien sich über diese Urtheile zu freuen. Er nickte beifällig dazu.

„Ja, diesen Corsen darf man überhaupt nicht zu viel trauen, fuhr meine Mutter fort, sie sind Alle versteckt und schlau. Meinst Du nicht, mein liebes Kind? O nein, Mama, Alle gewiß nicht! rief ich so schnell, daß meine Mutter laut lachte und ich ganz roth wurde. – Nicht alle? fragte sie, also machst Du Ausnahmen. [243] Ah! ich merke, Du nimmst den Lieutenant Bonaparte aus. Nicht wahr? – Ja, Mama, erwiderte ich. – Was sollte ich sagen, mein lieber Freund!“

„Das war tapfer und richtig gehandelt,“ fiel Bonaparte ein. „Es war die Sprache Deines Herzens, theure Beatrice, ich danke Dir dafür mit tausend Küssen.“ Und er schloß sie in seine Arme und küßte sie, bis sie wieder zu erzählen fortfuhr.

„Also, sagte meine Mama, der Lieutenant Bonaparte, meinst Du, wäre ein Mann, dem man glauben und vertrauen dürfe ? Ich vermuthe, daß Du dies wirklich thust. – Ja, Mama, ich kann es nicht leugnen, versetzte ich. – Bist Du auch überzeugt, Beatrice, daß er es verdient? – So überzeugt, daß – daß – hier brach ich ab, da aber meine Mama Weiter! Weiter! rief, setzte ich hinzu: daß ich es ihm selbst gesagt habe. – Und das hast Du ihm heute erst gesagt, nicht wahr? fragte sie mich. – Ja, Mama, heut, und – auch wohl schon mehr als einmal. – Aber? fragte sie und faßte mich beim Arm, hast Du auch Recht daran gethan? Ich glaube es, glaube es ganz gewiß! antwortete ich ein wenig erschrocken, aber dann kam mir der Muth. Mein Herz fing an zu schlagen, und ich weiß nicht, was mit mir geschah. Ich richtete mich aus, alle meine Furcht war verschwunden. – O! liebe, beste Mama! rief ich, ich weiß in der ganzen Welt keinen Mann, dem ich mehr vertrauen möchte, als ihm, keinen, dem ich freudiger glauben möchte. – Mußte ich das nicht sagen, mein geliebter Freund? Mußte ich Dich nicht vertheidigen?“

„Du mußtest dem Zuge Deiner Liebe folgen, Du mußtest für mich aufstehen, wo man Deine Zweifel aufwecken wollte!“ antwortete Bonaparte feurig, „und dafür – dafür –“ In dem Augenblicke fiel von dem Kirschbaume, dessen Zweige sich über die Bank ausbreiteten, ein großes, schönes Kirschenpaar, zwei Früchte an einem verbundenen Stiele. Rasch ergriff Napoleon die Kirschen, welche in seine Hand gefallen, theilte sie und rief fröhlich lachend: „Ein Himmelszeichen, geliebte Beatrice! Nimm und iß und glaube an mich. Kein Zweifel soll unser Glück trüben. Vereint soll unser Leben bleiben. Wie diese Früchte zu einander gehören, Gewalt nur sie trennen kann, so soll uns nichts scheiden, es müßte denn sein –“

„Was müßte sein?“ fragte Beatrice erschrocken, als er inne hielt.

„Daß die Ehre – das Vaterland es geböten!“

„Ach, Du bist ein Soldat,“ rief sie klagend, „und denkst an Ruhm und Krieg.“

„Nein, nein!“ erwiderte er, „ich denke nur an Dich, Beatrice. Wir wollen nicht sorgen, freuen wollen wir uns und genießen, was die glückliche Stunde uns bringt. Deine Mutter –“

„Meine Mutter,“ fiel Beatrice süß lächelnd ein, „hat mich mit ihren Küssen entlassen, und da – da ist sie,“ stotterte sie zusammenschreckend und deutete auf den Rebengang, der von dem Hause herüber führte.

Es war in der That Frau von Colombier, die so eben in diesem Gange sichtbar wurde und mit raschen Schritten sich der Laube näherte. Es blieb keine Zeit übrig, um sich vor ihr zu verbergen, auch sträubte sich dagegen Bonaparte’s Stolz. Er stand auf und preßte Beatricens Hand in seinen Fingern zusammen, als wollte er verhindern, daß sie fliehen oder ihrer Mutter entgegen gehen möchte. So erwarteten nun Beide die Dame, welche, in ein großes Tuch eingehüllt, dem Anschein nach sie nicht bemerkte, sondern die Bäume betrachtete und ihre Augen auf den Himmel richtete, aus dem soeben der erste Sonnenschimmer mit goldigem Glanz hervorbrach.

Erst als sie noch wenige Schritte von dem Baume entfernt war, welcher vor dem Bosket stand, wandte sie ihre Blicke dorthin, und wie in plötzlicher Ueberraschung blieb sie stehen, ohne ein Wort zu sagen. – Beatrice senkte ihre Wimpern nieder und bekam ein rothes Gesicht. Bonaparte dagegen zuckte mit keiner Miene und unterbrach eben so wenig das Schweigen.

Diese Situation währte einige Augenblicke, dann gewann Frau von Colombier zuerst wieder Sprache und Leben. Ihre feinen Lippen verzogen sich zu einem anmuthigen Lächeln, das von einer lebhaften Handbewegung begleitet wurde. „Sieh da, Herr Bonaparte!“ rief sie, „hat Sie der schöne Sommermorgen so früh zu uns herausgelockt? Das ist allerliebst, wie wir hier zusammentreffen, gleich den Göttern in der Fabel von denselben schönen Gedanken bewegt.“ – Und ohne dem jungen Officier Zeit zu einer Antwort zu lasten, fuhr sie sogleich fort: „Beatrice ist gewiß davon so freudig überrascht worden, wie ich es bin; allein es ist kühl, mein Kind, geh hinein, Du möchtest Dich erkälten. Geschwind, geh, ich bleibe noch ein paar Minuten bei Herrn Bonaparte.“

Mit demselben freundlichen Lächeln streckte sie die Hand nach ihrer Tochter aus und zog sie sich näher. Beatrice folgte ein wenig zögernd, doch nicht furchtsam, sie war voll guter Zuversicht. „Ich glaube nicht,“ sagte sie leise, „daß ich mich erkälte, und – o! meine theure Mama, Du bist so gütig; so liebevoll –“

„Fort, fort!“ rief die Mama ihr die Wange streichelnd, „wir müssen für Deine Gesundheit vorsichtig wachen. Nehmen Sie Platz, Herr Bonaparte. Sie sind ein Freund der Natur, nicht wahr?“

Dieser Wink und die Weisung der Dame drückten sich sehr bestimmt aus. Beatrice nickte ihrem Freunde leise zu und machte ein paar kleine Schritte; gewiß wäre sie ungehorsam gewesen, wenn nur Bonaparte Einsprache gethan hätte. Allein er hielt sie nicht zurück, sondern setzte sich auf die Bank, als Frau von Colombier sich niederließ, und Beatrice schritt langsam weiter, mehr als einmal zurückblickend, bis sie in den Piniengang einbog und verschwand.

„Sie sind also ein Freund der Natur, Herr Bonaparte,“ wiederholte Frau von Colombier, „und wahrscheinlich öfter so früh schon im Freien, um die Sonne aufgehen zu sehen, wie ich glaube?“

„Dies ist allerdings der Fall, Madame!“ erwiderte Napoleon.

„Beatrice nicht minder,“ fuhr die Dame fort. „Ich habe bemerkt, daß sie einigemale schon den Sonnenaufgang hier im Garten erwartete, und dies ist in der That ein vortreffliches Plätzchen dazu. Das sind sympathetische Gefühle, Herr Bonaparte, aber bei jungen Leuten sehr erklärlich. Sie sind noch sehr jung. Wie alt sind Sie?“

„Einundzwanzig Jahre, Madame.“

„Ein schönes Alter, das Alter der Illusionen!“ rief Frau von Colombier. „Beatrice ist eben siebenzehn geworden. Aber Sie sind von ernstem Gemüth, über Ihre Jahre hinaus, uns ich habe recht viel Gutes von Ihnen vernommen.“

„Sie sind sehr gütig, Madame,“ erwiderte der Lieutenant.

„Das bin ich in dem Grade, Herr Bonaparte, wie es eine Freundin sein soll, und wie Sie es verdienen, wie ich glaube. Ich bin zwar keine große Verehrerin der Sonnenaufgänge und der Morgenpromenaden,“ fuhr sie mit ihrem feinen Lächeln fort, „allein ich sehe Sie gern in meinem Hause, und Beatrice ist ganz gewiß derselben Meinung; Sie können sich darauf verlassen.“

„Ich danke Ihnen, Madame,“ sagte der junge Officier, indem er sich ehrerbietig verneigte.

„Corsica ist ein romantisches Land, und die Corsen haben für die Romantik ohne Zweifel angeborene Vorzüge,“ lachte die Dame, „während wir in unserem kälteren Klima und in der Nähe der schneeigen Alpen weit nüchterner empfinden.“

„Ich weiß darüber nicht zu urtheilen,“ erwiderte Bonaparte, „allein auch an den Corsen wird Verstand und Nachdenken gerühmt.“

„Und dies ist auch meine Meinung!“ fiel Frau von Colombier lebhaft ein. „Wissen Sie, mein lieber Herr Bonaparte, daß ich von Ihnen mehr als von sehr vielen andern jungen Herrn glaube, daß Sie reiflich und wohl überlegen, und verständiges Nachdenken Ihnen mehr gilt, als glänzende Einbildungen?“

„Sie sagen mir eine große Schmeichelei, Madame,“ antwortete Napoleon.

„Ich sage Ihnen die Wahrheit. Ist es nicht sehr gewöhnlich jetzt, daß junge Leute ihre Köpfe mit phantastischen Hirngespinsten füllen, wie sie Mode geworden sind? Sie dagegen halten sich fern davon. Das hat mir sehr gefallen, Herr Bonaparte, und nicht mir allein, auch andern Personen, deren Wohlwollen Sie dadurch gewonnen haben.“

„Ich danke Ihnen, Madame,“ sagte der Lieutenant sich verbeugend.

„Sie gehören nicht zu denen,“ fuhr Frau von Colombier fort, „die sich von dem Zeitschwindel fortreißen lassen, Zusammenkünfte veranstalten helfen, in den Café’s die Zeitungen aus Paris vorlesen und Lärm erheben. Sie beschäftigen sich mit ernsthaften Dingen, Sie studiren oder erheben Ihre edlen Gefühle selber zu Dichtungen, wie ich gestern Abend eine solche gesehen habe, die Beatrice –“

[244] Napoleon’s Gesicht veränderte sich. Seine bleiche Farbe machte einer schnellen Röthe Platz. „O Madame,“ rief, er lebhaft, „dies Gedicht –“

„Schweigen wir davon,“ unterbrach sie ihn, „ich ehre und liebe die schönen Empfindungen der Seele und habe auch zu meiner Zeit meine Gedichte empfangen. – Das sind Erinnerungen, an welche man immer mit Vergnügen zurückdenkt.“

Sie wickelte sich in das große Tuch und sah ihn gnädig lächelnd an. „Frauen lassen sich gern besingen,“ fuhr sie dabei fort, „sie haben das mit den Königen gemein, so ähneln sich beide auch in dem Verlangen nach treuen Unterthanen, Herr Bonaparte. Doch ach! das sind gefährliche Zeiten für alle Herrscher auf Erden; um so höher schätzen und lieben wir diejenigen, von denen wir Treue hoffen dürfen. Treu dem Könige, treu der Dame seines Herzens soll jeder Ritter sein. Sie kennen den schönen alten Wahlspruch, Herr Bonaparte.“

„Er ist mir wohl bekannt, Madame.“

„Und man kennt Ihre Gesinnung, man weiß diese zu schätzen, ich sowohl, wie Alle, die Ihnen wohlwollen. Das war es, was ich Ihnen mittheilen wollte und was Sie noch hören müssen, ehe wir uns trennen. Sie werden dem Grafen von Artois dringend empfohlen werden. Ich zweifle nicht daran, daß dies für Sie die glücklichsten Folgen haben wird, daß Sie dadurch Gelegenheit erhalten werden, dem Könige Ihre Treue zu beweisen. Dies ist doch gewiß Ihr lebhafter Wunsch?“

„Ja, Madame, ja. Ich möchte dem Könige die größten und wichtigsten Dienste leisten.“

Frau von Colombier blickte beifällig in seine flammenden Augen und wie sein Gesicht einen begeisterten Ausdruck erhielt, der es ungemein verschönte. „So bleibt nur noch die Dame Ihres Herzens übrig,“ fuhr sie mit gewinnenden Mienen fort, „doch diese hat jedenfalls dieselben ritterlichen Gefühle zu erwarten.“

„Zweifeln Sie nicht daran, gnädige Frau,“ erwiderte Napoleon, „ich werde nur mit meinem Leben diese Gefühle aufgeben!“

„Sie werden ihr unwandelbar treu in allen Gefahren zur Seite stehen?“

„Wie Ehre und Liebe es gebieten.“

„Wohlan denn!“ sagte Frau von Colombier, „ich frage nicht weiter, denn der Tag ist da und die Straße wird lebendig. Aber ich erlaube Ihnen, Ihre Grundsätze uns heut noch zu wiederholen. Ich erlaube Ihnen, das mit Beatrice begonnene und unterbrochene Gespräch in meiner Gegenwart heut Abend fortzusetzen, nicht mehr hier im schädlichen Morgennebel, sondern in der Halle und vor unseren Freunden. Auf Wiedersehen also, Herr Bonaparte, auf Wiedersehen! Ich will Beatrice darauf vorbereiten.“

Sie reichte ihm ihre Hand, und er führte diese an seine Lippen. Noch einen Augenblick blieb sie stehen, sah ihn an, lächelte und nickte leise; darauf wiederholte sie: „Kommen Sie also nicht zu spät, ehe Andere erscheinen. Beatrice wird Sie erwarten, bringen Sie die besten Grundsätze mit. Adieu! Adieu!“

Mit diesen glückverheißenden Worten verließ er die gütige Beschützerin, und es war als wolle er ihr nacheilen, doch nach dem ersten Schritte schon blieb er stehen, und seine aufgehobene Hand sank nieder. Er sprach die Bitte nicht aus, zu der sein Mund sich geöffnet hatte. –

Als Frau von Colombier noch einmal nach ihm zurückblickte, war er verschwunden.



4.

Am folgenden Tage erhielt Carlo Andrea einen Besuch in dem rothen Hause von dem Lieutenant Demarris. Der junge Officier beschwerte sich über die rasche Trennung am Abend und daß er trotz aller Mühe ihn sowenig wie Bonaparte habe auffinden können. „Wir hätten noch beim Glase zusammengesessen,“ sagte er, „ich freute mich darauf. Bonaparte war so heiter, wie ich ihn kaum jemals gesehen, und wenn er seine gute Laune hat, ist er bewunderungswürdig.“

„Es scheint, als habe er sich hier viele Freunde erworben,“ erwiderte Pozzo di Borgo.

Demarris schüttelte lächelnd den Kopf. „Viele sind es wohl nicht,“ sagte er, „im Gegentheil hat er nicht wenige Widersacher, die sich nicht mit ihm vertragen können, denn er ist sehr stolz, und man nennt ihn anmaßend und zanksüchtig. Mir jedoch ist er sehr ergeben,“ fuhr er selbstgefällig fort, „und ich vertheidige ihn, wie man einen Freund vertheidigen muß.“

„Aber seine Vorgesetzten sind doch mit ihm zufrieden?“ fiel Pozzo di Borgo ein.

„Wie man es nehmen will,“ lachte Demarris. „Er hat Kenntnisse, ist der beste Mathematiker von uns Allen, und was den Dienst betrifft, läßt er sich nichts zu schulden kommen. Aber er ist ein Krittler, der überall seine Anmerkungen macht, und wenn Einer klüger sein will, als alle Anderen, und obenein als seine Vorgesetzten, so erwirbt er sich damit nicht eben deren Zuneigung.“

„Sehr wahr!“ rief Carlo Andrea. „Die Klugheit muß sehr klug sein, wenn sie nicht über jeden Klotz oder Stein auf ihrem Wege stolpern und verschrieen und verlästert werden will.“

„Ja, diese Nachteulen!“ nickte Demarris erfreut, „sie möchten ihn hacken, wo sie können, und ihn am liebsten weit fortschicken. Es bekommt Niemand so leicht Urlaub wie er, und heut erst, als ich beim Obersten zu thun hatte, fragte er mich, wie es käme, daß der Lieutenant Bonaparte noch nicht nach Corsica gereist sei.“

„Dazu wird er jetzt am wenigsten geneigt sein.“

„Warum glauben Sie das?“ fragte Demarris rasch.

„Nun, weil, wie Sie mir selbst schon sagten, er hier Besseres zu thun hat.“

Der Lieutenant schwieg einen Augenblick, während er mit der Hand durch sein Haar strich und nachsann. „Ja, das habe ich freilich gesagt,“ fuhr er dann fort, „aber ich habe nicht das dabei gedacht, was ich jetzt denke. Bonaparte hatte mir mitgetheilt, daß er fleißig arbeiten wolle, was er in Ajaccio nicht könne, um seine Geschichte der Insel fertig zu schaffen, und daß er dann dies Werk nach Paris schicken wolle, wo er sich große Erfolge verspricht.

Heute nun aber – wissen Sie, was der Oberst mich fragte?“

„Wie kann ich das wissen, Herr Demarris?“

„Freilich nicht. Sie haben Recht. Er fragte mich, ob Bonaparte häufig Frau von Colombier besuche – und als ich dies bestätigte –“

„Nun, Herr Demarris?“

„Alle Teufel!“ rief der Lieutenant, „ich glaube wahrhaftig, es ist etwas daran.“

„Was meinen Sie?“

„Gestern war sein Benehmen auffällig, nun fällt es mir erst recht ein. Der Oberst sagte: Dies Fräulein Colombier ist hübsch, genug, und die Mutter hat Vermögen und Connexionen. Es ist gar keine üble Partie, eine ganz gescheidte Speculation.“

„Eine gescheidte Speculation!“ lachte Carlo Andrea.

„Ja, doch was sagen Sie. Herr Pozzo di Borgo?“

„Was kann ich sagen, Herr Demarris? Sie müssen das besser wissen.“

(Schluß folgt.)


Aus Weimars „lustigen“ Tagen.

Noch vierzehn kurze Jahre und ein Jahrhundert ist bereits vergangen, seit in dem damals sehr kleinen und armseligen Weimar durch zwei junge Männer eine Zeit heraufgeführt wurde, die ihres Gleichen nie und nirgends gehabt hat und die für das deutsche Vaterland, ja für die ganze Welt Früchte trug, an denen wir uns heute noch erfreuen und erquicken. Unsere Zeit ist eine so ganz andere geworden, so prosaisch-blasirt und banal, daß jene poetisch-geniale und naive von den Meisten gar nicht mehr verstanden wird und nur einige Wenige zu ihr zurückschauen wie ein Mann im Alter etwa auf die schönsten Tage seiner Jugend zurückblickt.

Der Herzog Karl August, der Zögling Wieland’s, hatte in seinem achtzehnten Jahre die Regierung seines Ländchens von seiner verwittweten, erst 36 Jahre alten, lebenslustigen und geistvollen Mutter Amalie, die sie lange segensreich als Vormünderin geführt, selbst übernommen, mit Louise von Darmstadt sich vermählt und

[245]

Karl August und Goethe nach der Jagd bei Ilmenau.
Originalbild von Theobald von Oer in Dresden.

[246] an seinen Hof einen Dichter berufen, dessen ungewöhnliche Schriften ein bis dahin beispielloses Aufsehen in Deutschland machten, den sechsundzwanzigjährigen Dr. Goethe, der sein vertrautester Freund und nach wenigen Monaten sein erster Minister wurde.

Karl August steht unter den Fürsten hoch, wie Goethe unter den Dichtern, und der Letztere selbst spricht noch in seinem hohen Alter von dem herzoglichen Freunde: „Er war ein geborner großer Mensch, eine dämonische Natur wie Napoleon, Friedrich der Große u. A. Er übte auf die Menschen eine unwiderstehliche Anziehung, ohne daß er gerade freundlich und gütig gegen sie zu sein brauchte. In Fällen, wo mein Verstand nicht hinreichte, brauchte ich ihn nur zu fragen, was zu thun sei; sofort sprach er es instinctmäßig, aus, und ich konnte stets eines guten Erfolges gewiß sein.“

Der Herzog war in seiner Jugend ein schlanker Mann mit länglichem Gesicht, markirten Zügen und bräunlich blondem Haar, das er in zwei Locken an der Stirn trug. Die Stirn war hoch, und die Knochen über den Augen traten stark hervor. Die hellblauen Augen blickten lebhaft, geistvoll und forschend um sich. Der Mund drückte feste Entschiedenheit aus, und sein ganzes Gesicht deutete auf starke Leidenschaft. Goethe dagegen war, als er in Weimar ankam, ein langer, schmächtiger, fast dürrer junger Mann mit hoher Stirn, langem Halse, schwellenden Lippen und leuchtenden, großen, schwarzen Augen, die schwermütig-schwärmerisch schmachten, übermüthig keck und humoristisch lachen und im Zorn vernichtende Blitze schleudern konnten. Dabei besaß er eine Fülle von Körperkraft, war gewandt in allen Leibesübungen, voll kecken Uebermuths und neckischen Muthwillens, unerschöpflich in Possen und närrischen Einfällen, übersprudelnd von Geist und Witz, an ein lustiges Leben gewöhnt und sicher im Gefühle seines Werthes und seines jungen großen Dichterruhmes. Wieland sagt in einem Gedichte von ihm:

Ein schöner Hexenmeister er war
Mit seinem schwarzen Augenpaar,
Zaubernden Augen mit Götterblicken,
Gleichmächtig zu tödten und zu entzücken. –
So trat er unter uns herrlich und hehr,
Ein echter Geisterkönig, daher.
So hat sich nie in Gottes Welt
Ein Menschensohn uns dargestellt,
Der alle Güte und alle Gewalt
Der Menschheit so in sich vereiniget;
So seines Gold, ganz innerer Gehalt,
Von fremden Schlacken ganz gereiniget.

Kann sich Jemand wundern, daß diese beiden genialen Menschen, sobald sie verbunden waren, nicht in den ausgetretenen Gleisen des gewöhnlichen Lebens gingen, sondern die althergebrachten leeren Formen und Regeln mißachteten und in übersprudelnder Jugendkraft auf neue Bahnen getrieben wurden?

Karl August war ein leidenschaftlicher Naturfreund und fühlte sich nirgends wohler als „draußen im Freien“. Er haßte deshalb auch allen Prunk und Flitterkram. „Der Mensch,“ schrieb er einmal, „ist doch nicht zu der elenden Philisterei des Geschäftslebens bestimmt; es ist Einem ja nie größer zu Mühe, als wenn man die Sonne untergehen und die Sterne aufgehen sieht.“ Aus demselben Grunde war ihm stets das Einfachste das Liebste und zwar in Kleidung, Wohnung und Kost. Noch heute ist in dem Parke zu Weimar das sogenannte Borkenhäuschen zu sehen, in dessen engem Raume der junge Herzog im Sommer häufig allein wohnte, während an der andern Seite der Ilm und einer Wiese sein dichterischer Freund ein höchst einfaches Gartenhäuschen innehatte. Ein Raum diente dem Herzog als Wohn-, Arbeits-, Speise- und Schlafgemach.

Bei dem schlechten Zustande der Wege in damaliger Zeit machte man alle Ausflüge und Reisen zu Pferde. Wenige Tage mögen vergangen sein, an denen, in den ersten Jahren ihrer Freundschaft, Karl August und Goethe nicht zu Pferde saßen. Sogar wenn man von Weimar aus eine Feuersbrunst in der Nähe bemerkte, ritten sie selbst an Ort und Stelle, um die Löschanstalten zu leiten und persönlich tüchtig mit zuzugreifen. (Eine solche Scene schildert B. Auerbach in den „Feuerreitern“ in s. Volkskalender von 1801.) Was sie im Reiten leisteten, beweiset die beglaubigte Thatsache, daß sie einmal von Leipzig nach Weimar in acht Stunden ritten (von früh 7 bis Nachmittags 3 Uhr). „Wir waren oft sehr nah am Halsbrechen,“ erzählte Goethe im Alter, „auf Parforcejagden über Hecken und Gräben und durch Flüsse, bergauf und bergab. Tagelang sich abzuarbeiten und dann Nachts unter freiem Himmel zu campiren, das war nach seinem Sinn.“

Die Jagd war allerdings das Lieblingsvergnügen des Herzogs und zwar namentlich in dem thüringischen grünen Waldparadies, in Ilmenau, wo man, fern vom Hofe und Allem was zu demselben gehört, in aller Ungebundenheit und allem Jugendübermuthe sich ergehen konnte. Bis auf den heutigen Tag haben sich in der thüringischen Jägerwelt zahllose Anekdoten von „des Herrn“ schlagfertigem Witze und derb zutreffenden Ausdrücken, so wie von seiner Einfachheit und Gutherzigkeit erhalten, und man spricht in solchen Kreisen jetzt noch von ihm mit einer gewissen schwärmerisch liebenden Verehrung, ja mit Bewunderung.

Die gewöhnlichen Begleiter des Herzogs auf der Jagd und andern Ausflügen waren, außer Goethe, der gelehrte ehemalige preußische Lieutenant, jetzt Erzieher des Prinzen Constantin, Bruders des Herzogs, v. Knebel, ein Mann von riesenhafter Gestalt; der welterfahrene ehemalige sardinische Oberstlieulenant v. Seckendorf, ein feingebildeter, dichtender und componirender Cavalier; der Oberforstmeister v. Wedel, der mit dem Herzog aufgewachsen und erzogen war, und der Stallmeister v. Stein, der Gatte der geistvollen Charlotte v. Stein, der geliebten Freundin Goethe’s.

Eine Jagdscene hat der Letztere, als der Eifer für solche aufreibende Vergnügungen bei ihm bereits ziemlich erkaltet war, durch ein Gedicht zu dem Geburtstage des Herzogs 1783 verewigt. „Es ist darin,“ erzählte er später, „eine nächtliche Scene vorgeführt nach einer halsbrechenden Jagd im Gebirge. Wir hatten uns am Fuße eines Felsens (die Tradition bezeichnet die Stelle noch auf dem Gickelhahn) kleine Hütten gebaut und mit Tannenreisern bedeckt, um darin auf trocknem Boden zu übernachten. Vor den Hüllen brannten mehrere Feuer, und wir kochten und brieten, was die Jagd gegeben hatte. Knebel, dem die Tabakspfeife nicht kalt wurde, saß dem Feuer zunächst und ergötzte die Gesellschaft mit allerlei trocknen Späßen, während die Weinflasche von Hand zu Hand ging. Seckendorf, der schlanke, mit den langen feinen Gliedern, hatte sich behaglich am Stamme eines Baumes hingestreckt und summte allerlei Poetisches. Abseits in einer ähnlichen Hülle lag der Herzog in tiefem Schlafe. Ich selber saß davor, bei glimmenden Kohlen, in allerlei schweren Gedanken, auch in Anwandlung von Bedauern über mancherlei Unheil, das meine Schriften (Werther) angerichtet.“

Unser Bild stellt diese Scene dar. Der am weitesten vorn links am Baumstamme liegende Mann ist Seckendorf, zunächst neben ihm sehen wir Wedel mit Kochen beschäftiget, dann folgt Knebel mit der Tabakspfeife und diesem der ebenfalls rauchende Stein. Die andern Figuren sind in dem Gedicht nicht erwähnte Jagdgenossen. Das Gedicht, eines der schönsten des großen Meisters, heißt „Ilmenau“ und beginnt mit dem Aufrufe an diesen lieblichen Ort:

Anmuthig Thal, Du immergrüner Hain,
Mein Herz begrüßt Euch wieder auf das Beste!
Entfaltet mir die schwerbehangnen Aeste,
Nehmt freundlich mich in eure Schatten ein,
Erquickt von euren Höhn, am Tag der Lieb’ und Lust,
Mit frischer Lust und Balsam meine Brust! …

Die eben angedeutete Scene selbst wird so geschildert:

Wo bin ich? Ist’s ein Zaubermärchen-Land?
Welch’ nächtliches Gelag am Fuß der Felsenwand?
Bei kleinen Hütten, dicht mit Reis bedeckt,
Seh’ ich sie froh am Feuer hingestreckt.
Es dringt der Glanz hoch durch den Fichten-Saal;
Am niedern Heerde kocht ein rohes Mahl;
Sie scherzen laut, indessen, bald geleert,
Die Flasche frisch im Kreise wiederkehrt.

Es folgen nun die Schilderungen von Knebel und Seckendorf, „die mir,“ sagt Goethe im hohen Alter, „heute noch gar nicht schlecht gezeichnet erscheinen, wie auch der junge Fürst nicht im düstern Ungestüm seines zwanzigsten Jahres.“

… Wer ist’s, der dort gebückt
Nachlässig stark die breiten Schultern drückt?
Er sitzt zunächst gelassen an der Flamme,
Die markige Gestalt aus altem Heldenstamme.
Er saugt begierig am geliebten Rohr,
Es steigt der Dampf an seiner Stirn empor.

[247]

Gutmüthig trocken weiß er Freud’ und Lachen
Im ganzen Cirkel laut zu machen,
Wenn er mit ernstlichem Gesicht
Barbarisch bunt in fremder Mundart spricht.

Wer ist der Andre, der sich nieder
An einen Sturz des alten Stammes lehnt,
Und seine langen, feingestalten Glieder
Ekstatisch faul nach allen Seiten dehnt,
Und, ohne daß die Zecher auf ihn hören,
Mit Geisterflug sich in die Hohe schwingt
Und von dem Tanz der himmelhohen Sphären
Eim monotones Lied mit großer Inbrunst singt?




Ich höre sie auf einmal leise sprechen,
Des Jünglings Ruhe nicht zu unterbrechen,
Der dort am Ende, wo das Thal sich schließt,
In einer Hütte, leicht gewimmert,
Vor der ein letzter Blick des kleinen Feuers schimmert,
Vom Wasserfall umrauscht, des milden Schlafs genießt.




… Unter diesem Dach
Ruht all mein Wohl und all mein Ungemach:
Ein edles Herz, vom Wege der Natur
Durch enges Schicksal abgeleitet,
Das ahnungsvoll, nun auf der rechten Spur,
Bald mit sich selbst und bald mit Zauberschatten streitet,
Und, was ihm das Geschick durch die Geburt geschenkt,
Mit Müh’ und Fleiß erst zu erringen denkt.




Gewiß, ihm geben auch die Jahre
Die rechte Richtung seiner Kraft.
Noch ist, bei tiefer Neigung für das Wahre,
Ihm Irrthum eine Leidenschaft.
Der Vorwitz lockt ihn in die Weite,
Kein Fels ist ihm zu schroff, kein Steg zu schmal;
Der Unfall lauert an der Seite
Und stürzt ihn in den Arm der Qual.
Dann treibt die schmerzlich überspannte Regung
Gewaltsam ihn bald da, bald dort hinaus,
Und von unmuthiger Bewegung
Ruht er unmuthig wieder aus.

Und nicht blos mit der Jagd vergnügten sich die Herren in Ilmenau, sie erlaubten sich da jugendkeck auch andere Freuden. In dem nahen Dorfe Stützerbach tanzten sie, namentlich der Herzog und Goethe, auf dem gewöhnlichen Tanzboden, der heute noch zu sehen und so niedrig ist, daß ein etwas langer Mann leicht mit dem Kopf an die Decke anstoßen kann, bisweilen halbe Nächte lang mit den Bauermädchen und geleiteten die bevorzugten Schönen nach Hause. Sie liebelten mit ihnen, fanden aber so wenig etwas Unpassendes oder gar Unrechtes darin, daß Goethe selbst die Freundin, die strenge Frau v. Stein, davon benachrichtigte, wie er ihr ein andermal mittheilte, er habe auf dem Vogelschießen in Apolda leidenschaftlich getanzt. Man hatte eben Lust am Leben und Kraft es zu genießen. Darum tanzte man damals in Weimar überhaupt sehr viel. Der Hof gab jeden Winter fünfzehn Redouten, andere Bälle ungerechnet, und auch im Sommer wurde getanzt, namentlich im Freien. Oftmals bekam Bertuch, der Chatoullier und Maitre de Plaisir, noch spät in der Nacht Befehl, den Küchenwagen zu rüsten, weil man mit dem Frühesten hinaus in den Wald ziehe. Ging der Ausflug nicht weit, so genügten ein paar Küchenesel, den Mundvorrath zu tragen. Wenn es aber weiter gehen sollte, dann gab es in der Nacht gar viel zu schaffen, und in der herzoglichen Küche herrschte die emsigste Thätigkeit, denn es mußte gekocht und gebraten, gesotten und gebacken werden. Herren und Damen, fröhlich gemischt machten sich dann am andern Morgen auf den Weg, und Einer überbot den Andern an Witz und muthwilliger Laune. Man lagerte endlich essend, trinkend, singend im stillen grünen Wald, und nicht selten führte man da auch kleine, sofort extemporirte Stücke auf. „In dieser harmlosen Zeit,“ schreibt eine Zeitgenossin, „konnte man sich einen Scherz, wohl auch einen ausgelassenen, erlauben. Man wog nicht ängstlich ab, ob es sich auch vollkommen schicke und was die Nachbarn sagen würden. Es gab noch keine Klatschblätter, die es in jedem Winkel Deutschlands herumgebracht hätten, daß Herr … dem Fräulein … einen Kuß gegeben etc.“[1]

Zweierlei aber darf man nicht vergessen, erstens, daß man, wie oft und viel man auch jagte und ritt, tanzte und liebelte, trank und Komödie spielte, auch fleißig und emsig arbeitete und für das Wohl des Landes in jeder Hinsicht thätig war, und zweitens, daß bei aller Ausgelassenheit und Ungebundenheit das,

„was uns alle bändigt. das Gemeine,“

von diesem heitern Kreise stets fern blieb, den ja die Poesie verklärend überstrahlte. War es doch Goethe möglich, in und trotz dieser „lustigen“ Zeit außer andern Dichtungen seine herrliche Iphigenie zu schreiben, zum Theil sogar in schlechten Dorfwirthshäusern, während er als Rekrutirungs-Commissar zu Pferde das Land durchzog, zum Theil in dem einsamen Häuschen auf dem Gickelhahn, wo er bekanntlich auch sein unvergleichliches Lied schrieb:

Ueber allen Gipfeln ist Ruh –
In allen Wipfeln spürest du
Keinen Hauch –
Die Vöglein schweigen im Walde –
Warte nur, balde –
Ruhest du auch.

Diezmann.




Eine Hunde-Schau in London.

Seit der großen Gewerbe-Ausstellung vor zehn Jahren treibt eine „Schau“ die andere in London, wo nun eine zweite große Welt-Industrie-Ausstellung für den Mai des künftigen Jahres vorbereitet wird. Es giebt immerwährend ein Paar Dutzend offene Ausstellungen außer den gelegentlichen und regelmäßig wiederkehrenden Kunst- und Natur- „Schau’s,“ (um damit das englische Wort zu übersetzen): Ochsen-, Schaf- und Schweine-, Hühner-, Gänse-, Enten- und Kaninchen-, Kanarienvögel-, Maschinen-, Blumen-, Frucht- und Gemüse- und Wurzelknollen- und sogar Lord-Mayor’s-Schau. Das bekundet und fördert Gewerbe- und Kunstfleiß. Daß aber bei diesen täglichen Kämpfen und Schlachten von 3 Millionen zusammengedrängten Menschen auch Viele „auf den Hund kommen“, ist kein Wunder. Nur daß Tausende der so „Berittenen“ noch eine Art stolze Cavallerie bilden, den Hund, wie der Araber sein Roß, zu einem Cultus machen und in unzähligen „Hunde-Ausstellungen“ in ihrer Begeisterung für die Schönheiten des Kötergeschlechts sich oft bis zu einer Art von Hundswuth verzuckten, nur das ist, wenn nicht gerade ein Wunder, doch wenigstens eine eigenthümliche und sehr umfangreiche Lebens- und Erwerbsweise unter den niedrigsten Schichten der Londoner Bevölkerung. Sie kommen dadurch zugleich mit den höchsten Classen, welche ihren Zehn- und Zwanzigpfund-Preisköter kaufen und oft enthusiastische Kunden bilden, in Geschäftsverbindung. Auch huldigt dieses hunderitterliche Geschlecht nicht selten noch den noblen Passionen des Hahnen- und Hunde-Ratten-Kampfs, der hohe und höchste Herrschaften in ihre Winkel, ihre Theater lockt, wo sich auf diese Weise Bodensatz und Sahne der Gesellschaft brüderlich und schwesterlich vereinen. Es giebt wenigstens fünfzig Locale für Hunde-Ausstellungen in London, meist in versteckten, schmutzigen Winkelstraßen, in „Public-“ d. H. Bier- und Spiritus-Häusern, auf deren Böden sich die verbotenen Geheimnisse der Hahn- und Hunde-Ratten-Theater zuweilen des gemischtesten Publicums erfreuen.

Ich hatte oft von Hunde-Ausstellungen gehört und in „Bell’s Life“, der großen Zeitung für alle die tausenderlei schönen Künste und Kämpfe, die unter dem Namen „sport“ zusammengefaßt werden, auch gelesen, aber noch nie eine gesehen. Endlich wollte ich aus eigener Anschauung wissen, wie eine Hunde-Ausstellung aussehe. Ich fand in „Bell’s Life“ mehr als ein Nutzend Anzeigen und Einladungen und beschloß, einer zu folgen, die in der Uebersetzung so lautete:

„Hochgenuß für die Phantasie! Nächsten Sonntag Abend findet eine Hunde-Schau in Mr. Lerinke’s „Ente“ Statt, Bethnalgreen. Präsident Mr. Abrahams, unterstützt von Billy Cool, [248] wird seinen Sitz um 8 Uhr einnehmen und seinen glänzenden Marstall von Schooß-Dachshündchen oder Stäubern vorführen. Mr. Lerinke hat einen Stäuber, 3½ Pfund schwer, erbötig, mit jedem Hunde in der Welt von gleichem Gewicht um die Wette zu tödten“ (nämlich im Ratten-Theater).

Hier ließ sich also gewiß ein Hochgenuß für die Phantasie (oder vielmehr die unübersetzbare englische „fancy“) erwarten, obgleich die Programms zur Hunde-Schau im „Lauerer“, in der „Krone“ und im Fiedler-Gäßchen (Haymarket) auch verführerisch genug klangen. Ich entschied mich für die „Ente“ in Bethnalgreen, weil diese von meiner Wohnung aus am ersten zu erreichen war.

Aus der großen nordsüdlichen Hochstraße, die über 10 Meilen lang unter verschiedenen Namen durch London und über die Londoner Brücke läuft, bog ich in der Nähe der Shoreditch-Kirche östlich links ab und hinein in eine schwarze, enge Kluft von Gäßchen, die mich in die berühmt-berüchtigte Club-Row führte. Das ist der classische Boden eines eigenthümlichen Sonntag-Wochenmarktes, der Vögel-, Kaninchen-, Ziegen- und Meerschweinchen-Messe, und das Schlachtfeld der lieblichsten Wettkämpfe zwischen Primadonnen der Finken und Kanarienvögel in eigenen dazu bestimmten Sälen vor Preisrichtern und einem oft hochwettenden Publicum. Die Preise für die Sieger bestehen aus neusilbernen, silbernen und andern kostbaren Bechern bis zum Werthe von zehn Pfund Sterling oder auch baarem Gelde, je nach Lust und Laune der Eigenthümer.

Vorbei, damit wir hier nicht stecken bleiben und wunderbare Geschichten erzählen von goldenen Kanarienvögeln und Goldfinken, die sich in der Wuth des Wettgesangs im Augenblicke des Sieges die zarten, aber heroischen Sing-Organe zersprengten und vom Gipfel ihres Triumphes plötzlich todt niederfielen.

Muth! Weiter! Muth! Wir müssen durch diese hohle Gasse, so drohend sie uns auch entgegengähnt, durch noch eine Spalte, zu eng, um auf den Namen Gasse Anspruch machen zu können, eine Art Riß oder Einsturz zwischen dem vermoderten Mauerwerk, um in die „Entenstraße“ und die Taverne gleichen Namens zu gelangen.

Und da ist sie endlich, die „Duck-street“, Entenstraße, und auch die „Duck-Tavern“ mit dem Namen des Eigenthümers „Lerinke“ über dem Eingange. Gefunden, ohne zu fragen, da es an Führern nicht fehlte. Erst folgte ich einem Manne, aus dessen Rocktasche mit nachlässig aufgeflegelten Vorderpfoten ein feiner, vornehmer, verdrießlich aussehender Köter herausguckte, der mich mit malitiösem Geknurre in den Finger biß, als ich ihn streicheln wollte, und auf alle Menschen, besonders die Jungen, tödtlichste Blicke des Hasses warf. Dann drang ich fast gleichen Schritts mit einem andern Individuum weiter vor, das etwas umfangreich Lebendiges zwischen Weste und unten zugeknöpftem und oben desto offnerem Rocke trug, das sich unter einer Laterne als ein ziemlich großer, weißer, pudelnärrischer Hund erwies, der seine Amme oder den Pflegevater mit übermüthiger Zärtlichkeit in dem schmutzigen Gesichte herumleckte und ihm auf diese Weise Seifensieder und Waschwasser zu ersparen schien. Dann fielen mir mehrere Mannsen und Kerls auf, alle wie eine besondere Gattung von Menschen und alle mit Hunden, von denen keiner zu Fuße ging, sondern jeder auf irgend eine zärtliche Weise wie ein Kind getragen wurde. Selbst ein riesiger Bulldogg, der natürlich in keiner Tasche, keinem Busen unterzubringen war, lief nicht, sondern stand mit je zwei Beinen auf einer Schulter seines Herrn, dessen pelzmützenbedeckter Kopf auf diese Weise aussah, als wäre er viel dicker, als der ganze Kerl.

Vor der „Barre“ des Trink-Palastes drängten sich Menschen und Hunde. Die Zink-Oberfläche mit den metallenen Pumpen sah aus, wie die der Tausende anderer „Public-Häuser“ in ganz England, nur etwas schmutziger, fließender, hier und da mit Vertiefungen und kleinen Teichen versehen. Hinter der Barre waren Mr. und Mrs. Lerinke und das auch hier hübsche „Bar-Mädchen“ eifrig beschäftigt, einzuschenken, Geld mit großer Heftigkeit und Geschicklichkeit gegen die metallene Barrenplatte zu schleudern, es in die Höhe springen zu lassen und ausnahmslos mit der Hand von Künstlern wieder aufzufangen, um nach dieser Prüfung der Echtheit es zu wechseln und darauf blitzschnell richtig herauszugeben. So weit war Alles, wie gewöhnlich. Aber der Eigenthümer dieses berühmten Public-Hauses setzte mich in Erstaunen. Ich hatte gehört, daß er persönlich mit den grimmigsten Hunden den Kampf aufnehme, ohne sich je beißen, geschweige besiegen zu lassen, daß er als Secundant und Mäcenas von Preis-Boxern sich eines hohen Ruhmes erfreue und bei Rattenhetzereien (er hat auf dem Boden ein Theater dafür) die Säcke voll selbst herbeischaffe und ausschütte. So hatte ich einen stahlarmigen, muskulösen, grimmig bärbeißigen Riesen erwartet, den Schrecken aller Bulldoggs, und fand nur ein kleines, dünnes Männchen mit ewigem Lächeln und dünner, öliger Stimme, ein Zwerglein neben der Frau mit dem Brustkasten eines Falstaff und dem Nacken eines Mastochsen.

Ja, es war Mr. Lerinke und ist’s heute noch. Kein Mißverständniß möglich, da ich Leute der verschiedensten Art fragte und jeder die Thatsache bestätigte, daß der dünne, hungrig aussehende Mann Lerinke war, Lerinke, der einstige Besitzer des berühmtesten aller Bulldoggs, der große „Kynologe“ oder Hundeweise, der kunstgebildete Ratten-Theater-Director und höchste schiedsrichterliche Instanz in allen Hunde-Duellen. — Daß sein Herz ganz den Hunden gehörte, wurde mir bald klar. Die verliebten Seitenblicke, die er verstohlen (wegen der dragonerartigen Gattin, fürcht’ ich) bald diesem, bald jenem der zahlreichen Köter zuwarf, das zärtliche Purren und Spitzen, Schnalzen und Glucksen, womit er Säuglinge und Kindlein von Hunden streicheln und „eyete“ — waren Beweises genug. Und welche Menge ausgestopfte und kostbar in überglasten Mahagonikasten an den Wänden angebrachte Hunde-Mumien! in dem prächtigsten dieser Sarkophage fiel besonders ein mörderisch und scheußlich häßlich aussehendes Exemplar von Bulldogg auf, zumal als Mr. Lerinke mehrmals mit tragischem Schmerze auf ihn blickte, eine Weile darauf haftete und dann mit der Erschwerung eines Vaters, der eben seinen einzigen Sohn verloren, fortfuhr, Leben und Tod dieses Unvergeßlichen, zu früh dahin Geschiedenen einem Gentleman zu erzählen, der den Kopf seines Skye-Dächsels zur Rocktasche heraus trug, wie der Stutzer den Zipfel seines ersten seidenen Taschentuchs.

„Funfzig Pfund hätt’ mir Einer können hier baar herzählen,“ rief Mr. Lerinke mit schmerzlichem Enthusiasmus, zwanzig Pfund mehr, Sir, siebig Pfund, Sir: kein Gedanke, ihn dafür zu verschleudern. Vierzig wurden mir geboten, ja fünfundvierzig und zehn (Schillinge). Pah! Hätten ebenso gut fünfundvierzig für meine Katze bieten können oder (mit dem schlauesten Flüstern, für meine Frau. Also, sag’ ich, er wurde vergiftet, Sir, vergiftet. Das schönste Thier in der Welt und so klug und – und – o! Und so vergifteten ihn die Vagabunden an einem Sonntage. Ganz munter lief er zwischen deren Beinen herum vor der Barre hier. Abends sollte „Schau“ stattfinden, und sie gönnten ihm seine Superiorität nicht. Und so schnappte er ganz munter und unschuldig nach einem Stück Fleisch und lag in der nächsten Minute todt, todt, Sir, wie ’n Pflasterstein. Mit Blausäure in ’nem Stückchen Fleisch.

Der Herr mit dem kye-Dächsel in der Rocktasche war von dieser tragischen Geschichte so gerührt, daß er sein Glas mit einem „Gulp“ austrank und eine Treppe im Winkel hinauf sprang. Ich folgte ihm in die Hallen der Hunde-Ausstellung. Durch die offene Thür pfauchte mich eine dicke Wolke von Qualm und Kneipengeruch an, vermischt mit einer eigenthümlichen köterigen Würze. Diese Geister waren nicht sehr einladend, zumal mit dem viel- und mißtönigen Geknurre und Gebelle und mit den vielen Galgen-Physiognomien, die im getrübten Gaslicht aus dem dichten Qualme heraus mehr oder weniger sichtbar wurden. Aber ich wagte mich mit ungenirter Miene hinein und sah mir die Sache an. Ein langes, ödes, enges, von Hunden und Lumpengesindel gefülltes Zimmer, am Ende mit einer Erhöhung von Bretern und dem Präsidentenstuhle. An den Wänden entlang Hunde in Glaskasten ausgestopft und lebendig in Käfigen. Auf den langen Tischen Hunde zwischen Gläsern und Krügen und Thonpfeifen und Tabakspapieren, Hunde auf den Schößen, ·Hunde zwischen Menschen und Stuhlbeinen, Hunde in allen Größen und Spielarten, Hunde aller Farben, Hunde in den verschiedensten Launen von erstickender Mordwuth am Stricke bis zur naivsten, kindlichsten Artigkeit und schwanzwedelnden, übermüthig glücklichen, nach allen Seiten mit der Zunge leckenden Menschenfreundlichkeit.

Außer ausgestopften und lebendigen Hunden hingen noch große Bilder von Sayers und Heenan, den Preis-Box-Königen, Box-Scenen, Schnell-Läufer, rattentödtende Hunde, einander tödtende [249] Hunde, einander tödtende Kampfhähne, Wellington, die Königin und einige Rennpferde an den Wänden entlang.

Der Präsident nimmt oben hinter Wolken seinen Sitz ein, ihm gegenüber am anderen Ende der Tafel der Vice-Präsident Billy-Cool. Beide rauchen als höhere Wesen Cigarren, alle Andern ihre Thonstummel. Billy Cool hält ein Scheusal von Riesenhund, dessen Rachen mit dicken Lederriemen verbunden ist, zwischen den Beinen und an einem starken Stricke fest und dahlt mit ihm, wie mit einem schwachen, geliebten Säuglinge. „Der schönste, gezäumte Bulle im zwanzigmeiligen Umkreise!“ wie mich ein Nachbar vertraulich belehrte.

Und nun die Gesellschaft! Die Aussteller! Die Ritter der Hunde-Industrie! Ich habe alle Arten von Londoner Verwahrlosung und Brutalität gesehen, wohl aber nie eine solche auserlesene Sammlung von Trägern des Kainsstempels, von natürlicher und naiver Schurkerei und selbstgefälliger Brutalität. Es konnten nicht weniger als ihrer funfzig sein, einige in ganzen Röcken und von einer gewissen Vornehmheit mit mehrmals geknickten und zerschlagenen „Angströhren“ der Civilisation auf den Köpfen, andere unter Mützen und in Flanelljacken, noch andere mit zu weiten oder zu engen Leibröcken und mit zu engen oder zu weiten, zu kurzen oder zu langen Hosen, so daß es mathematisch ausgemacht erschien, daß Keinem seine Kleider von einem Schneider angemessen worden waren, Alles war alt von Lumpenmärkten zusammengekauft oder fix und fertig gestohlen worden. Am auffallendsten erschien mir eine gewisse Gleichartigkeit in der Haartracht, der „Newgate-Klopfer“-Styl, wie er in der höheren Gaunersprache genannt wird, d. h. über den Kopf weg gescheiteltes und dann ringsum unnatürlich untergekrümmtes und unter Mützen und Hüte geschobenes Haar, damit es in Fällen der Gefahr zur Entstellung in beliebige andere Formen gezwungen werden und als Maske dienen könne.

Die Physiognomien der ehrenwerthen Gesellschaft hatten wohl alle ein natürliches, mindestens durch die socialen und individuellen Verhältnisse von der Wiege an ausgebildetes Verbrecher-Gepräge: kleine zurücktretende Stirnen, Spitzköpfe, unnatürliche Ausbildung des Hinterkopfes oder der untern Gesichtstheile. Jeder hatte mindestens einen Hund. Die Mode- und Miniaturhündchen saßen auf dem Tische neben den Gläsern und wechselten mit den Herren in den verschiedensten Formen Beweise der Liebe und Zärtlichkeit. Und hierin lag die menschliche, die rührende, ja tragische Schönheit des seltsamen Schauspiels. Die Hunde-Herren waren alle Feinde der Menschen und ihrer Gesetze, ihres Hab und Guts, wie sie offenbar von allen ordentlichen, gebildeten, mit Eigenthum gesegneten Menschen gehaßt, verachtet, vermieden oder verfolgt wurden. Aber der Mensch muß etwas lieben. Und so waren sie mit diesem Lieblingsbedürfniß auf den Hund gekommen, den treuen, sich zärtlich anschmiegenden Freund des Menschen bis in den Tod, bis in den Kerker und an den Galgen, den treuen Freund in der Noth, in Hunger und Elend, in Schmach und Schande, den über alle menschlichen Grenzen hinaus Liebenden, Treuen und Zuverlässigen. Ich fragte einen lumpig und hungrig aussehenden Kerl neben mir, was er für seinen hübschen, lustigen, listigen Hund für’n Preis stelle.

„Verkauf’ ihn nicht. Einmal wurden mir 12 Pfund geboten, ich geb’n nicht für 20. Ist mir Vater, Mutter, Geschwister, Frau und Kinder. Er nährt mich.“

„Wie so? Macht er Kunststücke?“

„No, Sir! Er hat sein Geschäft. Geht früh aus und macht sich in der Nähe von Fleischerläden Zerstreuung, wobei er immer in den Laden schielt. So wie die Luft rein ist, kommt er um die Ecke ’rum, schnappt das schon vorher als nicht zu schwer ausgesuchte Stück herunter und bringt es mir. Manchen Tag hat er schon 6 Pfund gebracht, so daß wir beide gut zu leben und noch an gute Freunde unterm Einkaufspreise etwas abzulassen haben.“

Und dabei küßte der Kerl seinen Ernährer enthusiastisch auf die Schnauze, und dieser wedelte so begeistert mit dem Schwanze, daß er laut gegen die Stuhlbeine knallte, ohne sich dadurch stören zu lassen. Die Spiel- und Schooßhündchen des Präsidenten und die meisten andern Zwerge auf dem Tische waren wunderschön und zierlich, einige mit Pfötchen nicht dicker als ein Gänsekiel und zum Theil mit den feinsten Vließen und herrlichen Zeichnungen. Das sind die Hündchen, die mit der Zeit an Lord-Ladies und Herzoginnen für fabelhafte Preise verkauft werden. Ich fragte nach den Preisen der verschiedenen ausgestellten Hunde wohl funfzigmal und hörte nie weniger als 10 Pfund Sterling nennen, wenn sie nicht durch „Nichtverkäuflich“ alle Schätzung in Geld ablehnten.

Die Reden des Präsidenten und verschiedener Hunde-Aussteller über Hunde im Allgemeinen und ihre Hunde im Besondern, das Herumzeigen und Abschätzen und Streiten und alle die Einzelnheiten des Abends können wir hier nicht wiedergeben, so daß wir mit der Schlußscene schließen.

Tische und Stühle sind übereinander in den Winkeln aufgehäuft und zum Theil mit Hunden und Menschen besetzt, die einen Kreis bilden, in welchem Billy Cool’s Bulldogg sich mit einem kalbsgroßen Fleischerhunde um 5 Pfund Sterling (außer den Privatwetten) duelliren soll. Beide werden gegen einander gehetzt. Sie knurren und knärren sich gegenseitig mit weißen Zähnen an. Dann packen sie sich heulend, brüllend, röchelnd, und wälzen sich fest ineinander gepackt über einander. Der Boden wird blutschmierig. Alle anwesenden Hunde bellen oder heulen, und die kleinen, zartnervigen springen vor Angst in Taschen und auf Tische. Alle Gäste hetzen, pfeifen, brüllen, stampfen, Jeder seinen Hund, auf den er gewettet, hetzend. Der Kampf dauert mit wenigen Unterbrechungen lange, bis endlich der Fleischerhund zuckend still liegt und Billy Cool seinem Sieger mit dem eisernen Feuerschürer die krampfhaft geschlossenen Kinnladen auf- und ihn so von dem sterbenden Fleischerhunde losbricht. Nach diesem Schlusse wurden die Wetten ausgeglichen, und damit war die Hunde-Ausstellung zu Ende.




Zur Geschichte des Aberglaubens.

Nr. 3.

Es giebt wenige Menschen, die vom Aberglauben völlig frei sind, und doch ist er anerkannt eine Thorheit, welche unzählige Belästigungen und schlimmere Einflüsse im Gefolge hat, ja in manchen Fällen jahrelang, oft sogar auf die ganze Zeit des Lebens, den frohen, unbefangenen Muth des Daseins zu stören im Stande ist. Größtentheils bringen wir die ersten Veranlassungen zum Aberglauben schon aus der Kinderstube mit, wo alte Tanten, Ammen und Mägde sich ganz besonders darin gefallen, die jungen Seelen ihrer gläubigen Zuhörer durch Zauber-, Geister- und Wunder-Erzählungen in falsche Voraussetzungen und Trugschlüsse zu verwickeln, für welche Kinder noch kein vernünftiges Gegengewicht haben. Von der Gespensterfurcht, dem Glauben an Hexen wie überhaupt dem sogenannten groben Aberglauben sich zu befreien, mag nun wohl in den reiferen Jahren öfter gelingen; aber es giebt eine Masse halbbewußter alberner und lächerlicher Dinge, die man mit dem Sammelnamen „Ahnungen“ wohl am besten bezeichnet, welche uns in unangenehmer, lästiger Weise anhängen. Wenn wir auch bei wahrer Vernunft solchen Unsinn tausendmal zum Teufel gewünscht und verworfen haben, so erlauert sich der verscheuchte Aberglaube immer wieder und wieder einen unbewachten Moment, – einen träumerisch dämmernden Zustand der Seele, um aufs Neue beängstigend aufzutreten und uns Umstände, Dinge, Verhältnisse, Zufälligkeiten, Zahlen, Tage etc. so zuwider zu machen, daß man schließlich doch unter zehn Fällen neunmal ein flaues Gefühl, ein dauerndes Unbehagen davon trägt.

Wie viele Menschen giebt es, die am Freitag nichts zu unternehmen wagen, die aus Ohrenklingen, Hand- und Nasekitzeln, einem gefundenen alten Nagel oder Hufeisen, der Begegnung eines alten Weibes am frühen Morgen, über den Weg laufenden Katzen, Hasen oder Schweinen etc. etc., ungerechnet der Masse gang und

[250] geber, vollständig unsinniger Sympathiemittel, die abenteuerlichsten Folgerungen und Schlüsse ziehen.

Doch das wären nichts weiter als kleine Lächerlichkeiten, die in den meisten Fällen nur belästigen, ohne positiven Schaden anzurichten, sind es auch unleugbare Beeinträchtigungen der inneren Freiheit, und eben dadurch häufig Störungen äußerer Thätigkeit. Allein weit schlimmer, als man das so auf den ersten Blick einzusehen vermag, können die Folgen des groben Aberglaubens, z. B. der Wahrsagerei, ausfallen. Mir ist unter vielen anderen ein ganz besonders auffallendes Beispiel bekannt geworden, das ich hier erzählen will, um damit eine Warnungstafel aufzustellen, die vor dem häufig auftretenden unsinnigen Gelüste, mit der eigenen Schwäche ein unbedachtes Spiel zu treiben, zurückschrecken soll.

Ein seines Prophetenblickes wegen oft genannter und bekannter Wahrsager war ein gewisser Sohn in Berlin. Unter den vielen älteren und jüngeren Personen vornehmen und geringen Standes waren es im Jahre 184* zwei junge Mädchen aus guten Familien, welche dem Gelüste, einen Blick in die Zukunft zu thun, nicht widerstehen konnten. Sie gingen zu jenem Sohn, und er war bereitwillig, ihnen die Zukunft zu offenbaren. Der Einen weissagte er alles Glück, während er der Andern eröffnete, daß sie sich zwar bald glücklich verheirathen, mit ihrem Manne auch sehr zufrieden leben würde, indeß stehe es fest, daß sie im ersten Wochenbett sterben müsse. – Das Unglück wollte nun, daß Einiges der glückverheißenden Offenbarungen für die Freundin in Erfüllung ging; natürlich Alles nur im Verlauf geordneter Verhältnisse; aber sie waren einmal vorhergesagt und daher bleierne Gewichte, die sich mit immer mehr erschwerender Gewißheit an die Unglücksprophezeiung für die zweite junge Dame hingen. Sie liebte! Doch trotz der Einwilligung der Eltern und dem Drängen des Bräutigams suchte sie stets die Hochzeit hinauszuschieben, bis sie endlich in traulicher Stunde den Muth faßte, dem Geliebten ihre sie beängstende Sorge, der Weissagung halber, mitzutheilen. Was vermag die beredte Zunge des Geliebten nicht? Die Hochzeit kam zu Stande. Das Paar war selig, und das Glück der jungen Gatten sollte im Spätherbst seinen Gipfelpunkt in der glücklichen Geburt eines Söhnchens erreichen.

Der kräftige Gesundheitszustand der jungen Mutter ließ auch den letzten Schein von Besorgniß aus der Seele des glücklichen Vaters schwinden. Morgen sollte die Frau zum ersten Male das Bette verlassen. Der Ehemann trat in fröhlicher Stimmung während der Dämmerstunde des vorhergehenden Abends an das Wochenbette der geretteten Gattin. „Nun siehst Du, mein süßes Weibchen,“ sagte er in unseliger Sorglosigkeit, „wie Dein miserabler Prophet zu Schande geworden ist; Du und unser liebes Kind, ihr seid beide froh und munter. Ich habe absichtlich die dumme Geschichte nicht wieder erwähnt; aber jetzt wirst Du doch wohl für alle Zeiten von der Thorheit, an derlei Firlefanz zu glauben, geheilt sein.“ Die Dämmerstunde ließ den jungen Mann nicht sogleich die furchtbare Veränderung wahrnehmen, welche augenblicklich mit der noch immer leidenden Frau geschah. Da er jedoch nach wiederholten Fragen keine Antwort erhielt, bis endlich unter lautem Schluchzen ihm die Erwiderung wurde: „Ach, Otto, nun bin ich gewiß verloren; ich werde mein Krankenlager nicht mehr verlassen!“– da rief er nach Licht und erblickte sein wie durch einen Zauberschlag verändertes geliebtes Weibchen in fieberhaft zitternder, ängstlicher Aufregung Seine Worte, seine Beredsamkeit waren vergebens. Sie blieb überzeugt, sterben zu müssen. Aerzte wurden herbeigerufen; an Sorgfalt und Anstalten jeder Art fehlte es nicht; umsonst. – Binnen 3 Tagen erlag das arme Weib einem hitzigen Nervenfieber, als Opfer der Wahrsagerei!

Jeder wird leicht in dieser wahren Darstellung der Thatsachen den natürlichen Zusammenhang erkennen. Es giebt kein bequemeres Mittel mit Erfolg wahrzusagen, als sich einen Moment im Leben des Weibes, der mit vieler Wahrscheinlichkeit eintreten muß, zum Brennpunkt der Offenbarung zu wählen, und dann den natürlichen Proceß der beinahe jedesmal auftretenden theilweisen Lebensauflösung als gefahrbringendes Unheilsziel zu setzen. Aber mit derlei drastischen Erfolgen wissen solche gewissenlose Subjecte, trotz ihrer häufigen Dummheit dennoch pfiffig genug, ihrem Gewerbe jenen mystischen Schein zu verleihen, der ihnen die ganze Zahl seelenschwacher Menschen und deren geöffnete Geldbeutel zuführt. – Ins Zuchthaus mit solchen gewissenlosen Betrügern, oder ins Irrenhaus mit derlei gefährlichen Narren, die mit ihren speculativen oder selbst gehirnkranken Inspirationen ein Gewerbe treiben und Unheil in die Gesellschaft streuen!

Je lebendiger die Phantasie eines Kindes ist, ein desto fruchtbareres Feld für die Saat des Aberglaubens findet sich in ihm. Ich entsinne mich, schon im Alter von 7–9 Jahren alle alten Weiber an Erfindung von Schauer-, Geister- und Wundergeschichten überboten zu haben. Daß ich mir derlei Erzählungen, die ich zuweilen auch in Anwesenheit Erwachsener vor einem aufmerksamen Cirkel kleiner Zuhörer vortrug, selbst erfand, ist wohl ein Beweis, daß ich in gewissem Sinne nicht daran glauben konnte; und dennoch habe ich gerade dadurch mir selber eine Seelenschwäche herangebildet, die mir später, und zuweilen noch bis heute, viel zu schaffen machte. In wenig Monaten bin ich jetzt 36 Jahre alt, und eben daran will ich eine kleine Erzählung knüpfen, die, eben weil ich jetzt selbst in vollständig rigoroser Weise darüber spreche, einen Beweis abgeben möge, wie schleichend unbesiegbar der Aberglaube nachwirkt, auch bei solchen, die keine Anstrengung scheuten, sich davon zu heilen, wie dies bei mir aus dem Folgenden erhellen wird.

Ich hatte einen Onkel, der General-Feld-Zeugmeister der österreichischen Armee war und in Linz seine Pension verzehrte, woselbst ich in einem Militär-Institut von meinem 10. Lebensjahre an erzogen wurde. Da Linz, wenigstens zu jener Zeit, der Aufenthalt vieler hoher Militär-Pensionäre gewesen, so konnte es nicht besonders auffallend sein, daß gerade im Frühjahre 1830 schnell hintereinander 2 große Leichenbegängnisse verstorbener alter Generale stattfanden. Für uns Jungen der Militär-Schule waren solche Leichenbegängnisse förmliche Feste. Wir hatten Nachmittags keinen Schulunterricht und durften in Galla, eine Compagnie kleiner Soldaten rangirend, derartige Feierlichkeiten immer mitmachen. Kanonen wurden in unserer nächsten Nähe gelöst; Bataillone gaben Ehrensalven den Verstorbenen ins Grab; das Alles gefiel mir nicht wenig, und beim Nachhausemarschiren sagte ich zu meinem Nebenmann, dem Zögling K., darüber einige Worte, wie mich derlei Paraden amusirten. Da meinte K., daß wir bald einen anderen General, den Feld-Marschall-Lieutenant R., begraben würden, ich also das Vergnügen nächstens wieder haben könne. – Und wirklich, wie er sagte, geschah es. Dabei war nun allerdings selbst für einen Abergläubischen noch immer wenig Wunderbares. Als ich jedoch diesmal beim Nachhausegehen K. fragte: „Nun, weißt Du vielleicht auch jetzt wieder, wen wir zunächst begraben werden?“ antwortete mir K., ein munterer, witziger Bursche, stets voller Tollheiten und bervorragenden Verstandes (er ist gegenwärtig Major des österreichischen Ingenieur-Corps), mich plötzlich ernst ansehend: „Ja! heute über acht Tage Deinen Onkel, den Feldzeugmeister M.“ Ich erklärte diese Antwort für einen schlechten Scherz, aber K. blieb steif und fest dabei, daß er das genau wisse. Was soll ich viele Worte machen? Noch des anderen Tages besuchte mich bei Gelegenheit eines Spazierganges mein Onkel im Institut; als ich jedoch an dem darauf folgenden Donnerstage, dem gewöhnlichen Tage, wo ich am Tisch desselben zu Mittag speiste, mich eben zu ihm verfügen wollte, kam ein Diener des Generals mir das Diner abzusagen, weil Se. Excellenz heftig erkrankt waren. Und genau am achten Tage nach dem Tage der Prophezeiung stand ich als Leidtragender an der Grube des Entschlafenen. Mein Onkel laborirte schon lange an Schlaganfällen, und sein Tod war längst jeden Tages zu erwarten und zu befürchten. Dennoch machte die ganze Geschichte auf mich einen tiefen Eindruck, welchem ich mich um so mehr hingab, als ich an meinem Onkel viel, sehr viel verloren hatte.

Da trat eines Tages mein College K. an mich heran und sprach mir Muth ein, indem er sagte, der Schlag könne mich nicht unvorbereitet getroffen haben, da er ihn mir ja vorhergesagt habe. – Das machte mich wüthend, und ich wies ihn unwillig zurück; – doch er meiner spottend sagte: „Gebehrde Dich wie Du willst, deshalb weiß ich doch, daß Du nicht 36 Jahre alt wirst!“ Es war nichts weiter als kindischer Muthwille, den er sprach, das weiß ich jetzt, das sah ich schon damals ein, und dennoch schlugen jene Worte so in meine Seele, daß sie darin immer fester Wurzel schlugen, so daß ich sie Jahre und Jahre lang als Gewißheit mit mir herumtrug. – Jetzt bin ich nahezu 36 Jahre alt, also nach K.’s Meinung gerade in den letzten Zügen meines Erdenwallens. – Aufrichtig gesagt, beunruhigt mich die Prophezeiung trotz meines schon seit Jahren anhaltenden, zuweilen bedenklichen [251] Unwohlseins (Hämorrhoidalleiden nennen es die Aerzte, weil mir Keiner zu helfen weiß) nicht im Geringsten, und ich habe durchaus weder Furcht noch Neigung in den nächsten Monaten zu sterben; aber vergessen habe ich die Geschichte bis heute nicht und erwarte den Tag, der mein sechsunddreißigstes Jahr vollenden soll, mit einer gewissen Sehnsucht, um endlich den unbequemen Gedanken los werden zu können. – Und so geht es mir, der wirklich mit festem Willen ganz gewaltige Curen mit sich vorgenommen hat, um sich das einzig wirksame Heilmittel für solche Fälle zu verschaffen: nämlich durch handgreifliche Gegenbeweise sich selber ein vernünftig ruhiges Raisonnement der anerzogenen Schwäche gegenüber abzutrotzen und durch energische Muthproben das Nervensystem zu stärken.

Haben wir im Vorhergehenden von den unangenehmen und schlimmen Folgen des Aberglaubens gesprochen, so wollen wir jetzt ein Beispiel anführen, welches im Gegensatz zu den vorigen darthun soll, wie ein unbefangenes Gemüth durch rasch entwickelnde gesunde Logik selbst Schwache und Unmächtige kräftigen und zur Beherrschung schwieriger Situationen geeignet machen kann. –

Der preußische Justizrath B., ein allgemein geachteter und als praktisch bekannter Mann, war mit Kindern reich gesegnet. Obgleich nun zwar die meisten derselben Mädchen gewesen, so ließ er doch trotz seiner ihn bisweilen überschüttenden Geschäfte sich niemals die Mühewaltung gereuen, die Erziehung seiner Kinder unmittelbar zu überwachen, ja in gewissem Sinne selber zu leiten. „Ich kann meine Mädchen nicht fürstlich aussteuern,“ sagte er oft, „aber dafür will ich sie praktisch erziehen, damit sie nothwendigen Falles auf eigenen Füßen zu stehen im Stande sein können.“ Daß bei solchem Vorhaben eines gebildeten Mannes es an der Handhabung richtiger Mittel nicht fehlte, ist wohl begreiflich, und im Allgemeinen liegen diese ja auch nahe genug, sobald die immer gleiche Sorgfalt des Vaterauges nur darauf aus ist, zur rechten Zeit in den vertrauensvollen Seelen der Kinder zu lesen, um Begriffsverwirrungen aufklarend zu besiegen, noch ehe sie tiefe Wurzel schlugen.

Die Hochzeit einer dem Justizrath nahe verwandten jungen Dame veranlaßte dessen Anwesenheit mit seinen vier ältesten Töchtern, von welchen wir die jüngste, Louise, besonders kennen lernen wollen, auf dem Schloß des Bräutigams, eines wohlhabenden schlesischen Gutsbesitzers.

Zwar war das geräumige Schloß zum Empfang einer bedeutenden Anzahl Gäste eingerichtet, allein, wie es bei solchen Gelegenheiten häufig geschieht, es fanden sich noch mehr Gäste ein, als unter gewöhnlichen Verhältnissen untergebracht werden konnten. Daher kam es, daß im Schloß das Oberste zu unterst gekehrt werden mußte, um nur Raum für Alle und Jeden zu schaffen. Ein Seitenflügel des Hauptgebäudes enthielt im Obergeschoß achtzehn in einer Reihe gelegene einfensterige, kleine Fremdenstübchen, welche diesmal zur Aufnahme sämmtlicher junger Mädchen der Gesellschaft bestimmt wurden; weshalb man dort die nach einem längs der ganzen Reihe jener Gastzimmer hinlaufenden Corridor führenden Thüren von innen verschloß, dagegen alle Verbindungsthüren öffnete, wodurch der ganze Raum gleichsam in einen langen, nur in Schlafstellen getheilten Saal verwandelt wurde. Im letzten dieser Fremdenstübchen jedoch hatte man einen Theil der Schloß-Bibliothek intermistisch placirt, da das große im Untergeschoß des Hauptgebäudes gelegene Bibliothekzimmer ebenfalls für eine Anzahl junger Herren als Schlafgemach in Anspruch genommen werden mußte.

An einem der Festabende saß man im großen Versammlungssaal beisammen. Die jungen Leute hatten unter sich Spiele arrangirt und gaben sich der Festfreude mit jener glücklichen Heiterkeit hin, die nur der kurzen Jugendperiode eigen ist, wo nach dem Abstreifen der Kinderschuhe der trockene, herbe Ernst des Lebens noch nicht seine Rechte geltend zu machen beginnt. Die älteren Herren und Damen der Gesellschaft hatten sich ebenfalls in Gruppen getheilt, und während die Hausfrauen sich vertrauliche Mittheilungen zu machen hatten, war eine Gruppe von Vätern, unter welchen sich auch der Justizrath B. befand, damit beschäftigt, ganz im Stillen die ausgelassene Heiterkeit des jungen Corps zu beobachten; wobei es kam, daß man auf Justizraths Louise ganz besonders aufmerksam wurde. Obgleich augenscheinlich die Jüngste im Kreise, war doch sie es, welche trotz muthwilliger Heiterkeit gleichsam den ordnenden Geist auszuströmen schien, der die Spiele in unaufgehalten sicherem Gange erhielt. Louise wurde von den sie beobachtenden älteren Herren als ein Mordsmädel bezeichnet, was dem Justizrath nicht wenig schmeichelte, weshalb er auch mit Stolz erwiderte: „Ja, und das ist mein Werk!“

Man ließ dem Justizrath zwar Gerechtigkeit widerfahren, konnte sich aber dennoch nicht enthalten, einige Gegenbemerkungen zu machen; daß z. B. der Stoff, um ein resolutes Mädel zu erziehen, auch darnach vorhanden sein müsse; es gäbe Fälle unbesiegbarer Verzagtheit, Furcht und Unentschlossenheit, welche ihren Ursprung im kränklichen, hinfälligen Wesen der Kinder haben; wie überhaupt eine energische Seele nur bei kräftiger Constitution denkbar sei und, wenn diese fehle, sich eben wenig dafür und dagegen thun lasse.

Damit aber hatte man den Justizrath gerade auf sein Lieblingsthema gebracht, und er war in seiner beredten Weise denn auch nicht lässig, den um ihn versammelten Vätern eine derbe Strafpredigt zu halten, die er mit den Worten schloß: „Sehen Sie ’mal mein Louischen an, sie ist kein Riesenkind und hat am allerwenigsten etwas mit einem sogenannten Husaren gemein. Sie ist Gott sei Dank – schön oder nicht schön, davon abgesehen – aber ein Mädchen, die durch die etwas resolute Erziehung, die ich ihr angedeihen ließ, nichts von dem Duft ihrer Jungfräulichkeit einbüßte. Das Mädchen war von Kind an kränklich und zeigte alle Anlagen ein nervöses Geschöpf zu werden, weshalb ich gerade mit ihr meine besondere Noth hatte; aber auf ihre Courage würde ich vom Fleck weg eine Wette wagen. Von Furcht hat das Mädel kaum einen klaren Begriff!“

Während dieses Gespräches hatte sich beim Spiel der jungen Leute eine kleine Differenz eingestellt, welche selbst Louischen nicht sogleich zu erledigen im Stande war. „Wo ist das Buch, nach welchem wir das Spiel erlernten?“ fragte sie jetzt, „wir wollen uns daran halten, das ist das Kürzeste.“

„Das Buch wird schwer zu finden sein!“ erwiderte der Bräutigam, „denn die Bibliothek befindet sich augenblicklich in einem etwas desolaten Verhältniß, da man dieselbe theilweise nach dem letzten Fremdenzimmer des Obergeschosses brachte, um hier unten Platz zu schaffen.“

„Richtig,“ entgegnete Louise, „ich entsinne mich, das Buch oben liegen gesehen zu haben. Gebt mir nur ein Licht, ich will es gleich herbeischaffen. Wo ist der Schlüssel zur Stube?“

„Die ist von innen verschlossen, Louischen, Du müßtest durch die Fremdenzimmer gehen, wo alle Verbindungsthüren offen stehen.“

Indessen hatte Louischen eines der dastehenden Kerzenlichter ergriffen und war auch schon zur Thüre hinaus gesprungen, um besagtes Buch herbei zu holen.

Einer der älteren Herren, als er Louischen hinausschreiten sah, rief dem Justizrath zu: „Sie können es sich ersparen, eine Wette auf Louischens Muth anzustellen; ich glaube kaum, daß eines der übrigen hier anwesenden jungen Mädchen so unbedingt allein die Wanderung durch das Schloß nach dem abgelegenen Zimmer machen würde.“

Der Justizrath lachte: „Sie wollen meinem Mädchen die Probe etwas gar zu leicht machen. Na, das fehlte mir noch, daß das große Mädel, sie ist im 15. Jahre, sich am Ende fürchten sollte, bei Nachtzeit allein durch ein paar dunkle Stuben zu gehen. Da müssen andere Proben vorliegen. Auf den absichtlichen forcirten Muth gebe ich übrigens sehr wenig, der wird immer unter gewisser außerordentlicher Anstrengung zur Schau getragen und beeinträchtigt die Unbefangenheit, welche man an jungen Leuten am sorgfältigsten cultiviren soll, um die frische, frohe Anmuth der Jugend sich recht urwüchsig entwickeln zu lassen.“

„Aber wo bleibt denn Louischen so lange?“ ließen sich ungeduldige Stimmen im Kreise der jungen Leute hören.

„Ich will ihr suchen helfen!“ sagte der Bräutigam und wollte eben nach der Thüre, welche sich im selben Augenblick öffnete, indem Louischen mit dem Licht in der einen, dem Buch in der anderen Hand in den Saal trat. Diese Nebenumstände wurden jedoch kaum bemerkt, denn Aller Augen waren von den angestrengt ruhigen, jedoch auffallend blassen Gesichtszügen Louischens gefesselt, bis diese, das Licht aus der Hand setzend, mit fester Stimme sagte: „Oben sind Diebe! Ich habe einen gesehen und die anderen gehört; sie sind eben dabei das Silberzeug der Aussteuer einzupacken, sie sind von der Dorfseite aus eingestiegen!“

Diese Worte hatten natürlich eine augenblickliche Revolte im [252] Versammlungssaal zur Folge. In wenig Augenblicken war das ganze Schloß alarmirt, einige Herren eilten bewaffnet nach der Außenseite des Schlosses, andere nach der Hofseite, während wieder andere, sofort die Treppe hinaufeilend, direct den Angriff auf die Diebe machten, und binnen einer halben Stunde waren acht Burschen, die sich die abgelegene Ruhe des Schloßflügels zu Nutze machen wollten, um die Aussteuer zu rauben, auf frischer That ergriffen und in Sicherheit gebracht.

Nachdem sich nun wieder Alles beruhigt hatte, war des Fragens kein Ende, wie es denn Louischen gelungen sei, die Diebe zu entdecken, ohne von ihnen bemerkt zu werden, da sie doch, wie das mitgebrachte Buch bewies, den ganzen langen Weg durch die Spitzbuben zwei Mal gemacht haben mußte, lassen wir nun Louischen die Geschichte der Spitzbuben-Entdeckung selber erzählen:

„Ich ging,“ sagte sie, „ohne an irgend etwas Anderes, als das zu suchende Buch zu denken, hinauf und öffnete die Thür des ersten Fremdenzimmers vom Corridor aus, als es mir schien, wie wenn ich deutlich hastige Schritte vor mir hereilen hörte. Einen Augenblick aufhorchend vernahm ich nichts mehr und glaubte mich getäuscht zu haben, daher ich unaufgehalten weiter ging. Nun hatte ich die ganze Reihe geöffneter Thüren vor mir liegen, durch welche ich schreiten mußte, um zu den Büchern zu gelangen. Ihr wißt, daß an jeder Thüre ein großes, weißes Handtuch aufgehängt ist. Da kam es mir vor, als bemerkte ich in der sich nur allmählich erleuchtenden dritten Stube das Handtuch sich bewegen, und vermuthete, da ich näherkommend ein Paar Stiefel unter demselben hervorgucken sah, es wolle sich Jemand einen Scherz erlauben, denn unmöglich konnte eine der dort einlogirten Damen solche Stiefel dort zurückgelassen haben. Jedenfalls aber wollte ich den Spaß nicht verderben, und schritt deßhalb absichtlich an den Thürpfeilern so vorbei, als hätte ich nicht das Geringste bemerkt.

Im Weitergehen fiel mir indeß die ungestaltete Größe der Stiefel aus, die noch obenein derartig beschmutzt waren, daß sie unmöglich einem der Herren unserer Gesellschaft angehören konnten. Indem ich das so dachte, hörte ich, um einige Stuben weiter gekommen, deutlich jenseits des Corridors leise sprechende Männerstimmen und ein Geräusch, das mich auf den Gedanken brachte, es wären Diebe da, welcher Gedanke sich mir im nächsten Augenblicke bestätigte, als ich durch ein geöffnetes Fenster den durch dasselbe in die Stube reichenden Obertheil einer angelegten Leiter entdeckte. Ohne mich viel nach dem Allem umzusehen, war ich bis zur Bibliothek gelangt, wo mir das gesuchte Buch sogleich in die Augen fiel, welches ich ohne Verzug mit dem Vorsatz ergriff, es zu öffnen und, mich so anstellend, als lese ich und hätte von Allem nichts bemerkt, mich auf den Rückweg zu machen. Daß ich durch Rufen meine Stimme nicht bis hierher hörbar machen konnte, wußte ich, wie auch, daß die Spitzbuben, durch mich aufmerksam gemacht, leicht unergriffen entspringen konnten, wenn sie mir nicht am Ende noch übel mitzuspielen gesonnen gewesen wären. Ich nahm also meine Courage zusammen und trat, mit dem aufgeschlagenen Buch in der Hand, meine Blicke darauf geheftet und mir ein Liedchen singend, meinen unheimlichen Rückweg an. Als ich wieder die drittletzte Stube erreichte, ließ ich meinen Blick auf den Fußboden neben mir gleiten und sah richtig noch immer die großen schmutzigen Stiesel dastehen. Ich brauche wohl nicht zu sagen, daß ich froh war, als ich dieselben hinter mir hatte; denn daß es keine leeren Stiefel waren, die ich sah, wußte ich gewiß. Die hastigen Schritte bei meinem Kommen, die Bewegung des Handtuches waren keine Täuschungen, davon war ich nun überzeugt. Mit meinem Liedchen hielt ich indeß erst an, als ich die Thür nach dem Corridor hinter mir wieder geschlossen hatte, wobei ich deutlich vernehmen konnte, daß meine Anwesenheit auch von den Dieben im Ausstellungszimmer bemerkt wurde. Ich wagte jedoch keinen Blick nach dieser Richtung zu werfen, um mich nicht zu verrathen, wie ich auch meine Schritte beim Herabsteigen der Treppe absichtlich nicht beschleunigte, wodurch [253] es mir denn gelang, bis hierher zu kommen, ohne daß die Diebe eine Ahnung hatten, daß sie entdeckt seien. Na, und das Andere wißt ihr ja alle selber,“ vollendete Louischen. „Jetzt aber laßt uns zu Bette gehen, denn ich bin herzlich müde.“ Der Justizrath gab seinem Louischen einen Kuß und sagte: „Du bist und bleibst mein Mord-Mädel! Nur schade darum, daß Du mir die Wette verdorben hast; morgen hätte ich am Ende Etwas auf Dich gewinnen können.“

Daß nur durch die Geistesgegenwart Louischens der Raub jener Aussteuer verhindert wurde, und die Spitzbuben, welche liederliches Gesindel eines Nachbardorfes waren, auf einen Schlag gefangen werden konnten, ist wohl Jedem unzweifelhaft klar; welchen Dienst aber das muthige Mädchen sich selber durch die behauptete Ruhe leistete, das verdient denn doch wenigstens noch einer kleinen Erwähnung. Bei der Gerichtsverhandlung, welche der Justizrath selber leitete, fand nämlich eine Confrontation des hinter dem Handtuch versteckt gewesenen Diebes, welcher als Sicherheitsposten aufgestellt war, und von Louischen so meisterhaft getäuscht wurde, mit der als Zeugin anwesenden Tochter des Justizrathes statt, wobei der schon mehrfach bestrafte Mensch die für seine Beurtheilung freilich etwas erschwerende Aussage that: „Hätte ich gewußt, daß mich die Kröte gesehen hat, so hätt’ ich sie lieber gleich kalt gemacht!“

Ich darf mich wohl jeder weiteren Beleuchtung enthalten, indem ich die Ueberzeugung hege, daß man allgemein einsehen wird, wie wenig ein durch Geister- und Spukgeschichten eingeängstetes Gemüth, ein durch häufige extravagante Erschütterungen gestörtes Nervensystem geeignet machen dürfte, ähnliche Muthproben, Anderen und sich selber zum Nutzen, abzulegen. Also erzieht Euere Kinder vernünftig und laßt die Spuk-, Schauer- und Gespenstergeschichten bei Seite!
Walter v. S. 




Das Asyl Franz II. in Rom.

(Mit Abbildung.)

Wir hielten es für nicht uninteressant, eine Abbildung der Behausung zu geben, die in unsern Tagen in Rom dem entthronten König Franz II. und der jungen Königin Marie von Neapel zum Aufenthalt und einstweiligen Asyl dient. Außer den genannten Majestäten, die jetzt das bittere Brod der Verbannung essen, ist der Palast von den übrigen Mitgliedern der neapolitanischen Königsfamilie bewohnt, die theilweise, wie die Königin Wittwe, schon früher gastliche Aufnahme in Rom fanden. Die päpstlichen Nobelgarden versehen den Ehrendienst des Palastes; sonst aber, abgesehen von den officiösen Empfängen und Besuchen, leben die Vertriebenen durchaus ohne alles Ceremoniell. So hatten wir jüngst Gelegenheit, die junge Königin, einzig von einer Dame begleitet, in der Kathedrale von Sanct Peter zu sehen. Sie betrachtete sinnend das schöne Denkmal jenes großen Papstes, das Canova demselben in Sanct Peter gefertigt. Ebenso sieht man häufig die Prinzen zu Fuße die Merkwürdigkeiten Roms aufsuchen.

Wie viel historische Erinnerungen knüpfen sich an diesen hehren Palast der Päpste und diesen Platz, wo die wunderbaren Kolosse von Monte Cavallo dem Wanderer Zeugniß geben von jener großen künstlerischen Pracht der alten Roma! – Hier sitzt seit lange schon das Conclave, das nach dem Tode eines Papstes den neuen Kirchenfürsten wählt. Aus jenem Kamine steigt der weiße Rauch (vom Verbrennen der Stimmzettel kommend), der dem Volke die gelungene Wahl verkündet. Hier residirte Pius VII. zur Zeit der französischen Occupation unter General Myollis, und von hier aus trat er und sein Staatssecretair, der Cardinal Pacca, unter Begleitung des Generals Radet seine unfreiwillige Reise nach Oberitalien, resp. Fontainebleau, an. – Hier residirte Pius IX. zur Zeit der stürmischen Tage der ersten italienischen Bewegung, und von jenem Balcon sprach er wohl manchmal zum versammelten römischen Volk. – Auf diesem Platz kam es zu den Thätlichkeiten, die damals den Bruch zwischen Regierung und Volk wenigstens sichtbarer machten. Aus jenem Palast endlich trat der Papst seine Reise nach Gaeta an, und selten nur residirte er seit jenen Tagen in diesen Räumen. – Welche Bestimmung bewahrt wohl die uns verschleierte Zukunft diesem weiten Hause?

Der Quirinalische Palast auf dem Monte Cavallo in Rom.
Nach der Natur aufgenommen von Zielcke




Ein Deutscher

Roman aus der amerikanischen Gesellschaft.
Von Otto Ruppius.
(Fortsetzung.)


Reichardt erwiderte auf diese Aufforderung in leichter Verlegenheit: „Ich spiele wohl Alles, wenn ich die Noten dazu habe!“

„O, Sie werden das kennen!“ rief der frühere Redner und legte zugleich sein Gesicht in ernste Falten, mit halber krähender Stimme die erste Strophe eines Kirchenliedes beginnend. Reichardt erkannte schon beim zweiten Takt einen alten Choral Luther’s und auf’s Neue alle starken Stimmen ziehend, ließ er in vollen Accorden die kräftige Melodie erklingen. Es mochten wohl derartige Töne in der Kirche noch nicht gehört worden sein, denn ein Seitenblick auf die Gesichter zeigte ihm den Beifall in der seltsamsten Weise ausgedrückt. Ein Theil schien wie verklärt oder in stummer Bewunderung den brausenden Harmonien zu folgen, während ein Anderer nach dem Rhythmus den Kopf wiegte oder den Choral leise mitzusingen schien.

„Mr. Ritschert – oder etwas dem Aehnliches – der die Orgel spielen und uns ein tüchtiges Kirchenchor heranbilden will,“ stellte der Geistliche den jungen Mann vor, als dieser geendet, „die Gentlemen sind von der Musik hereingezogen worden,“ wandte er sich wie erklärend an Reichardt. Dann wurden diesem die verschiedenen Namen der Anwesenden genannt, und bei jedem derselben hatte er eine hergestreckke Hand zu schütteln.

„Ich hoffe, Sir, Mr. Ellis wird keinen Grund finden, uns Ihrer schönen Fertigkeit zu berauben,“ klang zuletzt die freundliche Stimme eines Mannes, der ihm als „Trustee“ der Kirche bezeichnet worden war, „jedenfalls hoffe ich, Sie morgen bei unserm Gottesdienst zu sehen.“

Reichardt konnte sich nur verbeugen – der Prediger schien ihm also nicht völlig zu trauen und sich in dieser Weise ausgesprochen zu haben. Wenn aber sonst nichts seiner Existenz hier im Wege stand, so durfte er sich wohl ruhig der Zukunft überlassen, trotz des Kusses auf der Piazza von Congreß-Hall, den nur die Sterne gesehen und der hier schwerlich seine Wiederholung finden konnte. Er folgte den davon gehenden Männern, empfing an der Thür den Händedruck des Geistlichen mit einer neuen Einladung für den morgenden Sonntag und wanderte seinem Hotel zu. Nach wenigen Schritten aber hatten ihn zwei seiner Zuhörer, denselben Weg verfolgend, eingeholt. Er ward gefragt, wie ihm Amerika gefalle, was ihn herüber getrieben habe aus der alten Welt, und Reichardt sprach von seiner Begeisterung für die Musik, der er nicht habe genügen können, von den engen Schranken, die in Deutschland auch im socialen Leben jeder freiern Regung gezogen würden. Bald war ein lebendiges, allgemeines Gespräch im Gange, das auch, als die Veranda des Hotels erreicht war, mit sichtlichem Interesse von Reichardt’s Begleitern fortgesetzt ward.

Und als diese sich beim Läuten der Mittagsglocke endlich entfernten, machte sich in dem Begegnen des Wirths wie der Aufwärter eine Aufmerksamkeit gegen den jungen Deutschen geltend, die diesem ein Lächeln abzwang – er wußte doch nicht einmal die Namen seiner bisherigen Gesellschafter.

[254] Als Reichardt nach beendeter Mahlzeit sein Zimmer betrat und seine Violine erblickte, kam es ihm vor, als habe er sich gegen sie einer Untreue schuldig gemacht. Er öffnete den Kasten; das Instrument war immer seine Busenfreundin gewesen, der er anvertraute, was unklar oder unausgesprochen in ihm ruhte. Und so begann er auch jetzt, auf- und abschreitend, im freien Spiele seinem Herzen Luft zu machen. Kaum zwei Minuten lang mochte er aber das Zimmer durchmessen haben, als sich auch leise die Thür öffnete und Bob’s Gesicht sich vorsichtig hereinschob. Den Mund halb offen, die Augen starr auf den Spielenden gerichtet, blieb er eine kurze Weile in der Oeffnung stehen; dann aber stellte er sich, behutsam die Thür hinter sich schließend, neben dem Thürpfosten auf. Reichardt hatte ihn bemerkt, aber die Gestalt paßte gerade in seine Phantasien hinein, und so setzte er, ohne sich unterbrechen zu lassen, sein Spiel fort, bald in weichen Tönen klagend, bald in energischen Doppelgängen dem Schicksal Trotz bietend oder in tollen Läufern und Arpeggios den Kampf mit ihm beginnend. Als er endlich, zur Klarheit sich hindurcharbeitend, mit einem kräftigen Schlusse geendet, blieb er vor dem regungslosen Schwarzen stehen und reichte diesem die Geige.

„Jetzt, Bob, laß’ einmal hören, was Du kannst!“ sagte er; der Angeredete aber schüttelte mit einem verlegenen Grinsen den Kopf, während seine Augen sich dennoch gierig auf das Instrument richteten. „Ich kann blos fiedeln in meiner Manier, Sir,“ sagte er, „vielleicht, wenn ich die Noten verständ’, könnt’ ich auch Anderes –“

Reichardt sah, wie des Schwarzen Finger sich unwillkürlich bewegten, um die Violine zu ergreifen, sich aber dennoch immer wieder scheu zurückzogen, und mit einem Lächeln stiller Belustigung drückte er ihm das Instrument in die Hand. „Nur los, Bob!“ sagte er, „Jeder thut, wie er es gelernt hat!“ und mit auflebendem Gesichte leistete der Schwarze Folge. Gravitätisch setzte er den linken Fuß vor, die Augenbrauen zogen sich in einem Ausdruck tiefer Wichtigkeit zusammen, und nun sauste es los. In zappelnder, windschneller Bewegung flog der Bogen über die Saiten, bald nur die einzelnen Noten andeutend, bald andere Saiten mitklingen lassend, der linke Fuß trat den Takt, in Kurzem aber folgte der Kopf der Bewegung und zuletzt auch der übrige Körper, schwingend die Tanzbewegung andeutend. Und immer ernster wurde das Gesicht, immer eifriger flog der Bogen, immer lauter trat der Fuß auf, bis der Spielende mitten in seiner sichtlichen Begeisterung plötzlich abbrach und ängstlich aufhorchte. Aber kein außergewöhnlicher Laut wurde hörbar, und mit einem scheuen Lächeln, den Kopf halb in die Schultern ziehend, gab der Schwarze die Violine zurück. „Ich dachte,“ sagte er, „ich hörte Masters Stimme, er sicht’s nicht gern, wenn ich fiedele!“

Reichardt hatte in des Schwarzen Spiel eine derselben „Hornpipes“ erkannt, in welcher er sich selbst in Saratoga hatte hören lassen, und er konnte jetzt Harriet’s Empfindungen mehr als bisher verstehen; trotzdem lag, abgesehen von den äußerlichen Zuthaten, etwas in der Weise, in welcher der Neger die Melodie variirt und verziert hatte, was auf mehr als gewöhnliches Talent deutete. „Ihr solltet im Osten sein und ordentlichen Unterricht haben, Bob,“ sagte er; „es könnte, da Ihr die Geige so lieb habt, noch etwas aus Euch werden!“

„Es könnte schon sein, Sir,“ erwiderte der Schwarze mit einem Grinsen des Vergnügens, „aber Bob ist ein armer Nigger, Sir, und wird sein Lebtag den Osten nicht sehen.“

„Und warum dürft Ihr nicht wenigstens hier spielen, wenn Ihr freie Zeit habt?“

„Ich hab’s wohl ein Bischen zu viel getrieben, Sir,“ war die halbverlegene Antwort; „wo ich eine Geige hörte, da mußte ich hin, und des Nachts habe ich mich ein paar Mal aus dem Hause geschlichen, blos um mit zum Tanze spielen zu können. Mr. Curry sagte, das Tanzen sei eine von den schlimmsten Sünden und seine Dienstboten sollten nicht dazu helfen; ich dürfe keine Geige mehr anrühren, wenn ich nicht zur Feldarbeit vermiethet sein wolle. Ich konnte ’s aber doch nicht lassen, und da hat er mich hier in’s Hotel gegeben, wo ich ihm mehr einbringe – der Master hier aber sieht mir so scharf auf die Finger, daß ich heute zum ersten Male wieder zum Spielen gekommen bin. Können ’s die freien Schwarzen im Osten besser, als wir hier, Sir?“ fuhr er mit gedämpfter Stimme und einem furchtsamen Ausdruck von Neugierde fort.

„Hab’ noch keinen gehört, Bob,“ erwiderte Reichardt, welchen diese Musikmanie zu amüsiren begann, „so viel ich aber verstehe, würdet Ihr’s sicher mit Jedem dort aufnehmen können!“

Das schmutzige Gelbschwarz im Gesichte des Negers schien dunkler zu werden; er sah scheu nach der Thür zurück und dann wieder in das Gesicht des jungen Mannes; dann aber, als habe er zu viel von seiner Erregung merken lassen, verzog sich sein Gesicht zu einem halbverlegenen Grinsen. „Dank Ihnen, Sir, Dank Ihnen,“ sagte er, „aber Bob ist ein armer Nigger, der dem Mr. Curry gehört und der den Osten niemals sehen wird!“ Er schien wieder zu horchen, öffnete dann leise die Thür und schlüpfte vorsichtig hinaus.

„Sonderbare Kerls, diese Schwarzen!“ brummte Reichardt, lächelnd den Kopf schüttelnd, barg seine Violine wieder in den Kasten und suchte dann das in New-York beschaffte „Prayer-Book für Episkopalen“ hervor, sich noch einmal die Ordnung des morgenden Gottesdienstes genau einzuprägen.

Reichardt glaubte noch nie so viel wirkliches Sonntagsgefühl in sich gehabt zu haben, als da er am nächsten Morgen nach einer sorgfältigen Toilette den Weg nach der Kirche einschlug. Eine laue, weiche Morgenluft durchwehte die sonnigen Straßen. Aus drei verschiedenen Richtungen klangen die einzelnen Schläge der Glocken, bald zusammen einen Accord bildend, bald getrennt auf einander folgend, und ringsum herrschte die eigenthümliche sabbathliche Stille amerikanischer Städte, nur unterbrochen durch die einzelnen im Festtagskleide hinschreitenden Kirchengänger. Reichardt war noch niemals ein großer Gläubiger gewesen und hatte in manchem Jahre seine heimathliche Kirche gar nicht besucht. Heute aber meinte er das Gefühl eines Jeden, dessen Weg mit dem seinigen zusammenfiel, verstehen zu können; war er doch selbst, wenn er vor der Orgel saß, ein ganz Anderer in seinem Empfinden und Denken, als im Alltagsleben, und die stille Spannung, mit welcher er der Entscheidung seines augenblicklichen Schicksals entgegen ging, trug nur dazu bei, seine Stimmung zu heben. Er erreichte das Chor der Kirche, während noch der schwarze Balgtreter sich hinter der Orgel abmühte, den Glockenstrang zu ziehen, und nahm einen Stuhl neben der Orgelbank ein; er war neugierig, die Leistungen seines Vorgängers zu hören.

Bald begann es sich um ihn auch von Damen und jungen eleganten Männern zu füllen, ohne daß indessen Jemand besondere Notiz von ihm zu nehmen schien. Erst nach geraumer Weile erschien der alte Herr, welcher ihm gestern als Trustee der Kirche bezeichnet worden war, in Begleitung eines jüngern und wandte sich, sobald er Reichardt’s ansichtig wurde, nach diesem. „Sie werden uns gewiß heute eine Probe Ihrer Kunstfertigkeit geben,“ sagte er, „hier ist Mr. Young, welcher bisher den Gesang mit seinem Spiele geleitet hat; er wird Ihnen jetzt in Allem, worin Sie es wünschen sollten, Auskunft geben, und ist es Ihnen recht, so mögen Sie gleich mit einer Einleitung beginnen.“

Reichardt hatte sich erhoben und verbeugte sich bejahend. Dann fiel sein Blick auf den ihm beigegebenen jungen Mann, und ein düsteres Auge, das seine ganze Erscheinung durchdringen zu wollen schien, begegnete dem seinigen. „Ich werde Ihnen sehr dankbar für Ihre Unterstützung sein!“ sagte Reichardt höflich, aber nur ein kaltes, steifes Lächeln antwortete ihm, und ohne sich eines leisen Gefühls von Verwunderung erwehren zu können, zog der junge Deutsche die Klingel für den Balgtreter.

Schon die ersten Accorde des großartigen Anfanges, welchen der Spielende gewählt, ließen alle Köpfe sich nach ihm wenden. Reichardt hörte das Kleiderrauschen und Flüstern um sich, welches jedenfalls die Erkundigungen nach der unbekannten Persönlichkeit hervorriefen; er fühlte die Versuchung, vor der ganzen versammelten Gemeinde sein Licht im besten Glanze leuchten zu lassen. Noch bald genug erinnerte er sich aber, daß er nur eine kurze Einleitung zu spielen habe, und führte rechtzeitig das aufgenommene Thema zum Schlusse.

Die Stimme des Predigers begann, und Reichardt sah beim Umblicken seine ganze Umgebung auf die Kniee sinken; er wußte nicht, ob er durch eine Theilnahmlosigkeit nicht Anstoß erregen werde, schlüpfte leise von der Bank und folgte dem Beispiele der Uebrigen. Es mußte nach Ausweis seines „Prayer-Books“ noch eine geraume Zeit währen, ehe der Gesang des Chors begann. Kaum hatte er es sich aber möglichst bequem auf einem Kniee gemacht, als es neben ihm rauschte und eine weibliche [255] Gestalt, den Kopf in das offene Gebetbuch gebeugt, dicht an seiner Seite niederkniete. „Guten Morgen, Sir!“ klang dem jungen Manne Harriet’s leise Stimme in die Ohren, „Sie haben Ihre Sache gut gemacht, und ich bin zufrieden mit Ihnen. – Rühren Sie den Kopf nicht – ich kenne Sie durchaus nur so ganz obenhin und werde Sie nicht eher beachten, als bis Sie in unserer Familie eingeführt sind – dafür werde ich aber sorgen. Jetzt nur das Eine: Sagen Sie morgen dem Mr. Ellis mit seinen albernen Bedenklichkeiten, daß Sie in vierundzwanzig Stunden Gewißheit haben müßten. – Sie haben schon Freunde hier, wenn Sie auch noch nicht viel davon wissen, und die Gemeinde wird Sie nicht fort lassen, wenn sie auch Opfer zu bringen hätte. Dann aber halten Sie sich den Mr. Young vom Leibe, der neben Ihnen stand; Sie müssen mir darin auch einmal ohne Gründe folgen – Amen!“ sagte sie laut mit der übrigen Gemeinde, „stehen Sie auf, aber sehen Sie mich nicht an!“

Reichardt hatte seinen Platz wieder eingenommen, ohne nur einen Seitenblick nach dem Mädchen gethan zu haben; fast wollte es ihm aber scheinen, als erhalte er eine Ahnung von wenigstens einem Grunde ihres Handelns, als er Young’s Augen der hohen Gestalt folgen und sich dann mit dem deutlichen Ausdrucke eines erwachenden Verdachtes nach ihm wenden sah. Irgend eine Beziehung mußte zwischen Beiden bestehen, sonst hätte sie sich wohl kaum zu der eigenthümlichen letztausgesprochenen Warnung verleiten lassen.

„Sie kennen Miß Burton, Sir?“ fragte der junge Amerikaner leise, während er ein aufgeschlagenes Notenbuch auf das Orgelpult legte. „Dies ist die Melodie, welche der Chor für den nächsten Gesang gewöhnlich anwendet.“

„Ich bin ihr nur ein einziges Mal flüchtig begegnet,“ erwiderte Reichardt lässig, eifrig bemüht, den Worten des Predigers in seinem „Prayer-Book“ zu folgen. „Wollen Sie aber nicht den ersten Gesang selbst spielen, damit ich wenigstens einmal mich von den Gewohnheiten des Chors unterrichte? – Da kommen die beiden letzten Sätze!“ fügte er hinzu und glitt von der Bank herab, die Young nach einer augenblicklichen Zögerung und nur wie durch die Nothwendigkeit gedrängt einnahm.

Der Gesang begann. Reichardt hörte prächtige Stimmen, die aber sämmtlich ihren eigenen Launen folgten, bald in der Melodie mitgingen, bald zu secundiren oder den Baß darzustellen versuchten. Young an der Orgel hatte sichtlich schon versucht, sich Kenntniß des Instruments zu verschaffen, dennoch war keine Strophe ohne schlimme Fehlgriffe, an welche das Chor indessen schon gewöhnt zu sein schien, und als Reichardt, um seine Empfindung zu verbergen, den Kopf abwandte, traf er auf Harriet’s Gesicht, in welchem der Hohn im vollsten Uebermuthe spielte; Reichardt fühlte fast wie Mitleiden mit dem unglücklichen Organisten.

„Ich spiele wohl sonst etwas besser,“ sagte dieser beim Ende des Gesanges die Bank verlassend, „aber ich habe, ehrlich gesprochen, nach Ihrer Einleitung den Muth verloren.“

„Lassen Sie nur, ich würde in Dingen, worin Sie Meister sind, noch viel schlimmer bestehen,“ erwiderte Reichardt gutmüthig, „übrigens ist es schwierig genug, sich immer nach den Launen Ihres Chors richten zu müssen, und ich denke, ich gebe ihm gleich in dem kommenden „Gloria“ eine Lection.“

Young ließ einen suchenden Blick hinüberschweifen, wo Harriet stand, und schlug das nächste Gesangstück auf. „Sie werden hier bleiben, Sir?“ fragte er wie hingeworfen.

„Kann im Augenblicke noch kein Wort darüber sagen,“ erwiderte der junge Deutsche, „ich habe mich, da ich ohnedies den Süden sehen wollte, durch einige Worte verleiten lassen, hierher zu gehen, und muß nun erst abwarten, ob ich Chancen finde.“

„Sie waren doch, wie ich höre, hier bereits empfohlen?“ erwiderte Young aufsehend, und derselbe Ausdruck des Mißtrauens, welchen Reichardt früher bemerkt, machte sich wieder in seinem Auge geltend.

„Ich selbst wohl kaum, Sir,“ erwiderte der Andere, welchen die augenscheinliche Sorge des Amerikaners um sein Verhältniß zu Harriet zu interessiren begann, „jedenfalls nur meine wenigen musikalischen Fähigkeiten, die zufällig wahrgenommen wurden. Stehen Sie vielleicht Miß Burton, welche meine geringe Gunst empfahl, näher?“

Young schien die letzte Frage zu überhören, hob den Kopf und horchte aufmerksam nach dem Geistlichen. „Hier ist das Gloria,“ sagte er, auf das Notenbuch deutend, „wir werden in Kurzem zu beginnen haben!“ Reichardt folgte dem Fingerweis, übersah rasch das Stück, und als der Prediger geendet, setzte er, das vorherige schleppende Tempo unbeachtet lassend, in voller Kraft und Lebhaftigkeit ein, schon nach den ersten Takten das überraschte Chor mit sich fortreißend, bis dieses, als gewinne es unter seinem Spiele ganz neues Leben, das Tempo aufnahm und sich den Harmonien kräftig anschloß. Als Reichardt nach dem Ende von der Bank glitt, traf ihn aus Harriet’s halb zurückgewandtem Gesichte ein helles Lächeln; aber auch Young schien es bemerkt zu haben, und mit einem tiefen Schatten zwischen den Augen wandte er sich nach der Seitenbrüstung des Chors, sich während des übrigen Gottesdienstes mit keinem Blicke weiter um die Musikausführung kümmernd.

Die Predigt und die Schlußgesänge waren vorüber, und als Reichardt nach einem „Ausgange“, welcher einen großen Theil der Gemeinde länger als gewöhnlich zurückgehalten hatte, den Vorplatz der Kirche betrat, sah er sich von dem Geistlichen in Empfang genommen und einer Zahl wartender Kirchenbesucher zugeführt. Er hatte wieder fremdklingende Namen zu hören und Hände zu schütteln, hatte aber auch vor alten freundlichen Frauengesichtern wie vor frischen jugendlichen Zügen und dunkelblitzenden Augen sich zu verbeugen, bis endlich ein hoher Mann zur Seite der lächelnden Harriet ihm entgegentrat. „Ich kenne Sie schon aus meiner Tochter Erzählung,“ sagte dieser, ihm derb die Hand drückend, „und wenn ich auch erst gemeint, das Mädchen habe einen ihrer tollen Streiche begangen, Sie ohne Weiteres hier herunter zu sprengen, so sehe ich doch ein, daß sie dieses Mal klüger gehandelt, als ich ihr es zugetraut. Ich hoffe, wir werden Sie hier festhalten können, Sir, und es soll mich freuen, Sie zu irgend einer Zeit in meinem Hause zu sehen!“

Er nickte ihm freundlich zu und wandte sich nach dem Prediger.

„Sie sind schon mehrere Tage hier, Sir?“ fragte Harriet, langsam vorwärts gehend; als aber Reichardt, der Einladung folgend, an ihrer Seite hinschritt, begann sie, ihre Stimme dämpfend: „Was hatten Sie mit dem Mr. Young so angelegentlich zu verhandeln? Verstanden Sie nicht, was ich Ihnen sagte?“

„Haben Sie Beziehungen zu dem Gentleman, Miß?“ erwiderte er in derselben Weise. „Bestimmen Sie in irgend einer Art über mich, aber geben Sie mir Gründe –“

„Beziehungen – pshaw!“ sagte sie verächtlich; „indessen hätte ich wissen sollen, daß halbe Worte bei Ihnen nichts fruchten. Ich habe schon eine Aeußerung über die Schlangen und reißenden Thiere in unserer Stadt gegen Sie fallen lassen – aber sehen Sie zu Boden oder nach der Seite, wir dürfen, wenn Sie hier bleiben wollen, noch nicht so genau miteinander bekannt sein, daß wir ein interessantes Gespräch führen könnten. Well, Sir,“ fuhr sie gleichgültig die Straße entlang blickend fort, „der genannte Gentleman rangirt in meiner Menagerie unter den Eidechsen, die auf den heimlichsten Wegen nach dem wärmsten Plätzchen schlüpfen, bei jedem Fußtritt aber die Flucht ergreifen. Er möchte Harriet Burton zur Frau haben, um ihr Geld zu erhalten; aber er hat nicht den Muth, ihr nahe zu kommen; er mag ihrem Vater nicht ins Auge sehen, er sucht heimliche Wege, wo ihn kein unberufener Tritt verscheuchen kann – ich kenne die Wege, und doch überläuft es mich immer wie die Scheu vor einem wirklichen Molche, wenn ich einmal daran denke, seinen Schlichen entgegenzutreten. Sie verstehen mich jetzt noch nicht, aber Sie werden mich mit der Zeit verstehen lernen. Freilich können Sie sagen, daß das mit Ihren Verhältnissen nichts zu thun hat, aber er wird wissen, wie die halbe Gemeinde es bereits weiß, daß ich die Ursache Ihrer Anwesenheit bin, und Ihr Tritt mag der Eidechse vielleicht zu kräftig auf ihrem Wege klingen, daß sie nicht das Mögliche thun sollte, um Sie hier zu beseitigen – da haben Sie, was mich bewog, Sie vor dem Menschen zu warnen, wenigstens bis Ihr Engagement feststeht. Dann werden Sie selbst Kraft genug haben, das Gewürm zu zertreten, wenn es in Ihren Weg kriecht.“

„Aber, Miß, was haben Sie, mit Ihrem kräftigen Willen, sich um die heimlichen Wege irgend Jemandes zu kümmern, der doch nie damit zu Ihnen heranreichen würde?“ erwiderte Reichardt, der, eigenthümlich von ihrem gepreßten Tone berührt, fast mit einer Art Weh einen dunkeln Punkt in diesem glänzenden, reichen Leben wahrgenommen hatte.

[256] „Nicht wahr? So habe ich mich auch schon gefragt!“ versetzte sie. „Warum fürchtet sich aber der Vogel auf dem Baume vor der Klapperschlange, die ihn doch scheinbar niemals erreichen kann? Aber ich will Ihnen sagen, daß ich mich noch drei Mal so stark gegen sonst fühle, seit Sie hier sind – ich könnte Ihnen auch dafür keinen eigentlichen Grund anführen, und doch ist es so. – „Well, Sir!“ lachte Harriet plötzlich, „unsere Bekanntschaft gehört sicher zu den ganz besonderen. Nach nicht einmal zwölfstündiger Bekanntschaft nimmt sich der Herr Freiheiten heraus, die Harriet Burton noch niemals geduldet, und in der nächsten Stunde, in welcher sie ihn sieht, schließt sie ihm das Geheimste ihres Herzens auf, als habe das kaum anders sein können.“

(Fortsetzung folgt.)

Blätter und Blüthen.

Karl August als Vorspanner. Weimar war zu Ende des vorigen Jahrhunderts einer der schmutzigsten Orte; in den Gassen der Stadt, in denen der Lottenbach floß, waren sogenannte Schrittsteine angebracht, mit Hülfe deren man von einer Seite der Gasse zur andern gelangen konnte, wenn man trockene Füße behalten wollte. An eine Straßenordnung, wie wir sie jetzt haben, war nicht zu denken, in den Gassen wuchs Gras, und Haufen von aus den Häusern geworfenem Unrath lagen herum. Früh lud der Kuhhirt durch das Horn zum Austreiben der Kühe ein, dann kam der Schweine- und Gänsehirt, am Abend wurde das Vieh wieder eingetrieben. Bis zu den Thoren der Stadt waren die Straßen leidlich gepflastert, aber in den Vorstädten watete man bis an die Knöchel im Kothe.

Um jene Zeit war das heilige römische Reich noch nicht zerfallen, und Erfurt gehörte noch zu dem Kurfürstenthum Mainz; in Erfurt residirte Dalberg als Coadjutor, und viele Erfurter rühmen heute noch jene goldene Zeit.

Die Chaussee reichte bis gen Nohra, dem ersten kurmainzer Dorf, von da begann Feldweg, und im Sommer bei heftigen Gewittern oder Regengüssen war derselbe schwer, im Winter aber beinahe unfahrbar. Wir hatten damals hier in Weimar einen schon bejahrten Fuhrmann, Namens Stachelrath, dieser besorgte das Botenfuhrwerk und war zu gleicher Zeit Gemüsehändler. Jede Woche fuhr er zweimal nach Erfurt und brachte dann Gemüse, so viel wie er laden konnte, herüber nach Weimar. Er stand sich dabei sehr gut, denn zu jener Zeit wurde Weimar noch nicht von allen Seiten mit demselben versorgt. Vorzüglich war die Strecke Wegs vom Linderbacher Spittel, der links an der jetzigen preußischen Grenze an der Straße liegt, im Herbst und im Frühjahr, sowie auch die übrigen Jahreszeiten bei heftigen Gewittern oder Regengüssen, beinahe nicht passirbar; mancher Fuhrmann dachte mit Schrecken lange daran, wenn er zufällig zu einer solchen Zeit diesen Weg hatte passiren müssen.

Einstmals, es war an einem sehr schwülen Sommertage, an welchem der Himmel mit drohenden Gewitterwolken bedeckt war, fuhr unser Stachelrath mit seinem Sohne, einem Knaben von 9 bis 10 Jahren, mit schwerbeladenem Wagen zum Schmidtstädter Thore heraus, um noch diesen Abend nach Weimar zurückzukehren. Doch kaum hatte er die Stadt im Rücken, als sich ein so heftiges Gewitter entlud, daß nach kurzer Zeit die Räder immer tiefer in den schon ohnedies moorigen Boden einschnitten und endlich trotz allem Schreien und Prügeln die Pferde den Wagen nicht von der Steile brachten. Der Alte überlegte mit seinem Jungen, was da zu thun sei, doch da war guter Rath theuer, denn es wetterte unaufhörlich fort.

Als sie nun Beide, ohne zu einem Entschluß zu kommen, dastanden, kam desselben Wegs eine offene Droschke, aus welcher ein Herr in einen Mantel gewickelt, der Kutscher und ein Diener saß. „Wer ist der Kerl, der da stecken geblieben ist?“ fragte derselbe.

„Durchlaucht,“ erwiderte der Diener, „das ist unser alter Stachelrath, der Botenfuhrmann und Grünwaarenhändler.“ – „So, na da spanne einmal Deine Pferde ab (es waren deren vier Allstedter Rappen), hänge ihm vor und bringe ihn auf’s Trockene; die Droschke könnt Ihr so lange hinten anbinden, da komme ich auch gleich mit fort.“ Der Kutscher und Diener befolgten augenblicklich den Befehl, und in einigen Minuten wurde der Wagen von den muthigen Pferden in Bewegung gesetzt und bis zum Spittel geschleppt, wo der Boden fest war. Es war Karl August, Herzog von Sachsen-Weimar. Auf dem Platze angekommen, sagte er zu Stachelrath: „Nimm Dich in Acht, daß Du nicht wieder stecken bleibst, denn Du könntest vielleicht nicht so schnell Vorspann bekommen als jetzt. Adieu.“

„Durchlaucht,“ rief Stachelrath, „die Vorspann bleibe ich schuldig.“

In Nohra, dem letzten Dorfe vor Weimar, wechselte Karl August die Pferde, die hier bereit standen, und der Kutscher ließ dieselben ein wenig Heu fressen und verschnauben. Während dieser Zeit kam Stachelrath auch angefahren und wollte dem Kutscher ein Trinkgeld geben, dieser erwiderte: „Laß’ nur gut sein, der Alte hat schon Alles besorgt.“

Am nächsten Sonntag Morgen kleidete sich Stachelrath in seinen Sonntagsstaat, der in schönen, gelbledernen kurzen Beinkleidern mit silbernen Knöpfen und Schnallen garnirt, hellblauen Strümpfen und Schuhen mit schweren, silbernen Schnallen, rother Weste mit lüneburger Zweigroschenstücken und Sammtjacke mit dergleichen Viergroschenstücken statt der Knöpfe, und einem Hut, der der Form halber Schröpflampe genannt wurde, bestand. So ging er nach dem Fürstenhause, das Schloß war damals noch nicht fertig gebaut, und meldete sich in der Garderobe bei dem dienstthuenden Kammerdiener.

„Was willst Du, Stachelrath?“ redete ihn derselbe an.

„Was ich will? Ich will Durchlaucht meine Vorspann bezahlen, er hat mir am Freitag vorgehängt.“

„Kerl, bist Du toll?“ erwiderte der Kammerdiener.

„Ne, ne! ich bin nicht tolle, er hat mir vorgehängt.“

Der Kammerdiener meldet Stachelrath, und Karl August läßt ihn eintreten.

„Was bringst Du, Stachelrath?“ fragte ihn der Herzog.

„Durchlaucht, Vorspann will ich bezahlen und mich schön bedanken,“ erwiderte derselbe.

„Nun, nun, schon gut, Stachelrath, wenn ’s wieder so trifft, so hänge ich Dir wieder vor.“

„Nun, Durchlaucht, wenn Sie mit Gewalt nichts nehmen wollen, da bringe ich Ihnen wenigstens ein Paar recht schöne Erfurter Rettige mit,“ und dabei zog er etliche große Rettige aus der Tasche, die der gute Herr, welcher gern etwas Pikantes aß, auch dankbar annahm.
Mämpel.

Die Marseillaise von einem Deutschen componirt. Die Revolutionshymne, unter dem Namen „Marseillaise“ bekannt, unter deren Klängen die Säulen des französischen Königthum zusammenbrachen, wie die Mauern Jericho’s vor den Posaunen Josua’s, alttestamentlichen Andenkens, ist nicht, wir bisher angenommen wurde, von dem französischen Dichter Delisle, sondern von einem ehrlichen Deutschen, dem kurfürstlich pfälzischen Hofcapellmeister Holtzmann, componirt worden. Es ist dies derselbe Holtzmann, von welchem Mozart in Briefen aus Mannheim an seinen Vater Rühmliches schreibt, und von welchem während Mozart’s Anwesenheit in Paris eine geistliche Cantate aufgeführt wurde.

Als dieser kurpfälzische Kapellmeister die Melodie zur Marseillaise componirte, lag es allerdings nicht in seiner Absicht, eine so weltstürmerische Fanfare zu schaffen, eben so wenig mag er geahnt haben, daß das Kind seiner Muse so ganz von dem Weg seiner Bestimmung abweichen und der Führer einer gottesleugnerischen, republikanischen Armee werden würde, denn – wer wird dies vermuthen? – die Melodie, an die sich so viele blutige Erinnerungen knüpfen, ist ursprünglich die Musik zu einem Credo aus einer Messe, die ungefähr zwanzig Jahre vor der französischen Revolution componirt wurde.

Das Manuscript, aus welchem ich die Entdeckung machte, ist mit der Jahrzahl 1776, versehen. Während meinen Aufenthalten in Meersburg, der ehemaligen Residenz der Fürst-Bischöfe von Constanz, wo ich als Organist und Musikdirektor an der Stadtkirche angestellt war, musterte ich fleißig die ziemlich umfangreiche musikalische Bibliothek, die unter meiner Verwaltung stand; besonders interessirten mich die vom Kloster Salem an Fürst Dalberg und von diesem an die Stadtkirche übergegangenen Manuscripte, meistens Messen, Vespern etc. von italienischen und deutschen Meistern. Unter diesen fand ich sechs Messen mit dem Titel: VI Missae breves, stylo elegantiori ad modernum genium elaboratae, comp. de Holtzmann, die mich ihres schönen Gesanges, ihrer fließenden Melodien, reinen Satzes und leichter Instrumentirung wegen besonders ansprachen. Ich sah sie deshalb genau durch und wunderte mich natürlich nicht wenig, in Nr. IV (ex G) die vollständige Melodie der Marseillaise im Credo wieder zu finden. Wie man sieht, handelt es sich hier nicht um eine Aehnlichkeit, eine Reminiscenz, die auch zufälliger Weise absichtslos hätte entstehen können, sondern es ist fast Note für Note eine Gleichheit in Melodie, Harmonie, Takt und Tonart, daß Herr Delisle die Holtzmann’sche Messe vor sich gehabt, beziehungsweise abgeschrieben haben muß, als er die Musik auf sein Gedicht setzte. Es läßt sich die Sache auch leicht erklären: Herr Delisle dichtete seine Hymne und wollte sie auch gleich gesungen haben; da ihm aber gerade kein Componist zu Gebote stand, machte er, als Dilettant in der Tonkunst, sich die Musik selbst zurecht. Wahrscheinlich spielte oder sang er öfter in Kirchen und Klöstern mit, wodurch ihm die Holtzmann’schen Messen, die auch wirklich am Rhein, im Elsaß, den Bisthümern Speier und Straßburg, wenn auch nur in Abschriften, sehr verbreitet waren, bekannt wurden. Er fand es denn bequemer, eine schon vorhandene Melodie seinen Worten anzupassen, als eine neue zu erfinden. Wir wollen ihn auch deshalb nicht tadeln, er hat einen guten Griff gethan, und wenn dies die einzige Plünderung an deutschem Eigenthum wäre, die in der damaligen Zeit vorgekommen, so wären unsere Vorfahren zu beglückwünschen gewesen; dessen ohngeachtet glaubte ich der Wahrbeit ein Zeugniß geben zu müssen, was ich um so lieber thue, als es sich um das geistige Eigenthum eines deutschen Componisten handelt, dessen Werke es verdienten, aus der Vergessenheit gerissen zu werden.

Um die Sache ganz zu begreifen, muß man sich einen Begriff von den frühern musikalischen Zuständen machen können; da ich aber nicht zu weitläufig werden will, bemerke ich nur kurz, daß fast kein Ort war, in welchem nicht Kirchenmusik (mit Singstimmen, Orgel, Streichquartett, Horn und Oboen) anzutreffen war, und Jeder es sich zur Ehrensache machte, mitsingen oder ein Instrument spielen zu können. Die Kirchenmusik war an katholischen Orten in der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts ungefähr das, was jetzt die Gesangvereine sind, ja es herrschte ein noch viel leichterer, fast möchte ich sagen, leichtsinnigerer Ton, der so ungezwungen war, daß Jedermann sich gern dabei betheiligte. Diejenigen Componisten waren die beliebtesten, welche etwas „Lustiges“ brachten, und alle damaligen Componisten willfahrten gerne diesem Wunsche, selbst Haydn und Mozart, – nach meiner Ansicht mit Recht, denn um die Leute trübselig zu machen, dazu bedarf’s wahrlich keiner Musik. Warum ein aufgeheitertes, fröhliches Gemüth Gott weniger angenehm sein soll, als ein von heuchlerischer Zerknirschung erfülltes, kann ich nicht begreifen. Ich kenne keine Biographie von Delisle, allein es würde sich aus den Aufenthaltsorten dieses Dichters wohl die Kirche ausfindig machen lassen, wo er den musikalischen Edelstein fand, mit dem er sein begeisterungsvolles Gedicht schmückte und dadurch diesem eigentlich erst seine volle Bedeutung verlieh. Inzwischen mache ich diejenigen, welche sich für diese Angelegenheit interessiren, darauf aufmerksam, daß die Holtzmann’schen Messen als Eigenthum der Stadtkirche zu Meersburg in der dortigen Kirchenmusiksammlung aufbewahrt werden, und das besprochene Marseillaise-Credo wird von dem jetzigen Chormusikdirector gewiß gern im Original vorgezeigt werden.

J. B. Hamma.

  1. Ausführlich ist diese Periode des Lebens am Hofe zu Weimar geschildert in meiner Schrift: „Goethe und die lustige Zeit in Weimar“. Leipzig, Ernst Keil. 1 Thlr. 10 Ngr.