Die Gartenlaube (1861)/Heft 17

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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ferdinand Stolle
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Entstehungsdatum: 1861
Erscheinungsdatum: 1861
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[257]

No. 17.   1861.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Verantwortl. Redacteure F. Stolle u. A. Diezmann.


Wöchentlich bis 2 Bogen.    Durch alle Buchhandlungen und Postämter vierteljährlich für 15 Ngr. zu beziehen.



Am Scheidewege.

Von Th. Mügge.
(Schluß.)


Demarris wurde verlegen. „Bonaparte vertraut mir mancherlei,“ begann er, „von dieser Sache jedoch hat er niemals mit mir gesprochen, und bisher habe ich in Wahrheit auch nicht daran gedacht, daß er sich für Beatrice Colombier oder für irgend eine junge Dame ernsthaft interessiren könnte. Denn er sprach von dem ganzen Geschlecht kalt und spöttisch, unterhielt sich fast nie mit jungen Damen, bis gestern zu meinem Erstaunen – Der Oberst muß davon gehört haben, und ich möchte wissen, Herr Pozzo di Borgo, ob Bonaparte Ihnen etwas mitgetheilt hat.“

Carlo Andrea zuckte lächelnd die Achseln. Er gab keine directe Antwort darauf, sondern sprach wie ein kluger Advocat. „Ich glaube wohl,“ sagte er, „daß eine solche Verbindung wünschenswerthe Aussichten bietet, und warum sollte ein junger Mann nicht danach streben? In Wahrheit, Herr Demarris, ich habe gestern dieselbe Bemerkung gemacht wie Sie. Ich fand, daß Napoleon dem schönen Fräulein auffällig den Hof machte, und glaubte auch zu sehen –“

„Was glaubten Sie zu sehen?“

„Daß es ihr durchaus nicht zuwider sei.“

Demarris’ Gesicht wurde dunkelroth und verzerrte sich zu einem Lachen, während seine Lippen zitterten. „O, warum nicht?“ rief er, „es ist wohl möglich, obgleich ich selbst dies nicht bemerkte.“

„Vielleicht täusche ich mich auch, und die schöne Beatrice dachte an einen ganz Anderen, während sie es duldete, daß Napoleon sie zu seiner Beute machte und nicht von ihrer Seite wich,“ sagte Pozzo di Borgo mit grausamem Spott.

„Das läßt sich hören,“ fiel der Lieutenant vergnügt ein.

„Es geschieht gar nicht selten, daß in solcher Manier ein Eifersüchtiger bestraft und geneckt werden soll.“

„Ei ja, das ist ein Gedanke, Herr Pozzo di Borgo. Sie haben Recht. Beatrice ist übermüthig, aber ich, was mich betrifft – O! ich würde niemals eifersüchtig sein, wenigstens nicht, was Bonaparte anbelangt.“

„Nun, Herr Demarris, man kann doch nicht wissen,“ fiel der Advocat warnend und bedenklich ein.

„Nein, hören Sie!“ rief Demarris, „ich achte und liebe Napoleon wie meinen besten Freund und habe vor seinen Kenntnissen allen Respect, aber was jungen Damen zu gefallen anbelangt, dergleichen Eigenschaften besitzt mein armer Bonaparte blutwenig.“

„Ich meine, wenn er will, kann er doch auch sehr liebenswürdig sein,“ sagte Carlo Andrea.

„Nun, er kann doch kein Anderer werden, als er ist,“ lachte Demarris. „Ich habe Manche schon über ihn spotten und witzeln hören, und nicht allein über seine kleine Gestalt, seine schiefen Schultern und sein scharfes Gesicht, noch mehr über seine Manieren, sein Benehmen und sein abstoßendes Wesen. Nein, nein, Herr Pozzo di Borgo, ich glaube nicht, daß der arme Bonaparte etwas zu hoffen hat.“

Pozzo di Borgo spielte mit dem Lieutenant wie die Katze mit der Maus. Er bestärkte zunächst dessen Eitelkeit durch schmeichelnde Winke, die ihm außerordentlich gefielen; als er ihn aber ganz getröstet sah und Demarris wohlgefällig seine angenehme Gestalt im Spiegel bewunderte, streckte er plötzlich wieder die Krallen heraus.

„Seien Sie doch nicht allzu sicher, mein lieber Herr,“ fing er an, „denn ich weiß zwar nicht, wie die Neigungen des schönen Fräulein von Colombier beschaffen sind, allein vergessen darf man niemals, daß die Liebe der Weiber die seltsamste Laune unter allen ihren Launen ist. Sie verschmähen zuweilen Männer mit den prächtigsten Gesichtern und schlankesten Körpern und beten dafür einen häßlichen, kleinen, widerwärtigen Gesellen an. Es begreift es Niemand, doch kommt es alle Tage vor und ist von den ältesten Zeiten an so gewesen. Wenn also Fräulein von Colombier die Laune hat, Napoleon zu lieben –“

„Aber sie hat diese Laune nicht!“ schrie Demarris.

„Ich weiß es freilich nicht, doch um so besser, wenn Sie überzeugt sind. Mir ist es fast vorgekommen, als bemerkte ich in ihren Augen zuweilen –“

„Was in ihren Augen?“

„Sehr zärtliche Blicke.“

Demarris sprang auf und ging hastig an’s Fenster.

„Wenn dies wirklich so wäre,“ sagte Pozzo di Borgo hinter ihm, „ja dann, mein bester Herr Demarris, würde Bonaparten die schiefe Schulter, und was ihm sonst zum Adonis fehlt, durchaus nicht schaden. Fräulein Colombier würde darauf schwören, daß er der schönste Mann in Valence, wo nicht gar in der ganzen Welt sei.“

Demarris wandte sich um, es war mit seinem Vertrauen vorbei. „Das wäre sehr übel für mich, Herr Pozzo di Borgo,“ sagte er stockend, „denn wenn Sie Recht hätten, so bliebe für Andere – für mich – nichts mehr zu hoffen übrig.“

„Da Sie gewiß sind, daß Fräulein Colombier keine so seltsamen Launen hat, wie sie dazu gehören, Bonaparte liebenswürdig zu finden, so haben Sie nichts zu besorgen. Was ihn selbst betrifft, so möchte ich glauben, daß Sie Recht haben, daß er –“

„Daß er sie nicht liebt!“ rief der junge Officier.

„Daß er trotz seiner Kälte gegen die Schönen doch heiße Leidenschaften besitzt und dabei klug zu rechnen weiß.“

[258] Demarris starrte ihn an.

„Nun,“ lachte Carlo Andrea, „hat Ihr Oberst denn nicht ganz verständig gesprochen? Ist das nicht eine sehr vortheilhafte Partie für einen jungen Lieutenant von einundzwanzig Jahren? Ist die Familie nicht von Einfluß? Wird der Schwiegersohn der Frau von Colombier nicht sehr bald Capitain sein, nach, Paris berufen werden und dort sein Glück machen können?“

„Ja, ja,“ murmelte Demarris, „das wird er. Er ist geschickt, ehrgeizig, kühn. Ich dagegen – ich!“ Er senkte seinen Kopf und fuhr fort: „O, Herr Pozzo di Borgo, daran habe ich niemals gedacht. Nicht an ihr Geld, nicht an den Familieneinfluß. Ich wollte nur sie, ihr Herz, dies allein, und es schien mir, als dürfte ich darauf hoffen.“

Pozzo di Borgo zuckte die Achseln, in seinem Lächeln lag ein verächtliches Mitleid. „Was berechtigt Sie denn, daran zu verzweifeln?“ erwiderte er. „Die Herzen der Frauen sind die Schlachtfelder für ihre Bewerber, und das Glück ist mit dem Muthigen. Wie es auch mit Bonaparte sein mag, kämpfen Sie mit ihm um die Gunst der schönen Dame, machen Sie ihm jeden Zoll breit Raum streitig und erringen Sie den Sieg. Ich glaube, er kann Ihnen nicht allzu schwer werden.“

Einige Augenblicke lang glänzte Demarris’ Gesicht vom erwachenden Stolz, aber dann erlosch dieser Glanz und er faßte Carlo Andrea’s Hand und drückte diese lebhaft. „Ich danke Ihnen, mein Herr,“ begann er, „vielleicht darf ich, sagen, mein Freund, wenn Sie es mir gestatten wollen, und dann habe ich eine Bitte, um welche ich Sie anspreche.“

„Ich soll Ihnen beistehen, nicht wahr?“

„Ja, das ist es. Suchen Sie von Bonaparte zu erfahren, ob er Beatrice liebt.“

„Erklären Sie sich ihm selbst, Herr Demarris, das dürfte besser sein.“

„Ich kann es nicht!“ rief Demarris. „Sprechen Sie kein Wort von mir, es darf von mir nicht die Rede sein.“ Leiser fuhr er fort: „Wenn er sie liebt, so ist es genug. Er ist mein Freund, er verdient es glücklich zu sein, und Beatrice – ich will ihr Glück niemals stören.“

„Sie sind ein vortrefflicher, großmüthiger Freund!“ sagte Pozzo di Borgo, aber diese bewundernden Worte hatten einen so schneidenden Beiklang, daß Demarris ihn forschend anblickte und lebhafter erwiderte:

„Ich weiß, was Ehre und Freundschaft mir gebieten. Wollen Sie meine Bitte erfüllen, Herr Pozzo di Borgo?“

„Ohne Zweifel, Herr Demarris; so gut ich es vermag, will ich Ihr Vertrauen rechtfertigen,“ erwiderte Carlo Andrea, indem er ihm freundlich die Hand schüttelte. „In einer Stunde will ich Bonaparte besuchen, wir haben es gestern so verabredet; dann sollen Sie Alles erfahren, was ich aus ihm herausbringen konnte.“

Demarris war damit zufrieden. Er drückte seinen Dank aus, stand dann noch eine Minute kämpfend mit seinen Gedanken und Gefühlen, bis er heftig ausrief: „Machen Sie es so, mein lieber Freund. Ich will ihn nicht beneiden, nicht zürnen, wenn er glücklicher ist, als ich. Leben Sie wohl, und – gute Geschäfte! Leben Sie wohl!“

Er entfernte sich rasch, und Pozzo di Borgo drückte die Thür zu, rieb sich die Hände und lachte leise vor sich hin. Er hatte etwas Katzenhaftes, wie er die Schultern hochgezogen und den Körper zusammengeduckt umherschlich, als wollte er einen plötzlichen Sprung thun. Endlich aber blieb er stehen, warf den Kopf in den Nacken und sagte: „So oder so, es bleibt sich gleich! – Wenn dieser sentimentale Pinsel ihm zu Leibe gegangen wäre, möchte es freilich noch besser sein oder wenigstens romantischer verlaufen. Welcher Triumph für das Fräulein von noblen Gefühlen, wenn ihre Anbeter um ihren Besitz auf Leben und Tod kämpfen, wie es in ritterlichen Zeiten Mode war! Schade darum, allein da die Degenstöße ausbleiben, muß er auch ohne diese glücklich werden.“

Er ging von Neuem auf und ab und fuhr dabei halblaut sprechend fort: „Geh’ nur hin und laß Dich von den Hofjunkern zum Helden machen. Das ist ein schönes Loos für die freiheitglühende Seele, von welcher Paoli so Großes erwartet. Wie wird er sich freuen und wie werden alle Corsen Dich verehren! Ich werde Dich glücklich machen, glorreicher Napoleon. Du sollst ein schönes, reiches Fräulein heirathen, sollst ein Aristokrat werden.

Was kann ich mehr für Dich thun? Sage mir Niemand, daß ich keine Freundschaft fühle. Gleich will ich mich auf den Weg begeben und es Dir beweisen.“

Rasch war er angekleidet und stieg nach kurzer Zeit die holprigen Treppen des Giebelhauses hinauf, wo Bonaparte wohnte, und als er die Thür leise öffnete, fand er ihn ganz so wie gestern an dem alten Schreibpulte in seiner Arbeit vertieft sitzen. Bei seinem ersten Gruße aber sprang Napoleon auf und kam ihm mit freundlichen Mienen entgegen.

„Sei willkommen, lieber Andrea!“ rief er, „ich, habe Dich so lange schon erwartet und an Dich gedacht, daß meine Arbeit nicht von der Stelle will.“

„Es wird doch wohl ein anderes Bild sein, das Dir vor Augen schwebt,“ lachte Pozzo di Borgo, „und Deine Gedanken in Beschlag nimmt.“

„Sonderbar,“ sagte Napoleon und faßte an seine Stirn.

„Mein Kopf ist wie ein Schrank mit zahllosen Kasten. Ich kann jeden leicht aufziehen und bis auf den Grund umherwühlen, so lange ich will. Sobald ich ihn aber zuschiebe, denke ich, nicht mehr daran, was drinnen ist, bis ich ihn wieder brauche.“

„Heute aber will sich der Kasten nicht zuschieben lassen, in welchem die Acten und Papiere einer gewissen jungen Dame liegen, mit welcher der Lieutenant Bonaparte einen wichtigen Proceß führt.“

„Das ist ein gewonnener Proceß, er macht keine Sorgen!“ rief Napoleon. „Nein, Andrea, es liegen mir einige Deiner Worte von gestern noch im Sinn. Du sagtest: wer weiß, ob dieser Strom in seinem Bette gehalten werden kann und wen er verschlingen wird. Glaubst Du, daß die Nationalversammlung unterliegt?“

„Nein,“ sagte Pozzo di Borgo, „ich glaube, daß sie zuletzt siegen muß.“

„Zuletzt?“

„Ich meine, daß der Widerstand, den die Reformen finden, nicht leicht zu überwinden sein wird.“

„Die Schwachköpfe!“ rief Napoleon. „Der König hat so viel schon gethan, daß er nicht mehr umkehren kann.“

„Sehr wahr, lieber Napoleon, es würde sehr gefährlich sein.“

„Er muß mit Necker gehen und mit der Nation!“ rief Napoleon. „Ich habe heute früh einen Brief an Necker geschrieben, zunächst entworfen. Denn ich bin entschlossen, ihm meinen Aufsatz über Corsica zu überreichen, wie er da ist, mit einem kurzen Schluß. Ich kann die Arbeit jetzt nicht weiter ausführen.“

„Ah,“ sagte Pozzo di-Borgo, „Du willst sie ihm selbst überreichen? Du denkst also bald nach Paris zu reisen?“

„Ja, das denke ich und ich wollte –“ er hielt inne und blickte seinen Landsmann argwöhnisch an. In Carlo Andrea’s klugen Augen schien es wie Spott zu glänzen, und seine Freundlichkeit sah nicht besser aus.

„Du wolltest, daß Du schon dort wärest, um mit Deinen Großthaten die Welt zu füllen?“ siel er ein. „Ja, mein lieber Napoleon, das ist ein anderer Proceß, der leichter verloren gehen kann.“

„Er wird nicht verloren gehen!“ rief der kleine Lieutenant stolz und ungeduldig. „Habe ich Gelegenheit mich auszuzeichnen, so wird es auch geschehen. In der Hütte geboren werden, in der Einsamkeit sterben, das ist das Loos zahlloser Menschen, die unter anderen Verhältnissen Helden und Könige geworden wären.“

„Gewiß hast Du Recht,“ sagte Pozzo di Borgo. „Du bist auf dem Wege ein Mann des Plutarch zu werden.“ Er unterdrückte seine geheime Lustigkeit und fuhr mit der einschmeichelnden Treuherzigkeit, die ihm zu Gebote stand, fort: „Das ist meine wahrhafte Ueberzeugung, lieber Napoleon, denn ich finde, daß das Glück Dich wunderbar sucht, und ich weiß nicht, was mir sagt, daß es Dich eben so treu begleiten wird.“

„Ja, das Glück! das Glück!“ rief Napoleon. „Ich will daran glauben, es soll mir dienen!“

„Und es kommt Dir entgegen in Gestalt einer reizenden Gottheit mit goldenen Händen; ganz wie die Alten es sich dachten,“ nickte Andrea. „Es kommt mir vor, als hättest Du diese liebliche Gottheit schon auf Deinen Knieen angebetet und das himmlische Bündniß abgeschlossen.“

Ein finsterer Blick antwortete ihm darauf. Napoleon schien sich einen Augenblick zu bedenken, dann aber sagte er mit frohem Gesicht: „Das ist nicht nöthig, Freund. Wie Cäsar komme ich, [259] sehe und siege, und pflücke die Blume trotz aller Hände, die sich danach ausstrecken mögen.“

„Und die Früchte auch,“ fügte Pozzo di Borgo hinzu, indem er sich gegen den Tisch wandte, auf welchem in einem offenen Papiere eine Anzahl großer, schöner Kirschen lagen. „O,“ lachte er, „da liegen sie schon reif und prächtig und – leugne es nur nicht – jedenfalls sind sie ein Liebespfand, mit zärtlichen Wünschen und Zaubersprüchen gepflückt.“

„Wohl möglich,“ antwortete Napoleon, „aber Du kannst sie versuchen.“

„Ich werde mich davor hüten,“ rief Andrea, „denn ich denke an unsere corsischen Sitten und Hexereien. Wenn Zwei, die sich lieben, eine Frucht theilen, so ist das ein heiliger Schwur; wenn aber ein Dritter auch nur Stiel oder Stein davon anrührt, so mischt sich der Teufel ein und bringt Verderben über Alle.“

„Thorheit!“ rief Napoleon, „ich halte mein Glück auch gegen alle Teufel fest. Es soll mir Keiner jemals nehmen, was ich besitzen will.“

„Armer Demarris!“ sagte Andrea und zuckte die Achseln.

„Was ist mit ihm?“

„Im Grunde nichts, denn er tröstet sich wie ein Sokrates.

Der arme Junge hat irgendwo erfahren, daß es mit seinen Einbildungen nichts ist und daß ein Anderer, dem er solche profane Absichten gar nicht zumuthete, ihm den Weg verrannt, auch wohl gar schon die Festung erobert hat, die, wie er glaubte, ihm allein ihre Thore öffnen würde.“

„Demarris ist ein Narr!“ rief Napoleon, indem er sich umwandte und hastig auf und ab ging.

„Aber ein vortrefflicher, großmüthiger Narr; einer der erhabenen Narren, die für den Freund nicht allein in den Tod gehen, sondern auch Heroen der Selbstverleugnung sind. Er würde sich von jedem tarpejischen Felsen stürzen und mit seinem letzten Seufzer Dich segnen. Vorläufig jedoch verlangt er nur Gewißheit über sein Schicksal; Gewißheit, ob sein bewunderter Freund liebt und geliebt wird, ob er somit das zärtliche Paar beglückwünschen darf.“

Napoleon war an dem offenen Fenster stehen geblieben und blickte auf die Rhone hinaus, wo unter den Bäumen versteckt das Landhaus lag. Seine Hände, die er aus den Rücken gelegt hatte, zucken zusammen, er schleuderte das lange schwarze Haar um seinen Kopf und wandte sich heftig um, indem er den spottenden Andrea durchdringend anblickte.

„Das ist edel und groß!“ rief er. „Demarris ist ein guter, braver Mensch!“

„Gewiß ist er das! Schade nur, daß diese Treue nicht belohnt werden kann.“

„Wodurch?“

„Durch einen Wettkampf von Edelmuth.“

„Was würdest Du thun, Andrea?“ fragte Napoleon.

„Wenn der Spaß aufhören soll,“ erwiderte dieser, indem er eine von den Kirschen vom Tische nahm, die Napoleon ihm angeboten hatte, „so ist eine Antwort überflüssig. Sentimentale Pinseleien, auch wenn sie den Anstrich rührender Tugend haben, dürfen uns niemals bestimmen, sie zu unserem Vorbilde zu machen oder wohl gar übertreffen zu wollen. Du bist jedenfalls in ganz anderer Lage, als Dein opferfreudiger Freund.“

„Ich kann ihm nicht helfen!“ sagte Napoleon heftig.

„Du wirst geliebt und liebst; welche übermäßige Narrheit wäre es also, in irgend einen Zweifel zu fallen!“

„Nein!“ rief Napoleon, und er blieb einen Augenblick nachsinnend stehen, darauf streckte er seine Hand aus und fuhr fort: „Ich speise heute bei Frau von Colombier, begleite mich und nimm Theil daran, ich lade Dich in ihrem Namen ein.“

„Du hast Auftrag dazu?“ fragte Pozzo di Borgo.

„Ja, und ich bitte Dich es anzunehmen.“

„Herzlich gern,“ sagte Andrea. „Ich wollte zwar heute noch abreisen, aber ich bleibe bis morgen, wenn es Dir angenehm ist.“

„So erwarte ich Dich und – und hoffe, Du sollst mit mir zufrieden sein.“

„Ah, ein entschlossener Sprung über den Rubikon!“ rief Pozzo di Borgo.

„Du wirst nicht erstaunen?“

„Nein, nein! Wirf Deine Würfel, ich will Dir den Becher halten und dem großen Wurfe Beifall klatschen! Ich hole Dich ab, sobald Du befiehlst.“

Nach einer raschen Verständigung ging Pozzo di Borgo fort und als er hinaus war, sagte er leise lachend: „So ist Alles in Richtigkeit. Die gescheidte Dame hat ihn heut in der Frühe eingefangen, eingeladen, und ich soll dabei sein. Er will mir zeigen, wie groß sein Glück, seine Liebesgluth und seine Klugheit ist, die sich so schön vereinigen. Mit dieser Neuigkeit beladen werde ich nach Ajaccio kommen! Wohlan denn, so will ich mich so festlich als möglich schmücken, um ein galanter Brautführer zu sein.“

Während dessen blieb Napoleon unruhig in seinem Zimmer zurück. Sein Kopf war voll Gedanken, sein Herz voll fieberheißem Blut. Er hatte in Andreas Gesicht das leise Zucken seines Spottes gelesen, hatte die lauernden Blicke wohl bemerkt, und in den lobenden, antreibenden Worten ahnte sein Mißtrauen die verborgene Falschheit. – War dieser Mann nicht der frühste, erste Feind, den er, so lange er denken konnte, gehabt? War er nicht in den Jugendspielen schon sein Nebenbuhler, in der Schule sein Nebenbuhler, in der Meinung der Menschen über die Befähigung dieser beiden alle anderen überragenden Knaben sein Nebenbuhler? Ihr Ehrgeiz hatte sie überall feindlich gegenübergestellt, sie beneideten, sie haßten sich, sie hatten sich grollend endlich getrennt. Doch seit dieser Zeit war Vieles anders geworden, beinahe zehn Jahre vergangen. Jetzt sahen sie sich einsichtiger als Männer wieder und hatten den kindischen Streit vergessen. Warum sollten sie sich noch hassen, warum, worüber noch Nebenbuhler sein? Der Advocat kehrte nach Ajaccio zurück, Paoli hatte ihm seine Freundschaft und Liebe geschenkt; doch ohne Zweifel dachte Carlo Andrea daran, jetzt in Corsica eine Rolle zu spielen, wohl gar eine politische Rolle, eine, die zu einem neuen Befreiungsversuche führte. War Gastori nicht auch ein Advocat gewesen, hatten Männer dieser Art, Richter und Rechtsgelehrte nicht zu allen Zeilen hervorragenden Antheil an der blutigen Geschichte dieses kleinen, verlassenen Inselvolks genommen?

Als Napoleon dies Alles in seinem Gedankenungestüm bedachte, lief er heftiger auf und ab mit zuckendem Gesicht das schwarze Haar um die finstere Stirn. Corsica war für seinen Ehrgeiz zu klein, doch wenn die Corsen, von Paoli, von diesem Pozzo di Borgo und anderen Anhängern der Nationalpartei aufgehetzt, die Aufruhrfahne aufpflanzten, die französische Partei niederschlügen, von Frankreich sich losrissen, Paoli’s Republik wieder einsetzen wollten – Nun und nimmer sollte und durfte das geschehen! Frankreich befand sich auf dem Wege zu großen und wichtigen neuen Gestaltungen. Necker, die Freunde der Freiheit, die Nationalversammlung, das Volk, das Heer – alle wollten sie, alle hofften darauf. Die hochmütigen Elemente des Hofes, des alten Adels strebten allein dagegen, aber was konnten sie thun? Sie mußten weichen und fallen. Standen nicht manche berühmte Namen, Männer aus den vornehmsten Familien schon bei der Volkssache? Die Lafayette, die Noallis, Mirabeau, Andere und er selbst, der kleine Lieutenant, er mit seinen Entwürfen, mit seinem Ehrgeiz! – Wenn er sich in diese große Bewegung stürzte, mit seinen Empfehlungen an die ersten Männer des Hofes, er würde sich Bahn brechen. Necker sollte ihn sehen, er sollte seine Entwürfe hören, der tugendhafte, große Minister, der Retter Frankreichs, der Liebling des Volks. In seiner begeisterten Stimmung glaubte er schon vor ihm zu stehen, und was er ihm sagen wollte, lief mit Gedankenblitzen durch sein Gehirn und gestaltete sich zu abgebrochenen Sätzen, die er rasch und wild mit rauher Stimme hervorstieß. Er war gewiß, daß er zu großen Dingen, zu großen Thaten bestimmt sei, er fühlte die Kraft dazu; er fühlte den Hauch des gewaltigen Geistes, der ihm zurief: „Du wirst mit Deinen Thaten die Welt erfüllen!“

Und wo gab es einen anderen Weg, als den, der vor ihm lag? Dies Liebesbündniß mit der Tochter eines alten, edlen Geschlechts war der Anfang, es war der erste Handschlag des Glücks. Und dieser mißgünstige, dieser lauernde Andrea mit seinem falschen Lächeln, mit seinem listigen Beifall, was wollte er?

„Ha! wenn –“ Napoleon stand still, die Begeisterung verschwand aus seinen Mienen. In dem Augenblick entstand ein Gepolter auf der Treppe. Es kam Jemand eilig die Stufen herauf, dann wurde die Thür aufgerissen, Demarris trat mit erhitztem Gesicht herein und lief auf Napoleon zu, der vor ihm zurückwich.

„Weißt Du es schon?“ rief Demarris heftig.

„Ja, mein Freund,“ erwiderte Napoleon, „beruhige Dich.“

[260] „Das sind Ereignisse, die Niemand ahnen konnte!“

„Es konnte Niemand sie ändern, weder ich noch Du.“

„Nein! aber was wird nun geschehen?“

„Demarris,“ sagte Napoleon, „ich kenne Dich, Du wirst immer das thun, was sich für Deinen edlen Sinn ziemt.“

„Wahrhaftig, das werde ich!“ rief Demarris freudig. „Du kannst Dich darauf verlassen.“

„Pozzo di Borgo hat mich so eben verlassen. Er theilte mir Alles mit.“

„So weiß er es auch schon. Der Oberst hat die Nachricht in diesem Augenblick erhalten.“

„Von wem?“

„Von dem Commandanten von Lyon. Von dem Grafen Barandon.“

„Von Lyon!“ sagte Napoleon und er betrachtete den Lieutenant mit Blicken voll Besorgniß. „Sei ruhig, mein armer Demarris, Du bist sehr aufgeregt. Laß uns kaltblütig bleiben.“

„Ei zum Henker!“ rief Demarris, „wer kann da kaltblütig bleiben? Das ist ein Ereignis;, das ganz Frankreich in fruchtbare Aufregung bringen muß. Du scheinst die Folgen nicht überlegt zu haben.“

„Ich habe Alles wohl überlegt, mein Freund.“

„Nun, so weißt Du vielleicht noch nicht Alles. Necker ist nicht allein abgesetzt und aus Frankreich verjagt, Paris nicht allein im Ausstande, auch die Bastille ist erobert. Die französischen Garden haben mit dem Volke gemeinschaftliche Sache gemacht, die deutschen Regimenter verjagt. Das Invalidenhaus wurde geplündert, dreißigtausend Gewehre, alle Kanonen vom Volke genommen, die Schweizer in der Bastille wurden niedergeschossen, General Delauncy, der Commandant, ermordet. Sein blutiger Kopf, seine Hände, der Kopf Flosselle’s, des Handelsgerichts-Prasidenten, wurden auf Piken durch die Straße getragen.“

Napoleon hörte stumm diese wunderbare, schicksalsvolle Neuigkeit, doch nichts verrieth seine Ueberraschung. Er stand mit verschränkten Armen, unbeweglich, seine Augen weit geöffnet.

„Die Revolution hat begonnen!“ sagte er, als Demarris schwieg.

„Eine Nationalgarde hat sich in Paris gebildet, Lafayette ist an ihrer Spitze,“ fuhr Demarris fort. „Die Armee ist zurückgezogen, sie soll aufgelöst, Broglie entlassen werden. Nationalgarden entstehen überall.“

„Das Volk wird siegen!“ rief Napoleon. „Die Revolution wird siegen!“

„Wie wird sie enden!“

Napoleon antwortete nicht, er blickte über die Rhone hinaus. „Sind diese Nachrichten schon in Valence verbreitet?“ fragte er.

„Noch nicht, man verheimlicht sie noch, um Maßregeln zu berathen, möglichen Unruhen vorzubeugen. Aber wie lange soll das währen? Kaum ein paar Stunden.“

„Höre, Demarris!“

„Was willst Du, lieber Napoleon?“

„Schweige gegen Jedermann.“

„Das will ich Dir versprechen. Auch der Oberst hat es mir befohlen. Es giebt manche unruhige Köpfe, selbst im Regimente, die ihm Sorge machen, aber diese – diese haben jetzt an andere Dinge zu denken.“ Er warf einen halb freundlichen, halb scheuen Blick auf den Freund. Napoleon schien nichts zu hören und nichts zu bemerken.

„Komm in einer Stunde wieder her zu mir, Demarris,“ sagte er, „ich habe Dir etwas mitzutheilen. Etwas Wichtiges, das uns Beide angeht.“

„Ah!“ rief Demarris, und eine plötzliche Nöthe schoß über sein Gesicht. „Du willst mir mittheilen – ich werde kommen, Bonaparte, doch ich sage Dir –“

„Jetzt laß mich allein!“ unterbrach ihn dieser. „Geh! geh! lieber Demarris.“

Diese letzten Worte wurden so bewegt und mit solcher Hast hervorgestoßen, daß Demarris verstummte und sich entfernte. Kaum war er hinaus, so warf Napoleon den Rock ab, die Uniform über, steckte den Degen an und drückte den Hut auf sein wirres Haar. So folgte er Demarris rasch nach.



5.


Nach einer Stunde kam Pozzo di Borgo. Er hatte sich sauber angekleidet und blieb erstaunt stehen, als er Bonaparte an seinem Schreibpulte fand, wo er Papiere, Karten und Bücher zusammenräumte. Um ihn her lag Alles in Unordnung. Ein großer Kasten stand neben dem Pulte, in der Mitte des Zimmers ein Koffer, Kleider und Wäsche lagen auf den Stühlen, sammt allerlei anderen verschiedenartigen Dingen.

„Ein interessantes Bild der babylonischen Verwirrung!“ lachte Pozzo di Borgo. „Aber warum bist Du noch nicht im Staat?“

„Setze Dich, Carlo, ich muß nothwendig erst damit fertig sein,“ antwortete Napoleon, „und Ordnung schaffen.“

„Ein Hausvater muß an Ordnung denken, aber was sollen Koffer und Kisten? Das sieht aus, als wolltest Du reisen.“

„Es kann wohl so sein,“ nickte Napoleon freundlich.

„Heute noch?“

„Ich glaube es beinahe.“

„Also bist Du auch dessen schon sicher, lieber Napoleon? Es ist Alles entschieden?“

„Entschieden für immer, Carlo. Du sollst es erfahren, gedulde Dich nur noch kurze Zeit.“

„Du hast Recht,“ sagte Carlo Andrea, „wer das Glück vor sich sieht, muß nicht zögern, es zu benutzen. Was wird aber aus Deiner Geschichte Corsica’s werden?“

„Sie muß unvollendet bleiben.“

„Das ist schade, doch wohlbedacht, denn in Deinen neuen Verhältnissen würde diese Arbeit vielleicht nicht passen.“

„Ich kann damit warten,“ erwiderte Napoleon, und seine Augen glänzten muthwillig, „bis die nächsten Jahre Stoff zu einigen neuen interessanten Capiteln liefern, was doch wohl zu erwarten ist.“

„Wirklich, es kann so kommen!“ rief Pozzo di Borgo, „und möglich genug, daß Du dann das Ganze umarbeiten mußt.“

„Wenn ich Zeit dazu habe!“ lachte Napoleon und packte eifrig weiter. „Aber ich fürchte, lieber Carlo, daß ich sobald nicht wieder dazu gelange.“

„Weil andere Thaten Dich rufen! Du siehst sehr heiter aus, Napoleon. Bedenkst Du nicht auch, was Du hier zurücklassen mußt?“

„Gewiß bedenke ich es,“ sagte Bonaparte und warf den Kopf in die Höhe. „Aber bin ich dazu geschaffen, bei einem Weibe zu sitzen und ihr die weißen Hände zu küssen?“

„Der neue Cäsar, den die Welt erwartet!“ lachte Andrea.

„Erst der Ruhm, dann die Liebe!“ rief “Napoleon. „Erst das Volk, dann die Familie. Das macht mich frei und leicht und nimmt alle Zweifel von mir, mein lieber Carlo. Und jetzt bin ich fertig, und hier kommt Demarris. Hierher, mein Freund, Du kömmst zur rechten Zeit. Erzähle ohne Zurückhaltung, was Du gehört hast; Pozzo di Borgo wird so erfreut darüber sein, wie wir es sind.“

„Daß Paris im Ausstande und die Bastille erstürmt ist, rufen sich die Leute schon auf den Straßen zu,“ sagte Demarris.

„Wahrhaftig!“ rief Andrea, „ist es so weit?“

„Aber die nächste Nachricht ist die,“ fuhr der Lieutenant fort, „daß Necker zurückgerufen ist und von Paris mit Begeisterung erwartet wird.“

„Was sagst Du dazu?“ fragte Bonaparte.

„Du wirst zur glücklichen Stunde erscheinen, um den tugendhaften Minister einziehen zu sehen,“ erwiderte Andrea. „Ich bin überrascht und erstaunt zwar, doch es ließ sich voraussehen, es mußte so kommen. Der König kann jetzt keinen Widerstand mehr leisten, er wird sich in die Arme des Volkes werfen.“

„Aber das Volk nicht mehr in seine Arme!“ rief Napoleon.

„Die Revolution ist da, die Armee aufgelöst. Jetzt gilt es bei Volk und Vaterland zu stehen.“

„Dazu wirst Du Gelegenheit genug finden, mein lieber Napoleon.“

„Ich habe sie! ich bin dabei!“ schrie Bonaparte, ergriff Demarris beim Arm und sah ihn mit seinen schwarzen, funkelnden Augen durchdringend an. „Ich fordere von Dir einen großen Freundesdienst,“ begann er, „doch ich weiß, daß ich mich auf Dich verlassen kann.“

„Fordere was Du willst, Bonaparte,“ erwiderte Demarris, während sein Gesicht sich dunkel röthete. „Ich bin bereit.“

[261] „Begieb Dich zu Frau von Colombier, sie erwartet in mich. Willst Du?“

„Ich will, Bonaparte.“

„Sage ihr, ich könnte nicht erscheinen.“

„Wann willst Du kommen?“ fragte Demarris.

„Niemals! In einer halben Stunde fahre ich die Rhone hinab nach Marseille, von dort nach Corsica, nach Ajaccio; ich weiß nicht, wann ich zurückkehren werde. Ich habe meinen Urlaub vom Obristen geholt, habe ihn sofort erhalten. So geh, lieber Demarris, geh und entschuldige mich. Sage ihnen, daß meine Pflicht mich forttrieb, die Pflicht gegen mein Vaterland, daß ich ihr folgen muß, daß mein Schicksal es so will, daß ich nicht anders kann!“

Demarris stand erstarrt. „Napoleon!“ rief er endlich verwirrt und warnend, „hast Du nicht auch andere Pflichten?“

„Keine, die mich abhalten könnte, dieser höchsten und ersten zu folgen, keine, die mich zwänge, sie zu vergessen. Ich habe einen schönen Traum geträumt, dabei muß es bleiben. Ich bin nicht für Weiberliebe geschaffen, Demarris, Du hast es mir oft gesagt und Du hast Recht. Ich bin auch kein Gegenstand, der Unglück und Verzweiflung anstiftet. Fort also, mein Freund; sei glücklich, Du wirst es sein!“

Demarris war noch immer betäubt, aber er lächelte bei den Betheuerungen Napoleons über seinen Beruf zur Liebe. „Ich werde Dich entschuldigen,“ sagte er, „werde Dich vertheidigen.“

„Gut, gut, richte es zum Besten ein, wie es für Dich und mich paßt, und lebe wohl, bis wir uns wiedersehen!“ rief Bonaparte, und indem er ihn umarmte, trieb er ihn fort und kehrte nachdenklich dann zu Pozzo di Borgo zurück.

Seine Arme verschränkend und ihn fest anblickend, blieb er vor ihm stehen, der sich niedergesetzt hatte und anscheinend in vollkommener Ruhe den Rest der Kirschen verspeiste, welche noch auf dem Tische lagen.

„Du begreifst,“ sagte Napoleon, „daß dies so sein muß.“

„Die Speculation drohte schlecht auszufallen,“ lächelte Andrea.

Napoleons Gesicht wurde gelbgrauer. „Liebe!“ rief er, „Du hörtest, was ich darüber sagte. Es ist eine untergeordnete Leidenschaft, die beherrscht und überwunden werden muß, wenn die edelsten und höchsten menschlichen Tugenden es gebieten.“

„Ich kenne sie nicht, mein lieber Napoleon,“ erwiderte Pozzo di Borgo sanftmüthig die Achseln zuckend, „weiß auch nicht, ob ich sie jemals kennen lernen werde. Doch was ich von ihr gehört habe, läßt mich beinahe glauben, daß sie der reinste und edelste Quell alles Göttlichen sei. Es giebt jedoch nichts, was nicht zum Zerrbild verunstaltet und lächerlich gemacht werden könnte.“

„Sie wird mich bald vergessen und einsehen, daß ich recht gethan,“ antwortete Napoleon mit unterdrückter Heftigkeit. „Unter diesen plötzlich eingetretenen Verhältnissen würde die kluge Mutter schnell anderen Sinnes geworden sein. In Paris ist keine Empfehlung für mich mehr möglich, und wenn ich ihr erklärt hätte, daß ich nach Corsica wollte, um dort für die Sache des Volkes einzutreten, würde sie so wenig wie Beatrice daran Gefallen gefunden haben.“

„Sie könnten wohl andere Vorschläge machen,“ erwiderte Pozzo di Borgo und blickte ihn an.

„Dies aber bleibt mir jetzt allein über,“ fuhr Napoleon rascher fort. „In Corsica werden bald zwei große Parteien sich bekämpfen.

Die Partei, welche die Corsen bei der Freiheit und bei Frankreich erhalten, und die, welche sie in die alte Wildheit und Verlassenheit zurückreißen will.“

„Zu ihrem uralten Rechte und ihrer Unabhängigkeit,“ sagte Andrea.

„Unabhängigkeit!“ rief Napoleon, „wohin hat sie geführt? Zu Mord und Elend.“

„Der Präsident wird zurückkehren,“ antwortete Andrea, „und sein Werk vollenden.“

„Was wird er aus Corsica machen? Ein Stückchen Erde voll Herren und Knechte, von Advocaten regiert, vielleicht wohl gar zuletzt unter englischen Schutz gestellt und aufgesogen von diesen Krämern.“

„Immer bester,“ sagte Andrea, „als eine Beute von Speculanten, denen Alles feil ist, selbst Freiheit und Vaterland, wenn sie dadurch ihre Zwecke erreichen können.“

Napoleons Gesicht erstarrte noch mehr. Ein Zucken lief dabei um seine Lippen, er konnte sich kaum noch beherrschen. „Wir werden uns in Ajaccio wieder begegnen,“ sagte er.

„Es ist schade, daß wir nicht zusammen reisen können, Napoleon. Aber ich muß nach Paris, um zu sehen, was für des Präsidenten Zurückberufung aus der Verbannung gethan werden kann.“

„Und dann, Carlo Andrea?“

„Dann wird Corsica wieder ein Haupt und eine Seele haben.“

„Er, der Greis!“ schrie Napoleon, „aber Du, sein Arm und sein Geist neben ihm.“

„Wenn ich zu seinem Ruhme beitragen kann, will ich gewiß nicht fehlen.“

„Das war es?“ rief Napoleon, und eine corsische Gluth loderte in seinen Augen auf. „Darum wolltest Du mich in Frankreich wohl versorgt zurücklassen?“

„Ein Franzose muß in Frankreich am glücklichsten sein,“ lächelte Pozzo di Borgo, „und nach Allem, was Du als wahr und gewiß betheuertest, ertheilte ich Dir den verlangten Rath offen und ehrlich.“

„Ehrlich!“ versetzte Bonaparte verächtlich, „laß uns offen und ehrlich sein. Deine Theilnahme für mich war Falschheit, ich verstehe Deine Zwecke. Seit wir denken können, hassen wir uns, und dieser Haß wird uns begleiten, so lange wir leben.“

„Wer weiß das, mein lieber Napoleon?“ sagte Andrea.

„Ich!“ erwiderte dieser heftig, „ich! Wir werden uns in Corsica schnell wieder gegenüber stehen.“

„Wir werden Beide für die Freiheit kämpfen.“

„Du für die Freiheit, wie sie Paoli im Sinne hat, ich für die Freiheit des Menschengeschlechts, für die Grundsätze der Revolution! Du wirst davon abfallen. Du hassest diese Lehren, Du hassest Frankreich und hassest mich.“

„Und Du,“ antwortete Carlo Andrea, „Du liebst nur Dich, nichts Anderes auf Erden. Diese glühende Selbstsucht wird der Strom sein, der Dich verschlingt.“

„Ha!“ rief Napoleon, „Du wirst Corsica und Paoli verlassen, wirst den Despoten Dich in die Arme werfen und ihr Werkzeug werden. So wirst Du enden!“

„Und wie wirst Du enden? “ fragte Andrea.

Sie standen sich Beide gegenüber und blickten sich mit starren, durchbohrenden Augen an, als läse der Eine in der Seele des Andern, und vor ihnen enthüllte sich die Zukunft in wunderbaren und schrecklichen Bildern.

„Laß uns scheiden,“ sagte endlich Napoleon kalt. „Wir werden Beide thun, was wir vermögen, und werden erfahren, was uns bestimmt ist. Geh’ Deinen Weg, Carlo, aber hüte Dich. Es kann sein, daß ich Dich einst erschießen lasse.“

„Ich werde Dich nicht tödten, Napoleon,“ erwiderte Pozzo di Borgo mit seinem steckend scharfen Lächeln, „aber ich werde Dir Dein Grab graben. – Lebe wohl!“


Und sechsundzwanzig Jahre später stand der russische General und Minister Carlo Andrea Pozzo di Borgo in seinem glänzenden Cabinet in Paris und hielt in der Hand ein Papier, das er mit demselben scharfen Lächeln betrachtete. Es war die Bestätigung über des gefangenen Kaisers Napoleon Schicksal. Pozzo di Borgo vornehmlich hatte seine Fortführung nach St. Helena gefordert und durchgesetzt.

„Ich habe gehalten, was ich ihm versprochen,“ sagte er. „Wir thaten Beide, was wir vermochten, das Schicksal hat über uns entschieden. Ich trieb ihn aus Corsica und ließ ihn verbannen, seine Anhänger vertrieben mich. Aber ich durchwanderte Europa, ihm Feinde aufzuwecken; ich war es, der die Cabinete zum Krieg trieb, ich schürte den Haß der Fürsten und der Völker, ich trieb Bernadotte zum offenen Bruch mit ihm, ich bewog die Feldherrn zum raschen Zug auf Paris. – So stieß ich ihn vom Throne, stieß seinen Sohn aus Rom und jetzt – habe ich ihn nach Helena gebracht. Dafür hat er mich gehaßt und verfolgt,“ fuhr er fort, „gefürchtet und bedroht wie keinen Anderen. An ihm lag es nicht, wenn sein Gelöbniß nicht zur Wahrheit wurde. [262] Was hätte er darum gegeben, mich in seine Gewalt zu bekommen? was hätte er gethan, wenn Kaiser Alexander sein dringendes Verlangen erfüllt und mich ihm ausgeliefert hatte? Er hätte mich erschießen lassen!“ flüsterte er hohnvoll und einen schrecklichen corsischen Triumph gesättigter Rache in den düsteren Augen fügte er hinzu: „Dafür habe ich ihn nicht getödtet, aber sein Grab habe ich gegraben und habe jetzt die letzte Schaufel Erde auf ihn geworfen!“




Aerztliche Herzensergießungen.

Über den Curirschlendrian

Warum sollte man den Laien ihre verkehrten und abergläubischen, oft aller Vernunft Hohn sprechenden Großmutter-Ansichten über Heilmittel und Heilmethoden nicht verzeihen? Aberglauben denn nicht auch die meisten Heilkünstler selbst, daß sie mit ihren nichtsnutzigen Nichtsen (wie die Homöopathen) oder mit ihren theils aus dem grauen dummen Alterthume, theils aus der erfinderischen Neuzeit herstammenden etlichen Etwasen (wie die Allopathen) Krankheiten zu heilen vermögen, während doch nur dem Naturheilungsprocesse in unserm Körper (s. Gartenl. Nr. 25) diese Heilungen zu verdanken sind? Daß jener Heilproceß hauptsächlich durch ein von Seiten des Arztes einzuleitendes passendes diätetisches Verfahren gefördert werden muß, das wollen weder Laien noch Heilkünstler einsehen.

Dieser von Geschlecht auf Geschlecht forterbende Heilkünstleraberglaube an die Heilkraft ebensowohl der privilegirten wie der unconcessionirten Heilmittel ist’s denn nun auch, der die Heilkunst mit einer solchen Unmasse von angeblich heilsamen Heilmitteln und Heilmethoden nach und nach so bereichert hat und fortwährend bereichert, daß fast bei jeder Krankheit jeder Arzt seine absonderlichen Lieblingsmittel, Lieblingsbäder und Lieblingsheilmethoden zu rühmen weiß, die schließlich nach gar nicht so langer Zeit zwar als nichtsnutzig anerkannt, aber dann ja nicht etwa für immer aus der Arzneimittellehre hinausgeworfen werden, sondern als historische Größen in den Heilkünstlerköpfen zeitlebens in gutem Andenken bleiben.

So passirt’s denn auch, daß Laien wie Aerzte bei bestimmten Uebeln nach althergebrachtem Schlendrian ohne weitere Ueberlegung bestimmte Heilmittel in Gebrauch ziehen, die, anstatt zu helfen, sogar schaden können, oder doch wenigstens gar nichts nützen (höchstens dem Apotheker). Natürlich wird dies niemals zugegeben, weil später ja doch noch Besserung und Heilung eintrat und weil dann jene Mittel, nicht aber die Naturheilungsprocesse daran schuld gewesen sein müssen.

Am gewissenlosesten wird jedenfalls mit Blutentziehungen umgegangen, die von entzündeten Stellen das angestaute Blut wegschaffen sollen, obschon dies in fast allen Fällen geradezu unmöglich ist. Sogar bei schon ganz blutarmen, bleichen, magern und schwindsüchtigen Personen müssen, wenn diese ein paar unschuldige Stiche drinnen in der Brust fühlen, sofort Blutegel oder Schröpfköpfe außen an der Brust angesetzt werden. Schon bei dem Worte „Entzündung“ überfällt die meisten echt allopathisch gesinnten Aerzte und Laien eine solche Blutgier, daß man wirklich die Homöopathischen wegen ihres kindlichen Vertrauens aus das entzündungsfeindliche Aconit (was sich übrigens nach dem lebensmagnetischen Sanitätsrathe Dr. Lutze vorzugsweise bei Entzündungen auf der rechten Körperseite als heilsam bewährt hat) beneiden könnte.

Einen inhumanen Schlendrian kann man’s ferner nennen, wenn Kranken, die mit Sicherheit in der nächsten Zeit dem unerbittlichen Tode verfallen, von Seiten des Arztes und der Angehörigen Alles verweigert wird, was jenen die letzten Lebensstunden allenfalls noch in Etwas angenehm machen könnte. Wie ein zur Hinrichtung geführter Verbrecher sich seiner leichten Kleidung wegen einen Schnupfen zu holen fürchtete, so fürchten gewöhnlich Aerzte und Laien, einem Sterbenden, der von Durst und Hitze entsetzlich gepeinigt wird, durch einen erquickenden kalten Trunk (Wassers oder Bieres) und frischen kühlen Luftstrom noch eine Erkältung, Rheumatismus oder Magenverderbniß zuzuziehen. Durch angeblich lebensfristende und herzstärkende Arzneien versuchen Aerzte die Todesqualen nur noch zu vermehren und zu verlängern, während die Umgebung eifrigst bemüht ist, jede erleichternde Bewegung und Entblößung des Verscheidenden zu hintertreiben. – Zum Verbrechen wird dieser Schlendrian, wenn Aerzte Arme, deren Krankheitszustand offenbar zum Tode führt, ganz unnützer Weise des letzten Groschens durch Verordnen theurer Arzneien (Chinin, Moschus etc.) berauben. Und solcher Arzneiwüthriche giebt’s noch die Menge!

Wie hartnäckig Aerzte und Laien an alten Sagen von Heilungen gewisser innerer und äußerer Geschwülste durch arzneiliche oder sympathetische Mittel fest halten, obschon jene Geschwülste nur mittels operativer Hülfe entfernt oder verringert werden können, das zeigt sich am deutlichsten bei den so häufig vorkommenden, aber ungefährlichen Ovariumcysten (Wasserblasen im Frauenleibe, fälschlich auch Bauchwassersucht genannt). Gegen diese, weder durch innere noch äußere Arzneimittel heilbaren Schwülste werden immerfort und jahrelang eine Menge die Gesundheit störender Curen (besonders mit Jod) unternommen und diese, trotzdem daß das Uebel zusehends fortwächst und das allgemeine Befinden immer schlechter wird, doch mit einer solchen Consequenz fortgesetzt, daß der geschwollene Leib endlich zerplatzen möchte. Bleibt dann nach mehrmaliger Entleerung der Flüssigkeit aus jenen Blasen und nach Verwachsung ihrer Wände mit einander eine neue Schwellung des Leibes auf längere Zeit oder für immer weg, dann hat das stets irgend ein absonderliches Arzneimittel oder ein Hokuspokus gethan. Eine sonst kluge Frau, bei welcher die Heilung auf solch natürliche Weise vor sich gegangen war, versicherte im vollen Ernste, eine intensive Hasenbratencur habe ihr geholfen. Wenn da diese Heilung und das homöopathische Heilgesetz (nach welchem dasjenige Mittel bei einer Krankheit hilft, welches bei Gesunden einen dieser Krankheit ähnlichen Zustand hervorzurufen im Stande ist) wirkliche Wahrheiten wären, dann müßten alle Frauen, die gern und oft Hasenbraten essen, von Ovariengeschwülsten heimgesucht werden. Also merkt’s, Ihr homöopathischen Gläubigen! Hasenbraten (ob in der trillientel oder decilliontel Verdünnung, kann ich freilich nicht genau sagen) ist ein Hauptmittel gegen Ovariencysten.

Der böse Hals, und zwar ebensowohl der obere oder Schluck- und Schlinghals wie der untere oder Sing- und Schreihals (die Kehle), wird vom Dr. Schlender-Jahn (Johann) fortwährend über denselben alten gewohnten und unbrauchbaren Leisten behandelt. Ist der Schluckhals krank, was Schmerz und Beschwerden beim Schlingen macht, dann muß gegurgelt werden; leidet der Schreihals, was sich durch Heiserkeit und Husten zu erkennen giebt, dann geht’s mit spanischen Fliegen an die Kehle.

Das Gurgeln bei entzündetem, heißem (geschwollenem und sehr geröthetem) Gaumen, Zäpfchen oder Mandeln schadet in der Regel weit mehr als es nützt, weil dabei die kranken Theile, welche gerade recht ruhig bleiben sollten, in Erzitterung versetzt werden. Abgesehen noch davon, daß in äußerst seltenen Fällen das Gurgelwasser, was doch die kranken Theile bespülen soll, diese wirklich berührt. Es kommt dies daher, weil die allerwenigsten Menschen, zumal wenn sie einen bösen Hals haben, die Zungenwurzel willkürlich so herabziehen können, daß die Flüssigkeit bis in den hintersten Theil der Mund- und Rachenhöhle gelangt, und das Hinabfließen derselben in die rechte und unrechte Kehle (in den Schlund und Kehlkopf) nur durch den aus der Luftröhre kommenden kräftigen Luftström verhindert wird. Man thut deshalb beim kranken Schlinghalse stets gut, von Gurgelwässern ganz abzusehen und lieber, nach Niederdrückung der Zunge mittels eines Löffelstiels, Einspritzungen und Bepinselungen der kranken Partien vorzunehmen. Das am besten und schnellsten wirkende Heilmittel beim bösen Halse ist aber immer der Höllenstein, welchen man entweder in fester Form zum Bestreichen oder in concentrirter Auflösung zum Bepinseln verwenden kann. Höllenschmerz macht hierbei dieses ausgezeichnete Heilmittel trotz seines fürchterlichen Namens nicht, höchstens etwas Druck und metallischen Geschmack.

Heiser zu sein und in die Hände eines alten Praktikus zu fallen, gehört wahrlich nicht unter die Annehmlichkeiten des Lebens, denn da geht’s ohne Mißhandlung und Verschändung des Halses in der Regel nicht ab, wär’s auch der Schwanenhals einer Venus. [263] Senfteige, Seidelbast, Pockensalbe, spanische Fliegen, Haarseil u. s. f., alles schmerzmachende Mittel, die garstige Flecke auf der Halshaut hinterlassen, sollen da den Krankheitsstoff aus dem Kehlkopfe durch Knorpel, Fleisch, Zellgewebe und Haut hindurch und nach außen ziehen. Als ob das möglich wäre! Sie haben mir aber geholfen, sagen dagegen ganz keck Laie und Arzt, ohne zu bedenken, daß gleichzeitig stets noch ein vernünftiges diätetisches Verhalten (warme reine Luft zum Athmen, warme schleimige Getränke und Speisen, Ruhe des Sprachorgans) angewendet wurde, was den Naturheilungsproceß unterstützte und insofern die Hülfe gebracht hat. Bei den Homöopathischen thut’s da freilich auch nicht die Natur, sondern Mercur, Chamomille, Pulsatille, Nux, Jod, Mangan, Schwefelleber, Phosphor, Kohle, Causticum oder Brom. Die Nux paßt aber nur dann, wenn man neben der Heiserkeit noch in einer mürrischen, zänkischen, eigensinnigen, hartnäckigen Gemüthsstimmung ist, und Chamomille dann, wenn die Gemüthsstimmung eine verdrießliche, ernsthaft stille, ärgerliche, ohne Lust zu sprechen. So schreiben Dr. Clotar Müller in seinem Haus- und Familienarzte und Dr. Hering im homöopathischen Hausarzte, während Dr. Hirschel in seinem homöopathischen Arzneischatze auf die Gemüthsstimmung gar keine Rücksicht nimmt, eben so wenig wie der Herr Sanitätsrath Dr. Lutze. Bei Heiserkeit mit Schnupfen braucht man übrigens nach anderen Homöopathen nur an ein Fläschchen mit Drosera (Sonnenkraut) zu riechen oder, was kluge Wasch-, Scheuer-, Platt- und Nähfrauen als ganz vorzüglich empfehlen, den wollenen Strumpf eines gesunden, braven Mädchens oder Jünglings um den Hals zu binden.

Kurz, wo, wie und was curirt wird, stets wird auch dabei vorn Arzte oder Laien etwas geschlendriant, und wenn auch nicht in allen Fällen geradezu zum offenbaren Nachtheil des Kranken, so doch keines Falles zum Vortheil desselben. (Wird fortgesetzt.)

Bock.

Aus dem Norden.
Von Dr. Alfred Brehm.
IV. Ein Ausgearteter.

Bei der zweiten größeren Rennthierjagd, welche ich mit Erik unternahm, waren wir einen Tag vergeblich herumgestiegen und hatten fast den ganzen Sneehätten umkreist, ohne einen Schuß abgefeuert zu haben. Der Abend brach herein, und mit ihm erwachte die Sorge, eine passende Nachtherberge zu erreichen, in dieser Wildniß, welche uns meilenweit umgab. Wir hatten die vorhergehende Nacht in einer sehr erzväterlichen Hütte zugebracht und trotz der bedeutenden Höhe und vorgerückten Jahreszeit recht gut und warm gelegen. Erik’s Herz verlangte aber heute nach Gesellschaft, nach Forellen und Milch, und deshalb schleppte mich denn der Gute für diesmal etwas über eine Meile weit zu einer anderen Hütte, welche gegenwärtig von einem Hirten bewohnt wurde, der zu Gunsten einiger Händler mit einer zahlreichen Viehheerde hier oben seinen Sommer verlebte.

Schon die Hölfte unseres Weges mochten wir zurückgelegt haben, da hörte ich einen mir bisher gänzlich unbekannten Ton. Es war ein heiseres, langgedehntes Kreischen, welches unbedingt von einem Säugethiere herrühren mußte; doch hatte ich gar keine Ahnung, welches Thier einen solchen Mißton hervorzubringen im Stande sei.

„Erik, was schreit da?“

„Ein weißer Fuchs! Kennt Er ihn denn noch nicht?“

„O ja, allein ich habe ihn noch nicht lebend gesehen.“

„Will Er ihn schießen?“

„Wenn wir ihn erwischen können, gewiß.“

„Nun gut, so wollen wir ihn abwarten.“

„Was, Alter, den Fuchs wollen wir hier abwarten?“

„Ja wohl, er wird schon zu uns kommen.“

„Nun, so wollen wir uns wenigstens verstecken.“

„Nein, lieber Herr, das dürfen wir nicht thun, sonst sieht uns der Fuchs ja nicht.“

„Erik, ich glaube, Du bist toll. Du sagst, daß der Schreier ein Fuchs sei, und behauptest, daß er zu uns kommen würde. Meinst Du, daß ich nicht wisse, wie sich ein Fuchs benimmt?“

„Ja, das kann schon sein; wenn es ein rother Fuchs wäre, würde er gewiß auch nicht hierher kommen, da es aber ein weißer Fuchs ist, erscheint er sicherlich, und wenn wir uns verstecken, kann er uns nicht sehen, und dann kann er auch nicht zu uns kommen.“

„Alter, ich habe Dir immer geglaubt, aber jetzt treibst Du es denn doch zu arg. Das ist unmöglich, daß das Thier kommt.“

„Ja, aber hört Er denn nicht, daß er schon viel näher ist?“

„Erik, Du hast wahrhaftig schon wieder einmal Recht, ich will Dir folgen.“

Und ich folgte dem alten erprobten Jäger, blieb stehen, und es war, wie mir Erik gesagt hatte. Schreiend kam der Fuchs näher und immer näher, endlich konnte ich ihn von den grauen Felsenmassen, deren Färbung auch sein Fell jetzt hatte, unterscheiden. Die Dämmerung war hereingebrochen, und so sah ich im Anfange allerdings nur Umrisse; allein der Fuchs zeigte sich bald so deutlich, als ich nur wünschen konnte. Ich wollte, schießen. Erik verwehrte es, weil er behauptete, daß der Fuchs noch zu weit sei und ich ihn schwerlich auf das Korn bringen könne. Der alte Schlaukopf hatte Recht. Es war unmöglich, sicher zu zielen, ich mußte nun schon warten, bis sich seine Voraussagung buchstäblich erfüllte.

Ohne Bedenken kam der Fuchs an uns heran, ruhte von Zeit zu Zeit aus und setzte sich dabei immer höchst zierlich nach Hundeart auf einen der größeren Steine, schlug die Standarte hübsch um die Vorderläufe und guckte nun so still vergnügt und harmlos heiter in die Welt hinein, als hätte es keine Büchse auf der ganzes Erde gegeben.

Ich gestehe, daß ich trotz einer Beschreibung, welche ich von dem Eisfuchse früher gelesen (aber auch größtentheils wieder vergessen) hatte, im höchsten Grade überrascht war. Der Bursche that gar nicht, als ob ihm unsere Gegenwart nur die geringste Furcht einflöße, sondern schien sich vielmehr außerordentlich zu freuen, hier in seiner Einsamkeit einmal mit Menschen verkehren zu können. Wahrscheinlich deshalb kam er nach und nach bis auf etwa vierzig Schritte an uns heran. Jetzt nahm ich die Büchse auf und zielte, bemerkte aber zugleich, daß es wirklich unmöglich war, den Fuchs sicher auf das Korn zu nehmen. Ich setzte mehrere Mal ab und hob von Neuem das Gewehr empor. Das Ergebniß blieb dasselbe. Ich konnte nur ungefähr die Richtung nehmen, keineswegs aber einen sicheren Schuß thun. Endlich schoß ich doch, die Kugel schlug haardicht neben dem Fuchse vorbei und an einem hinten liegenden Stein an, an welchen, sie zersplitterte. Als ob gar Nichts geschehen wäre, erhob sich der Fuchs, stieß seinen heiseren Schrei aus und ging ein paar Schritte weiter. Dann setzte er sich wieder hin, genau wie vorher. Jetzt nahm der Alte seine erprobte Büchse und sandte eine zweite Kugel nach ihm hin. Auch er hatte nicht getroffen. Der Fuchs stand wieder auf, ging noch einige Schritte vorwärts und setzte sich zum dritten Male auf einen Stein. Ich hatte inzwischen mein Gewehr wieder geladen und näherte mich dem merkwürdigen Gesellen auf etwa dreißig Schritte, um nochmals mein Glück zu versuchen. Auch die dritte Kugel traf ihn nicht, und so schoß Erik zum vierten, ich zum fünften, Erik zum sechsten und ich zum siebenten Male, ohne daß es dem Thiere in den Sinn gekommen wäre, endlich sein Heil in der Flucht zu suchen.

Ich führte eine Büchsflinte, und es wäre ein Leichtes für mich gewesen, den frechen Gesellen mit einem Schrotschuß zu erlegen, allein hierzu konnte ich mich nicht entschließen. Es wäre mir wie Meuchelmord vorgekommen, ein Wesen, welches mit solcher ruhigen Gelassenheit die Kugeln um sich herum pfeifen ließ, mit einem Schrotschuß niederzustrecken. Ich beschloß also, ihm das Leben zu schenken, und ging so nahe als möglich zu ihm hin, um ihn zu beobachten. Er ließ mich ruhig bis auf zehn, ja sogar bis ans sechs Schritte herankommen, ehe er sich erhob und nun leichten Fußes einige Schritte weiter ging.

Ich fand mich wie zwischen Wachen und Träumen. Auch der [264] allerdümmste und harmloseste Vogel würde ganz sicher schon bei dem zweiten Schusse die Flucht ergriffen haben, und hier sah ich einen der nächsten Verwandten des schlauesten aller Säugethiere vor mir, welcher auch nicht das geringste Verständniß für die Gefährlichkeit der Feuerwaffe zu haben und sich um Feuer, Knall und Rauch gar nicht zu kümmern schien. Die Sache kam mir so außerordentlich wunderbar vor, daß ich vor den zierlich Dasitzenden trat und ihm eine lange Rede hielt, in welcher ich ihm die Gefahr, der er sich aussetzte, zu schildern suchte. Mein nordischer Reinecke äugte mich dabei verschlagen listig und harmlos gemüthlich an, antwortete mir mit einem heiseren Schrei und blieb, als ob er mir das vollste Verständniß meiner Worte beglaubigen wolle, ganz ruhig sitzen. Endlich nahm ich Steine und suchte ihn durch Werfen zu vertreiben. Dies gelang mir denn auch gewissermaßen, indem sich das Thier nach dem zweiten Wurfe erhob, eine Strecke weiter ging und zwischen dem Gestein auch wirklich verschwunden zu sein schien.

Jetzt machten wir uns auf den Weiterweg. Man denke sich aber mein Erstaunen, als ich schon, nachdem wir etwa hundert Schritte zurückgelegt hatten, den Fuchs wieder dicht hinter uns schreien hörte und sehen mußte, daß er uns nun wie ein wohlgezogenes Hündchen auf unserem ferneren Wege folgte. Jetzt halfen auch keine Steinwürfe mehr. Der Fuchs schien gesonnen zu sein, uns das Geleit zu geben und nicht abzulassen, bis er das Seinige geleistet. Er begleitete uns auch wirklich, so weit das felsige Gestein reichte, und zwar durch eine Strecke von wenigstens zweitausend Schritten. Dann aber schien er aus seinem Gebiet heraus zu kommen und da wollte er denn doch nicht weiter mit uns gehen; er kehrte also nach einigem Zögern endlich wieder um.

Ich bin fest überzeugt, daß ein großer Theil meiner Leser sich gegenwärtig ebenso über mich wundern wird, als ich mich über den Fuchs gewundert habe. Ich höre im Geiste, wie man sagt: „Das ist unserer Gutmüthigkeit und Gläubigkeit denn doch etwas zu viel zugemuthet, und wenn sogar die Naturforscher den Wunder- und Märchenglauben zu predigen anfangen, was soll dann noch werden?“

Ich will gern gestehen, daß diese Geschichte höchst wunderbar klingt; ich will noch mehr sagen: ich würde sie niemals erzählt haben, wenn ich nicht meine Gewährsleute hätte, welche schon lange vor mir nicht blos solche geringfügige und unbedeutende Beobachtungen gemacht hätten, sondern uns noch ganz andere Dinge erzählen könnten.

Vor mir liegt ein jetzt schon ziemlich altes, jedoch von allen Thierkundigen sehr hoch geachtetes Buch, betitelt: „Neue nordische Beiträge zur physikalischen und geographischen Erd- und Völkerbeschreibung, Naturgeschichte und Oekonomie. St. Petersburg und Leipzig bei Johann Zacharias Logan, 1781.“ Das Buch hat den berühmten Naturforscher Pallas zum Verfasser. Man mag nur im zweiten Theile desselben, Seite 274 u. ff., die Beobachtungen, welche der Reisende Steller auf der Behringsinsel angestellt hat, selbst nachlesen. Da heißt es wie folgt:

„Von vierfüßigen Landthieren giebt es auf Behringseiland nur die Stein- oder Eisfüchse (Cauis lagopus), welche ohne Zweifel mit dem Treibeis dahin gebracht worden und, durch den Seeauswurf genährt, sich unbeschreiblich vermehrt haben. Ich habe die Natur dieser an Frechheit, Verschlagenheit und Schalkhaftigkeit den gemeinen Fuchs weit übertreffenden Thiere mehr als zu genau während unseres unglückseligen Aufenthalts auf diesem Eilande kennen zu lernen Gelegenheit gehabt. Die Geschichte der unzähligen Possen, die sie uns gespielt, kann wohl der Affenhistorie des Albertus Julius auf der Insel Sarenburg die Wage halten. Sie drängten sich in unsere Wohnungen sowohl bei Tage als bei Nacht ein und stahlen Alles, was sie nur fortbringen konnten, auch Dinge, die ihnen gar nichts nutzten, als Messer, Stöcke, Säcke, Schuhe, Strümpfe, Mützen etc. Sie wußten so unbegreiflich künstlich eine Last von etlichen Pud von unseren Proviantfässern herabzuwälzen und das Fleisch daraus zu stehlen, daß wir es anfangs kaum ihnen zuschreiben konnten. Wenn wir einem Thier das Fell abzogen, so geschah es oft, daß wir zwei bis drei Stück Füchse dabei mir Messern erstachen, weil sie uns das Fleisch aus den Händen reißen wollten. Vergruben wir Etwas noch so gut und beschwerten es mit Steinen, so fanden sie es nicht allein, sondern schoben wie Menschen mit denn Schultern die Steine weg und halfen, unter denselben liegend, einer dem andern aus allen Kräften. Verwahrten wir Etwas auf einer Säule in der Luft, so untergruben sie die Säule, daß sie umfallen mußte, oder einer von ihnen kletterte wie ein Affe oder eine Katze hinauf und warf das darauf Verwahrte mit unglaublicher Geschicklichkeit und List herunter. Sie beobachteten all unser Thun und begleiteten uns, wir mochten vornehmen was wir wollten. Warf die See ein Thier aus, so verzehrten sie es, ehe noch ein Mensch dazu kam, zu unserem größten Nachtheil; und konnten sie nicht Alles gleich auffressen, so schleppten sie es stückweise auf die Berge, vergruben es vor uns unter Steinen, und liefen ab und zu, so lange noch etwas zu schleppen war. Dabei standen andere auf Posten und beobachteten der Menschen Ankunft. Sehen sie von ferne Jemand kommen, so vereinigte sich der ganze Haufe und grub gemeinschaftlich in den Sand, bis sie einen Biber oder Seebären so schön unter die Erde hatten, daß man keine Spur davon erkennen konnte. Zur Nachtzeit, wenn wir auf dem Felde schliefen, zogen sie uns die Schlafmützen und Handschuhe von und unter den Köpfen, und die Biberdecken und Häute unter dem Leibe weg. Wenn wir uns auf die frisch geschlagenen Biber legten, damit sie nicht von ihnen gestohlen würden, so fraßen sie unter dem Menschen ihnen das Fleisch und die Eingeweide aus dem Leibe. Wir schliefen daher alle Zeit mit Knitteln in den Händen, damit wir sie, wenn sie uns weckten, damit abtreiben und schlagen könnten.

Wo wir uns auf dem Wege niedersetzten, da warteten sie auf uns und trieben in unserm Angesicht hunderterlei Possen, wurden immer frecher, und wenn wir stille saßen, kamen sie so nahe, daß sie die Riemen von unseren neumodischen, selbst verfertigten Schuhen, ja die Schuhe selbst anfraßen. Legten wir uns, als ob wir schliefen, so berochen sie uns bei der Nase, ob wir todt oder lebendig seien; hielt man den Athem an sich, so zupften sie wohl gar an der Nase und wollten schon anbeißen. Bei unserer ersten Ankunft fraßen sie unseren Todten, während daß Gruben für sie gemacht wurden, die Nase und die Finger an Händen und Füßen ab, machten sich auch wohl gar über die Schwachen und Kranken her, daß man sie kaum abhalten konnte. Niemand konnte ohne einen Stock in der Hand seine Nothdurft verrichten, und den Koth fraßen sie gleich so begierig wie die Schweine oder hungrige Hunde weg. Jeden Morgen sah man diese unverschämten Thiere unter den am Strande liegenden Seelöwen und Seebären herumpatrouilliren und die schlafenden beriechen, ob nichts Todtes darunter sei; fanden sie ein solches, so ging es gleich an ein Zerfleischen, und man sah sie alle mit Schleppen bemüht. Weil auch besonders die Seelöwen des Nachts im Schlafe öfters ihre Jungen erdrücken, so untersuchten sie, dieses Umstands gleichsam bewußt, alle Morgen ihre Heerden Stück für Stück und schleppten die todten Jungen wie Schinder davon.

Weil sie uns nun weder Tag noch Nacht ruhen ließen, so wurden wir in der That auf sie dergestalt erbittert, daß wir Jung und Alt todtschlugen, ihnen alles Herzeleid anthaten und, wo wir nur konnten, sie auf die grausamste Art marterten. Wenn wir des Morgens vom Schlaf erwachten, lagen immer zwei oder drei in der Nacht erschlagene vor unseren Füßen, und ich kann wohl während meines Aufenthalts auf der Insel auf mich allein über zweihundert ermordete Füchse rechnen. Den dritten Tag nach meiner Ankunft erschlug ich binnen drei Stunden über siebenzig Stück mit einem Beil, aus deren Fellen das Dach über unsere Hütte verfertigt ward. – Auf’s Fressen sind sie so begierig, daß man ihnen mit der einen Hand ein Stück Fleisch vorhalten und mit der anderen die Axt oder den Stock führen konnte, um sie zu erschlagen. Wir legten einen Seehund hin, standen mit einem Stock nur zwei Schritte davon und machten die Augen zu, als ob wir nicht sahen; bald kamen sie angestiegen, fingen an zu fressen und wurden erschlagen, ohne daß sich die andern daran hätten spiegeln und entlaufen sollen. Wir gruben ein Loch oder Grab und warfen Fleisch oder ihre todten Cameraden hinein; ehe man sich’s versah, war die ganze Grube voll, da wir denn mit Knütteln Alles erschlugen. Obgleich wir ihre schönen Felle, deren es hier wohl über ein Dritttheil von der bläulichen Art giebt, nicht achteten, auch nicht einmal abzogen, lagen wir doch beständig gegen sie als unsere geschworenen Feinde zu Felde.

Alle Morgen schleppten wir unsere lebendig gefangenen Diebe bei den Schwänzen zur Execution vor die Caserne auf den Richtsatz, wo einige enthalst, andern die Beine zerschlagen oder eins nebst dem Schwanze abgehauen wurde. Einigen stach man die [265] Augen aus; andere wurden bei den Füßen paarweise oder lebendig aufgehangen, da sie sich einander todtbeißen mußten. Einige wurden gesengt, andere mit Katzen zu Tode gepeitscht. Das Allerlächerlichste ist, wenn man sie erst beim Schwanze festhält, daß sie aus allen Kräften ziehen, und dann den Schwanz abhaut; da fahren sie einige Schritt voraus und drehen sich, wenn sie den Schwanz missen, über zwanzig Mal im Kreise herum. Dennoch ließen sie sich nicht warnen und von unseren Hütten abhalten; und zuletzt sah man unzählige ohne Schwanz oder mit zwei oder drei Beinen auf der Insel herumlaufen.

Wenn diese geschäftigen Thiere einer Sache Nichts anhaben können, wie z. B. Kleidern, die wir zuweilen ablegten, so loseten und harnten sie darauf; und dann geht selten Einer vorbei, der dies nicht thun sollte. Aus Allem ersehe man, daß sie hier nie einen Menschen mußten gesehen haben und daß die Furcht vor den Menschen den Thieren nicht angeboren, sondern auf lange Erfahrung gegründet sein müsse.“

Nach solcher Beweisführung glaube ich, daß wohl keiner meiner Leser mehr an meiner Wahrhaftigkeit zweifeln wird. –




George Sand.

Eine Erinnerung von Schmidt-Weißenfels.

Keine sechs Poststunden von dem alten, düsteren Chateauroux, der Hauptstadt des Indredepartements, im ehemaligen Herzogthum Berry, liegt auf einer sanften Anhöhe das Schloß Nohant[WS 1]. Die Fenster des nicht allzualten, halb im Rococostyl erbauten Schlosses leuchten auf die schöne Chaussee, welche an einem kleinen, freundlichen, ausnehmend reinlichen Dorfe vorüberführt, hinter welchem sich dann sogleich Wiesen und Park und Garten bis hinauf nach dem Herrensitz ziehen.

Hier ist der Wohnsitz der bedeutendsten Schriftstellerin Frankreichs, ja der bedeutendsten Schriftstellerin überhaupt. Hier wohnt Madame Dudevant, berühmt unter dem Namen George Sand. Dies Schloß Nohant war der Schauplatz ihrer Kindheit gewesen; hier hatte sie bei der Großmutter, Madame Dupin von Francueil, die sonderbarste Erziehung erhalten, fechten, reiten und schießen gelernt und auf wilden Streifereien durch das Land ihre Phantasie mit den Bildern jener Burgen, Dörfer und Menschen erfüllt, denen man in so vielen ihrer Werke begegnet. Nach einigen Jahren Aufenthalt in einem Kloster, in dem sie etwas gebändigt werden sollte, ohne es zu werden, kam sie wieder auf Schloß Nohaut, um ihrer Großmutter die Augen zuzudrücken. Dann ward sie, kaum sechzehn Jahr alt, einem Capitain Dudevant verheirathet, der weder Marquis noch Edelmann überhaupt, nicht einmal von Geburt war, dagegen ein kalter Egoist mit sehr viel Schulden, dem das Vermögen seiner Frau und ihr Schloß mehr galt, als sie, die nicht mit Schönheit, aber mit Geist und mit einem liebedurstigen Herzen glänzen konnte. Lansac im Roman „Valentine“ halte ich durchaus für die Copie des Herrn Dudevant, der denn auch ganz so handelte, wie Lansac. Als seine Frau ihm ihr Leid gestand, lachte er sie aus; als sie unglücklich war, suchte er sein Vergnügen anderswo; als sie sich von ihm trennte, hatte er nichts dagegen, insofern sie ihm nur das Schloß und das Vermögen ließ. Er gab ihr 1200 Francs jährlich, und damit lebte Aurora Dudevant in Paris in einer Mansarde mit ihren zwei Kindern, bis sie seit Anfang der dreißiger Jahre durch die Schriftstellerei Geld und Ruhm erwarb.

Die Noth hatte sie, wie so Viele, zum Schriftsteller gemacht. Sie begann beim „Figaro“; Henri de Latouche, damals Redacteur des einflußreichen „Figaro“, selbst ein talentvoller Dichter und besonders als Mentor der literarischen Jugend von hohem Verdienst, führte das junge, verlassene Weib, damals 27 Jahr alt, in die literarische Carriere ein. Dieser Umstand ist wenig bekannt, ebenso, daß ihre ersten Versuche, die sie allein machte, kaum die Höhe der Mittelmäßigkeit erreichten.

Erst mit Jules Sandeau’s Hülfe eignete sich das junge Weib, dessen innerer Drang und zurückgehaltene Macht der Empfindungen noch nach keinem klaren Ziele steuerten, die nothwendige literarische Routine an. Sandeau war ihr Freund, um nicht zu sagen, ihr Geliebter; er begleitete sie auf ihren Spaziergängen, er suchte ihre Lage zu bessern, er lieh ihr seinen Griffel für ihr Talent. Aurora Dudevant gestand später, daß sie ihn nicht geliebt, aber als Freund geachtet; auch war sie undankbar gegen ihn, denn sie trennte sich von ihm, als sie oben auf der Staffel des Ruhmes stand, an die er sie geführt. Wie dem auch sei, mit Jules Sandeau zusammen schrieb die junge Frau den Roman „Rose und Blanche“, der 1832 zuerst erschien und für den beide Autoren, nicht ohne viel Mühe, 100 Francs vom Verleger erhielten. Der Roman trug den Autornamen „George Sand“, den Madame Dudevant von nun für sich adoptirte und zu einem Glanze erhob, der den Vater desselben, Jules Sandeau, gänzlich verdunkelte.

Trotz des geringen Ersolges von „Rose und Blanche“ ermunterte sie Latouche dennoch, ihr schriftstellerisches Wirken fortzusetzen. George Sand schrieb darauf den Roman „Indiana“, welcher zuerst in der „Revue des deux Mondes“ 1832 erschien. Indiana machte George Sand berühmt.

Aber fast mehr noch erfüllte ihr Name die literarischen und gesellschaftlichen Kreise wegen des Processes, den sie gegen ihren Gatten führte. Dieser Proceß hatte in socialer Beziehung fast dieselbe Bedeutung, wie ihn der Beaumarchais’ gegen den Parlamentsrath Götzmann in politischer Beziehung hatte. Hinter Beaumarchais wie hinter Madame Dudevant stand ein großes Princip. Man denke nur daran, daß zu der Zeit, als dies unglückliche und noch dazu geistreiche Weib von ihrem unwürdigen Gatten das Vermögen zurückverlangte, die socialen Kreise, die Literatur und namentlich die gesammte Frauenwelt von den saint-simonistischen Lehren, von der Emancipationsidee und den Gedanken einer Reform der bürgerlichen Gesellschaft, besonders der Ehe, erfüllt waren. Der Papst Enfantin spukte noch in den Köpfen, der Saint-Simonismus predigte seine Theorien, das Weib und seine Stellung waren Gegenstand tiefer socialer Untersuchungen, Emancipationsclubs entstanden, das junge Deutschland – Gutzkow’s[WS 2] „Wally“, Mundt’s „Madonna“, die Schriften von Wienbarg, Laube und Kühne plaidirten für dieselben Grundsätze und erschreckten sogar den deutschen Bundestag in Frankfurt. Und nun trat ein Weib auf, eine Schriftstellerin, welche alle diese Theorien in Wirklichkeit anwandte, das Recht der Frauen muthvoll gegen die angebliche Uebermacht des Mannes verfocht! George Sand gewann ihren Proceß, und die Gesellschaft beruhigte sich dadurch. Sie ward geschieden, erhielt ihr Vermögen und ihr Erbschloß Nohaut zurück und setzte nun ihrerseits ihrem ehemaligen Gatten eine Pension aus.

So zog sie denn wieder als Schloßherrin auf Nohaut. Sie war als eine flüchtige Ehefrau daraus geschieden; sie betrat es wieder als ein siegreiches Weib, als eine gefeierte Schriftstellerin, deren Romane in ganz Europa Erstaunen und Bewunderung erregten und sie in Wahrheit bei lebendigem Leibe zu einer Mythe machten. George Sand! Das war der Inbegriff eines kühnen Weibes geworden, welches sich gegen die Gesetze der Gesellschaft gebäumt, die Sitten verachtet, das Ideal einer emancipirten Frau präsentirte. Was erzählte man nicht Alles von ihr! Sie ritt, sie focht, sie schoß mit Pistolen wie ein Capitain vom Genie; sie war in Paris in Mannskleidung auf den Boulevards spazieren gegangen, den blauen Dampf ihrer Cigarrette keck den jungen Damen unter die Nase blasend, Arm in Arm mit ihren Freunden flanirend, die Reitgerte durch die Luft pfeifen lassend, lachend so laut und herausfordernd wie ein preußischer Gardelieuteuant, ausgelassen in Allem, ein Art Abnormität, weiblichen Monstres!

Hundert Anekdoten erzählte man von ihr, um dieses tolle Weib zu kennzeichnen, die Phantastik dieses Genies zu illustriren. Mäuse wurden Elephanten, und Lüge, Verleumdung, Klatsch und das menschliche Vergnügen, Seltsames noch seltsamer zumachen, schufen zuletzt eine George Sand, die gar nicht existirte, die eine Fabel war. In Paris, dem scandalsüchtigen Paris, trieb man förmlichen Cultus mit dem Romantisiren der berühmten Schriftstellerin, und das Ausland betete Alles nach, machte die Pariser Quincaillerie sogar noch zu plumpen Fabrikartikeln. Wundern konnte man sich darüber nicht, denn über Schriftsteller und [266] bedeutende Menschen urtheilt man gemeinhin am meisten nach dem Hörensagen. Man hat nicht Zeit und ist auch zu träge, sich über die Personen und Dinge, die uns so warm interessiren, gründlich zu unterrichten. Wenn nur eine äußerlich annehmbare Version gefunden wird, ist Alles zufrieden, und wer’s etwa besser weiß, der nimmt sich nicht die Mühe, das Publicum von den liebgewordenen Irrthümern zu befreien.

So beschäftigte George Sand die Pamphletisten und Lebensbeschreiber weidlich. Sie galt für ein phantastisches Wesen, schlimmer noch als Bettina, für ein Mannweib, welches die neugierigste Verfolgung herausforderte. Kein Mittel galt den Unbescheidenen für zu schlecht, in ihre Nähe zu kommen, und wäre es auch nur für einen Augenblick. Man nahm zu Verkleidungen jeder Art Zuflucht, ja Einer, der’s nicht lassen konnte, schlich sich einmal sogar als Kaminfeger bei George Sand ein. Da die Schloßherrin von Nohant kein Verlangen danach zeigte, sich wie eine Miß Pastrana allerhand verdrehten Engländern, schriftstellernden Touristen und Naseweisen zu präsentiren, so zog sie sich in den Kreis vertrauter Freunde zurück, und es war nicht leicht, ohne gute Empfehlung als Fremder vor sie gelassen zu werden. Die Zudringlichkeit der Neugierigen, wurde sie gar zu arg, wurde denn auch zuweilen durch Mystification gestraft. So stellte man einem Advocaten, der um jeden Preis die Bekanntschaft von George Sand machen wollte, deren Kammerfrau vor, während Mutter und Tochter in einem Alkoven verborgen das komische Quiproquo mit ansahen. Der Advocat erzählte einige Tage später entzückt von der geistreichen Unterhaltung mit der berühmten Dichterin und hätte sich beinahe ein Duell zugezogen, weil er die bedauernde Bemerkung ausgesprochen, daß George Sand keine Zähne mehr habe. Ein ander Mal zog ihr Sohn Maurice die Kleider seiner Mutter an und ging an einer reisenden Familie von Engländern vorüber, welche auf der Terrasse eines benachbarten Gasthauses der Eigenthümerin des Schlosses von Nohant auflauerten. – So ging es denn oft sehr natürlich zu, daß man die sonderbarsten Geschichten vom Leben George Sand’s hörte und las.

Und wie ganz anders, ja wie viel weniger interessant ist das Original im Vergleich zu den Portraits, die man von ihr entworfen! Ich erinnere mich noch sehr genau, daß ich mit einem fix und fertigen Bilde von ihr sie besuchte und daß dieses Amazonenbild, dieses Portrait eines überspannten Wesens durchaus nicht und in Nichts Ähnlichkeit mit dem Original hatte. George Sand erschien wie eine schlichte bürgerliche Hausfrau. Alles an ihr und um sie war einfach, von gutem Geschmack und ohne jede Manierirtheit. Sie nähte emsig, auch während der Unterhaltung, die doch von sechs, sieben Personen lebhaft geführt wurde, und erzählte mit freundlichster Unbefangenheit, daß sie und ihre Tochter, die auch einmal sichtbar wurde, – die Costüme für ihr kleines Haustheater im Schlosse selber nähten, „das gehöre mit zum Genuß“. George Sand hat nämlich die Liebhaberei, ihre eigenen Stücke, die wenig Glück auf der Bühne gemacht, in Gemeinschaft mit den Bauern des Dörfchens, dessen Besitzerin sie ist, aufzuführen. Das ist ihr Privatvergnügen und dient zugleich zur Prüfung des Stücks; denn ehe es nicht in Nohant gespielt worden, kam es auf keiner Bühne zur Aufführung.

So war der erste und nachfolgende Eindruck durchaus fraulich. Ein Anderer fand sie ebenfalls emsig ein Kleid zuschneidend, und als er darüber verwundert dreinschaute, rief sie mit komischer Ernsthaftigkeit aus: „Oui, c’est moi, cela vous étonne?“ Ich glaube in der That, diese Schriftstellerin George Sand ist eine bessere Hauswirthin, als so viele andere, die zu gar nichts Anderem berufen sind. Sie näht nicht allein und stickt und strickt; sie kocht auch zuweilen selbst, bereitet Confitüren und einen vorzüglichen Kaffee, wenn nicht einer ihrer Freunde ihr dies Amt abnimmt. Gewöhnlich weist sie ihren Freunden das Kaffeebrauen auf der Maschine zu – vom Abbé Lamennais, Alfred de Musset ist’s bestimmt, und Franz Lißt wird ihn wohl ebensogut haben kochen müssen wie Chopin[WS 3], die Alle nach der Reihe ihre Freunde waren, ihre Begleiter. Daß sie als Schloßherrin nicht minder ihre Verdienste hat, konnte man schon in dem Dorfe hören, das zu ihrem Besitz gehört. Sie wird von Allen verehrt wie eine Mutter, und ihre Wohlthätigkeit ist fast übertrieben. Sie hat auf ihrer Herrschaft Ackerbau und Gartenbau zu einem so hohen Flor gebracht, wie sie in ihren socialistischen Romanen darüber als von der Wirkung der neuen Lehren spricht. Bettler und Armuth kennt man hier nicht, und Niemand, keine Magd, deren Namen sie nicht wüßte und die sich nicht wie ein Glied ihrer Familie betrachtete. Da wird keine Hochzeit gefeiert, ehe sie nicht auf dem Schlosse lebt, und wenn sie in Nohant ist, findet keine Taufe und kein Begräbniß statt, dem sie nicht beiwohnte.

Wie von ihrem Wesen ganz falsche Vorstellungen bestehen, so auch von ihrer persönlichen Erscheinung. Es ist nichts Phantastisches, nichts Literarisches an ihr; im Gegentheil, ihre Physiognomie macht einen so simplen Eindruck, daß man über dieselbe, die gar keinen bedeutenden Geist verräth, erstaunt. Eine geniale Schriftstellerin, ein Weib herrlichster Phantasie, das sieht man ihr von dem Gesicht nicht ab, welches so gutmüthig bürgerlich, so sehr nüchtern ist, daß man ihr oft gesagt hat, sie sehe aus wie ein Schaf, worüber sie selbst die meisten Scherze zu machen pflegte. Sie imponirt gar nicht, man gesteht sich dies nach dem ersten Anblick unverhohlen. Ihre Figur ist mittelgroß, dabei – ganz gegen alle poetische Art – wohlbeleibt. Das schwarze, einfach und glatt gescheitelte Haar giebt dem Kopfe ebensowenig genialen Ausdruck. Die Nase ist groß und stark, fast störend für das Gesicht, dessen feine, weiche Linien von der unendlichsten Sanftmuth und Gutmüthigkeit zeugen. Auch der Mund hat denselben männlichen Ausdruck wie die Nase, und die Lippe wie das Kinn mahnen an eine etwas sinnliche Natur. Aber die schöne, glatte, hohe Stirn, welche dieses runde Gesicht überwölbt, läßt den Kenner ahnen, daß hinter ihr das Spiel der Gedanken ein gewaltiges sein kann, trotzdem das Antlitz wenig davon verräth. Ebenso der Blick, der aus den feingeschnittenen Augen sanft und ernst hervorleuchtet: es zittert eine Melancholie in ihm, die aus tiefem Grunde entstiegen sein muß, und ein melancholisches Gemüth – welche Fülle von Poesie bettet es nicht, wie oft ist es nicht den höchstbegabten Naturen als Born ihres Geistes zu eigen!

Und in der That, je länger man in dieses tiefgründige Auge blickt, je mehr fühlt man, daß man einem Genius gegenüber sich befindet, über dessen schlichte äußere Erscheinung man sich nicht täuschen darf. Und nun erst, wenn diese Lippen sich öffnen, die vollen frischen Töne hervorquellen, und Alles Form in Worten erhält, was diese Figur belebt: dann sieht man durch die Augenfenster die Lichter in ihrem Kopf anstecken; das Feuer der Gedanken blitzt und funkelt im Blick; die Hausfrau verschwindet uns vor den Augen, unmerkbar wandelt sie sich in eine Gestalt der Poesie, in George Sand. Was sonst Mattes, Weiches, zu Weiches in ihren Zügen lag, erstarkt während der Unterhaltung; das Antlitz verliert seinen Charakter, und Grazie thront dort anstatt schlichter Gutmüthigkeit, Geist, heller, zündender Geist anstatt der Nüchternheit – die Züge, die Linien laufen in einander und alle passen jetzt zusammen, die feinen zu den starken, die weichen zu den harten – ein mild-ernstes, geisteshohes Wesen strahlt dann von dem Gesicht.

Nichts, durchaus nichts zeigt aber auch jetzt einen excentrischen Geist, der sich im Kampf mit den Gesetzen der Gesellschaft befinde, Grimm oder Groll austöne, nur im Geringsten gegen echteste hochgebildete Weiblichkeit verstoße. George Sand spricht nicht gern von sich, nicht einmal von der Literatur. Zu ihrem Wesen ist keine Spur jener unausstehlichen Geistreichigkeit, die uns so oft in den Schriftstellerinnen entgegentritt, die nicht genug durch äußere Sonderlichkeiten und verletzendes Benehmen darthun können, daß sie unter die „Literaten“ gegangen sind und einen Verleger für ihre Romane haben. George Sand, in ihren Romanen das feinfühlendste und zugleich das aufreizendste, revolutionssüchtigste Weib, ist im Leben ohne jegliche Ungebundenheit, im Wesen glättend, versöhnend, von Leidenschaftlichkeit, die in der Schriftstellerei oft die Zügel verliert, frei. Ihre Unterhaltung ist nicht prätentiös, sondern fast bescheiden; sie läßt Alles an sich ankommen und nimmt nur hin und wieder eine Partie der Unterhaltung auf, um sie in ruhiger, wohlwollender, aber sehr bestimmter Sprache zu erledigen. So gut wie sie zu schreiben und zu sprechen weiß, ebenso gut auch zu hören und zu schweigen. Sie debattirt nicht gern, nur um eine Frage zu forciren, sondern sie erklärt sich in wenig Worten für eine ausgesprochene Ansicht, oder macht eine von allen andern abweichende geltend. Drängt man ihr eine andere Meinung auf oder bekämpft das, was sie für richtig hält, so hört sie ernsthaft und schweigend hin, unterbricht selten mit einem Worte und erklärt zumeist am Ende der Entgegnung, daß sie diese Ansicht nicht theilen könne. Klar und bestimmt motivirt sie die ihrige dagegen, ohne [267] im Hin- und Herstreiten einer Wahrheit nachzugehen. Die Resultate scheinen ihr sicherer und wichtiger zu sein, als die dialektische Bewegung derselben.

Madame Dudevant und George Sand sind in der That sehr verschiedene Charaktere. Die Frau ist ganz anders als die Schriftstellerin in ihren Grundsätzen und Empfindungen. Madame Dudevant ist eine musterhafte Hausfrau und Mutter, George Sand eine dämonische Natur, die eine wildlohende Fackel in die Gesellschaft geworfen. Es ist trivial, von der Morallosigkeit der George Sand’schen Romane zu sprechen. Aber Niemand wird leugnen, daß diese Romane von einem aufreizenden, gegen die bestehenden Gesellschaftsgesetze scharf polemisirenden Geiste getragen sind.

Die Hauptwerke dieser Frau: Indiana, Valentine, Jacques und Lelia, bilden gewissermaßen Beiträge zur Pathologie der Ehe; es sind Schmerzensrufe selbstgefühlter Leiden. Interessant sind die Selbstbekenntnisse, welche die Schriftstellerin mit Hinblick auf sie macht. Sie kam traurig von einer Reise nach Italien zurück. „Warum hab’ ich mich an die menschliche Familie gebunden? das sollte mein Loos nicht sein. Gott hatte mir einen schweigsamen und unbändigen Stolz gegeben, einen tiefen Haß gegen alles Ungerechte, eine unbesiegbare Hingebung an die Unterdrückten! Meine Sinne verlockten mich nicht zur Liebe, mein Herz wußte nicht, was dies sei. Wozu unauflösliche Fesseln für mich, o mein Gott? Und doch, wie wohlthuend wären sie für mich gewesen, wenn ein Herz, ähnlich dem meinigen, sie mitgetragen hätte! Nein, nein, ich war nicht geschaffen, um Poet zu sein, ich war geschaffen, um zu lieben. Dies ist das Unglück meines Loses, daß ich zum Künstler gemacht worden bin! Menschlich leben wollt’ ich, ich hatte ein Herz: man hat es mir aus der Brust gerissen. Man hat mir nur einen Kopf gelassen, einen Kopf voller Lärm und Schmerzen, voll abscheulicher Erinnerungen und Trauerbilder. Und weil ich Erzählungen schrieb, um das Brod zu verdienen, das man mir versagte, und weil ich mich dabei erinnerte, unglücklich gewesen zu sein, und weil ich zu sagen gewagt habe, es gäbe erbärmliche Wesen in der Ehe, in Folge der Schwäche, welche der Frau anbefohlen, und der Rohheit, welche dem Manne erlaubt wird; weil ich die Schmählichkeiten aufgedeckt, welche die Gesellschaft verhüllt und mit dem Mantel des Mißbrauchs verhüllt: deshalb hat man mich für unmoralisch erklärt und mich behandelt, als ob ich ein Feind des Menschengeschlechts sei.“ –

Ueber die socialen Romane und dramatischen Werke der George Sand später ein Mehreres.




Das Voigtland und die Voigtländer.

Außer den von dem großen Strome der reiselustigen Welt überflutheten und darum allbekannten deutschen Gauen giebt es noch manchen kleinen Erdenwinkel im großen Vaterlande, der es verdient, näher gekannt zu sein, weil er in Namen, Sitte und Mundart noch ein Stück besondern deutschen Lebens und deutscher Eigenart, trotz der Alles nivellirenden Macht der modernen Zeit, als theures Erbtheil der Väter sich treulich bewahrt hat. – In einen solchen Winkel des deutschen Vaterlandes wollen wir heute unsere Leser einführen, mit dem Wunsche und der Hoffnung, daß sie es nicht bereuen mögen, uns dahin gefolgt zu sein.

Das Voigtland (in den Urkunden des Mittelalters: Terra Advocatorum) nannte man, etwa seit dem 11. Jahrhundert, den Landstrich, welcher von dem Flußgebiete der weißen Elster bis Weida, und den an den Quellen der Saale und der Zwickaner Mulde liegenden Gegenden gebildet wird, und somit den jetzigen voigtländischen Kreis des Königreichs Sachsen, die Reußischen Fürstenthümer, den größten Theil des bairischen Oberfranken und einige Ortschaften des Großherzogthums Sachsen-Weimar und des Herzogthums Sachsen-Altenburg umfaßte. Dieses Gebiet war um das neunte und zehnte Jahrhundert den bis hieher vorgedrungenen slavischen Stämmen der Sorben und Wenden[1] wieder abgerungen und unter die Verwaltung kaiserlicher Beamter gestellt worden, welche den Namen: „des heiligen römischen Reiches Voigte“ (in lateinischen Urkunden Advocati) als Amtstitel führten. Mit der Erzählung der politischen Veränderungen, die im Laufe der Jahrhunderte dieses Gebiet betrafen, – wie die Voigtswürde in der Familie der „Reußen“ zu einem erblichen Lehen theils der Krone Böhmen, theils des Kaisers und Reiches wurde, wie durch Erbschaft, Tausch, Verkauf die einzelnen Gebietstheile bald zerrissen, bald wieder vereinigt wurden, wie die Nachkommen der neuen Reichsfürsten, die nun als „Voigte und Herren zu Plauen“ seit mehr als 800 Jahren sämmtlich den Namen Heinrich führten, jetzt als Fürsten Reus; älterer und jüngerer Linie zu den kleinsten Souverainen des deutschen Bundes gehören – wollen wir unsere Leser nicht ermüden und erwähnen nur, daß der jetzige voigtländische Kreis des Königreichs Sachsen erst durch Verpfändung und dann durch Verkauf im Jahre 1569 an das damalige Kurhaus Sachsen kam und seitdem unverändert sächsisch blieb.

Diesen Kreis, der bei der neuern polnischen Eintheilung Sachsens zur Zwickauer Kreisdirection geschlagen wurde, aber neben manchen ihm belassenen Sondereinrichtungen, wie z. B. den besondern Kreisständen, gern den alten Namen beibehält, nennt man gegenwärtig im engeren Sinne und vorzugsweise das Voigtland, während die andern Theile des früher so genannten größeren Gebiets diese Bezeichnung fast ganz verloren haben. Dieses Voigtland, das wir hier allein im Sinne haben, erstreckt sich von den Grenzen Baierns und Böhmens nördlich und östlich bis zu den reußischen Gebieten und zum Erzgebirge, und umfaßt einen Flächeninhalt von 25 Quadratmeilen mit mehr als 100,000 Bewohnern. Das Ländchen, welches nach seiner natürlichen Beschaffenheit in das südöstliche Waldrevier und das nordwestliche Landrevier sich abtheilt, ist von den Bewohnern des fetten sächsischen Niederlandes sonst viel verschrieen und mit dem Unnamen des Sächsischen Sibiriens beehrt worden. Aber es ist in der That besser und schöner als sein Ruf, den ihm überhaupt nur der flüchtige Blick zugezogen haben mag, mit welchem es der Reisende auf der sonstigen großen Poststraße, die von Leipzig nach Nürnberg führt, zu betrachten pflegte. Zu Gunsten einiger Rittersitze wurde diese Chaussee vor ungefähr fünfzig Jahren in unzweckmäßigster Weise über die höchsten Berge und durch die ödesten Gegenden des Voigtlandes geführt, anstatt sie dem natürlichen Wege der Flußthäler folgen zu lassen, und wer bei der Stadt Reichenbach die Provinz betrat und einen Blick auf die dunkeln Wälder und die rauhen Abgründe warf, die ihm hier gerade entgegenstarrten, dem mußte die Gegend freilich den Eindruck finsterer Unwirthbarkeit machen; der erste Eindruck ist aber bei Gegenden, wie bei Menschen, immer der stärkste und bleibendste.

Jetzt, wo die Eisenbahn das Ländchen durchschneidet oder richtiger an seiner Nordwestgrenze umfährt, empfängt auch der flüchtig Reisende ein ganz anderes, ansprechenderes Bild des an Naturschönheiten keineswegs armen Hügel-Ländchens. Der Blick aus dem Fenster des Coupés schon eröffnet ihm von der Höhe der riesigen Göltzschthalbrücke die Aussicht auf ein freundliches Thal mit dem Städtchen Mylau und die mit dem alten Kaiserschlosse Sigismund’s gekrönte Höhe, dann von der fast ebenso hohen Elstertbhalbrücke bei Jocketa den Einblick in wildromantische, von der über zerstreute Felsblöcke dahin brausenden Elster belebte Thalschluchten, endlich von der Hochebene bei Reuth herab einen weiten Ueberblick über einen großen Theil des Voigtlandes mit einer Menge freundlicher Dörfer und der stattlichen fernher leuchtenden Stadt Plauen.

Wer aber erst den Wanderstab ergreift und das Elsterthal von dem zwischen dunkelbewaldeten Bergwänden auf grüne Wiesen idyllisch hingelagerten Badeort Elster an bis nach dem „Steinicht“ oder der „voigtländischen Schweiz“, einem zwischen schroffen, pittoresken Felsenwänden eine halbe Stunde lang sich hinziehenden Thale, an dessen Ende das neugebaute Städtchen Elsterberg neben seiner alten Burgruine vom Berge herab ihm entgegenwinkt, rüstig durchpilgert, – wer das enge Thal der Trieb, die bei der Elsterthalbrücke über gewaltige Felsblöcke in die Elster hereinstürzt, weiter verfolgt und die Mühe nicht scheut, durch kühle, dämmernde Waldschluchten sich hindurchzuzwängen, – wer die Pracht eines [268] duftigen Fichtenwaldes, dessen kerzengerade Stämme vom weichen, reinlichen Moosteppich gleich den Säulen eines gothischen Domes zum Himmel emporstreben und ihr dunkles Grün von dem frischen Laube weißstämmiger Birken malerisch abheben, wer die Reize saftiger, smaragdgrüner Wiesengründe, die an hellen, munter rieselnden Flüßchen und Bächen sich hinziehen, wer die Schönheit in sanften Wellenlinien sich erhebender Hügel und stiller, lauschiger, mit würzigen Kräutern und Feldblumen geschmückter Thäler zu würdigen und zu empfinden versteht, der wird das Voigtland gewiß mit zu den schöneren Gegenden des Vaterlandes zählen und mindestens der Langweiligkeit jener weiten, wenn auch fruchtbareren Flächen des sächsischen Niederlandes vorziehen, wenn es gleich mit den überwältigenden Alpenhöhen Tyrols, den reizenden Rebenhügeln der Rheinufer, den prächtigen Buchenwäldern Thüringens nicht zu prangen vermag und, wie nicht zu leugnen ist, einzelne öde und einförmige Landstriche aufzuweisen hat.

Auch die Fruchtbarkeit der gütigen Mutter Natur ist keineswegs so ärmlich und dürftig, wie der wohlhäbige Sammtbauer der Lommatzscher Pflege, der das Voigtland vielleicht nur von Hörensagen kennt, sich wohl einbilden mag. Seine Erzeugnisse beschränken sich nicht blos auf Holz, Kartoffeln (hier „Erdäpfel“) und Waldbeeren, obwohl es in diesen Artikeln gerade das Trefflichste leistet. Die Wälder freilich sind seit 30 bis 40 Jahren bedeutend gelichtet worden; doch hat das Waldrevier noch große Strecken schönen Holzes, das namentlich in den ausgedehnten Staatswaldungen, wie in den umfangreichen Gemeindewäldern der Stadt Plauen, durch rationelle Forstcultur sorgfältig gepflegt wird. Die Kartoffeln, die gegen Ende des 17. Jahrhunderts ein voigtländischer Bauer aus England zuerst nach Deutschland brachte und die deshalb lange Zeit „voigtländische Knollen“ hießen, bilden freilich leider das Hauptnahrungsmittel der ärmeren Classen, sind aber von vorzüglicher Güte. Seine Waldbeeren, die Preißelsbeeren, die Heidelbeeren und die Walderdbeeren (letztere gewöhnlich nur „schwarze“ und „rothe“ Beeren genannt) gereichen dem Voigtlande gewiß nicht zur Schande; werden sie doch zum Theil in ferne Gegenden ausgeführt, und vorzüglich die kleine, purpurne, duftige, würzige Walderdbeere ist eine Frucht, um die manche mit den edelsten Südfrüchten prangende Gegend das gute Voigtland beneiden kann. Aber auch außer diesen besonders heimischen Erzeugnissen ist das Voigtland nicht so arm an den Gaben der mütterlichen Erde. In den weiteren Thälern, den Ufern der Elster und auf den mäßigen Höhen, die sich an ihnen hinaufziehen, wogen die Roggen-, Weizen- und Rapsfelder in üppiger Pracht, und die im vorigen Herbst veranstaltete Ausstellung des voigtländischen Gartenbauvereines zeigte neben einer Fülle der herrlichsten Blumen auch die edelsten und feinsten Obstsorten, riesige Gurken, saftige Melonen und – selbst in dem berüchtigten Weinjahre 1860! – schöne blaue und grüne, wenn auch etwas harte, doch ziemlich reife Weintrauben. Unter ihrer Oberfläche birgt die Erde manche Schätze in nicht ganz unbedeutenden Eisen- und Kupferlagern, und die Göltzsch führt sogar Goldsand, der früher auch ausgewaschen wurde, ohne jedoch die Kosten zu lohnen; die Elster aber führt bekanntlich Perlenmuscheln mit schönen Perlen, deren das grüne Gewölbe zu Dresden einige von hohem Werthe besitzt. – Das Voigtland hat demnach des Schönen und Guten so Manches, und nicht unverdient ist das Heimathsgefühl, mit dem seine echten Kinder ihm in Liebe und Treue zugethan zu sein pflegen.

Ein kräftiger, biederer, offener und treuherziger, genügsamer und fleißiger Volksstamm ist es, der das Voigtland bewohnt, in seinem Wesen und Leben dem Erzgebirger, dessen Lande das höhere Waldrevier ähnelt, nahe verwandt und doch in mancher Hinsicht sehr von ihm verschieden. Mit ihm theilt der Voigtländer die Geradheit und Gutmüthigkeit des Charakters, die Genügsamkeit und Sauberkeit der Lebensweise, die Frohsinnigkeit des Gemüths und die Ausdauer in der Arbeit; aber während man bei den Bewohnern des höheren Erzgebirges, wenigstens der ärmeren Classen, häufig einem etwas gedrückten und übermäßig demüthigen Wesen begegnet, blickt der Voigtländer freier und selbstbewußter in die Welt, und kommt dem Fremden, zwar meist ohne die Förmlichkeiten der sprichwörtlich gewordenen sächsischen Höflichkeit, aber mit gastlicher Freundlichkeit offen entgegen. Auch in seiner äußern Erscheinung ist er stattlicher und kräftiger als jener, und im Allgemeinen mehr von hohem und schlankem, als von kurzem, untersetztem Wuchse. Die eigenthümliche Stammesart des Voigtlandes hat sich freilich mehr nur auf dem Lande erhalten, als in den Städten, welche fast alle bedeutende Industrieorte sind und als solche durch den fluthenden Verkehr der Neuzeit eine Menge fremder Volkselemente aus allen deutschen Gauen und selbst aus dem Auslande in sich aufgenommen haben. Der voigtländische Bauer jedoch zeigt noch in vielen Seiten seiner Erscheinung und seines Lebens die alte, hergebrachte Art. Eine eigene Volkstracht, wie z. B. der Tyroler oder der Altenburger, hat er zwar kaum noch, oder höchstens in einzelnen Stücken der Kleidung. Ueberhaupt ist es ein eigenes Ding um die Kleidung des Landvolks, welche der Städter nicht selten für uralte, herkömmliche Volkstracht ansieht, während sie doch nur alte Moden zeigt, die vor 50, 60, ja 100 Jahren die allgemeine Tracht auch der Städter waren, und sich langsam bis auf’s Land hinaus Bahn brachen, wo sie sich wieder länger fort erhielten, als in den beweglicheren Lebenskreisen der Stadt.

So sah man den älteren voigtländischen Bauer in seinem Sonntagsstaate noch vor 30 bis 40 Jahren hin und wieder mit dem Dreimaster, dem langen Rocke ohne Kragen mit tellerartigen Metallknöpfen, kurzen Beinkleidern und Schnallenschuhen prangen – einer Tracht, die in den letzten Jahrzehnten des vorigen Jahrhunderts jeder ehrsame und angesehene Bürgersmann trug; die grauen aber mochten damals in ihrem steifen, engärmeligen Corset (voigtländisch: „Karschett“) und ihrem dicken, faltigen Rocke so ziemlich als Copien unserer Urgroßmütter gelten.

So geht denn heutzutage der voigtländische Bauer des Sonntags in bürgerlicher Tracht von etwas veraltetem Schnitte, mit runter Mütze oder steifem Filzcylinder einher, und nur die Wahl bunter Stoffe und Muster zu Weste und Halstuch verräth seinen ländlichen Geschmack. Standhaft hat er aber bis jetzt das unnatürliche Zwitterkleid des Frackes von sich abgewiesen, außer wenn es die Etiquette der Residenz Einem als bäuerlichem Landtagsabgeordnelen aufgedrungen, und bleibt bei seinem langen Rocke, der nur bei der Arbeit, zumal von der Jugend, mit der kurzen Jacke vertauscht wird. Neben dieser tuchenen Festtagstracht hat er jedoch als Werkeltagskleid fast überall noch den rockartig gemachten Kittel und die Hosen aus grober blauer Leinwand beibehalten, und diese Kleidung allein mag man als die eigenthümliche bäuerliche Volkstracht des männlichen Voigtländers betrachten. – Die Bäuerinnen kleiden sich in faltige Röcke von verschiedenen Farben und Stoffen. Am beliebtesten ist noch immer der wollene sogenannte „Dresdner Rock“, meist von scharlachrother Farbe mit schmalen schwarzen oder andersfarbigen Längenstreifen. Den weiten Ausschnitt des von anderem Stoffe gemachten Mieders bedeckt züchtig das große bunte, auf der Brust über einander gelegte, auf dem Rücken dreieckig bis zur Taille herabfallende Halstuch. Dabei zeigen sich die Mädchen im Hause bei der Arbeit und Sonntags beim Tanze in den kurzen, weißen Hemdärmeln, die immer sauber und reinlich, beim Tanze sogar nicht selten mit feinen garnirten oder spitzenbefetzten Ueberärmeln bedeckt sind. Diese Tracht steht[WS 4] den frischen, kräftigen Mädchen sehr schön, weil sie ebenso natürlich wie sittsam ist und doch die Anmuth der oft schönen, schlanken Gestalten nicht verbirgt.

Schwerfälliger und überladener zeigt sich die Bäuerin, wenn sie ihren vollen Putz angelegt hat, um zur Kirche oder nach der Stadt zu gehen. Denn dann bekleidet den Oberkörper noch das dicke „Karschett“, das in jetziger Zeit mit den unschönen Bauschärmeln der Damenmode der Steif- und Reif-Aermel, wie sie vor dreißig Jahren getragen wurden, kläglich nachhinkt, und die mehreren Röcke, die dann wohl über einander angezogen und noch von der weiten Schürze fast ganz bedeckt werden, geben der Gestalt ein ziemlich plumpes Aussehen, das keineswegs der Natur zur Last zu legen ist. Zeichnet sich diese Tracht vor der ländlichen Kleidung mancher andern Gegenden nicht eben besonders aus, so ist dagegen die Kopfbedeckung der Frauen dem Voigtlande ganz eigenthümlich, nämlich die „Haube“, eine Art Mütze von Pappe in Form eines abgestumpften Kegels, mit schwarzem Zeuge überzogen und einem Tuche, das vorn eine Schleife bildet, umwunden. Getragen wird sie so, daß sie nicht senkrecht auf dem Kopfe sitzt, sondern nach Art der im Nacken liegenden modernen Damenhüte mehr wagerecht vom Hinterkopfe hinaussteht; sie wird unter dem Kinne mit Bändern festgebunden und ist hinten mit schwarzseidenen Schleifen versehen, deren lange Enden bis auf den Rücken herabfallen; ihre Hauptzierde aber ist der „Haubenfleck“, d. i. der besondere Ueberzug des Deckels, der bei älteren Frauen oft nur von dunklem Sammt, bei jüngeren aber von buntem Stoffe in den verschiedensten

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Eine Voigtländerin am Stickrahmen.
Nach der Natur gezeichnet von G. Schweißinger.

Mustern gemacht und meistens mit goldenen und silbernen Flittern, Blumen u. dergl. verziert ist. Diese Haube, die bis auf die neueste Zeit herab selbst die Bürgerfrauen des Handwerkerstandes trugen, wird jetzt auch auf dem Lande von dem jüngeren Geschlechte meistens nur noch für die große Toilette bei festlichen Gelegenheiten aufgespart; sonst wird sie in manchen Gegenden fast ganz durch das einfachere „Kopftuch“ ersetzt, ein gewöhnliches buntes Tuch,[2] das die jungen Frauen und Mädchen, wie sich der fremde Badegast von Elsters hübschen Brunnenschöpferinnen mit Vergnügen erinnern wird, auf gar malerische Art und nicht ohne Koketterie um den Kopf zu schlingen wissen, an dessen verschiedenartig gebundenen Schleifen der Kundige häufig sogar zu erkennen vermag, aus welcher Gegend des Voigtlandes das ihm auf der Straße begegnende frische und freundliche Bauermädchen herstammt.

(Schluß folgt.)


  1. Viele Ortsnamen der Gegend, wie: Chrieschwitz, Möschwitz, Planschwitz etc. geben noch Zeugniß von ihrem slavischen Ursprunge. Selbst der Name der Stadt Plauen, obwohl mehr deutschen Klanges, ist eigentlich slavisch; in den ältesten Urkunden heißt der Ort: „Stadt an der Plawe“, welches letztere Wort eine weite Thalebene bedeutet.
  2. Ein Trachtenbild, dessen nähere Erklärung die zweite Abtheilung unserer Schilderung bringt, geben wir in obiger Abbildung, die von dem Künstler treu nach der Natur im Bad Elster aufgenommen wurde. D. Red.




[270]

Ein Deutscher

Roman aus der amerikanischen Gesellschaft.
Von Otto Ruppius.
(Fortsetzung.)


„Ich wollte nur, Miß Harriet, ich könnte Ihr Vertrauen im vollsten Maße verdienen!“ sagte Reichardt mit aufwallender Empfindung.

„Sie sollen jedenfalls Gelegenheit dafür erhalten – aber ziehen Sie die gleichgültige Conversationsmiene wieder auf, überall um uns her gehen Leute, und wir kennen uns ja kaum!“ Sie warf leicht einen Blick um sich und ging einige Schritte schweigend weiter. „Sie sollen jedenfalls Gelegenheit erhalten,“ nahm sie dann ihren früheren Satz wieder auf, „Sie wissen noch nicht, was ein mittheilungsbedürftiges Mädchenherz zu thun im Stande ist – ich wußte’s wohl selbst bis jetzt noch nicht. Ich habe außer meinem Vater hier eigentlich Niemand, mit dem ich ein vertrauliches Wort reden könnte. Ich bin schon von früher Jugend an im Osten zusammen mit Margaret Frost erzogen worden, und in den zwei Jahren, seitdem ich hierher zurückgekehrt bin, hat mich Alles nur als wildes Mädchen, das von seinem Vater und Lehrern gründlich verzogen worden ist, betrachtet – eine Andere hätte auch wohl kaum den Geniestreich unternehmen dürfen, Sie ohne Weiteres hierher zu senden. Und doch fühlte ich schon seit Monaten, daß ich nicht länger so allein hier stehen dürfe, wenn ich nicht zuletzt den Muth verlieren und, von den mir zunächst Stehenden verlassen, der Speculation in den Rachen fallen sollte. Sie verstehen das jetzt noch nicht, aber Sie sollen morgen schon klarer blicken. Morgen Abend werden einige Freunde bei uns sein – was man in der großen Welt Freunde nennt. Ein ganz respectabler Theil davon gehört zu meiner Menagerie, und wenn Sie mich selbst mit Schlangen und derartigem Gethier ganz freundlich verkehren sehen sollten, so denken Sie nur daran, daß es mir Spaß macht, die Schleicher sich selber betrügen zu lassen. Sie als Wundertier werden natürlich nicht fehlen und die Herrschaften höchlichst amüsiren, am Piano oder mit Ihren Erzählungen, die in Ihrem Englisch so wunderhübsch klingen. Es ist das, genau betrachtet, auch eine Art Niggergeschäft, ein Merkchen höher als das Fiedeln zum Tanz, aber ich weiß, mir zu Liebe unterziehen Sie sich dessen einmal. Es wird Ihrer Stellung hier mit einem Male die rechte Begründung geben, und ich werde Ihnen dabei mein lebendiges Bilderbuch so aufblättern können, daß Sie kaum noch viel zu fragen haben werden! Dort sehe ich aber meinen Vater,“ fuhr sie aufblickend fort, als sich auf der andern Seite der Straße ein plaudernder, lachender Trupp Kirchenbesucher bemerkbar machte. „Mr. Reichardt!“ sie neigte sich steif und sprang dann leicht über die Straße, sich, ohne umzublicken, mit der Gesellschaft vereinigend; der junge Deutsche aber, als er sich bemerkt sah, zog tief den Hut und schlug dann den Rückweg nach seinem Hotel ein.

Es war am nächsten Abend, als Reichardt den Weg nach Mr. Burton’s Wohnung verfolgte. Er hatte die einfache Einladung erhalten, den Abend mit der Familie und einigen Freunden zuzubringen, und hatte sich von Bob eine Menge der ersten Namen in der Stadt sagen lassen, sie sorgsam aufnotirend und das Gedächtniß daran gewöhnend, um endlich die Möglichkeit zu erhalten, seine neuen Bekanntschaften zu cultiviren. Trotz der Freundlichkeit aber, welche in der Einladung lag, konnte er sich einer Art unangenehmer Spannung auf seinem Wege nicht erwehren. Er hatte, um sich keines Vorwurfs von Harriet schuldig zu machen, deren Anweisung befolgt, und am Morgen dem Prediger einen neuen Besuch gemacht, ihn bittend, die Entscheidung über sein Engagement möglichst zu beschleunigen. Mr. Ellis aber hatte unter vielen Complimenten über des jungen Mannes Fähigkeiten die Achseln gezuckt und erklärt, daß in der Schnelle, wie dieser es zu wünschen scheine, kaum eine Entscheidung herbeigeführt werden könne, daß er der Einstimmigkeit der Kirchenmitglieder für eine bedeutendere Neuausgabe, trotz des Beifalls, welcher dem Orgelspiele von allen Seiten gezollt worden, doch nicht sicher sei, daß er zwar versuchen werde, heute noch mit einzelnen Männern von Einfluß, die er bei Mr. Burton zu sehen gedenke, zu sprechen, daß sich aber eine solche Angelegenheit, die Allen sich ganz unerwartet aufgedrängt, durchaus nicht über das Knie brechen lasse. Fast hatte aber das ganze Wesen des Geistlichen den jungen Mann berührt; als liege etwas Anderes als eine einfache Ungewißheit hinter den Worten, als mache sich bereits eine verborgene Opposition gegen ihn geltend, die er, je wesenloser sie sich ihm entgegenstelle, um so weniger brechen könne. Er hatte an das erste Begegnen des Mr. Young, der sich durch ihn von der Orgel verdrängt sah, an dessen mißtrauisches Wesen in Bezug auf sein Verhältniß zu Harriet denken müssen, und in Secundenschnelle hatte sich ihm die Ueberzeugung aufgedrungen, daß, wenn sich ihm nicht auf den ersten Anlauf hier eine Existenz biete, dies später gar nicht möglich sein werde. Er besaß noch so viel Geld, um eine kurze Zeit leben und die Reise nach Nashville machen zu können, von welchem Bob als einem „großen Platze“ viel gesprochen, der ihm also wohl Gelegenheit zum Musikunterricht oder einer ähnlichen Beschäftigung bieten konnte; und so hatte er in gleicher Weise wie der Geistliche die Achseln gezuckt und diesem erklärt, wie er zwar äußerst glücklich sein würde, nicht nur die Orgel unter sich zu haben, sondern auch das Chor, das bis jetzt kaum noch so zu nennen, für einen würdigen Kirchengesang heranzubilden, daß er aber nicht im Stande sei, sich länger als den nächsten Tag auf eine ungewisse Hoffnung hin im Orte aufzuhalten. Der Prediger hatte, etwas überrascht von der Leichtigkeit, mit welcher Reichardt seine Abreise behandelt, geschienen, ihm aber versprochen, das Mögliche zu thun, um die Angelegenheit zu einem raschen Schlusse zu bringen – und jetzt ging der junge Deutsche dem Orte zu, wo jedenfalls aus den einzelnen stillen Verhandlungen sich sein augenblickliches Schicksal entwickelte; daß aber Harriet am wenigsten dazu gezogen werden würde, konnte er sich selbst sagen.

Burton’s Haus lag dicht außerhalb der Stadt auf einem Hügel – in den Parkanlagen, durch welche sich der breite Fahrweg und die geschlängelten Kiespfade zogen, wie in dem geschmackvollen Aeußern des großen Wohngebäudes den Reichthum des Besitzers andeutend, und den Ankommenden überlief ein eigenthümliches Gefühl, wenn er an sein Verhältniß zu Harriet dachte, welche jedenfalls einmal die Haupterbin des reichen Besitzthums wurde.

Zwei Doppelparlors mit weiten Flügelthüren öffneten sich zu beiden Seiten der Vorhalle und schufen so einen mit dem ganzen Comfort des Südens versehenen Raum, in welchem sich bei Reichardt’s Eintritt bereits eine zahlreiche Gesellschaft zwanglos bewegte. Ein bis zur weißen Binde vollkommen salonfähig gekleideter Schwarzer schien an dem Haupteingange den Ceremonienmeister zu machen und wies mit einer tiefen Verbeugung den jungen Mann nach dem hintern Theile der bereits hell erleuchteten Räume, wo er Mr. Burton treffen werde; dieser schien aber den Eintretenden schon bemerkt zu haben und kam ihm auf halbem Wege entgegen. „Kommen Sie mit mir, Sir,“ sagte er, den Arm des Deutschen unter den seinigen fassend, „Sie sind fremd unter uns, und ich werde Ihre nächste Vorstellung übernehmen!“

Auf einem reichverzierten Divan, welchem Beide entgegengingen, saß eine bleiche, elegante Frau, dem Anscheine nach im Beginn der dreißiger Jahre. Aber in einigem Contraste mit den ruhigen Zügen leuchtete das dunkle, große Auge den Herantretenden entgegen. Neben ihr saß Harriet, den blitzenden Muthwillen in dem belebten Gesichte. Reichardt aber wollte seinen Augen nicht trauen, als er an ihrer Seite, bequem auf einen Stuhl hingeworfen, Young’s Gestalt erblickte, der soeben im interessantesten Gespräche gestört zu werden schien.

„Lassen Sie mich Sie meiner Frau zuführen!“ sagte der Hausherr. „Mr. Reichardt, Liebe! den Du freilich in seinem wahren Glanze, wie er ihn gestern in unserer Kirche entfaltet hat, nicht sehen wirst; hoffentlich erhalten wir aber heute Abend von ihm ein Pröbchen seiner Kunstfertigkeit. – Meine Tochter hier kennen Sie ja wohl bereits, Sir!“ wandte er sich wieder an den jungen Mann, der mit einer Verbeugung leicht die Hand der Dame berührte. Reichardt sah Young’s Augen wie im finstern Forschen auf sich gerichtet, Harriet erhob sich steif, brach aber plötzlich in helles Lachen aus. „Entschuldigung, Sir, aber Sie kommen gerade recht,“ rief sie lustig, „Mr. Young will mir beweisen, daß die tiefste Zuneigung sich in der tiefsten Unterwerfung ausspreche, und ich [271] finde doch den Satz, von einem Manne ausgesprochen, so komisch, daß ich ihn gern noch einmal hören möchte!“

„Harriet!“ rief die Dame vom Hause, einen verweisenden Blick nach ihr und einen andern voll halber Besorgniß nach dem jungen Amerikaner werfend.

„Well, es ist wenigstens ein Satz, der nicht Jedermanns Geschmack ist!“ lachte Burton. „Da ist eine Gelegenheit, die Sie gleich mitten in’s Gefecht bringt, Sir,“ wandte er sich an Reichardt, „schonen Sie nur nicht, wenn sie nicht selbst die scharfe Waffe fühlen wollen!“ Mit einem freundlichen Nicken und einem launigen Seitenblick nach seiner Tochter wandte er sich davon.

„Es giebt Sätze, Miß, die in dieser abstracten Fassung kaum zu beurtheilen sind!“ sagte Reichardt, eine ernste Miene annehmend, während er doch nicht hindern konnte, daß ein stiller Humor, welcher bei Young’s Anblick mit der Erinnerung an die „Eidechse“ in ihm erwachte, sich durch ein leichtes Zucken um seinen Mund bemerkbar machte; „wenn mir der specielle Fall vorgelegt würde –“

„Sie haben sicher Recht, Sir, und man überläßt derartige Fragen wohl am besten Jedes eigenem Geschmacke,“ unterbrach ihn Mistreß Burton leichthin, obgleich eine leise Falte, welche sich zwischen ihren Augen zeigte, ein Mißvergnügen über die ganze Scene andeutete; schon im nächsten Augenblicke indessen klärte sich ihr Gesicht, das sich einem Neuankommenden zuwandte, auf, während ein leichtes Roth in ihre Wangen stieg und wieder ging; Reichardt trat zur Seite und erblickte einen halb geistlich, halb weltlich gekleideten Mann, welcher soeben mit einer Verbeugung die Hand der Lady faßte und sie, während er zu der Dasitzenden sprach, in vertraulicher Weise festhielt. Durch des jungen Deutschen Kopf aber schoß es, als müsse er dieses volle, wohlgeordnete braune Haar in Verbindung mit dieser eigenthümlichen Biegung des Nackens und diesem langen Rocke schon irgendwo gesehen haben, und plötzlich stand die sonderbare Scene, welche er in einem der Hotelzimmer in Saratoga am Ballabende belauscht, vor ihm. Sie war ihm unter den mannigfachen Sorgen, welche während der letzten Tage seine Gedanken beansprucht, fast gänzlich aus dem Gedächtniß geschwunden, jetzt indessen hätte er einen Eid darauf ablegen mögen, daß er dieselbe Persönlichkeit wie damals vor sich habe. Mit einer leichten Neigung hatte sich der Geistliche nach Harriet und Young gewandt und hob jetzt das Auge nach Reichardt, der ihn wahrscheinlich mehr forschend ansah, als es zu dem gewöhnlichen Gesellschaftstone passen wollte, denn wie in fragender Befremdung blieb sein Blick in dem des jungen Mannes hängen.

„Entschuldigung, Sir,“ begann Reichardt, welcher seinen Fehler schnell erkannte, „ich frug mich nur so eben, ob ich nicht das Vergnügen gehabt, Sie in Saratoga zu sehen.“

„Ich war allerdings dort,“ erwiderte der Andere mit leichtem Kopfneigen, „ohne mich jedoch entsinnen zu können, Ihren Zügen, Sir, dort begegnet zu sein.“

„Es war allerdings nur ein halber Tag, welchen ich mich aufhielt, und auch diesen nur mehr hinter der Coulisse!“ erwiderte er, ohne den Ausdruck von Humor, welchen seine Antwort in ihm selbst erregte, ganz unterdrücken zu können.

„Der Gentleman, welcher die Orgel in der Episkopalkirche spielen wird – unser ehrwürdiger Mr. Curry von der Methodistenkirche!“ beeilte sich die Frau vom Hause Beide einander vorzustellen. Curry hielt ihm steif die Hand entgegen, ohne dabei die frühere Miene von Befremdung ganz aufzugeben, und nahm dann zur Seite der Mrs. Burton auf einem Stuhle Platz.

„Sind schon bestimmte Arrangements für Ihr Verbleiben an unserer Kirche gemacht, Sir?“ frug Young, sich an den Deutschen wendend; und dieser sah aufblickend einen kurzen hämischen Zug um des Fragers Mund zucken, der so genau mit seinen gehabten Befürchtungen übereinstimmte, daß er um die Deutung desselben nicht einen Augenblick verlegen war.

„Glaube kaum, Sir,“ erwiderte er leicht, „jedenfalls habe ich, wenn kein Uebereinkommen zu Stande kommen sollte, hier einige höchst angenehme Tage verlebt, und ich bleibe dann nahe genug, um meine hiesigen Bekanntschaften nicht ganz aufgeben zu müssen. Ich gedenke schon morgen eine andere Stellung in Nashville anzunehmen, falls sich bis dahin hier nichts entscheidet – “

„O, bei der Frage fällt mir etwas total Vergessenes ein,“ unterbrach ihn Harriet, sich erhebend, „darf ich Sie wohl bitten, Mr. Reichardt, mich auf einige Augenblicke zu meinem Vater zu begleiten? Die Herren werden entschuldigen – ich bin schnell wieder hier, Mutter!“ wandte sie sich zurück, und im nächsten Augenblick fand sich Reichardt an ihrer Seite, der nächsten offenen Thür zuschreitend.

„Ich begehe die größte Thorheit, Sie zu meiner Begleitung aufzufordern,“ sagte sie, als Beide das nächste Zimmer erreichten, in welchem das Reden und Lachen der umher stehenden und sitzenden Gruppen jedes Einzelngespräch verdeckten, „ich sollte Ihrethalber allen Schein einer nähern Bekanntschaft zwischen uns meiden, bis Sie Ihren Boden unter den Füßen haben; aber als die schwarze Schlange sich zu uns setzte und ich so recht zwischen ihr und der Eidechse saß, überkam es mich fast wie Angst – und dazu Ihr sonderbares Gesicht! Kennen Sie den Mr. Curry? ich habe etwas in Ihrem Auge gelesen, das Anderes erzählte, als Sie gestanden, und mir liegt an Allem, was den Mann betrifft, mehr, als ich Ihnen jetzt sagen kann. Sprechen Sie, Sir, damit ich rasch zu einem andern Punkte kommen kann – wenn der Tanz begonnen hat, werde ich kaum ein unbehorchtes Wort mit Ihnen reden können.“

„Ich weiß kaum, Miß Harriet, was ich Ihnen erwidern soll,“ entgegnen Reichardt, während sie zwischen den Gruppen promenirten, in augenblicklicher Verlegenheit, „ich habe in Saratoga durch einen gewöhnlichen Zufall eine Art geistlicher Zusprache des Mannes belauscht, die mir ganz wunderbar erschien, obgleich sie vielleicht zu den methodistischen Gebräuchen, die ich nicht kenne, gehören mag –“

„Sie wollen nicht offen reden, Sir, ich höre es!“ unterbrach sie ihn, wie ungeduldig. „Sie dürfen aber nicht zurückhalten, Sie können nicht wissen, wie viel Wichtiges in dem, was Sie belauscht, für mich liegen mag. Ich werde Ihnen indessen in voller Offenheit vorangehen – lassen Sie uns ein anderes Zimmer aufsuchen, in dem wir weniger beobachtet sind!“

Sie führte ihn durch die offenen belebten Räume nach einem der Hinterparlors; beim Durchschreiten der Vorhalle aber kam ihnen der alte Burton in Begleitung einer kleinen Anzahl seiner männlichen Gäste entgegen.

„Mr. Reichardt glaubt nicht, Vater, daß wir im Hinterwalde auch etwas Rechtes von Musikalien haben können, und so muß ich jedenfalls unsere Ehre retten!“ rief sie ihm lachend zu.

„Verstehe wenig von der Sache selbst, Sir, und ich will also auch ihre Wichtigkeit nicht bestreiten,“ wandte sich der Angeredete launig an den jungen Mann, „sonst hätte ich Sie gebeten, sich uns zu einer anderen Inspection anzuschließen. Indessen sollen Sie nicht darum komnen, wir sehen uns nachher schon wieder!“ Er schritt, von seinen Begleitern gefolgt, der Treppe zum obern Stock zu, und das Mädchen wandte sich nach einem offenen, aber jetzt gänzlich verlassenen Zimmer, dessen Mitte ein reiches Piano einnahm.

„Hier blättern Sie,“ sagte sie, eines der dortliegenden gebundenen Notenbücher vor ihm öffnend, „ich denke, die Beschäftigung wird für jeden Beobachter genügen und uns frei von Gesellschaft halten!“ Sie setzte sich, unweit von ihm, nachlässig auf den Pianosessel, als verfolge sie eine Prüfung seinerseits, und begann mit vorsichtig gemäßigtem Tone wieder: „Ich habe Ihnen gesagt, daß ich erst vor zwei Jahren hierher wieder zurückkehrte; das war zu der Zeit, als Papa zum zweiten Male geheirathet hatte, und ich fand eine neue Mutter, an die ich mich anschloß, so wenig wir auch harmonirten, weil ich sah, wie sehr Vater es wünschte. Es ging Alles gut, bis vor sechs Monaten von dem methodistischen Prediger eine neue Glaubenserweckung veranstaltet wurde; das Revival währte drei Tage, und bei Vielen soll der Eindruck ein kaum zu schildernder gewesen sein, darunter auch die Schwester des Mr. Young, welche in Convulsionen und Bewußtlosigkeit gefallen ist, daß sie sich heute von den Folgen noch nicht ganz erholt zu haben scheint. Auch Mutter, welche zur Gemeinde gehört, wurde von da ab eifrigeres Kirchenmitglied als je; aber erst zwei Monate darauf begann ich einen persönlichen Einfluß des Mr. Curry auf sie wahrzunehmen. Seine Privatbesuche in unserm Hause wurden häufiger und fanden meist während Pa’s Abwesenheit statt; plötzlich wird der Mr. Young, der noch niemals in unsern Kreisen gesehen worden, hier durch Mr. Curry eingeführt und wird nach Kurzem ein Günstling der Mutter, als habe er versprochen, seine Seele auf methodistische Weise retten zu lassen. Ich hatte nichts wider ihn, denn er half [272] mir zum Zeitvertreibe, und bisweilen thaten mir meine eigenen Tollheiten leid, wenn ich die Geduld sah, mit welcher er sie ertrug; erst als wir nach unserer Abreise von Saratoga einige Tage in New-York verweilten, sollte ich merken, wohin Alles zielte. Mutter hatte den Ausflug, welchen ich mit Frosts unternommen, nicht mitgemacht und war zwei Tage länger mit einer andern Familie in Saratoga geblieben; am Tage darauf nun, nachdem wir zusammengetroffen, fragt sie mich in Pa’s Gegenwart, ob Mr. Young sich in Saratoga gegen mich erklärt habe; so viel sie wisse, sei er doch zu keinem andern Zweck uns nachgereist – ich sehe meinen Vater an, als würde mir ein Räthsel aufgegeben; der aber lacht nur und sagt, er habe noch nie meinen Neigungen viel entgegensetzen können und werde es auch jetzt nicht thun; übrigens sei Young ein gewürfelter Geschäftsmann und ein solider junger Mann, gegen den sich kaum etwas sagen lasse. Als ich aber verwundert erwiderte, daß mir ein derartiger Gedanke noch nicht einmal in den Kopf gekommen sei, geht er lachend zur Thür hinaus und sagt, ich möge das mit der Mutter und dem jungen Gentleman ausmachen. Die Mutter aber erklärt mir, sehr ernst werdend, daß keine achtungswerthe junge Lady einem jungen Manne so viel Ermuthigung geben würde, wie ich es gethan, wenn sie die erregten Hoffnungen nicht auch zu erfüllen dächte. Mr. Young habe bereits ihrerseits die Zustimmung zu seinen Absichten erhalten, und sie hoffe, ich werde sie nicht zum Spielzeug meiner Launen machen wollen. Ich hatte also Ermuthigung gegeben und Hoffnungen erregt, während ich doch wußte, daß ich als Mann keinen Tag unter einer solchen Behandlung hätte ausdauern können!“ fuhr die Erzählende fort und sandte einen scharf beobachtenden Blick durch die offene Thür. „Ich hätte ihr gern ohne Weiteres in’s Gesicht gelacht, wenn mir nicht wie ein Blitz die Erkenntniß gekommen wäre, daß dieselbe Redensart jedenfalls bei meinem Vater gebraucht worden war, um ihn an eine Zustimmung meinerseits glauben zu machen, und daß jede Zurückweisung des Heirathsprojects nur wieder als eine meiner Launen hingestellt werden würde; daß ich sicherlich einem wohldurchdachten Plane gegenüber stand, welchem der Einfluß des methodistischen Predigers zu Grunde lag. Was dem Manne an dieser Heirath liegen konnte, wußte ich nicht, aber ich war meiner Sache vollständig sicher.

„Ich hätte bei alledem die Angelegenheit nur fest und bestimmt von mir zu weisen brauchen – ich besitze das Vermögen meiner verstorbenen Mutter und bin selbstständig, sobald ich es nur will; aber ich mochte meinem Vater nicht die Unruhe eines innern häuslichen Kampfes machen, wie er sicher hervorgerufen worden wäre. Ich weiß, daß seine größte Genugthuung in der Harmonie zwischen mir und seiner Frau liegt und daß ich gerade hierin am meisten seine Liebe zu mir vergelten kann; zudem aber beherrscht ihn Mrs. Burton’s Einfluß mehr, als es wohl sein dürfte – und so stand es in mir fest, erst im äußersten Falle zu äußersten Mitteln zu greifen. Ich wandte Mrs. Burton lachend den Rücken und sagte ihr, daß ich noch kein Wort von Mr. Young über seine Absichten gehört, daß sie selbst auch wohl unter einer Täuschung lebe, denn gewöhnlich spräche ein junger Mann zu dem Mädchen zuerst; und behandelte von da an die Sache als einen lustigen Scherz, selbst als Margaret’s Bruder, mit dem ich halb auferzogen worden, mir in dem Tone eines unglücklichen Liebhabers gratulirte. Ich mochte nicht einmal Margaret mein Herz öffnen, da ich noch nirgends den Weg, welchen ich zu gehen hatte, klar vor mir sah. Erst auf der Reise entwickelten sich einzelne Gedanken klarer in mir. Young’s ganzer Reichthum liegt, so viel ich gehört, in seinem kaum bedeutenden Geschäfte, und so war es jedenfalls nur die „gute Partie“, welche er in mir im Auge hatte – unverständlich aber in jeder Beziehung war mir die enge Freundschaft zwischen ihm und dem so viel ältern Methodistenprediger, sowie dessen sonderbarer Einfluß auf Mrs. Burton, der in dieser rücksichtslosen Wirkung, wie er sich jetzt auf mich zu erstrecken drohte, sich nicht durch die gewöhnliche Kirchenverbindung erklären ließ; und je mehr ich mir verschiedene, bisher unbeachtete Einzelheiten in meine Erinnerung zurückrief, je mehr wurde es mir, als müßten Beziehungen zwischen diesen Dreien existiren, wie sie nicht dem gewöhnlichen Leben entspringen. Zu Zeiten wollte ich mich wohl deshalb eine Närrin heißen, aber je klarer ich die Verhältnisse vor mich zu stellen bestrebte, je bestimmter kehrten dieselben Gedanken zurück. Wäre ich selbst Schlange genug, um im Verborgenen zu lauern und zu kriechen, so könnte es mir vielleicht gelingen, einen Anknüpfungspunkt für meine Vermuthungen zu entdecken –“ sie hielt inne, als sei sie schon im Eifer ihrer Rede zu weit gegangen. Reichardt, der fortdauernd mit anscheinendem Interesse in den Noten geblättert, sah jetzt halb auf und ward von dem bleichen Gesichte des Mädchens fast betroffen; sie aber horchte nach dem Geräusch der versammelten Menge hinüber und fuhr dann fort: „Ich habe eine Ahnung, daß ich heute durch Ueberrumpelung gefangen werden soll. Sie tragen durch Ihre Unterbrechung wahrscheinlich die einzige Schuld, daß Young nicht zu einer Erklärung gegen mich kommen konnte. Noch mehr als Ihr Dazwischentritt aber berührte mich Ihr sonderbarer Blick und das Wesen, mit welchem Sie dem Prediger gegenübertraten. Ich habe keine Bezeichnung dafür, mir war es aber, als gäben Sie damit allem dem klaren Ausdruck, was ich kaum zur Vorstellung in mir werden lassen möchte –“

Zwei Geigen und ein Tambourin, welche die Einleitungs-Takte zu einer Quadrille begannen, unterbrachen die Sprechende, und eine plötzliche rauschende Bewegung kam unter die Menge in den anstoßenden Zimmern.

„Jetzt werde ich vermißt werden!“ rief Harriet aufspringend, „ich werde aber sicher die Gelegenheit herbeiführen, Sie heute noch weiter zu sprechen – bleiben Sie jetzt noch eine kurze Zeit hier!“ Mit einer leichten Wendung hatte sie die Thür erreicht und verschwand in der Vorhalle.

(Fortsetzung folgt.)

Allgemeiner Briefkasten.

Nachs in Deggendorf. Als Verfertiger derartiger Maschinen können wir Ihnen den Mechaniker Schimmel in Leipzig (Mühlgasse) empfehlen.

L. H. B. in R. Ganz unbrauchbar. Haben Sie aber nicht einmal den Muth, Ihre – übrigens sehr unschuldige – Ueberzeugung zu vertreten?

W. Friedrich in Vincennes (State of Indiana). Das ist nicht die rechte Weise, amerikanische Zustände zu beleuchten. Ueberlassen wir derartige Schilderungen den Junker-Blättern Sachsens und Preußens.

L. R. in T. Die in Frankfurt nachgedruckte Skizze: „Der verschmähte Kuß“ von Louise Ernesti ist keine Novelle, sondern nur eine sehr reizend erzählte Anekdote aus dem Leben des alten Marschall Vorwärts.

O. R. in St. Louis. Wenn der Verleger der in New-York erscheinenden Wochenschrift „New-York Ledger“ bei erreichter Auflage von 100,000 Exemplaren fünf Kanonen auf den City-Hall Platz auffahren und durch 100 Schüsse der Welt das Ereignitz kundgeben ließ, so mag das als echt amerikanische Reklame dort ganz gut hinpassen; wir hier – obwohl wir bereits verschiedene Tausende mehr drucken – müßten doch, selbst wenn uns die Erlaubniß nicht verweigert würde, für dergleichen oder ähnliche Ostentationen sehr danken. Uebrigens freundlichen Gruß aus dem trotz alledem und alledem schönen Vaterlande.

S. K. in L. In der nächsten Nummer wird Ihr Wunsch erfüllt werden. Wir bringen eine Reihe Erinnerungen an Rietschel von B. Auerbach.

E. K. in R. Godin ist allerdings eine Dame.

O. B. in Rhbn. So schön auch Ihre Idee ist, so dürften sich der Ausführung doch unüberwindbare Schwierigkeiten entgegenstellen. Wir bitten über den gesandten 1 Thaler zu verfügen.

S. F. in D. Bleiben Sie Ihrer Ueberzeugung treu wie bisher, aber lassen Sie auch den alten Streit zwischen Demokraten und Constitutionellen (Gothaer) ruhen. Welche von beiden Parteien sich edler und anständiger benommen, wollen wir heute nicht untersuchen. Die gute Sache kann durch dergleichen Reibereien nicht gefordert werden, und unsere Feinde allein ziehen daraus einen Vortheil. Was die Angriffe der dortigen Zeitung anlangt, so sind sie einer Erwiderung unwerth. Guizot’s Ausspruch zu widerlegen, dürfte sehr leicht sein. Die Demokratie ist keine Gewaltthätigkeit, die mit Kartätschen unmöglich zu machen ist, sie ist eine Idee, der man, wenn man sie bekämpfen will, eine größere, schönere Idee entgegenstemmen muß. Es ist eine Lüge, wenn er sagt: sie wolle allein herrschen, sie dulde keine andere Herrschaft neben sich. Die Demokratie erkennt, wie kein anderes politisches System, alles wahrhaft Edle und Schöne an, aber in ihrem unaufhaltsamen Vorwärtsschreiten duldet sie neben und vor sich allerdings keine Lüge, keine Unnatur, kein halbes Wesen und Schwanken. Sie kennt ihr Ziel, und ihre gezogenen Kanonen sind ihre Ideen. Wie traurig muß es aber mit der Sache dieser sogenannten deutschen Patrioten stehen, wenn sie zur Bekämpfung einer deutschen Bewegung sich die Beweisgründe dagegen von einem Franzosen borgen müssen!

Jul. Houdret in London, Cannon Street West. Für das Studium der Asiatischen Sprachen können wir Ihnen empfehlen: J. v. Klaproth, Asia polyglotta etc. – Adr. Balbi, Atlas ethnographique. – Cirbicd, Grammaire Arménienne. – Franz Bopp: Conjugationsystem der Sanskrit-Sprache. – Franz Bopp, Grammatik der Sanskrit-Sprache. – Benfey, Sanskrit-Grammatik. – K. Fr. Neumann, Asiatische Studien. – Wilh. Schott, Versuch über die tatarischen Sprachen. De Frey, Grammaire Arabe. – Kennedy, Researches on the affinity of the princ. ling. of Asia and Europe. – Ladisl. Julien, die chinesische Sprache.



Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage mehrfach: Nohaut
  2. Vorlage: Gutzow’s
  3. Vorlage: Chapin
  4. Vorlage: läßt