Die Gartenlaube (1861)/Heft 18

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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ferdinand Stolle
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Entstehungsdatum: 1861
Erscheinungsdatum: 1861
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Ein Deutscher

Roman aus der amerikanischen Gesellschaft.
Von Otto Ruppius.
(Fortsetzung.)

Reichardt begann wieder mechanisch in dem Notenbuche zu blättern – er war in einer so sonderbar erregten Stimmung, wie er sie noch kaum gekannt. Der Anfang eines Familien-Drama’s stand vor ihm – er zweifelte keinen Augenblick, daß Harriet’s Stiefmutter es gewesen, welche er in Gesellschaft des methodistischen Tartüffe belauscht, daß die „brünstige Liebe“, mit welcher sie den „Bruderkuß“ des Pfaffen erwidern sollte, sich bei ihr eingefunden; er zweifelte auch nicht, daß Harriet’s scheue Andeutungen sich nur auf ein derartiges Verhältniß bezogen. Das Mädchen aber hatte ihn mit einem so völligen Aufgeben aller Schranken oder Rücksichten zu ihrem Vertrauten gemacht, als gäbe es überhaupt kaum noch etwas zwischen ihnen zu verbergen, als sei es nur natürlich, daß er ihre Interessen zu den seinigen mache, und ihr ganzes Wesen, mit welchem sie sich ihm geistig an’s Herz zu werfen schien, hatte ihn tiefer aufgeregt, als ein körperliches Hingeben es nur vermocht hätte.

Aus den übrigen Räumen klang die Negermusik und das Rauschen der tanzenden Paare; Reichardt fuhr aber aus dem halben Träumen, in welches er verfallen war, erst auf, als sich eine Hand auf seine Schulter legte. „Sie tanzen nicht, Sir?“ hörte er des alten Burton Stimme, „very well“, so kommen Sie für ein paar Minuten mit mir. Wir müssen heute noch dafür sorgen, daß Sie einen Boden unter sich bekommen, wie ich merke, und ich denke, wir schaffen es fertig – Harriet gäb’ mir sonst in einem Jahre kein freundliches Gesicht wieder.“ Er hatte leicht den Arm des jungen Mannes ergriffen und leitete ihn nach dem obern Stock hinauf, wo sich ein Zimmer vor ihnen öffnete, das augenscheinlich zum Rückzugsquartier für die älteren männlichen Gäste eingerichtet war. Der Mitteltisch zeigte Flaschen mit Spiritussen nebst Gläsern und Cigarren, während auf einzelnen Nebentischen Kartenpackete zum Gebrauch bereit lagen; jetzt indessen schien die kleine Anzahl von Männern, welche zerstreut auf Divans und Stühlen umher saß, in einem angelegentlichen Gespräche begriffen zu sein.

„Ich sehe, beim Teufel, keinen Grund, was die Einwendungen eigentlich sollen,“ hörte der junge Mann beim Eintritt eine Stimme, und erkannte in dem leichten Cigarrenrauche lauter bereits vor Augen gehabte Gesichter. „Mr. Reichardt, Gentlemen!“ rief der Hausherr, seinen Begleiter in sichtlich guter Laune vorstellend. „Well, Sir,“ rief die frühere Stimme, „nehmen Sie ein Glas und setzen Sie sich her. Wir suchten eben zu errathen, wen Sie in den zwei Tagen Ihrer Anwesenheit schon auf den Fuß getreten haben. Sie entsinnen sich vielleicht, daß ich Sie am Sonnabend mit dem Gentleman dort am Fenster nach dem Hotel begleitete, und daß wir uns freuten, einen Mann von Ihrer Bildung unter uns zu bekommen. Well, Sir, trotzdem und trotz Ihres Orgelspiels hat sich bereits eine Opposition gegen Sie gebildet, welche indessen beseitigt werden wird, und wir theilen Ihnen nur die Sachlage mit, damit Sie unsere Maßregeln verstehen. Sagen Sie uns nur, gerade so offen, als Sie vorgestern sich vor Ihrem Hotel aussprachen, haben Sie einen Gedanken, wer hier Grund haben könnte, eine Abneigung gegen Sie zu fühlen?“

Reichardt nahm einen Schluck von dem Rothwein, welchen der Festgeber ihm eingeschenkt, und brannte sich langsam die ihm offerirte Cigarre an. „Es giebt Abneigungen,“ sagte er dann, „die sich wohl beim ersten Begegnen fühlen lassen, für welche sich aber kaum ein bestimmter Grund angeben läßt. Treten Sie harmlos einer Eidechse in den Weg, und sie wird mit haßerfülltem Herzen davon schießen – möglicherweise aber habe ich auch hier einer Eidechse den Weg gekreuzt –“

Ein johlendes Gelächter der Versammelten unterbrach ihn. „Das wird es sein! – So ist es!“ folgten die Ausrufe, „der vernünftigste Grund, der sich finden läßt!“ Reichardt fürchtete im ersten Augenblick, er habe mehr verrathen, als er beabsichtigt; die nachfolgenden Verhandlungen aber zeigten ihm, daß der von Harriet entlehnte Ausdruck für nichts als einen schlagenden Witz genommen worden war.

„Well, Gentlemen,“ begann der Hausherr, „das Einfachste, um aller Opposition entgegenzutreten, mag sie nun heißen wie sie wolle, ist, heut Abend durch Zeichnung den nöthigen Betrag für die Existenz unseres musikalischen Gastes aufzubringen, und ich bin sicher, daß wenn die Sache einmal fertig ist, Niemand von der Gemeinde, der nicht irgend einen persönlichen Grund hat, sich von der Beisteuerung ausschließen wird. Gehen wir vorläufig, um auch dem Vorsichtigsten zu genügen, ein Uebereinkommen für sechs Monate ein – der Betrag ist dann kaum nennenswerth für den Einzelnen, und unser junger Freund erhält dennoch Zeit genug, um sich hier bekannt zu machen, einzubürgern und den Contract dann auf seine eigenen Verdienste hin zu verlängern–“ er wandte sich fragend nach Reichardt.

„Ich bin vollkommen mit Allem einverstanden, was die Herren zu beschließen für gut finden,“ erwiderte dieser, sich leicht verbeugend; „ich habe in meiner kurzen Anwesenheit die Stadt und ihre Bewohner lieb gewonnen und würde gern hier bleiben, wenn mir eben nur so viel würde, um meine Privatmittel nicht weiter [274] angreifen zu müssen. Auf der andern Seite aber wünschte ich auch nirgends die Ursache zu einem Zwiespalte zu geben und würde in diesem Falle lieber den Ort verlassen, um irgend einer andern Aussicht, die sich mir eröffnet, nachzugehen – “

„All right, Sir“, wir waren im Voraus von Ihren guten Gesinnungen überzeugt!“ rief die frühere Stimme; „übrigens dürfen Sie mit Sicherheit darauf rechnen, daß neben dem, was Ihnen die Gemeinde für Einstudiren des Chors und das sonntägliche Orgelspiel aussetzt, sich mit Beginn der Wintersaison vielfache Gelegenheit zu Pianounterricht bieten wird; es hat uns eben bis jetzt ein tüchtiger unabhängiger Musiklehrer gefehlt –“

„Und so denke ich,“ fiel eine andere Stimme ein, „wir gehen nach Mr. Burton’s Bibliothek – denn hier neben Gläsern und Karten verhandelt weder der Prediger noch einer der Trustees mit uns – und bringen die Sache sogleich in die gehörige schriftliche Ordnung.“

„Ich kann nur meinen aufrichtigsten Dank aussprechen,“ sagte Reichardt, sich erhebend, „und sollte meinerseits etwas nothwendig werden, so mögen die Herren über mich verfügen! “ Er verließ mit einer leichten Verbeugung das Zimmer und schritt die Treppe nach den untern Räumen hinab.

Er durchschritt langsam die offenen Zimmer, in welchen sich die Quadrille-Gruppen nach dem Takte einer barbarischen Musik bewegten, bis er Harriet’s ansichtig wurde. Sie schien von Lust und Leben zu sprühen, während Young an ihrer Seite nur wie in halber Verdrossenheit seine Bewegungen ausführte. Ein lachender Blick von ihr traf Reichardt, der, um nicht aufzufallen, seinen Weg fortsetzte und sich bei einer Wendung in das nächste Zimmer vor der Frau vom Hause fand, welche von ihrem geschützten Standpunkte aus die Quadrille-Figuren zu beobachten schien.

„Sie tanzen nicht, Ma’am?“ fragte der junge Mann, mit Interesse in dieses bleiche, regelmäßige Gesicht blickend, dem nur das dunkel glühende Auge Leben zu geben schien.

Sie schlug den Blick wie in einer Art Verwunderung zu ihm auf, schien aber mit einem Lächeln schnell seiner Persönlichkeit inne zu werden. „Die Kirchenglieder unseres Bekenntnisses halten den fashionablen Tanz nicht für passend,“ sagte sie, „wir sind indessen tolerant genug, keines andern Menschen Ueberzeugungen zu nahe zu treten – warum aber nehmen Sie nicht an dem allgemeinen Vergnügen Theil? “

Reichardt äußerte einige Worte, daß er noch zu fremd und fast keiner der Damen vorgestellt sei, sie schien indessen kaum darauf zu horchen und ihre ganze Aufmerksamkeit auf einen Punkt in dem Raume vor sich zu richten; der Deutsche wandte den Blick seitwärts und traf auf das Gesicht des Predigers Curry, welcher, an der andern Seite der großen Flügelthür sitzend, mit ähnlicher Spannung einen Vorgang unter den Tanzenden zu beobachten schien; seine Augenbrauen waren zusammengezogen, die aufeinander gepreßten Lippen zuckten leise, und Reichardt folgte fast unwillkürlich der Richtung seiner Augen. Young und Harriet mußten der Punkt sein, auf welchem die Blicke der beiden Beobachtenden zusammenliefen – das Mädchen schien sich eben von ihrem Tänzer gewandt zu haben und sprach lachend mit dem jungen Manne des nebenstehenden Paares, während Young in die Menge hinein blickte und sich sichtlich bemühte, einen Ausdruck von Täuschung in seinem Gesichte zu unterdrücken – da kam die Tour Beider; Harriet schien kaum die Hand ihres Tänzers zu berühren oder überhaupt von ihm Notiz zu nehmen; leicht und lachend flog sie durch Verschlingungen des Tanzes, so berückend schön, wie sie Reichardt nur auf dem Balle in Saratoga gesehen, und unwillkürlich mußte er ihr seine Augen folgen lassen, bis sie wieder an ihren Platz zurückgekehrt war und, ohne sich um Young zu kümmern, der auch keinen Versuch zu machen schien, ihre Aufmerksamkeit zu erregen, die Menge vor sich musterte. Curry hatte den Kopf gesenkt, als wolle er den Ausdruck seines Gesichts den Blicken umher nicht preisgeben; zwischen Mrs. Burton’s Augen aber trat die Falte, welche Reichardt heute schon einmal beobachtet, tief und bestimmt hervor, und der junge Deutsche schritt langsam davon, um mit seinen Gedanken einen andern Platz zu suchen.

Augenscheinlich war es ein tiefes, klar erkanntes Interesse, welches den Prediger und die Lady vom Hause Young’s Verbindung mit Harriet wünschen ließ, und ein Versuch, die letztere zu gewinnen, war jedenfalls heute Abend gemacht worden; wo aber lag dies Interesse, das, wenn auch die Lady nur unter dem Einflusse des Predigers handelte, diesen doch so fest an Young’s Vortheil kettete? Kaum konnte es ein anderes als ein lichtscheues sein, sonst hätte es Harriet’s scharfer Verstand sicher entdecken müssen! – so folgten sich die Vorstellungen in Reichardt’s Kopfe, als er durch die Menge schritt. Der Tanz war zu Ende, überall schossen einzelne Gruppen zusammen, und der junge Mann fühlte plötzlich seinen Arm berührt. „Machen Sie mir eine Verbeugung!“ hörte er Harriet’s Stimme, „so!“ und in der nächsten Secunde fand er sich an des Mädchens Arm durch die Zimmer promenirend.

„Es wird schwer werden, vor „Supper“ noch ein ungestörtes Wort zu sprechen,“ sagte sie mit vorsichtig gedämpfter Stimme, „es ist aber für mich nöthiger als je, daß es geschieht; ich habe meine erste hohe Karte ausgespielt und muß jetzt sorgen, daß ich die rechten Trümpfe nachbringen kann. Halten Sie sich in meiner Nähe, damit ich Sie zur rechten Zeit in Kenntniß setzen kann – “

„Ich bin völlig zu Ihrer Disposition, Miß Harriet,“ erwiderte er in gleicher Weise, „ich werde aber jedenfalls noch einmal den obern Stock besuchen müssen, wo die Nothwendigkeiten für meine hiesige Existenz zurecht gebraut werden –“

„Ich weiß,“ nickte sie, „ich hatte Pa genau den Weg angegeben, wie er zu Werke gehen sollte; das wird aber Alles vor „Supper“ erledigt sein; es sind nur Freunde von Ihnen zusammen, welche die Sache schnell in Ordnung bringen und die Schlangen und die Eidechsen auf’s Trockene setzen werden – denken Sie nur an mich gegen Mitternacht, und nun bringen Sie mich zu Mrs. Burton, die wahrscheinlich eine Predigt für mich in Bereitschaft hat!“

Reichardt nahm die angegebene Richtung und entledigte sich seiner Begleiterin nahe dem Divan, welchen die Frau vom Hause wieder besetzt hielt, während zu beiden Seiten desselben Young und Curry ihre früheren Plätze eingenommen hatten. Er sah noch, wie sich der Erstere bei des Mädchens Ankunft erhob und langsam davonschritt, während der Letztere, als wolle er kein Zeuge des mütterlichen Empfanges sein, den Kopf nach einer andern Richtung wandte – dann ward die Scene durch vorüber promenirende Paare verdeckt, und Reichardt wanderte ziellos in die Menge hinein. Die Musik hatte wieder begonnen, und erst nach einiger Zeit entdeckte er in den neugebildeten Quarrees Harriet an der Hand eines andern jungen Mannes, dem Anscheine nach völlig unberührt von dem, was ihr gesagt worden sein mochte, aber auch ohne einen Blick für ihn selbst zu haben. Eine kurze Weile unterhielt sich Reichardt damit, nach Young zu suchen, um dessen Gesicht zu studiren; dieser schien aber völlig verschwunden zu sein, und den Deutschen begann es trotz der glänzenden Umgebung fast wie Langeweile zu überkommen, als er eine Hand auf seiner Schulter fühlte und im Umdrehen Burton’s Gesicht erkannte. „Es geht Alles vortrefflich, Sir,“ sagte dieser vertraulich; „es liegt aber den Meisten von uns viel an einer möglichst allgemeinen Zustimmung der Gemeindeglieder, und so denke ich, Sie zeigen sich noch einmal, sobald der jetzige Tanz vorüber ist, am Piano – die Ladies sind sämmtlich in der besten Laune, und sobald Sie sich diese zu Freunden machen, stehen Sie hier wie auf Felsen –“

„Ich bin nur hier, Sir, um über mich verfügen zu lassen,“ erwiderte der Deutsche, und mit einem zufriedenen Nicken führte ihn der Hausherr nach dem „Musikzimmer“, dort selbst das Piano öffnend und den Sessel heranziehend. „Sobald das Niggergefiedel endigt, beginnen Sie mit etwas recht Kräftigem oder so – Sie werden mich verstehen – und dann sollen Sie sehen, daß sie Alle wie die Bienen herbeischwärmen!“

Reichardt nahm Platz und hatte nicht lange auf das Ende des Tanzes zu warten; sobald das Geräusch der auseinander rauschenden Paare vorüber war, begann er mit der pompösen Einleitung eines modernen Salonstücks; er war beim ersten Anschlag überrascht von der Macht und Ausgiebigkeit des amerikanischen Instruments; er griff mit voller Kraft in die Tasten und fand bald einen Genuß für sich selbst in der Fülle und Klarheit, welche durch alle Stimmlagen herrschte; er spielte mit größerer Lust als je und bemerkte es kaum, daß sich das Zimmer rasch mit den anwesenden Gästen füllte. Erst beim Aufnehmen des einfachen Themas warf er einen Blick um sich; kaum aber waren die rauschenden Accorde und Cadenzen der Einleitung verklungen, als sich bei der folgenden einfachen Melodie auch das gesammte Interesse der Zuhörer zu verlieren schien; Gespräche, welche sichtlich weit interessanter als der musikalische Vortrag waren, wurden von allen [275] Seiten angeknüpft, und als Reichardt das Thema zart und geschmackvoll schloß, konnten die Töne vor dem lauten Summen der allgemeinen Unterhaltung kaum zu dem nächsten Hörer gelangt sein.

Unangenehm berührt sah der Spielende auf und machte eine Pause, als wisse er nicht, ob fortzufahren oder zu enden.

„Nur vorwärts, Sir, ich habe Ihnen vorausgesagt, daß Sie eine Niggerarbeit thun werden,“ klang ihm die Stimme Harriet’s in’s Ohr, welche so eben zu seiner Seite eins der Notenbücher aufschlug, „das Schwatzen ist Hinterwaldsmode, an die Sie sich nicht stoßen dürfen; es ist übrigens kaum Jemand hier, der Ihre Musik würdigen könnte – “

„Singt der Gentleman nicht?“ ließ sich eine einzelne Stimme hören.

„Richtig, singen Sie etwas, es hilft wenigstens zur Abwechselung!“ lachte Harriet. „Kümmern Sie sich indessen einmal nicht um die ganze Heerde, wie sie hier geht und steht, und denken Sie, wir Beide wären allein – “

„Aber ich kenne kein einziges Lied mit englischem Texte,“ erwiderte er.

„So singen Sie preußisch, italienisch oder russisch – aber nur vorwärts, die Leute verlangen Musik zu ihren Gesprächen!“

Reichardt ließ die Finger präludirend über die Tasten laufen, ohne sogleich zu wissen, was zu beginnen; da klang ihm aus der Erinnerung plötzlich Mathildens frische Stimme in’s Ohr, und ein Gefühl fast wie Heimweh überkam ihn unter dieser „Heerde“ von geputzten fremden Menschen; mochten sie jetzt schwatzen, er wollte sich nicht darum kümmern, wollte sich nur selbst genug thun, und mit voller Seele begann er, die zweite Stimme kräftig auf dem Piano, hervortreten lassend:

„Zieh’n die lieben gold’nen Sterne
Auf am Himmelsrand,
Denk ich dein in weiter Ferne,
Theures Heimalhland.“

Ort und Zeit begannen ihm zu schwinden; er war wieder in New-York mit der „Schwester“ zusammen, voll der zuversichtlichen Hoffnungen der ersten Tage nach seiner Ankunft; er hörte des Mädchens klare Töne wieder, wie sie ihn damals überrascht hatten, und fast unbewußt begann er die für die Violine geschriebene Durcharbeitung des Themas auf dem Piano nachzuahmen. Er beachtete es nicht, daß die Unterhaltung um ihn her zu stocken begann, daß nach und nach eine lautlose Stille unter den Anwesenden eintrat, er that nur seinem innern Bedürfniß genug, und fast überraschte es ihn, als er, nach dem Schlusse aufsehend, ringsum die Augen auf sich gerichtet fand.

„Ich denke, Sir, wenn Sie unserm Chor nur ein Stückchen von dieser Art zu singen beibringen, so können wir uns gratuliren, Sie hier zu haben!“ sagte der alte Burton herantretend und ihm die Hand reichend, und damit schien auch der Bann des Schweigens, welcher auf der übrigen Gesellschaft zu liegen schien, gebrochen zu sein; in einem immer lauter werdenden Summen begann die allgemeine Unterhaltung wieder; als Reichardt sich aber erhob, traf er auf Harriet’s Augen, welche mit einem seltsamen Ausdruck an ihm hingen.

„Ich habe keine Idee von den Worten, die Sie gesungen,“ sagte sie, den Blick wegwendend, „ich könnte Sie aber lieb haben für dies Lied – da!“ rief sie sich unterbrechend, als die Tanzmusik sich wieder hören ließ, „ ich möchte jetzt die Nigger aus dem Hause jagen!“

Anders schienen indessen die Empfindungen der übrigen Gesellschaft zu sein; bei den ersten Tönen der „Fiedel“ und des Tambourins begannen die Männerfüße halblaut den Takt zu treten, die Damen bogen graziös Taille und Schulter, und davon rauschten die Paare im lustigen Galopp.

„Ich denke Ihre Angelegenheit heute noch vollständig in Ordnung zu bringen,“ sagte Burton wieder, zu dem Deutschen tretend, „mag Ihnen aber jetzt deshalb keinen weitern Zwang auflegen – besuchen Sie mich morgen früh, sobald Sie ausgeschlafen haben und amüsiren Sie sich jetzt so gut als möglich!“

Ein bedeutsamer Blick Harriet’s, welche sich an ihres Vaters Arm gehangen hatte, traf den jungen Mann, und nach wenigen Secunden folgte dieser, als der Letzte, langsam der übrigen Gesellschaft nach den Vorderzimmern.

Eine Stunde lang mochte sich Reichardt in ziemlicher Langeweile zwischen den tanzenden Gruppen umher getrieben haben; er hatte Young einige Male bemerkt, welcher wie mit finstern Gedanken beschäftigt an den Wänden der Zimmer hinschritt; von der Dame des Hauses war indessen ebensowenig wie von dem methodistischen Prediger zu entdecken; ebenso schien Harriet unsichtbar geworden zu sein, und der Deutsche überlegte eben, ob er nicht am besten thue, den Weg nach seinem Hotel zu suchen, als er plötzlich des Mädchens Stimme dicht neben sich hörte. „Nehmen Sie Abschied von Pa, Sir, er steht dort in der zweiten Thür, und gehen Sie; wenn Sie aber den äußersten Eingang zum Vorplatz des Hauses verlassen haben, so wenden Sie sich rechts um die Einzäunung, bis Sie auf eine kleine Hinterthür treffen. Ich werde in zehn Minuten dort sein.“

Reichardt war seit gestern so an das verdeckte Sprechen gewöhnt, daß er bei ihren Worten nicht einmal den Kopf gedreht hatte. Er wandte sich, wie ihm angewiesen war, nach dem Hausherrn, der ihn in bester Laune aufforderte, doch wenigstens noch die kurze Zeit bis zum „Supper“ zu bleiben und dabei „in aller Stille“ ein paar Gläser Wein mit ihm zu trinken, wogegen Jener sich mit nichts Anderem als einem heftigen Kopfweh zu helfen wußte, und nach Kurzem trat er in die dunkele Nacht hinaus, in welcher das Sternenlicht nur die größeren Gegenstände ungewiß abzeichnete. Leicht fand er es indessen, der weiß angestrichenen Einzäunung zu folgen, und nach kurzem Gange ruhte seine Hand an der bezeichneten Thür. Sie öffnete sich ohne Schwierigkeit, und Reichardt befand sich, soviel er wahrnehmen konnte, in einer Art dichtbewachsener Laube. Ehe er indessen noch daran dachte, eine genauere Inspektion seiner Umgebung anzustellen, hörte er schon das leichte Rauschen von Frauengewändern in der Nähe und unterschied im gleichen Augenblick Harriet’s helle, sich aus dem Dunkel heraushebende Gestalt.

„Ich bin hier!“ sagte er gedämpft, als sie am Eingänge der Laube zögernd ihren Schritt anhielt.

Sie trat rasch ein und wandte sich nach der Seite. „Hier ist eine Bank, setzen Sie sich neben mich! “ sagte sie. Reichardt gehorchte, fühlte aber schnell, daß der Sitz kaum Platz für Zwei bot, und fand sich halb bedeckt von Kleidern, deren Duft in dieser nächtlichen Einsamkeit einen noch kaum gekannten Reiz auf seine Nerven ausübte. Er fühlte, wie das Mädchen sich vergeblich bestrebte Raum zu schaffen und sich dann rasch wieder erhob.

„Bleiben Sie, wo Sie sind!“ rief sie halblaut, als der junge Mann ihrem Beispiele folgen wollte; „ich hatte mir vorgenommen, nicht wieder im Dunkeln mit Ihnen allein zu sein; da es sich aber nicht ändern läßt, so bleiben wir wenigstens von einander so weit als möglich. Jetzt erzählen Sie mir klar und genau, was Sie in Saratoga erlauscht, Sie haben jetzt vielleicht einen Begriff der Wichtigkeit, welche jedes Wort für mich hat!“

Reichardt erzählte so genau, als ihm nur sein Gedächtniß treu war.

„Es ist so! es ist so!“ sagte sie, nachdem der Deutsche geschlossen, „der Heuchler ist in diesem Augenblicke noch in ihrem Privatzimmer mit ihr zusammen – es muß ein Ende damit werden, aber ich darf die Thatsachen um der Ehre meines Vaters halber jetzt nicht benutzen – ich darf ihr noch nicht einmal mit einem andeutenden Worte entgegentreten, denn das erste Wort müßte auch der Vorläufer des letzten sein, und wo liegt ein Beweis, daß über die Grenze einer häuslichen Religions-Uebung hinausgegangen worden wäre? – Wenn ich wüßte, welche Bande diesen Young mit dem methodistischen Heuchler verbänden, es sollte bald Vieles klar sein – aber ich werde erfahren, was ich brauche, ich werde die Schlange spielen, wenn es sich nicht anders thun läßt! – Kommen Sie jetzt, damit ich nicht vermißt werde!“ fuhr sie fort und streckte die Hand nach ihm aus, die er ergriff und fest hielt.

„O,“ sagte sie mit weicherem Tone, während sich ihre Finger um die seinigen schlossen, „Sie denken an Saratoga, aber der Augenblick ist zu ernst für Tändeleien; warten Sie, bis der Weg klar ist! Jetzt folgen Sie mir nach der Vorderthür; ich möchte nicht, daß Jemand Sie hier das Haus verlassen sähe.“

Sie hatte ihn zur Seite gezogen, wo innerhalb der Umzäunung ein Laubgang an dieser hinlief, und schritt hier, ihm halb voran, dem Hause zu. Erst als das helle Licht aus den Fenstern auf ihren Weg zu fallen drohte, blieb sie stehen. „Ich werde Sie morgen am Tage nicht sehen,“ sagte sie leise, „ich erwarte Sie aber gegen Mitternacht wieder hier, wo wir jetzt stehen, falls ich Sie sprechen müßte. Sie sehen dort den Balcon, von welchem [276] zwei schmale Treppen am Hause herablaufen, und rechts daneben die beiden dunkeln Fenster; dort ist mein Zimmer. Ein paar Steinchen, an die Scheiben geworfen, werden mir Nachricht von Ihrer Ankunft geben. Ich werde dies Gewebe durchdringen, und sollte ich es auch nur der Ehre meines Vaters halber thun. Jetzt gehen Sie gerade nach der vordern Gitterthür – und so gute Nacht bis morgen!“

Er fühlte einen warmen Händedruck, sah aber im nächsten Augenblicke auch die zurückeilende Mädchengestalt im Dunkel des Laubganges verschwinden.

Reichardt schlug langsam den Heimweg ein, aber er fühlte sich wie in einem halben Rausche. Dieses warme Vertrauen, mit welchem die reiche, strahlende Harriet ihn umfing, setzte sein ganzes Blut in Erregung, während die Familien-Verhältnisse, in welche er sich hineingezogen sah, ihm sein augenblickliches Leben als das abenteuerlichste, in das er nur hätte gerathen können, erscheinen ließen. Er vergegenwärtigte sich das Gesicht dieser bleichen Frau, in deren Auge es wie verborgene Gluthen schimmerte – er wußte nicht, ob er sich so plötzlich zu ihrem Gegner hätte machen lassen, wäre es nicht um dieses Pfaffen willen, welcher das Heiligthum der Familie beschmutzte, und dieses Young wegen, bei dessen erstem Anblicke er sich eines instinctmäßigen Widerwillens nicht hatte erwehren können, geschehen. Wie hätte er sich übrigens auch dem Willen des seltsamen Mädchens, das fast alle seine Schritte geleitet, entziehen können, wenn er auch vielleicht gewollt hätte? Er schüttelte lächelnd den Kopf, als er die einzelnen Scenen des Abends an sich vorüberziehen ließ. Er war fast kaum mehr als eine gehorchende Maschine in ihrer Hand gewesen, und doch lag in diesem Anspruch auf seinen Gehorsam eine Vertraulichkeit, gegen deren Macht es kaum einen Widerstand gab.




Es war bereits spät am Morgen, als Reichardt durch das Geräusch, welches Bob durch das Umwerfen eines Stuhls verursachte, aus dem Schlafe gerissen wurde.

„Frühstück ist längst vorüber, Sir,“ grinste der Schwarze, als der junge Mann in seinem Bette rasch aufsaß, „und ich meinte, es sei besser, Sie von der Zeit zu benachrichtigen!“

„Beim Teufel!“ rief der Deutsche nach einem Blicke auf seine Uhr, und war mit beiden Füßen auf dem Boden, in seine Kleider fahrend. – „Etwas Neues, Bob?“ fragte er nach einer Weile, als er den Schwarzen mit einem halb verlegenen Grinsen noch immer an der Thür stehen sah.

„Nichts Besonderes, Sir,“ erwiderte dieser, mit der Hand nach seinem Wollkopfe fahrend, „ich habe nur die ganze Nacht geträumt, ich wäre im Osten und spielte die Fiedel!“

„Müßt Eurem Herrn sagen, Bob, daß er Euch hingehen läßt!“

„Mich hingehen läßt? Mr. Curry? Ohe!“

„Also nichts zu machen?“ sagte Reichardt, der sich über die letzte Grimasse des Negers des Lachens nicht erwehren konnte, „kennt Ihr Euern Herrn so genau?“

„Ob ich ihn kenne, Sir!“ erwiderte der Schwarze mit einem Ausdrucke im Gesichte, dessen Eigenthümlichkeit dem jungen Manne auffiel. „Ich war, ehe er mich hierher that, immer zunächst um ihn, bin Kirchendiener gewesen, Sir – o, ich kenne ihn, Sir!“

Ein noch halb unklarer Gedanke tauchte in Reichardt’s Kopfe auf. „Ich habe Mr. Curry gestern Abend gesehen, in Mr. Burton’s Hause,“ sagte er, während er fortfuhr, sich mit seinem Anzuge zu beschäftigen, „er scheint ein Freund von hübschen Ladies zu sein, was?“

Der Schwarze ließ ein eigenthümliches Klucksen hören und zog den Kopf in die Schultern. „Mag sein, Sir,“ erwiderte er, „aber Alles nur um ihres Heils willen!“

„Habe auch keinen andern Gedanken gehabt,“ erwiderte Reichardt lächelnd. „Aber,“ fuhr er, wie von einer andern Erinnerung berührt, fort, „unter solchen Umständen wißt Ihr wohl auch, Bob, woher die besondere Freundschaft zwischen dem Mr. Young und Euerm Herrn kommt, da doch ihr Alter eben so verschieden ist als ihre Kirche?“

Der Neger sah ihn plötzlich mit aufgerissenen, starren Augen an. „Wissen Sie etwas davon?“ fragte er nach einer Pause halblaut. „Ich – ich habe Ihnen nichts gesagt, Sir!“

Reichardt wandte sich nach dem Spiegel, um seine augenblicklichen Empfindungen bei der Antwort des Schwarzen zu verdecken.

„Und wenn Ihr mir etwas gesagt hättet, was thät’s?“ versetzte er, sich das Halstuch umlegend; „ich bin fremd hier und verlasse in den nächsien Tagen den Ort; was ich weiß, habe ich durch Zufall erfahren, und es interessirt mich nur, weil mir die Verhältnisse hier überhaupt merkwürdig sind.“

Bob war einen Schritt näher getreten. „Sie gehen wieder nach dem Osten, Sir?“ fragte er zögernd.

„Wahrscheinlich!“ entgegnete Reichardt leichthin.

Der Schwarze schien zum Sprechen anzusetzen, zog aber nur zwei wunderbare Grimassen und lachte dann verlegen. Seine weiteren Aeußerungen wurden indessen durch den Ton der Hausglocke, welcher ihm durch alle Glieder zu zucken schien, abgeschnitten. „Ich sehe Sie wieder, Sir, wenn Sie es erlauben!“ sagte er eilig und war in rascher Wendung zur Thür hinaus.

Reichardt sah ihm nach und nickte nachdenklich mit dem Kopfe. „Hier scheint sich wirklich ein Loch finden zu lassen, wenn man es recht angreift – es fragt sich nur, wie!“ brummte er und machte einen Gang durch das Zimmer. Ein Blick auf seine Uhr aber schien ihn aus seinen Gedanken zu reißen. „Werden ja sehen, was sich thun läßt,“ sagte er, „jetzt vorläufig das Nächste und Nothwendigere!“ Er beendete eilend seinen Anzug und ging dann hinab, um sein Frühstück einzunehmen. Nach wenig Minuten aber schon war er auf dein Wege nach Burton’s Hause, um Nachricht über das Ergebniß der gestrigen Verhandlung einzuholen. Harriet’s Vater empfing ihn mit demselben biedern Wohlwollen, welches schon bei dem ersten Begegnen mit ihm den jungen Mann so angenehm berührt hatte.

„Well, Sir,“ sagte er, als Beide sich in einem der Parlors niedergelassen hatten, „unsere Angelegenheit ist, soweit es den Geldpunkt anbetrifft, vollkommen in Ordnung. Eine kleine Schwierigkeit nur wünschten meine Freunde, nachdem sie sich gestern mit dem Prediger und den Trustees ausgesprochen, vor Antritt Ihres Amts noch beseitigt zu sehen, und ich fürche nicht, daß Sie dabei auf große Hindernisse stoßen werden. Wir haben bis jetzt meist die Einigkeit in der Gemeinde bewahrt, und diese zu erhalten ist es, was dem Prediger wie den Trustees am meisten am Herzen liegt. Es ist eine kleine Anzahl von Mitgliedern unter uns, welche jede Neuerung haßt, welche sich auch der Anschaffung der Orgel widersetzte, bis sie kräftig überstimmt wurde, und die jetzt durch Anstellung eines tüchtigen Musikers als Organist weitere Neuerungen fürchtet. Es gehört leider ein großer Theil unserer Sänger zu dieser Opposition, die jedenfalls, wenn wir unsern Willen in Bezug auf Sie durchsetzen wollten, sofort das Chor verlassen würden. Nun haben wir eigentlich nur einen einzigen Mann hier, welcher die Orgel kennt und den Gottesdienst leiten kann, das ist Mr. Young, den Sie ja bereits haben kennen lernen. Sobald Sie sich mit diesem verständigen – Was gar nicht fehlen kann, da er selbst keinen Nutzen für seine Stellung an der Kirche hat und er Ihre Fähigkeit in jeder Weise anerkennt – so fällt jeder Halt für die Opposition von selbst weg. Ich glaube einigen Einfluß auf den Mann zu haben, und wenn es Ihnen recht ist, so machen wir ihm heute oder morgen einen Besuch und ordnen die Sache.“

Reichardt hatte den Sprechenden ausreden lassen, ohne eine Miene zu ändern, obgleich die Ahnung, welche bei der „kleinen Schwierigkeit,“ die noch zu überwinden sei, in ihm aufgestiegen war, bei der Erwähnung von Young’s Namen zur vollen Gewißheit in ihm wurde – daß seines Bleibens hier nicht sein könne.

Er war sich jetzt vollkommen klar über die Bedeutung von Young’s hämischer Frage am vergangenen Abende, er wußte nun sicher, daß dieser allein die Seele der sich kund gebenden Opposition bildete, und doch konnte er nicht einmal etwas von seinem bestimmten Verdachte äußern, ohne bei einer Begründung desselben Harriet’s erwähnen zu müssen.

(Fortsetzung folgt.)
[277]

Spaziergänge durch das heutige Rom und durch die Campagna.

II.

„Wollen Sie heute ein Eselwettrennen und die Ausspielung einer Tombola (Lotterie) sehen, so lassen Sie uns nach Albano fahren; es ist Sonntag, und am Sonntag ist Rom noch langweiliger, als an einem Wochentage.“

So sagte zu mir der Doctor J. P. Baude, Arzt der großen Oper in Paris, der sich alljährlich das sonderbare Vergnügen macht, auf vier Wochen über Marseille nach Rom zu reisen, am Morgen eines warmen und sonnigen Octobersonntages, als wir, wie gewöhnlich, in der via Condotti vor dem Café greco saßen, den Kaffee getrunken und das Journal des Debats und die Augsburger Allgemeine gähnend durchblättert hatten.

„Ja, Doctor,“ rief ich und warf die Augsburger Allgemeine auf den Tisch und dem nächststehenden Bettler den Rest der Kupfermünzen in den Hut, welche mir Angelo, der Kellner mit den schmachtenden Augen und im abgeschabten Frack, der mir zuweilen heimlich vertraute, daß er eigentlich zum Kammerdiener eines vornehmen Herrn geboren sei, herausgegeben hatte, „fahren wir nach Albano, sehen wir Esel wettrennen, hören wir den ganzen Spectakel einer Tombola und tanzen wir mit den schönsten Mädchen im ganzen Patrimonium des heiligen Petrus, dessen Stuhl jetzt gewaltig wacklig steht.“

Gesagt, gethan!

Ein Eselwettrennen in der Romagna.
Nach der Natur aufgenommen von Zwahlen und Zielcke

Wieder flog die eigenthümliche Oede der Campagna mit ihren mittelalterlichen und altrömischen Trümmerstätten, mit ihren Ginsterbüschen, mit ihren hügeligen Weiten, mit ihren Büffelheerden und den Hirten zu Pferde mit den eisenbeschlagenen Stöcken, mit ihren farbigen Tinten, mit den gebrochenen Wasserleitungsbogen, mit den rauschenden Rohrfeldern vorüber, und als die brausende Locomotive still stand und mit einem langen, gellenden Pfiff den Dampf aus seinem Gefängnisse entließ, da erblickten wir gerade über uns, von waldigen Gebirgsketten umkränzt, auf dem nordwestlichen Abhange der Albaner Berge das schöne Frascati mit seinen weißen Häusern und seinen prächtigen Villen, den Sommeraufenthalt des römischen Adels und der hohen römischen Geistlichkeit.

„Wollen wir Pferde oder Esel für unsere Tour miethen?“ fragte der Doctor, als wir auf dem Marktplatz des Städtchens standen, umringt von mehr als zwanzig Eseltreibern, welche die Vorzüge ihrer „somari“ mit der den Römern eigenen Würde und Wichtigthuerei uns auseinander zu setzen sich bemühten. Gerade fuhr eine Equipage, mit vier schönen, schwarzen Pferden bespannt, über den Platz. Im Wagen saßen zwei Damen, ihnen gegenüber der unvermeidliche Priester im schwarzen Talar, den häßlichen Hut mit der umgebogenen Krempe auf dem Kopfe. Die Eseltreiber zogen ihre Hüte. „Wer sind die Damen?“ fragte ich.

„Die Fürstin Borghese, Signor,“ sagte ein Bursche, der zwei ziemlich stattlich aussehende Pferde am Zügel hielt und sie uns zu unserer Tour anbot, „sie fährt nach der Villa Aldobrandini.“

„Die Nobili und die Priester,“ brummte der Doctor, „nie sieht man Einen ohne den Andern.“

„Das ist ja das conservative Element in Rom, Doctor, das einzige und das letzte; soll Einer von ihnen auch noch zur Revolutionspartei übergehen? Haben Sie noch nicht revolutionäre Elemente genug in den Staaten des Statthalters Christi auf Erden? Aber nehmen wir die Pferde und reiten wir nach Albano.“

Und an der prächtigen Villa Torlonia vorüber, gefolgt von zwei halberwachsenen Burschen, welche munter neben den Pferden einhertrabten, ritten wir den Felsweg aufwärts durch einen herrlichen Laubgang italienischer Eichen nach der Villeggiatura des alten Rom, nach dem auf dem Hochlande des Bergplateau’s gelegenen Tusculum. Ueberall rieselten silberhelle Quellen aus den Felsen, [278] welche mit der üppigsten Laubvegetation bedeckt waren; zuweilen wechselte das schattige, fast undurchdringliche Dach der Eiche mit Pinien und Olivenbäumen, um deren Stämme sich malerische Festons von Weinlaub schlangen, ab; links hatten wir den Blick über die Campagna und auf das Häusermeer der ehemaligen Hauptstadt der Welt, auf deren Kuppeln die Funken der Mittagssonne glühten. Durch einen uralten, im cyklopischen Baustyl construirten Thoreingang kamen wir auf die Scheitelfläche der Höhe, wo einst das alte Tusculum lag. Trümmer römischer Villen, die hochgelegene, noch in einzelnen Resten erkennbare Ruine der Stadtburg und das kleine Amphitheater mit seinen wohlerhaltenen Sitzreihen waren die einzigen Reste dieser vergangenen, zweitausendjährigen Herrlichkeit. Die Fernsicht war unbeschreiblich schön in ihrer wechselvollen Mannigfaltigkeit von Gebirgsformen, üppiger Vegetation, glänzenden Villen und weißen Städtebildern, in der zauberischen, sonnendurchglühten Beleuchtung des Südens.

Im Schatten uralter Kastanien und Steineichen ritten wir an der andern Seite des Berges abwärts. Die Natur im Albanergebirge ist außerordentlich kräftig und reizvoll. Wir sahen Castell Gandolfo, das durch seine reine Luft berühmte Lustschloß der Päpste, auf seiner waldigen Höhe, hoch über dem smaragdgrünen, stillen Albaner-See, wir ritten am Monte Cavo vorüber und kamen durch das freundliche Marino, welches auf den Trümmern der Villen Murena’s und des Marius erbaut ist, dann traten wir in die obere Gallerie, in diesen wunderbar herrlichen Laubgang uralter Bäume; rechts am Horizont, am Rande dieses mit Villen und Dörfern bedeckten, grünen Hügellandes, schimmerte ein breiter, glänzender Streifen, der Streifen war das mittelländische Meer. Glühend stand die Sonnenscheibe nahe über seinem blaufunkelnden Spiegel, da ritten wir in Albano ein.

Das Städtchen hatte seinen Festtagsrock angezogen. Alle Straßen waren voll Leben und Bewegung. Die Bewohner waren im Feiertagsschmuck, das weiße, tellerartig über den Kopf geformte Tuch, die weißen, bauschigen Mieder und die bunten, faltigen Röcke standen den Mädchen, welche bekanntlich unter die schönsten Frauen Italiens zählen, vortrefflich. Alles drängte sich durch die Hauptstraße, welche Albano von Norden nach Süden durchschneidet, nach dem andern Ende des Ortes zu. Wir ließen die Pferde nach dem Albergo führen und folgten unbewußt dem Menschenstrome. „Das Wettrennen findet jetzt wahrscheinlich statt,“ sagte der Doctor. „Wo giebt es ein Fest in Italien ohne Wettrennen? Pferderennen! Eselsrennen! Mit oder ohne Reiter! Vedremo!

Und wir sahen! Auf der andern Seite des Städtchens war die Feierlichkeit des Wettrennens, das allgemein beliebte römische Volksvergnügen, im vollen Gange. Die Pferde sind selten im Gebirge, man hatte also das edle Roß auch hier durch den somaro, nämlich durch den Esel, ersetzt. Die ganze Bevölkerung war auf dem Platze versammelt. Es war eine Scene voll Leben und Bewegung. Die Esel, auf deren knöchernen Rücken halberwachsene Buben saßen, waren gerade im Abreiten nach dem Ziel begriffen.

Zwei Esel waren glücklich im Gange und sprengten unter ihren Reitern auf dem ziemlich holprigen Pfade vorwärts, verfolgt von dem Geschrei der versammelten Menge, welche durch die lebhaftsten Gesten ihre Theilnahme bezeigte. Alles war in Aufregung, Alles in Bewegung. Wenn es sich auf dem Platze um die Abstimmung gehandelt hätte, ob Albano von nun an zu dem Königreich des neuen Italien gehören oder unter der Herrschaft des Papstes verbleiben solle, die Theilnahme und der Lärm hätte nicht größer sein können. Zwei Esel wollten durchaus nicht vorwärts. Mit der diesen Thieren eigenen Störrigkeit schienen sie es darauf abgesehen zu haben, nicht vom Platze zu gehen; der eine wandte sich sogar um, und wollte den Weg nach Albano in seinen Stall einschlagen. Die beiden Reiter schienen in Verzweiflung zu sein. Mit Gerte und Zügel gaben sie sich alle erdenkliche Mühe, die störrigen Thiere vorwärts zu bringen, aber vergebens: Eigensinnig standen sie noch, wie angenagelt, auf dem Platze, als die andern bereits, im Galopp am Ziele angelangt waren und von einem hundertstimmigen Jubelgeschrei der versammelten Menge empfangen wurden.

Wir gingen zurück in das Städtchen. Noch waren die Nummern der Tombola, welche gewonnen hatten, in ellenlangen Ziffern an dem Hause zu sehen, wo Nachmittags die Ziehung stattgefunden hatte; die breite, lange Straße war voll Leben, Bewegung und Jubel. Mit Musik wurden die Glücklichen, welche gewonnen hatten, durch die Straße geführt. Eine Abtheilung französischer Soldaten ging dem Zuge vorher und beschloß denselben in Paradeuniform, das Gewehr im Arm. Es war währenddem Abend geworden. Die goldene Sonne war schlafen gegangen in das blaue Bett des unendlichen Meeres und hatte die Wogen mit einem letzten purpurnen Schimmer vergoldet, tiefblaue Schatten lagerten über Hügeln und Flächen. Die letzte Feierlichkeit des Tages wurde in Scene gesetzt. Ein Luftballon sollte aufsteigen. Noch wurde er an Stricken festgehalten, das Feuer wurde angezündet und die Gaze blähte sich auf. Jetzt war der Moment des Steigens gekommen, die Flamme brannte lichterloh, die Stricke wurden durchschnitten, und gerade stieg er in die Höhe, in den dunkelblauen Nachthimmel, bis er endlich als ein kleiner, leuchtender Punkt erschien, und der leuchtende Funken über dem Gebirge verschwand. Endlos war der Jubel und das Geschrei. Dann füllten sich alle untern Räume des Albergo, wo wir eingekehrt waren, mit der fröhlichen Menge. Der Doctor und ich saßen mit den schönen Albaner Mädchen, mit ihren Vätern und Brüdern und mit den französischen Soldaten an einem der langen Tische und tranken mit ihnen Wein von Orvieto. Das allgemeine Band der Fröhlichkeit hatte auch die armen französischen Soldaten umschlungen; man sah in ihnen heute nur die Streiter von Solferino und Magenta, nicht die Soldaten, welche den Stuhl des heiligen Vaters stützten, daß er nicht umfalle vor dem Sturm der Revolution, welcher über Italien braust, und als der Doctor „Evviva l’Italia!“ rief, ertönte es durch den ganzen Albergo hundertstimmig: „Evviva l’Italia, Evviva Garibaldi!

Nur in einer Ecke des großen Saales saßen ein halbes Dutzend Menschen, einsam, die Langeweile auf den Gesichtern; ein Kreis von Oede und Leere war rings um sie gezogen, Niemand trat in diesen Kreis, als wenn der Hauch des Fiebers in ihm wehte. Niemand stieß mit ihnen an, Niemand sprach mit ihnen. Wer waren diese von der allgemeinen Fröhlichkeit Ausgestoßenen? Ich kannte sie recht gut. Sie sprachen die Sprache meiner Heimath, die deutsche Sprache. Es waren „Soldaten des Papstes“.

G. R. 




Allgemeine Wehrkraft als Aufgabe der Volkserziehung

Eine Ansprache an deutsche Stammgenossen.
Von Dr. Schreber in Leipzig.

Allgemeine Wehrkraft durch militärische Erziehung der Jugend ist eine Zeitfrage des nationalen Lebens. Daß vor allem der lebensfrische Geist der deutschen Nation dazu drängt, ist in der natürlichen Lage der Dinge begründet, ist zum zweiten Male in diesem Jahrhundert angeregt durch den Wellenschlag der Tagesgeschichte, ist begründet in den geographischen und politischen Verhältnissen der deutschen Nation, welche das Herz der europäischen Völkerfamilie bildet. Dieser Drang ist also ein durch und durch natürlicher und hocherfreulicher.

Welcher Staat sollte überhaupt nicht wünschen, daß in ihm fort und fort ein kräftiges, mannhaftes Geschlecht heranwachse? Körperliche und geistige Vollkraft ist ja die Grundbedingung für das Gedeihen aller Lebensverhältnisse und insbesondere auch für die Wehrkraft, für die Festigkeit, Sicherheit und Selbständigkeit, für die geschichtliche Fortentwicklung einer Nation.

Die directe militärische Einschulung der Jugend von einer gewissen Altersstufe an ist zwar für diesen Zweck überaus wichtig und unentbehrlich. Aber, Stammgenossen, dadurch allein wird noch keine volle, probebeständige Wehrkraft erzielt. Wie sehr auch [279] und wie direct auch das Ziel dadurch angestrebt werden mag, – was würde z. B. ein solcher Weg nützen:

wenn in der zu militärischen Leistungen einseitig tränirten Jugend im Uebrigen die Schwächen der menschlichen Natur statt der Kraftanlagen gehegt und genährt würden;
wenn die Jugend daheim unter den Einflüssen der Schwächlichkeit, Weichlichkeit, Verwöhnung, Furchtsamkeit, Schlaffheit, Charakterlosigkeit und unter einer Menge natur- und gesundheitswidriger Lebenssitten, die die physische und moralische Vollkraft unmöglich machen, fort und fort aufwüchse;
wenn sie im Uebrigen auch von der Schule aus z. B. durch eine naturgesetzwidrige Verfrühung des Unterrichtsanfangs, d. h. durch Beginn des Schulunterrichts vor dem erreichten Alter der Schulreife (dem Ende des siebenten Jahres) entnervt würde;
wenn sie sodann durch Luftmangel, augenschwächende Lichtverhältnisse, verderbliche Körperhaltungen, durch Unterrichtssysteme und Unterrichtsmethoden, welche den Gesetzen der körperlichen und geistigen Natur zuwiderlaufen und darum ihr Endziel verfehlen, durch Ueberschüttung mit leerem Gedächtnißkram auf Kosten der selbsteigenen Denk- und Charakterkraft, etwa auch durch jesuitisch und mittelalterlich finstere, in Wahrheit antichristliche, das gottwärts führende Geistesleben vernichtende Religionsbegriffe, durch eine Religion, die den Buchstaben (die äußere starre Hülle) betont, statt den Geist, den inneren, lebensvollen und immer höher entwickelteren Kern zu betonen, die mit den dem menschlichen Geiste anerschaffenen Denkgesetzen im Widerspruche steht, die göttliche Ziele hinstellt, aber in Wirklichkeit in niederen menschlichen Zielen sich verliert, die überall spaltet, wo sie vereinigen sollte, die Licht, Leben, Liebe, ewige Wahrheit nicht verbreitet, sondern vernichtet,[1] – wenn die Jugend auch dadurch körperlich und geistig abgestumpft, verfinstert, geknickt und gelähmt würde;
wenn ferner durch gänzliche Vernachlässigung der jugendlichen Spiele von Seiten der Schulerziehung, jener wichtigen Erziehungsmittel, welche jugendliche Heiterkeit, Frische, Takt, Muth und Lebensgewandtheit entwickeln, durch Vernachlässigung der positiven und planmäßigen Sinneschärfung, des fundamentalsten natürlichen Bildungmittels, wenn endlich durch Gesundheitswidrigkeiten noch so mancher anderer Art die Kraftkeime der menschlichen Natur gleich in ihrer Entwickelung gedrückt, geschwächt oder vernichtet würden –

was würden da alle diese Anstrengungen nützen, welche auf Entwickelung einer kräftigen Jugend, auf Vorbereitung und Ausbildung zu militärischen Leistungen verwendet würden? Sie würden erstaunlich wenig von dem nützen, was sie im entgegengesetzten Falle nützen könnten.

Die systematischen Turnübungen z. B., auf denen die gründliche militärische Ausbildung fußen muß, sind unbestreitbar das souverainste Mittel allseitiger Aus- und Durchbildung des Körpers, wie sie selbst die unbeschränkteste, aber planlose Naturgymnastik niemals erzielen kann, und sind somit auch, weil ja der Geist im Körper wurzelt, die natürliche Grundlage und Vorbedingung der höheren geistigen Ausbildung, sind ein wahrhaft natürliches Postulat des höheren Culturlebens überhaupt, denn auch der Körper des Culturmenschen kann und soll ein vollkommnerer sein, als der des Naturmenschen. Aber – wenn wir unsere Jugend zu den Turnübungen antreiben und daneben obengenannte Einflüsse fortbestehen lassen, wie sie die häusliche und die Schul-Erziehung unter unserer städtischen und auch ländlichen Bevölkerung in Menge mit sich führt, solche Einflüsse, die sie blutarm, siech, weichlich, muthlos, sinnenstumpf, verkrümmt, blasirt, nervös überreizt u. s. w. machen und machen müssen, – dann können auch jene trefflichen Mittel, die Turnübungen, ihre heilsamen Wirkungen nicht äußern, sondern müssen umgekehrt in vielen Fällen die organische Erschöpfung beschleunigen. Und was für Wehrmänner sollen wir daraus bekommen! Die bestmögliche turnerische und militärische Einschulung kann das nicht ausgleichen und nachholen, was die übrige Jugenderziehung verschuldet hat.

Also: die Hebung der Wehrkraft durch Hebung der ganzen Volkserziehung ist der einzig radicale und sichere Weg zur Erreichung des Zieles. Der Mensch ist stets ein Ganzes und kann nur als Ganzes richtig entwickelt und behandelt werden, gleichviel ob es körperlichen oder geistigen Zwecken gilt.

Daß aber mehr oder weniger allen Culturstaaten, so auch den deutschen, eine zeitgemäße Hebung der gesammten Volkserziehung, eine Versöhnung des Culturlebens mit den naturgesetzlichen Grundbedingungen der menschlichen Natur Noth thut – das wird Niemand bezweifeln, der, auch ohne Idealist zu sein, eine klare Anschauung von der menschlichen Natur besitzt, der einen Begriff hat von der Unbegrenztheit ihrer Kraftanlagen und Entwickelungsmöglichkeiten, vorausgesetzt nämlich, daß die naturgesetzlichen Bedingungen erfüllt werden, auf denen die Entwickelung beruht, und der nun mit diesem Bilde des möglichen Kraftgeschlechts, des auch bei höchster Culturentwickelung und allen damit verbundenen Gesundheitsklippen doch möglichen Kraftgeschlechts, das gegenwärtige Geschlecht in seiner großen Mehrheit vergleicht: in seiner großen Mehrheit, wo kraft- und saftloses Schnellleben und geisttödtende Einflüsse gemeinschaftlich die Entwickelung der menschlichen Natur herabdrücken und verdrehen. Der Grund, daß die Volkserziehung im Allgemeinen und in Folge davon das physische, sociale und staatliche Leben der Menschheit in so vielen wesentlichen Punkten krankt, daß zwischen Cultur und Natur eine Kluft, ein feindliches Verhältniß getreten ist, dieser Grund ist in letzter Instanz darin zu finden, daß man die Kenntniß der menschlichen Natur fast ausschließlich dem ärztlichen Stande überlassen hat, anstatt sie zum Allgemeingute zu machen, anstatt sie als den allgemeinsten Untergrund zu betrachten, von dem jede weitere menschliche Bildung ausgehen und mit dem sie sich im Einklange erhalten muß, daß also auch das erziehende Publicum (das Eltern- und Lehrerpublicum) an dieser Kenntniß darbt. In der That, eine überblickliche Kenntniß der wesentlichsten Einrichtungen, der Grundgesetze und Grundkräfte, auf welchen das Leben des menschlichen Organismus (des Körpers und des Geistes) beruht, ist die solideste und in allen Schulen leicht zu gebende Grundlage eines klaren Welt- und Lebensverständnisses, einer richtigen Lebenspraxis, vor allem aber der Kindererziehung. Ein Mensch, der ohne diese Selbstkenntniß in’s Leben hineingeht, ist einem Steuermann vergleichbar, der in See geht, ohne den inneren Bau, die Einrichtungen und Kräfte seines Fahrzeugs zu kennen. Doppelt schlimm dann, wenn ein solcher Mensch nun noch ein anderes, junges, noch nicht fertiges Fahrzeug, dessen innere Beschaffenheit er noch weniger kennt, in’s Schlepptau nehmen und seefertig machen soll. Wäre die Kenntniß der menschlichen Natur und die Kenntniß dessen, was bei richtiger Benutzung und Entwicklung aller ihrer guten Kraftanlagen aus ihr gemacht werden kann, eine allgemeine, so würde auch die Erziehung aus ihrer allgemeinen Plan- und Gedankenlosigkeit, aus ihrem Schlendriansnebel heraustreten, sie würde zu einer naturgemäß begründeten, klar bewußten und den je einzelnen Verhältnissen anpaßlichen Kunst sich erheben.

Soll also unser Culturzustand gesunden, soll insbesondere die Volkserziehuug zu einer bewußten und zeitgemäßen erhoben werden, so wird es zunächst von dieser Grundlage aus geschehen müssen. Je höher sich das selbstbewußte Culturleben über das blinde Instinctleben erhebt, um so mehr muß in dem Lichte der Erkenntniß des Zusammenhanges der Dinge die Richtschnur für die weiteren Entwickelungsstufen gesucht werden. Der alte germanische Kern hat sich Gott sei Dank noch erhalten. Er braucht nur aus seinem Schlummerzustande geweckt, von den naturgesetzwidrigen Fesseln befreit und natur- und zeitgemäß entwickelt zu werden, um zu unübertreffbarer nationaler Vollkraft emporzuwachsen.

Welches werden nun die nächsten Bedingungen und Schritte zu diesem Ziele sein?

Erstens. Damit die Begriffe zeitgemäßer normaler häuslicher Erziehung in das Volksbewußtsein allmählich eindringen, würde es wohl keinen directeren Weg geben als den, daß kurze, gediegene und allgemein faßliche Erziehungsschriften von Seiten der Regierungen auf geeigneten Wegen zu unentgeltlicher Vertheilung in allen Gemeinden gebracht würden. Dazu ist den deutschen Regierungen kürzlich die Hand geboten worden. Wenn solche Schriften auch anfangs von Tausenden nicht gelesen würden, von anderen Tausenden würden sie doch gelesen und beherzigt, und die segensvollen Wirkungen würden allmählich eindringen in den Kern des Volks. [280] In theilweiser Beziehung ähnliche, aber immer noch ungenügende Schritte hat in England die „sanitary association“ auch bereits gethan.

Zweitens. Um die Schulerziehung auf eine des Zeitalters der Erkenntniß würdige Stufe zu bringen, muß die Pädagogik auf Universitäten und Seminarien zu einer eigenen und selbstständigen Wissenschaft, wie sie es vor allen anderen Wissenschaften verdient, und zwar auf exacter anthropologischer und besonders pädologischer Basis, erhoben werden. Unter pädologischer Basis ist eine solche zu verstehen, die in genauer Kenntniß der Eigenthümlichkeiten des kindlichen Organismus und des kindlichen Geisteslebens und in genauer Kenntniß der organischen Entwickelungsgesetze besteht. Würde so der Lehrerstand durch eine gediegenere, gründlichere anthropologische Vorbildung geistig gehoben, so würde er um so gerechtere Ansprüche haben, auch materiell, in seiner äußeren Lebensstellung gehoben zu werden. Durch eine gründlichere anthropologisch-pädagogische Ausbildung würde er auch befähigt werden, ein weiteres dringendes Desiderat unserer Zeit, eine innige geistige Verbindung zwischen Schule und Haus, zu vermitteln; denn er würde dann die Geltung als berathender Freund der Familien erhalten.

Drittens. Demnach würden zunächst die oberen und obersten Erziehungs- und Schulbehörden nicht, wie jetzt noch meistens, blos aus Juristen, Theologen und Pädagogen im alten Sinne, sondern vorzüglich aus solchen Männern zusammenzusetzen sein, die mit staatskundiger Befähigung in ihrer Mehrzahl eine gründliche pädagogische Bildung im obigen Sinne verbinden, damit von da aus diese Männer, den gegebenen Verhältnissen gemäß, die je nächstnöthigen weiteren Schritte in der Bahn nach dem Ziele ermitteln und verfolgen.

Die Mittel, welche Staat und Gemeinden, namentlich zur Einrichtung der dazu nöthigen Bildungsanstalten und zur entsprechenderen materiellen Lebensstellung des Lehrerstandes, beschaffen müssen, werden allerdings bedeutend sein. Sie werden aber sicherlich nicht fehlen, wenn man erst von der segensvollen Wichtigkeit und Dringlichkeit dieser Reformen allgemein überzeugt ist, und werden schon allein durch die Ersparnisse reichlich gedeckt, welche aus der durch Einführung allgemeiner Wehrfähigkeit in entsprechender Weise möglich werdenden Reduction des stehenden Heerwesens (jener epidemischen Schwindsucht der modernen Staatsorganismen) gewonnen werden. Denn wenn auch die meisten europäischen Staaten mit ihren offenen Grenzen hinsichtlich der Vereinfachung ihres Militärwesens sich z. B. mit der von natürlichen Festungen umschlossenen und durchzogenen Schweiz oder dem meerumgürteten England nicht vergleichen können, so wird dennoch die aus der eben möglichen Normalisirung des Militärwesens gezogene Ersparniß überall genügen, um damit die Bedürfnisse einer gehobenen Volkserziehung zu befriedigen. Aber auch selbst da, wo dies unerwarteter Weise nicht ganz der Fall sein sollte, möge man doch nur bedenken, daß die hierauf verwendeten Summen nicht nur in ihrem Capitale sich erhalten, sondern, weil sie die Reproductionskraft nähren und steigern, fort und fort wachsende Zinsen abwerfen, dagegen die Summen, die der Militär-Etat verschlingt, bekanntlich Zins- und Capitalverlust zugleich sind.

Immerhin also wollen wir die directe Förderung der Wehrfähigkeit der deutschen Nation nach allen Kräften stützen und verbreiten, aber auch dabei gleichzeitig auf ihre naturgemäße Basis, auf möglichste Hebung der gesammten Volkserziehung, unausgesetzt unser Augenmerk richten, wollen nicht ruhen und rasten, bis wir sagen können, daß die deutsche Nation nicht nur, wie schon jetzt – und danken wir dies immerhin unserer staatlichen Vielheit – an intellektueller Volkscultur obenansteht, sondern bis wir sagen können, daß sie auch an allseitiger, vollkräftiger Volkserziehung als ein Vorbild für die übrigen Culturvölker zu betrachten ist. Naturgemäße und allseitige (gleichmäßig körperliche wie geistige) Cultur schafft jene einzig unbezwingliche Macht, die hoch über Bajonneten und Kanonen steht.

Jener Weg, die directe Förderung der allgemeinen Wehrfähigkeit, ist der nächstnöthige, ungesäumt zu vollführende, sein eigentliches Ziel aber, wie gesagt, doch nur zu erreichen durch diesen Weg, durch Hebung und Harmonisirung der ganzen Volkserziehung. Dieser Weg ist zwar der schwierigere und langsamere, denn er findet seine Früchte erst in künftigen Generationen, aber er ist der einzig radicale, der einzig sichere, mag auch kommen was da wolle, und ist dazu der unerschöpflichste Quell des Segens für alle übrigen Lebensverhältnisse. Wer am Staate baut, baut nicht für den Augenblick, er baut für die Zukunft. Ein gesunder Staat wird aber nicht von oben herab gebaut, sondern er muß sich von unten herauf selbst aufbauen. Der Staat soll die großartigste Erziehungsanstalt sein, wo Einer den Anderen, wo Alle durch Alle sich stützen, tragen, heben – heben, aufwärts heben von Stufe zu Stufe auf der Bahn zur Verwirklichung der im Schöpfungsplane liegenden Menschheitsidee.

Machet das Volk nur gesund an Körper und Geist, so machet ihr es glücklich, so machet ihr es fähig, seine kulturgeschichtliche Aufgabe zu erfüllen, so machet ihr es unbesiegbar, ja unantastbar gegen äußere Feinde – das Volk und den Staat, mag dieser groß sein oder klein. Dies ist die einzig sichere Bürgschaft des Friedens. Alles übrige Heil des Staates entwickelt sich daraus von selbst, wie aus gesunder Wurzel gesunde Blüthe und Frucht!

Eine solche Politik allein hat festen Boden und triumphirt schließlich über jede andere, wenn diese auch künstlich zu einer noch so bedeutenden Höhe heraufgeschraubt, wenn sie auch eine noch so schlau berechnete wäre. Kniffige Schlauheit sinkt in den Staub vor der Allmacht der Naturwahrheit!




Erinnerungen an Ernst Rietschel.[2]

Von Berthold Auerbach.
I.

So möchte ich sterben, wie Rietschel. Solchen Ruhm zu erreichen, wie er, ist nur Wenigen vergönnt, aber so gehegt zu sein im Herzen der Freunde, das überragt allen Ruhm, ist größer, als alle Unsterblichkeit des Namens, gemeißelt und geschrieben. – Das waren meine Empfindungen, bald nachdem der erste erschütternde Schmerz vorüber, da ich den Tod des getreuen Freundes vernommen.

„Du hättest sehen können, was nicht so leicht wiederkommt: eine ganze Stadt in Thränen.“ So schreibt mir ein Freund, mich scheltend, daß ich nicht zum letzten Geleit gekommen war. Ich konnte nicht. Und konnte ich dem Abgeschiedenen nicht ein Wort in das offene Grab nachrufen, so will ich versuchen, jetzt, da die ersten Blumen aus seinem Grabe sprießen, einzelne Erinnerungen an ihn aufzuerwecken, mir zum Trost, Andern zur Erquickung.

Oft bereut man es, daß man nicht feste Aufzeichnungen von Lebensbegegnissen machte, und doch glaube ich, hat das wiederum sein Gutes. Das Leben wird bei der Tagebuch-Führung nicht unbefangen aufgenommen, unwillkürlich bildet sich ein Blick nach der Fixirung hin, und die unmittelbare gerade Aufnahme erhält etwas Schielendes. Eines jeden Menschen Leben und Entwicklung muß sich in gewisser Weise halten wie das Leben der Pflanze, die den Sonnenschein, Regen und Thau nicht als solche aufbewahrt; sie verwandeln sich vielmehr in das eigene Leben, das solche Einflüsse aufnimmt. –

Ich habe durch den Tod Rietschel’s einen Freund verloren, wie nicht leicht einer mehr wird. Zehn volle Jahre haben wir in innigem, beständigem Verkehr gelebt. Nie haben wir uns daran erinnert, wann und wie und wo wir einander zuerst kennen gelernt. Das war für uns keine Zeit mehr, es war von jeher nothwendig gewesen. Ich glaube, daß es in den meisten Fällen nicht aus Freude und Vertiefung, sondern aus theilweise unbewußter innerer Lockerung geschieht, wenn man einander die ersten Momente des Bekanntwerdens vergegenwärtigt: Du sahst so und so aus … kamst mir so und so vor … und fast wäre es anders geworden, u. dergl. Solches Heraufbeschwören der Vergangenheit [281] in fragwürdiger Erscheinung, solches Bloßlegen der Wurzeln dient nicht zur Befestigung. In einem wohnlichen Heimwesen denkt man nicht daran, was für Wahrzeichen und Jahreserzeugnisse in den Grundstein gelegt wurden, auf dem das Haus steht …

Indem ich das hier Niedergeschriebene eben überdenke, steht sofort die Gestalt des Freundes vor mir, wie er mir freundlich zulächelt. Glücklich war der Freund, wenn man ihm einen Gedanken in einem Bilde darlegte oder überhaupt in zusammengefaßter Rede sich aussprach. Er klagte oft, daß ihm die Kraft hierzu fehle; er könne das nicht so hergeben, was er in sich habe. Er ließ sich aber auch beruhigen beim Vorhalte, daß die innerste Kraft, zumal des Künstlers, wesentlich nur eine Seite habe, nach der sie sich voll ausdrücke; hätte er die Kraft des Wortes, so würde er sich nicht gedrungen fühlen, seine Worte, seine Gedanken, seine Anschauungen als Figuren herauszumeißeln. Jedes echte Wesen hat seine eigene Sprache, das eine in Farben, das andere in Tönen, das in Erz, das in Worten. – Der Gegensatz unserer beiden Berufsarten trat oft zu Tage. Ich stand jetzt zum ersten Mal und ein volles Jahrzehnt lang im vertrautesten Verkehr mit einem Meister der bildenden Kunst und kannte die Gemüthsbewegungen, die der äußeren Darstellung vorangehen und ständig sie begleiten. Auch den bildenden Künstler verfolgen und begleiten seine Gestaltungen Tag und Nacht auf Weg und Steg; seine Theilnehmung an der Welt ist auch oft nur eine halbe; er hört und sieht und redet und lebt oft wie fremd, wie abwesend in der gegebenen Welt, denn der Hintergrund seiner Seele ist ganz ausgefüllt und gespannt von dem einen Gedanken, von dem einen Gebilde, mit dem er sich trägt, und das Tagesleben erscheint wie traumhaft, wie durch einen Schleier verdeckt. Aber der bildende Künstler hat es leichter, sich der Gespanntheit seines Wesens durch Fixirung seiner Vorstellung zu entledigen, und er hat einen großen Vorzug vor dem Dichter, daß er sein inneres Schauen dem teilnehmenden Freundesblick zu einer einzigen Betrachtung vor Augen stellen kann, während wir an das Nacheinander des Wortes gebunden sind und dadurch nur schwer von fremder Anschauung bestätigt oder berichtigt werden können.

Ich betrachte es als ein großes Glück, daß ich theilnehmcn konnte an dem Wirken und Schaffen eines Mannes, der in erster Reihe zu denen gehört, die die Größe unseres zeitgenössischen Culturlebens bilden. –

Das Jahr 1846 gehört zu den glücklichsten meines Lebens. Ich hatte mich schon im Vorfrühling in Dresden angesiedelt, das ich im Herbste vorher kurz besucht hatte. Es war ein Kreis trefflicher Freunde, in den ich mich bald eingeschlossen fühlte. Ich weiß nicht wie es kam, schon in der ersten Zeit hatte ich ein ganz besonders vertrauliches Verhältniß zu Rietschel. Ich traf ihn eines Nachmittags bei Robert Reinick, und dieser sagte: „Es kommt mir widersprechend vor, daß man „Sie“ zu Dir sagt.“ – „Und mir auch“ stimmte Rietschel bei. Wir umarmten uns alle Drei, und der gute Reinick war so voll von dieser Stunde, daß er sagte: „Wir können jetzt nicht in der Stube bleiben, wir müssen in’s Freie.“ Wir gingen hinaus in den hellen Frühlingsabend, dort den Weg nach Blasewitz, am „weiten Kirchhof“ vorbei, wo jetzt Reinick ruht, nach dem Birkenwäldchen, und dann an der Elbe entlang nach der Stadt zurück. Die Sonne ging prächtig unter über den Lößnitzer Höhen, und ich weiß nicht mehr wer von uns es sagte: „Das sind Stunden, das sind Blicke in’s Leben, um derentwillen es sich verlohnt auf der Welt zu sein.“

Wir saßen dann noch bis spät in der Nacht dicht am Elbufer, im sogenannten italienischen Dörfchen, bei Speise und Trank; und hier, wie später noch oft, war viel davon die Rede, daß die blasirte Welt jedes heiße Empfinden, jedes treue, innige Versenken in die Tiefe des Augenblicks und in das Leben des Andern gern mit dem Ketzerwort „sentimental“ brandmarken möchte. – Rietschel sagte mir damals, daß er in den nächsten Tagen ein Relief von mir machen wollt. Ich arbeitete in jenem Sommer an der Erzählung „die Frau Professorin“, und daneben wurde das Buch „Schrift und Volk“ vollendet. Auch der „Gevattersmann“ war im vollen Gang, wozu mir Ramberg bereits einige treffliche Zeichnungen machte. Alles war voller Leben, und die Nachmittagsstunden, die ich in Rietschel’s Atelier und dann im kühlen Schatten der Linden auf der Terrasse mit ihm zubrachte, waren voll innerster Erquickung. Wir erzählten einander die Geschichte unseres Lebens, und ich will es nur gleich hier sagen: daß wir Beide uns aus kümmerlichen Verhältnissen heraufgearbeitet, daß wir Hunger und Noth in der Jugend kennen gelernt hatten, das bildete immer einen tiefen Grundton unserer Vereinigung. Oft und oft kam Rietschel wieder darauf zurück, daß wir uns am besten verstehen, weil wir Beide Noth und Elend kennen gelernt. Eine gewisse Zaghaftigkeit und – daß ich es nur geradezu bekenne – eine gewisse Verletzlichkeit, die Jedem, der seine Jugend in Noth verbracht, lebenslang anhaftet, verstanden wir Beide am besten zu erkennen und einander zu deuten. Jenes übermüthig Angrifsslustige, jenes schnell Fertige, jene zu Schutz und Trutz gerüstete Geistesgegenwart, die der hat, der immer gesichert im Leben stand, sich nie zu beugen, zu demüthigen, stille zu sein hatte, wie der in Armuth steht und Wohlthaten zu empfangen hat – das legten wir einander hundertfältig aus. Aber Armuth und Noth giebt auch etwas Besseres und Höheres. Man lernt die Wahrheit, die Güte, die Opferwilligkeit und freundliche Hegung der Menschen kennen, wie ein auf sich Gestellter, in geschützten Verhältnissen Erwachsener sie nie erfährt. Es bildete jetzt und später oft den Gegenstand unseres Gesprächs, daß wir es nicht verstehen könnten, wie Menschen leben mögen, die nicht an die wahrhafte Güte, an den Edelsinn und die Reinheit in der Welt glauben; und noch mehr, wie es Künstler geben kann, die das Schöne, das Wahre, das Höhere bilden und schaffen, und doch der Ueberzeugung sind, daß es in Wahrheit in der Welt nicht besteht.

Rietschel wohnte damals noch in seinem eigenen Hause in der „Langegasse“. Gleicher Erde wohnte Julius Hübner, eine Treppe hoch Bendemann, zwei Treppen hoch Rietschel. Es war ein vergnügliches Sein dort im Hause. Sehr viel Erheiterung gab ein Besuch von Gottfried Schadow, der seinen besondern Spaß daran hatte, daß Männer, und namentlich Officiere in Uniform, den, wie er es nannte, kindischen sächsischen Dialekt sprächen. Er speiste deshalb oft im Gasthofe, um das mit anzuhören. Der alte Schadow sagte einmal, daß er noch wenig solche humane Geistliche gefunden, wie ich einen in der Erzählung „die Sträflinge“ geschildert habe. Rietschel stellte sich auf meine Seite, daß es deren mehr gäbe, als man bei dem religiösen Hochmuth und der dogmatischen Ausschließlichkeit glauben möchte. Der alte Schadow erzählte auch, daß ihm Friedrich Wilhelm IV. einmal beim Eintreten zugerufen: „Voilá, göttlicher Schadow!“ – pas encore, Majesté!“ erwiderte Schadow. – Rietschel, der mit mir am offenen Balcon stand, fragte mich: „Sprichst Du gut französisch?“ Ich erwiderte ihm, daß ich nicht nur nicht gut, sondern sogar sehr schlecht spräche, daß ich in meiner Jugend genug zu thun hatte, noch vor meiner Militärpflichtigkeit das Abiturientenexamen zu machen, und das Französische als nicht obligatorisch sehr vernachlässigte, was mir noch immer nachgeht. Rietschel war auch hierin unserer Gleichheit froh und sagte, daß ihn der Mangel im Französischen sehr viel hindere und ihn namentlich Fremden gegenüber scheu und befangen mache. Als mich St. Reué Taillandier im Jahre 1854 in Dresden besuchte und ich eines Abends die Freunde mit ihm in meinem Hause versammelte, fragte mich Rietschel sofort beim Eintritt: „Er spricht doch deutsch?“ – „Allerdings.“’ Und nun war er den ganzen Abend besonders froh. Damals war noch die glückliche Zeit, wo er noch ein Glas Wein trinken durfte, und nie hat es einen Menschen gegeben, der frömmig dankbarer war für alle Gaben der Natur, der mit größerer Mäßigkeit genoß, als Rietschel. Auch das ist uns, die wir aus der Armuth stammen, eigen, und sehr leicht wird diese behagliche Freude an Speise und Trank und der freien Fülle des Lebens als Genußsucht von den im Wohlleben Erwachsenen mißdeutet.

Es war ein Pfingsttag – ich weiß nicht mehr in welchem Jahre – ich hatte unterwegs Maiblumen gekauft und gab sie nun Rietschel beim Eintreten. Ich sehe noch, wie er mit einer Art fieberischer Hast daran roch und dabei sagte: „Du weißt gar nicht, was mir diese Blumen sind, und gar heute! Wenn ich Maiblumen rieche, so habe ich eine der tiefsten Erinnerungen meines Lebens; sie erwecken ganz Namenloses in mir. Es war an einem Pfingstmorgen ganz in der Frühe, da ging ich mit meinem Vater hinaus auf einen Berg“ – er nannte den Namen, ich weiß ihn nicht mehr. – „Ich war damals sieben oder acht Jahre alt. Es war ein wunderbar heller Morgen, und die Sonne brütete schon auf der Wiese. Da zeigte mir mein Vater etwas in der Ferne, [282] das in Nebel und Kohlenrauch gehüllt war, und da sagte er: Das ist Dresden! Mir war das damals etwas auf der Welt, was gar nicht zu erreichen ist. Wer auch dort sein könnte! Das muß eine ganz andere Welt sein! Es war eine wunderbare Ahnung in mir, was ich dort Alles erleben sollte, und da brachen wir Maiblumen, die da standen, und brachten sie heim. Mein Vater roch besonders gern daran, und so oft ich sie rieche, steigt die Erinnerung an jenen Pfingstmorgen wieder in mir auf.“ – Ich habe später, während Rietschel viele Wochen das Zimmer hüten mußte, ihn veranlaßt, nicht nur ein genaues Verzeichniß aller seiner Arbeiten zu machen, sondern auch seine Jugenderinnerungen aufzuzeichnen. Vielleicht findet sich Dieses und Anderes darin, wornach es sich wird berichtigen und ergänzen lassen.

Nur eine Erinnerung aus jener Zeit muß ich hier doch noch einschalten. Ich las, um mich dem großen Freundeskreise in etwas dankbar zu erweisen, im Hause unseres Freundes Ferdinand Hiller die eben vollendete und noch nicht im Druck erschienene Erzählung „die Frau Professorin“ vor. Ich hatte auf zwölf Uhr Mittags eingeladen und glaubte in höchstens zwei Stunden fertig zu sein, aber ich hatte mich arg verrechnet; es dauerte bis nach vier und ich war noch nicht fertig, und als ich Rietschel hinausbegleitete und mir die alte Frankfurter Köchin im Hause zurief: „Die Kreuzdonnerwetter, die heut’ von allen Köchinnen auf Ihren Kopf heruntergewunschen worden sind, die möcht’ ich nicht haben,“ da lachte Rietschel ganz unbändig und neckte mich noch oft damit.

Ich verließ im Herbst 1846 Dresden, machte eine Fußreise durch die Lausitz und ging nach Breslau. Von dort aus, schrieb ich an Rietschel alsbald nach meiner Verlobung, und er schickte mir das Relief, das er von mir gemacht hatte. Ich sah ihn erst Mitte Juni 1847 wieder. Ich traf ihn in seinem Atelier sehr traurig. Seine Frau war krank, er hatte den Auftrag, für einen Polen, der seinen einzigen Sohn verloren hatte, die Pieta für die Familiengruft zu machen. Durch die 1846 in Polen ausgebrochene Revolution und durch die mitten im Frieden erfolgte Einverleibung Krakau’s in Oestreich ward die Bestellung zu nichte, aber Rietschel arbeitete dennoch zu seinem eigenen Genügen, wenn auch doppelt bekümmerten Herzens, an seinem Werke weiter. – Rietschel erlebte mehrmals die ganze Schwere des Daseins, die dem bildenden Künstler und vor Allem dem Plastiker auferlegt ist, wenn er sich ohne eigentlichen Auftrag sieht. Er arbeitete unverdrossen weiter, und hier liegt die andere Seite, auf der sich die Bevorzugung des bildenden Künstlers vor dem im Worte wieder ausgleicht.

Ich darf es gleich hier einfügen, Rietschel hatte Vertrauen zu meinem unbefangenen Blick. Ich bin noch heute weit davon entfernt, mir eine Kunstkennerschaft zuzutrauen, und eben das, daß ich rein nach persönlichem Eindrucke ein Kunstwerk aufnahm und ohne Scheu denselben kundgab, das nahm Rietschel als ein „Stück gebildetes Publicum“, wie er mich scherzweise oft nannte. Er hatte mehrere Modelle zu dieser Pieta gemacht; ich war beim ersten Blick entschieden, daß nicht Maria mit ausgebreiteten, schmerzlich erhobenen Händen zu wählen sei, sondern die, da sie die Hände still faltet. Der Schmerz als Schrei ist vorüber, es ist eine gewisse stille, beruhigte Ergebung eingetreten, eine Sättigung in Thränen, die nicht mehr fließen. – Es that Rietschel wohl, von einem Unbefangenen so ganz ohne Zweifel und ohne alles Bedenken seine Wahl bestätigt zu sehen, denn auch dem größten Künstler ist es eine Beruhigung und ein Genügen, wenn ein freier fremder Blick seine Intentionen bestätigt. Es tritt inmitten der Arbeit eine Eingenommenheit ein, die den ersten, von keinem Eindruck erfüllten Anblick schwer vermissen läßt.

Ich verließ Rietschel damals mit doppelt schwerem Herzen, da ich mich selbst so hoch beglückt fühlte. Ich hörte dann in der Ferne von dem Tode seiner Frau und sah ihn erst wieder im Jahre 1849, nachdem ich auch durch den tiefsten Schmerz des Daseins geschritten und wieder ein neues Leben begonnen hatte.

Von nun an lebte ich volle zehn Jahre in ungestörtem, innigem Zusammenhang mit ihm, und wenn es einen Trost giebt für einen so unersetzlichen Verlust, so wird man es mir nicht verargen, wenn ich ihn in dem Bewußtsein finde, nach bester Kraft dem Freunde das Beste dessen gewesen zu sein, was man sein kann. Rietschel hatte jene heilige, beseligende Kraft, daß man in seiner Nähe, in seinem Verkehr das Beste, was im Innern lebt, angeregt und zur Entfaltung herausgetrieben fühlte. Er hatte ein getreues Zuhören, ein Hören mit dem Gesicht, ein Ablesen von den Mienen, und dabei eine begütigende Milde, daß man sich im Innersten wohl und glücklich fühlte, auch da, wo man stritt und scharf discutirte; denn Rietschel war bei aller Milde eine strenge und unbeugsame Natur, er hatte in politischen und kirchlichen Dingen ganz bestimmte Sympathieen und Antipathieen und ließ sich seinen Maßstab nie entwenden. Er bedauerte und betrauerte bisweilen, daß dem Freunde der Friede mit den Positivitäten der Welt nicht so gegeben war wie ihm, und er fühlte vollkommen das Schmerzliche, zu lebenslänglicher Opposition verdammt zu sein. Aber er hatte nie eine Spur jenes Hochmuthes, der von dem Standpunkt aus spricht: ich allein habe eigentlich die Wahrheit, und du wirst schon noch, wenn du älter wirst, auch auf meinen Standpunkt kommen. Rietschel war ein strenger, entschiedener Christ und zwar protestantischer Christ; er verhehlte es nie, wie leid ihm das Unvereinbare thue, und wie er glaube, daß nur ein kleiner Schritt dazu gehöre, daß ich dogmatisch oder positiv mit ihm zusammenstimmen müßte; wenn er aber sah, daß dies doch unmöglich, beschied er sich dessen und hielt Freundschaft und Liebe über Alles hoch.

Rietschel war eine friedfertige, in kirchlichen und politischen Dingen conservative Natur. Der Meister, der auf dem Gebiete der Kunst die That setzte, daß das wirkliche Leben auch der Idee, hier also der Idee der Schönheit, entsprechen müsse, hielt die Consequenz auf andern Gebieten nicht so ausführbar; er, der im Gebiete der Kunst ein Neues setzte und hier umbildend sich bethätigte, wollte das Andere in seinem Bestehen walten lassen. Es mag sein, daß es nöthig ist, um nach der einen Seite hin reformatorisch vorzudringen, die anderen an sich bestehen zu lassen. Der bildende Künstler bedarf im weitesten Sinne jenes festen, unbeugsamen, eisernen Stabes, um den er den weichen, jedem Drucke nachgebenden Thon zu fügen hat. Die Kunst schafft nicht das unmittelbare Staats- und Gesellschaftsleben neu, sie nimmt das Gewordene, aus Kampf und Widerstreit Erfochtene auf und erhebt es zur Schönheit.

Anfangs der fünfziger Jahre lebte Rietschel noch oft im geselligen Kreise auch außerhalb des Hauses und besuchte oftmals unsere Montagsgesellschaft, in der sich ein Kreis von Künstlern und Gelehrten zwanglos versammelte. Wir führten damals ein Festspiel auf, das einige von uns als besonderes Comité gemeinsam ausarbeiteten. Es hieß „die Monuments-Concurrenz“ und stellte dar, wie Verschiedene sich bewerben, um den Auftrag zur Ausführung eines Monuments zu erhalten. Zuerst traten die Künstler, Jeder einzeln, auf, und Jeder rühmte seine Arbeit und beanspruchte den Auftrag; bis endlich die Frage aufgeworfen wurde, wem denn eigentlich das Denkmal gesetzt werden solle. Nun traten die Schriftsteller auf, von denen ein Jeder in seiner Weise verlangte, daß man ihm das Denkmal setze. Zuletzt wurde beschlossen, daß ein Denkmal errichtet werde, und es wurde ein solches aufgestellt, aber vor der Hand ohne Kopf. Derjenige, der es verdienen werde, dessen Kopf solle hier in künftigen Zeiten aufgesetzt werden.

Zu diesem Puppenspiel, das die machtgebietende Stimme unsers Obern ausführte, hatten Pecht und Ramberg die sämmtliche Gesellschaft in maliciös gelungenen Caricaturen gemalt. Rietschel war etwas ärgerlich, daß er gar so weichselig und erbarmungswürdig aussah. Aber er verstand Spaß und war dann heiter und guter Dinge. – Auch bei einer Weihnachtsbescheerung, die wir uns gegenseitig machten und wobei die einzelnen Gaben verloost wurden, betheiligte sich Rietschel mit vieler Lust, und seltsamer Weise gewann ich seine Gabe, die noch ganz naß war, da sie eben erst vom Former kam. Er neckte mich noch oft damit, daß gerade ich diesen harten Scherz, von dem weiter kein Abguß vorhanden ist, haben mußte.

Rietschel war nach seiner ganzen Art, nach seiner friedfertigen und jedem heftigen Kampf abholden Natur, ein, man kann sagen persönlicher Gegner der heftigen Bewegungen aus dem Jahre 1848. Wenn er auch oft bekundete, daß er den Jammer mit empfinde, der Jeden in jedes Gebiet hinein verfolgt, den Jammer um eine feste nationale Einheit und einen nothwendigen starken Mittelpunkt – so war er doch nach seiner ganzen Gemüthsanlage allen heftigen Staatserschütterungen abhold. Aus dieser Stimmung heraus hatte er nun eine achtundvierziger Germania modellirt; sie sitzt quer auf dem Kaiserstuhl, hat keck die Beine übereinander geschlagen, [283] in der rechten Hand eine Cigarre, in der linken ein Glas Bier, und unterm Kaiserstuhl steht ein Bierfaß.

Es that mir leid und es that später auch Rietschel leid, daß er diesen herben Scherz gebildet. Der Scherz und die Satire stehen innerlich schon im Widerspruch mit dem Ewigdauernden der plastischen Kunst, wie schon äußerlich ein im Bilde festgehaltenes Lächeln und Scherzen leicht zur Fratze wird. Und doch konnten wir uns nicht dazu entschließen, das einmal Gemachte wieder zu zerstören.

Ich hatte bei Eröffnung des Leipziger Museums einem dortigen Freunde vorgeschlagen, daß Leipzig ein Rietschel-Museum gründe und dadurch einen besonderen Besitz von Plastik gewänne, zumal Rietschel keinen Platz hatte, um seine Modelle aufzubewahren. Ich sprach auch mit Rietschel selbst davon, und es wäre ihm zu seinen Lebzeiten noch ein Erträgniß dadurch geworden. Freilich fand Rietschel die Gründung eines Rietschel-Museums zu stolz, und die Sache wurde überhaupt nicht weiter betrieben. Jetzt wird in Dresden ein Rietschel-Museum gegründet.

Wenn ich nun das genannte Relief dem Rietschel-Museum überliefere, so möchte ich, daß jedem Beschauer durch irgend ein Zeichen kundgegeben werde, wie dies nur ein momentaner Stimmungsausdruck Rietschel’s war, daß er vielmehr für die Einheit, Freiheit und Größe Deutschlands warm erglühte, aber eine zu stille, schreckhafte Natur war, um von den Unzuträglichkeiten, die jede große Umwälzung mit sich führen muß, nicht allzuhart, ja bis zur Ungerechtigkeit hart, berührt zu werden.

Jeder Panegyrismus, jedes Ausdeuten eines wirklichen Menschen zu einem allgemeinen und absoluten Ideal ist falsch und führt zur Lüge vor sich und vor Anderen. Ritschel hatte, offen gestanden, auch seine Fehler, und er war doch bei alledem ein ganzer, vortrefflicher, im vollsten Sinne des Wortes guter Mensch.

Als Rietschel des vielen Rauches wegen unsere Montagsgesellschaft nicht mehr besuchen konnte, kamen wir doch noch bei einem freundschaftlichen Mahle oder im engern Familienkreise des Abends zusammen. Die Welt betrachtet es noch als eine Huldigung, wenn sie vom Künstler verlangt, daß er sich auch der Gesellschaft widme und da allezeit wach erscheine und sein Inneres auslege. Die Welt vergißt, daß der Künstler ja der Welt genug bietet, indem er ihr seine Einsamkeit widmet, in der er erglüht beim Ausgestalten seiner innern Anschauungen.

Rietschel war es nie recht wohl in großer Gesellschaft; er hielt sich auch da am liebsten zu einem Einzelnen, mit dem er sich traulich besprach. In seiner ganzen Redeweise war nie etwas von einer herkömmlichen Phrase, er sprach immer sich selbst aus und zwar sich selbst in der ganzen Fülle momentaner Erregung. Solchen Naturen wird das Gesellschaftsleben zu einer neuen Anstrengung. Er opferte sich oft den herkömmlichen Anmuthungen, wo er viel lieber einsam daheim oder mit einem Freund geblieben wäre. Wer es wahrhaft gut mit ihm meinte, zog ihn nicht in große Gesellschaft, und erst später gewann er die Kraft, sich ohne Rücksicht und Nachgiebigkeit davon zurückzuziehen.

Rietschel durfte doch noch ein Glas Wein trinken. Wir saßen einmal neben einander bei einem Gastfreunde. In grünen Römergläsern wurde Markobrunner 46er aufgetischt, ein Wein voll mächtigen Feuers und Duftes. Rietschel trank davon, dann setzte er ab und rief laut: „Du, trink einmal. Dunnerwetter! Was ist das für ein Wein!“ – Von jenem Tage an hieß der Markobrunner 46er „Dunnerwetter“, und so oft wir bei dem Freunde aßen, mußte auch eine Flasche „Dunnerwetter“ aufgesetzt werden. Rietschel erging sich dabei manchmal in begeisterter Rede, wie herrlich es sei, daß so etwas auf der Welt wachse, und wie glücklich die Menschen seien, die das so mir nichts dir nichts ihren Freunden auftischen können. Herrliche Stunden waren es dann, wenn wir Beide oft, nachdem wir ein paar Glas „Dunnerwetter“ getrunken, stundenlang mit einander auf dem Wege nach Strehlen und durch dem Großen Garten spazieren gingen.

Im Winter 1850–51 war Rietschel, der nun in der Struvestraße Nr. 8 wohnte, krank. Ich besuchte ihn oft. Er saß in dem Zimmer, das nachmals mein Arbeitszimmer wurde, und las und zeichnete mancherlei. Schon damals mußte er im Sprechen sich mäßigen und jede heftig erregende Gemüthsbewegung fern halten. Ich mußte jetzt, wie später noch oft, an Spinoza denken, der von Jugend an durch wachsame, haushälterische Eintheilung seiner Lebenskraft sich sein Leben erhielt. Dem Philosophen mag das eher gelingen, als dem Künstler, dessen Lebenselement die heiße Empfindung ist. Die Freunde und vor Allem die Gattin dürfen sich sagen, daß sie ihn mit jener Friedensstille umgaben, in der er frei und wohlig athmete. – Auch an Widersachern fehlte es Rietschel nicht, und wenn er davon sprach, waren seine Mienen stets voll tiefen Schmerzensausdrucks. Es war sein tiefstes Wehe, nicht mit der Welt in vollem Frieden stehen zu können; er war der Herbheit gegenüber wie ein Waffenloser zu dem, der keine Waffe verschmäht, und eine geflissentliche Grußlosigkeit von dem Begegnenden konnte ihn tagelang betrüben.

Eines Abends, da ich bei ihm war, sprach er von den noch fehlenden Reliefs an dem Lessingdenkmale und zeigte uns Entwürfe dazu. Robert Reinick war mit dabei. Es war viel davon die Rede, ob es möglich sei, eine plastische Gestalt für den Begriff der Humanität unmittelbar kenntlich zu geben; es muß sich noch eine Zeichnung vorfinden, wo die Kraft einen Genius im Arm hält, der die plastische Erscheinung der Humanität sein sollte. Mit dem Lessingdenkmale, für das wir damals Vorlesungen und eine Theatervorstellung veranstalteten, wozu ich einen Epilog zu „Emilia Galotti“ geschrieben habe, hat Rietschel zum ersten Male die ganze Größe und Eigenthümlichkeit seiner Kraft dargestellt. Es wird die Aufgabe des Dr. Schiller in Braunschweig sein – mit dem Rietschel nahe befreundet war – die Geschichte des Lessingdenkmals zu schreiben, die leider keine Ehre für die deutsche Nation sein wird. – Der äußere Ertrag war für den Künstler unsäglich gering, und die braunschweig’sche Regierung hat noch ihre Größe darin gezeigt, daß sie am Tage der Enthüllung das Militär ausrücken ließ und dem Comité keine Militärmusik zur Feier gab.

Mit der Lessingstatue, das ist nunmehr geschichtlich festgestellt, hat Rietschel der plastischen Kunst eine neue Wendung gegeben. Die Kunstgeschichte wird auszuführen haben, wie der Uebergang aus der Rococo-Zeit und dem manierirten Idealismus zu Schadow und von da zu Rauch bis zu Rietschel’s Lessing sich herausstellt. Der ganze theoretische Streit von der Vereinbarung des Stylvollen und des Wirklichen ist hier thatsächlich erledigt; das Schöne ist kein Jenseits mehr, es bedarf nicht mehr des Alles bedeckenden antiken Mantels, um die Wirklichkeit zu verhüllen. Hier ist die volle historische Naturwahrheit, die feste Individualität der persönlichen und zeitlichen Erscheinung durchdrungen und eins geworden mit der ewigen Erscheinung schönheitsgemäßer Stylisirung. Ist es nicht wie ein wunderbarer Zusammenklang geschichtlicher Thatsachen, daß gerade Lessing’s Standbild dazu berufen war, die volle Einheit des Stylvollen und Naturwahren zuerst vor uns erscheinen zu lassen, Lessing’s, der gerade selbst als der Erste und Mächtigste an der Durchdringung dieser beiden Elemente kämpfend und schaffend arbeitete? – Von allen Werken, die Rietschel geschaffen, blieb das große Lessing-Modell immer in seinem Atelier. Lessing sah dem Bildner stets zu, wie er die mit ihm gesetzte Epoche immer weiter und weiter führte.

Am 22. Januar 1729 wurde Lessing zu Kamenz als Pfarrerssohn geboren, fünfundsiebenzig Jahre später, am 15. December 1804, wurde Rietschel als Sohn des Täschners und Kirchners in dem benachbarten Pulsnitz geboren. Beider Gedenken ist nun in eins verschmolzen. Der Knabe, der am Pfingstmorgen so ahnungsvoll nach Dresden ausschaute, sollte hier das Bild seines Landsmanns schaffen und mit ihm eine neue Epoche der Kunst abmarken.

Es ist ein wunderbarer Gegensatz zwischen dem Dichter und dem bildenden Künstler. Dem Maler, dem Bildhauer werden meist, dem Baukünstler immer Aufgaben gestellt. Es giebt aber kein dichterisches Werk von Bedeutung, das aus einem fremden Auftrag hervorgegangen wäre. Der Dichter, der seine Subjektivität einsetzt, kann die Aufgabe nur aus sich selbst empfangen und glücklich der, der mit Gestaltung aus der Subjectivität heraus etwas giebt, was in der allgemeinen Anschauung ruhte oder nun zu derselben wird. Das Material des Dichters ist das Wort, und das Wort ist ursprünglich eins mit dem Athem, der zugleich das eigene Leben ist. Der bildende Künstler dagegen hat Farbe, Thon, Erz und Stein zu seinem Material. Er macht das äußerlich Gegebene zum Ausdruck seines inneren Seins und Schauens. Die größten Erzeugnisse der bildenden Kunst sind aus Aufträgen entstanden, sei nun der Auftraggeber eine machtvolle, einsichtige Persönlichkeit oder eine ganze Nation. Die bildende Kunst hat weit mehr Themas, zu denen eine Nöthigung des allgemeinen Bewußtseins [284] drängt, in welchem Auftraggeber und Künstler mit einander stehen. Indem die bildende Kunst weit mehr an eine geschichtliche Continuation gebunden ist, der der Einzelne sich nicht zu entziehen vermag, und indem sie von technischen Voraussetzungen bedingt ist, hat der ausübende Künstler vorwiegend das formelle Interesse walten zu lassen. Das Inhaltliche, das Stoffliche tritt dabei zurück, und es ist ein besonderes Glück, wenn der Künstler sich damit zugleich erwärmen kann, so daß der von außen gegebene Auftrag zu einer innern Aufgabe wird.

Es giebt eine Kunstbetrachtung, die die Werke der Kunst, besonders der bildenden Kunst, ganz ablöst von der Persönlichkeit des schaffenden Künstlers, von seiner Weltbetrachtung und Eigenart. Ich möchte dagegen behaupten, daß die auszeichnende Eigenschaft Rietschel’s, Wahrheit und Wirklichkeit in eins zu gestalten, ganz aus seinem Charakter hervorging. Daß Rietschel in der Portrait-Statue die stylvolle Formenschönheit herausarbeitete, das lag mit in seinem Glauben an die Güte und Schönheit in der wirklichen Welt. Er sprach diesen Glauben plastisch aus, und Lessing spricht ihn aus in seinem eigenen Sein und in seinem Wiedererscheinen durch die Hand des bildenden Meisters.




Die englische Industrie- und Kunst-Ausstellung aller Völker für das Jahr 1862.

War es nicht die schöne Königin Dido, welche einstmals vor Alters das durch drei punische Kriege berühmte Carthago gründete? Von den Schulbänken her habe ich noch eine dunkele Erinnerung, daß sie von der Polizei Erlaubniß erhielt, sich für die neue Stadt so viel Grund und Boden zu nehmen, als sie mit einer Ochsenhaut umspannen könnte. Die schöne Dido streckte und dehnte diese Ochsenhaut-Polizeischranke nach Kräften, ließ das abgezogene Fell des größten Bullen in möglichst dünne Riemen schneiden und damit messen. So bekam sie die Grenzen der berühmten alten Handelsstadt, einer ganzen Welthandelsstadt. In dem modernen London zogen sie erst neulich mit Frühlings-Anfang draußen im Südwesten des Hyde-Parks die Grenzen zu einem einzigen Gebäude, das man schwerlich mit den dünnsten Riemen der dicksten Ochsenhaut umspannen wird. Sie legten den Grund zur neuen Industrie- und Kunst-Ausstellung aller Völker, die über’s Jahr um diese Zeit schon fix und fertig und mit dem veredelten Schweiße und Fleiße aller Nationen ausgeziert sein soll.

Der projectirte Ausstellungs-Palast für 1862 in London.

Ja, das muß man den modernen Carthageniensern lassen: sie [285] wissen mit associirten, freien Geldmassen und speculativem Unternehmungsgeist in’s Zeug zu gehen und in’s Große zu arbeiten, Sie fürchten sich, wie alle Helden dieser Tage, vor Krieg und dem „schwarzen Manne“ in Paris. Das stört überall den freien Blut- und Geldumlauf und treibt Capitalien, die sich in Handel und Wandel gern Zinsen verdienen möchten, in feuerfeste Geldspinden und alte Strümpfe, wo sie ihres Daseins ebenso wenig froh werden, wie deren ängstliche Eigenthümer und Nachtwächter. Die Engländer riskiren’s aber doch und speculiren auf den nicht wahrscheinlichen Frieden aller Völker mit mehr als zwei Millionen Thalern.

Item, der neue Friedenstempel aller Völker wird gebaut; das kosmopolitische Kampfspiel aller geschickten, fleißigen, künstlerischen, stoffveredelnden, Schönheit und Lebensbefriedigung schaffenden Hände und Häupter um goldene Preise und Adelsdiplome für Bestes und Schönstes soll mit dem ersten Tage des Wonnemonats 1862 beginnen. Er soll dastehen unabsehbar breit und hoch ragend mit seinen beiden Licht-Domen zu rechter Zeit, auch wenn die englischen Bauhandwerker auf ihrem neuen „strike“, der zweiten großen Arbeits-Einstellung, beharren.

Das Strike-Fieber wüthet jetzt in Hunderttausenden englischer Handwerker und Fabrikarbeiter in allen möglichen Gegenden und Industrie-Zweigen und in den verschiedensten Acten tragischer Verwickelung. Bei uns Deutschen würden die geringsten Anzeichen solcher „Verschwörung der Arbeit gegen das Capital“ blasses Schrecken und eiserne Maßregeln rother Schreckens-Herrschaft hervorrufen. In England wüthet dieser sociale Krieg, ohne daß ein einziger Policeman nur seinen weißen Handschuh dazwischen stecken darf. Kaum hatten die Bauhandwerker zu Tausenden an dem neuen Ausstellungs-Palaste angefangen, als sie eines schönen Morgens kamen, ihre Handwerkszeuge packten, auf die Schultern nahmen und in langen Processionen abzogen, um nicht eher wieder zu kommen, bis ihre alte Forderung: 9 statt 10 Stunden Tagesarbeit ohne Lohn-Verminderung, bewilligt sein werde. Sie unterhandelten sodann mit den Arbeitgebern, welche sich natürlich nicht zwingen lassen wollen, aber eben so wenig fordern, daß man den Arbeitern Zwang anthue. Nur drohen sie mit belgischen, französischen und deutschen Arbeitern, wenn die englischen auf ihrer Forderung beharren.

Man wird zugeben, daß sich somit eine höchst wichtige, brennende sociale Frage an den neuen Ausstellungs-Palast knüpft. Wir wollen diese hier nicht weiter verfolgen und uns das große Bauwerk, wie es von den Architekten zur Ausführung vorgezeichnet ward, von seiner Vorderseite zunächst flüchtig ansehen. Von den jetzt vorliegenden Zeichnungen des Architekten, Capitain Foulke, wählen wir die, welche den Schaaren, die von Cromwell-Road, der Hauptstraße, heraneilen, immer zunächst in die Augen fallen wird, die Front, das Gesicht des neuen Friedenstempels.

[286] Schön und im ästhetischen Sinne edel will uns dieses Gesicht nicht erscheinen; doch mag die Wirklichkeit in lebensgroßer Massivität diesen Eindruck des kleinen Bildes Lügen strafen, was wir herzlich wünschen. Diese Façade besteht aus einer langen, breitmäuligen Fläche von nüchtern gefügtem, leichtem Mauerwerk mit einem zu kleinen Mittelpunkte. Sie scheint nicht zu den beiden Domen oben passen zu wollen. Diese erinnern an Kirchlichkeit, die hier nichts von ihren Werken, nichts von neuen Schöpfungen des Schönen und Erhabenen zu zeigen haben wird. Der architektonische Schönheitssinn – eine in England unbekannte Größe – wird sich vergebens abmühen, das Ganze als etwas Ganzes und Einiges mit einem Male zu übersehen und auf sich wirken zu lassen. Der neue Palast wird nämlich noch viel größer, als der von 1851, der in seiner Länge sich auch schon in’s Unsichtbare verlor.

Der damalige Glas-Tempel, der eine der größten Ulmen mit bedeckte, erhob sich im Haupt-Transepte bis zu 160 Fuß. Die Dome des neuen Palastes werden 100 Fuß höher. Das Schiff des ersteren war nur 60 Fuß hoch und 72 weit, das neue wird eine Höhe von 100 und eine Weite von 85 Fuß erreichen. Nur die ungeheuere Länge des alten, 1800 Fuß, wird 600 Fuß kürzer im neuen Palaste sein, dessen unter Dach und Fach bedeckter Raum im Ganzen aber just ein halbmal größer sein wird. Der alte hatte 1 Million Quadratfuß Boden, der neue wird 1½ Millionen einnehmen. In Bezug auf die Kosten sieht das neue Unternehmen noch viel großartiger aus. Die Herren Fox und Henderson bauten den Krystall-Palast von 1851 für 80,000 Pfund, während die Bauherren des neuen, Kelk und Lucas, nicht weniger als 300,000 Pfund erhalten sollen. Diese Summe verliert nur etwas von ihrer Ungeheuerlichkeit durch die Clausel, daß die Herren 100,000 Pfund auf den finanziellen Erfolg des Unternehmens wagen. Das heißt: sie begnügen sich mit 200,000 Pfund baar und wollen die andern 100,000 Pfund nur dann in Anspruch nehmen, wenn die Ausstellung den entsprechenden Rein-Gewinn erweist. Mit dieser Clausel sprachen die Bauherren zugleich das größte Vertrauen auf Erfolg des Unternehmens aus, sodaß auch die nöthigen 200,000 Pfund baar schnell und gläubig gezeichnet wurden.

In architektonischer Beziehung rühmen die Engländer noch, daß die beiden Dome auf dem Gebäude alle andern Kuppeln und Thürme der Welt, wenn nicht an Höhe, so doch an Dicke übertreffen sollen. Die Kuppel der St. Peterskirche zu Rom – die größte, hat 139 Fuß Durchmesser, St. Paul’s in London 108; jede der Ausstellungs-Kuppeln soll 160 Fuß Durchmesser haben.

Ob diese Dicke schön sein, den Bauverhältnissen der übrigen Theile entsprechen wird, ist sehr zu bezweifeln. Die Engländer suchen einmal ihren Ruhm nicht im gemessenen Schönen, sondern im Dicksten, Meisten, Massenhaftesten und Größten.

Der neue Palast wird kein Glastempel sein, sondern meist aus Stein, Holz, Eisen und Filz gebaut werden. Das hölzerne Dach wird außen mit getheertem Filz gedeckt, der, mit dem Holze ein schlechter Wärmeleiter, vor schnellem Temperaturwechsel schützen, im Winter warm, im Sommer kühl halten wird. Das Innere wird natürlich malerisch und architektonisch ausgeziert. Eine Reihe von 25 Fuß hohen Fenstern, die unmittelbar oben vom Dache herab um das große Gebäude herumlaufen, und die fensterreichen Dome sollen ein hinreichendes, aber nicht überflüssiges und blos von oben her fallendes, daher günstiges Licht auf die ausgestellten Gegenstände werfen, die in dem Krystall-Palaste von 1851 sehr oft durch zu grelle Beleuchtung litten. Die umlaufenden Galerien und sonstige innere Bestandtheile des Bauwerks werden von Doppelreihen, 22 Fuß hoher, schlanker, hohler Eisensäulen getragen. Von den verschiedenen Eingängen scheint der erste und hauptsächliche in der Mitte auch den Ruhm des höchsten und größten in der Welt davon tragen zu wollen. Ein Eingang von 60 Fuß Höhe und 50 Weite muß ja Brobdignac’s zu Liliputern und den größten Dragoner zu Pferde zu einem Bleisoldaten in einer Silbergroschenschachtel erniedrigen.

Soviel einstweilen von dem Gebäude selbst. Wichtiger und anziehender wird jedenfalls, was hineinkommt. Neu im Inhalte wird die mit der Industrie aller Völker verbundene Kunstausstellung sein, die ein ganzes Jahrhundert – das letzte von 1752 an – und die Werke aller Nationen umfassen soll. Nicht nur Frankreich, Deutschland, Belgien, Italien etc. werden ihre Gemälde und sonstigen Kunstwerke einsenden, sondern auch Amerika, Australien und sonstige Antipoden wollen zeigen, bis zu welchem Grade sie ihren schöpferischen Schönheitssinn entwickelt haben. Noch neuer und origineller ist der Plan, einen culinarischen Congreß, d. h. auf deutsch ein kosmopolitisches Parlament, d. h. wieder auf deutsch eine allvolkliche Versammlung von den Töpfen und Tiegeln, Pfannen und Schüsseln, Gerichten und Speisen aller Nationen zu berufen, und auf Verlangen selbst chinesische Vogelnester und Ratten braten, geschmorte Affen und gebratene Känguruhs von den Antipoden her aufzutischen. Dabei soll es nicht an baierischem Bier für die Deutschen, Weißbier für die Berliner Philister, Quaß für die Russen und berauschenden Getränken aus Hanf, Milch, Mohn, Pferdemist etc. fehlen.

Was die Bestimmungen und Bedingungen für Aussteller betrifft, so machen wir auf folgende aufmerksam. Ausländer können nur durch Vermittlung der in jedem Staate von den Regierungen ernannten Commissionen mit den Directoren und Leitern der Ausstellung in Unterhandlung treten und durch diese ihre auszustellenden Gegenstände befördern. Diese Clausel gilt für Engländer nicht, und als ein Compliment für die polizeiliche und staatliche Bevormundung in dem außerenglischen Europa hat sie für uns etwas sehr Demüthigendes. Lebende Thiere und Pflanzen, frische Vegetabilien und der Fäulniß unterworfene thierische Substanzen, so wie explosive und gefährliche, sehr verbrennbare Gegenstände dürfen nicht ausgestellt werden. Andere minder gefährliche Sachen werden nur in festen, sicheren Glasgefäßen zugelassen. Die ausstellbaren Gegenstände zerfallen in vier große Sectionen und jede derselben in mehrere, im Ganzen in 40 Classen.

Die erste Scction umfaßt Rohproducte aus Bergwerken und Steinbrüchen, Metallurgie, Mineralien, chemische Producte und Arzneien, eß- und trinkbare Sachen, animalische und vegetabilische Substanzen; die zweite Werkzeuge und Maschinen, Gegenstände für Architektur, Instrumente für Naturwissenschaften, Photographie, medicinische und musikalische Instrumente; die dritte Werke textiler Künste, also des Webens, Flechten-, Spinnens etc. Lederwaaren, Kleidungsstücke, alle Dinge von Papier und Pappe, Meubels, Schneide- und Schnittwaaren, keramische Künste, d. h. Dinge, die durch Kneten, Treiben, Hämmern, Ziehen, Schlagen, Blasen und Stoßen entstanden, Topf, Glas- und Porzellanwaaren, Werke des Juweliers und endlich Alles, was nicht in einer andern Section unterzubringen war. Die vierte Section gilt der Kunst: Architektur, Malerei, Sculptur, Zeichenkunst, Kupfer- und Stahlstichen, Holzschnitten, lithographirten und geätzten Sachen.

Die königlichen Commissionäre der Ausstellung erwarten alle Gegenstände vom 12. Februar bis zum 31. März des folgenden Jahres. Nur ganz schwere, umfangreiche Sachen, deren Unterbringung viel Zeit und Raum fordert, müssen bis zum 1. März abgeliefert sein. Insofern diese besondere Fundamente und Constructionen erfordern, muß der Aussteller entsprechende Erklärungen und Anweisungen oder persönliche Helfer und Rathgeber beifügen. Wer Maschinen in Bewegung zeigen will oder sonst Dampf braucht, wird mit Schaft-Dampf bis zu 30 Pfund per Zoll versorgt werden. Jeder Aussteller muß die Kosten für Fracht und Transport, alle Abgaben auf seine Artikel (auch den Zoll?) bezahlen und auf seine Rechnung alle Kisten und Kasten weg- und unterbringen. Auch gegen Motten-, Feuer- und Diebesschaden wollen die Herren keine Verantwortlichkeit übernehmen.

Letztere Bedingungen sehen nicht sehr anständig aus. Es wird damit eigentlich nur gesagt: „Ihr Herren Künstler, Fabrikanten, Gewerbtreibenden, Handwerker und Arbeiter aller Nationen habt gnädige Erlaubniß, unsern Ausstellungspalast und unsere Cassen füllen zu helfen und eure Beutel für unsere Taschen zu leeren. Auf die Gefahr hin, bestohlen, abgebrannt und sonst ruinirt zu werden und vom Anfang bis zu Ende auf eure Kosten und eigene Verantwortlichkeit, die wir vom Anfang bis Ende von uns abweisen, könnt ihr vielleicht einen Preis, ein Anerkennungsschreiben erhalten. Wir haben für nichts ein Auge, als für unseren Profit, für den pecuniären Erfolg unserer kosmopolitischen Marktbude.“ Ja, das klingt gemein und unanständig. Aber dessenungeachtet freuen wir uns des Unternehmens im Ganzen und Großen. Es liegt doch etwas Kühnes, Keckes, Großartiges in der ganzen Speculation. Sie riskiren mehrere Millionen Thaler, gegen welche der einzelne Aussteller doch immer nur eine geringe [287] Summe einsetzt. Es ist eine Speculation auf den Kosmopolitismus der Industrie und des Handels, auf den Fleiß und Schweiß aller Völker, ein freies, großes Privatunternehmen, dem es auch freistehen muß, die Bedingungen zu stellen, unter welchen die Menschen der Erde sich betheiligen sollen. Da es letzteren ebenfalls vollkommen freisteht, sich diesen Bedingungen zu fügen oder nicht, wird im schlimmsten Falle Niemand betrogen, da er sich dann immer nur selbst betrogen haben würde.




Das Voigtland und die Voigtländer.

(Schluß.

Mehr noch, als in seiner Tracht, spricht sich der Stammescharakter des Voigtländers in seiner Mundart aus, die auf dem Lande noch ihr volles provinzielles Gepräge behalten, aber selbst in den Städten sich noch nicht ganz verwischt hat. Sie zeichnet sich durch eine gewisse Derbheit, gezogene Gedehntheit und dumpfere Aussprache der Vocale aus, und wenn man den echten Voigtländer hört, möchte man an seine geradlinige Abstammung von den alten Angelsachsen glauben; soviel verwandte Anklänge an das Englische vernimmt man aus seinem Munde. Besonders die Aussprache des a läßt in den meisten Worten das echt englische hören. „Iech hoa soat“ (ich habe satt) – „holt er ä wäng oah!“ (halt er ein wenig an!) spricht der voigtländische Bauer, und einen Kühjungen hörten wir einst singen:

„Söllt’ iech nett lustig sei?
Bih gu nett krank, nett krank!
Unn’re Poar Lebensgoahr’
Dauern nett langk, nett langk!“

Auch seine besondern Wortformen und Wortbildungen hat der Voigtländer; so verwechselt er regelmäßig das Präsens und den Imperativ mancher Zeitwörter, und giebt auf die freundliche Einladung: „Eß doch noch ä wäng!“ die Antwort: „Iech iß scho!“ Ebenso erkennt man ihn leicht an dem Weglassen des halbstummmen e am Ende der Hauptwörter („die Mütz, die Stub, die Küch“) und an der Verkleinerungssylbe el statt chen („das Häusel, das Oechsel, das Mädel“ – im Plural: Häusle, Oechsle, Mädle); die dumpfere Aussprache des a und des ei vermag aber selbst der gebildete Voigtländer, der seine Heimath nie auf die Dauer verlassen, nur schwer und selten ganz zu überwinden. Eigenthümlich ist, daß in der Gegend um Adorf das r theils weggelassen wird, wo es hin gehört, theils wieder merkwürdig schnarrend hinzugesetzt, wo es nicht hingehört, wie denn z. B. „d’rob’n br’ uns“ die sprüchwörtlich gewordenen „Adöffe Butteweibe“ von dem „rothen R’oberrock“ sprechen, den die Frau „Amtmänne af der letzten Kirrwe oagehot hot“.

Wie in seiner Sprache, ist der bäuerliche Voigtländer auch in seiner Lebensweise, seinem Verkehre mit Andern, seinen Vergnügungen und Gewohnheiten derb und etwas schwerfällig, aber treuherzig und gemüthlich. Ihm besonders eigene Volksfeste oder Volksspiele hat er eben nicht; die festlichen Tage, die ihm den gewohnten Kreis des Lebens freundlich unterbrechen, sind an die Ereignisse der Familie und der ländlichen Beschäftigung geknüpft. Bei einem „Guten Muth“ (wie er die Kindtaufe nennt), bei einem „Hochzich“ (Hochzeit), bei dem Erntefest und der „Kirrwe“ (Kirchweih) geht es im Hause und in der Schenke je nach Kräften hoch her, und die letzteren Feste werden besonders vom jungen Volke mit unermüdlicher Tanzlust gefeiert, wobei der alte mit Gesang verbundene „Rondar“ immer mehr von den modernen Salontänzen verdrängt wird, die sich auf einem voigtländischen Dorftanzboden freilich wunderlich genug ausnehmen. Von alten Hochzeitsgebräuchen hat sich hie und da nur noch der feierliche Einzug der Braut in die neue Wirthschaft erhalten, bei dem sie auf ihrem mit Blumen geschmückten, von kräftigen Ochsen gezogenen „Kammerwagen“ hoch oben auf ihrem „Kistengeräthe“ und „Fahruß“ thronend einherfährt, wenn sie in ein anderes Dorf heirathet.

In seiner Nahrungsweise ist der Voigtländer im Ganzen mäßig und nüchtern. Der sonst viel häufigere Genuß des Branntweins wird durch die in überall entstandenen Brauereien erzeugten besseren Biere immer mehr und mehr beschränkt. Ein Hauptnahrungsmittel der Reichen – mit Fleisch – und der Armen – leider meist ohne Fleisch – ist und bleibt die Kartoffel, die aber auch im Voigtlande ein wahrer Proteus der Küche ist. Ein voigtländisches Städtchen bewirthete einen sächsischen Prinzen einmal mit einem Mittagsessen von vielen Gängen, deren jeder die Kartoffel in anderer Gestalt als Hauptbestandtheil enthielt, und die Gerichte sollen dem durch den Hofkoch verwöhnten Gaumen des hohen Herrn ganz prächtig gemundet haben. Außer den gewöhnlichen Kartoffeln in der Schale und den unvermeidlichen Begleitern des Beefsteaks, den geschmorten, kennt das Voigtland gebratene, gebackene, eingeschnittene Erdäpfel, Erdäpfel in der Pfanne, süße und saure Erdäpfelspalten, Erdäpfelsuppen verschiedener Art, Erdäpfelbrei, Erdäpfelkuchen, Erdäpfeltorte, und vor Allem „Bambus“ und „Klöße“. Letztere, welche in zwei Species, als gewöhnliche und als grüne oder „grüngeniffte“ auftreten, fehlen in Stadt und Land fast bei keinem Sonntagsbraten.

Wie alle Bergbewohner ist der Voigtländer ein großer Freund des Gesanges, und an schönen Sommerabenden hört man gar oft die einfachen Weisen bekannter Volkslieder, von frischen Mädchenstimmen oder aus der kräftigen Kehle junger Burschen gesungen, durch das Dorf ertönen, ja selbst aus den Fabriksälen in den Städten, wo Dutzende von Arbeiterinnen mit der Vorrichtung der „weißen Waare“ beschäftigt sind, schallt nicht selten ein munterer Gesang heraus, der ihnen die einförmige Arbeit verkürzt. Jetzt giebt es in allen Städten und in vielen Dörfern des Voigtlandes Gesangvereine, die durch Einführung besserer Lieder viel zur Veredlung des Volksgesanges und der Bildung überhaupt beigetragen haben. – Nicht minder beliebt, als frischer Sang aus froher Menschenbrust, sind die Freiconcerte, welche die kleinen befiederten Sänger der Gärten und Wälder zum Besten geben. Leider aber wird diesen kleinen Virtuosen der Natur zum Danke für ihre schönen Leistungen, besonders in den Waldgegenden des obern Voigtlandes, gewaltig nachgestellt, und sie müssen die goldene Freiheit meist mit trauriger Gefangenschaft vertauschen. Die Amsel, die Grasmücke, die man die voigtländische Nachtigall nennen möchte, der Fink, zumal wenn es ein richtiger „Reitzugfink“ ist, der Gimpel, der prächtig pfeifen lernt, sind die gesuchtesten Stubenvögel, mit denen selbst der Arme die dürftigen Brocken gern theilt. Neben ihnen ist der merkwürdige Bewohner der voigtländischen Wälder, der Kreuzschnabel, der um Weihnachten sein Nest baut, und von dem die von Julius Mosen in einem herrlichen Gedichte behandelte Sage geht, daß er seinen krummen, verbogenen Schnabel und die rothen Blutstropfen auf seinem Gefieder von dem vergeblichen Bemühen, dem am Kreuze blutenden Erlöser die Nägel aus den durchstochenen Händen zu ziehen, erhalten habe – ein häufiger Stubengenosse des Voigtländers; denn wenn er auch nicht singen kann, so heilt er dafür, nach dem alten Volksglauben, die Gicht und das Reißen, indem er diese Krankheiten aus dem Körper der in seiner Nähe Weilenden in sich aufnimmt und nach und nach hinsiechend für Anderer Rettung zum Opfer fällt.

Werfen wir nun noch einen Blick auf die Beschäftigungen des Voigtlandes, so begegnet uns überall ein frisches, emsiges Leben und Treiben; denn ein fleißiges Völkchen sind die Voigtländer in Stadt und Land. In den Städten und Städtchen – die in den letzten Jahrzehnten fast alle nach großen Bränden, einer natürlichen Folge der alten Schindelbedachung, mit netten, stattlichen, schiefergedeckten Häusern neu aus der Asche erstanden sind – ist eine Fülle und Regsamkeit des Gewerbfleißes zusammengedrängt, dessen Erzeugnisse sich über die ganze bewohnte Erde verbreiten. Auf Markneukirchner und Klingenthaler Geigen und Clarinetten spielt der Nigger dem Yankee zum Tanze auf, die wollenen Kleiderstoffe und gedruckten Tischdecken Reichenbach’s sind auf den fernsten Märkten gesucht und beliebt, und die vornehme Dame, welche auf den Bällen in Petersburg oder Stockholm mit dem wundervoll gestickten Taschentuche sich Luft zufächelt, ahnt nicht, daß die fleißige Hand einer Bäuerin in dem fernen Voigtlande, das sie nicht einmal dem Namen nach kennt, das feine Linnengewebe mit diesen geschmackvollen Blumen und Arabesken verziert hat, denn ihr ist es natürlich als echtes Pariser Fabrikat verkauft worden, mit dem es auch dreist in die Schranken treten kann und auf der Pariser Ausstellung vor zehn Jahren wirklich in die Schranken getreten ist. – Ueber das ganze Voigtland erstreckt sich [288] die Fabrikation der weißen Waaren; in Plauen, Oelsnitz, Auerbach, Falkenstein, Elsterberg, Pausa und in vielen Dörfern schießt fast in jedem Hause das Weberschiffchen hinüber und herüber, um die Unzahl Stücke Mousselin, Mull, Jaconnet und wie die Waaren sonst alle heißen, besonders auch die in den herrlichsten Mustern prangenden Gardinenstoffe zu fertigen, die von hier aus über die ganze Welt verbreitet werden. Auf den Dörfern aber ist fast kein Haus und keine Hütte, in denen nicht geschickte und fleißige Frauenhände am Stickrahmen arbeiten, um die Tausende von Streifen, Kragen, Taschentüchern, Röcken, Kleidern etc. zu nähen, die alljährlich vom Voigtlande aus der putzbedürftigen Damenwelt in allen Zonen der Erde zugesendet werden.

So sitzt auf unserm Bilde die junge Mutter aus dem Dorfe am Elsterbrunnen mit emsigem Fleiße am Rahmen, von dem sie nur selten den Blick erhebt, um nach dem muntern Säugling zu schauen, der hoch über ihr in jener einfachen Hängemattenwiege, wie sie im obern Voigtlande gebräuchlich ist und häufig auch unter freiem Himmel an den Aesten eines Baumes angeknüpft wird, sich fröhlich schaukelt. Am Sonnabend aber geht sie oder die jüngere Schwester mit den fertig gewordenen „Nestern“ nach Plauen zum Nähherrn, um dort mit hundert andern Genossinnen „abgefördert“ zu werden, d. h. den Lohn zu empfangen und wieder vorgedruckte „Nester“ zu neuer Arbeit zu holen.

Häufig theilt die ländliche weibliche Bevölkerung ihre Zeit zwischen der industriellen und landwirthschaftlichen Beschäftigung; im Winter wird genäht, im Sommer auf Wiese und Feld gearbeitet. Wenn aber die Geschäfte gut gehen und in Folge dessen die Nadelarbeit gut lohnt, haben die Landwirthe nicht selten über Mangel an Arbeitskräften für die Feldarbeit zu klagen und müssen ihre Tagelöhner oft aus fernen Gegenden kommen lassen.

Ist sonach das Voigtland vorzugsweise eine Wohnstätte der Industrie, so steht darum die Landwirthschaft doch keineswegs auf niedriger Stufe und hat sich, besonders seit der Aufhebung der die zum Bessern aufstrebende Thatkraft des Bauers lähmenden Frohnen außerordentlich gehoben. Ueberall, selbst auf der kleinsten Hufe, hat sich eine rationellere Bewirthschaftung des Bodens Bahn gebrochen, wozu die bessere Schulbildung und die landwirthschaftlichen Vereine nicht wenig beigetragen haben. Der echte voigtländische Bauer ist allerdings, wie ja der Bauer überhaupt, dem Neuen nicht ganz leicht zugänglich; aber wenn er sich einmal von den Vorzügen desselben hat überzeugen lassen, ist er klug und strebsam genug, es mit Eifer und Beharrlichkeit ein- und durchzuführen. Ein Gang durch die Dörfer und über die Fluren des Voigtlandes zeigt uns daher einen gewaltigen Unterschied gegen die Zeit vor noch dreißig Jahren, und die voigtländische Landwirthschaft kann sich mit der anderer Gegenden um so stolzer und freudiger messen, als ihr der heimische Boden manche schöne Frucht, die sie erzielt, nur bei der verständigsten und sorgfältigsten Behandlung gewährt, die eine günstigere Lage vielleicht weniger fordert.

Durch die ganze Landesart und die Beschaffenheit des Grund und Bodens ist der Voigtländer besonders auf die Viehzucht hingewiesen. Seine saftigen, mit duftenden Blumen bedeckten Wiesen, die sich in seinen schönen Thälern an den Ufern der Flüsse und Bäche hinziehen, die an würzigen Kräutern reichen Triften, die er noch an den Abhängen seiner Hügel und den Rändern seiner Wälder besitzt, begünstigen ganz vorzüglich die Rindviehzucht, und die echte voigtländische Race genießt in der ökonomischen Welt eine wohlverdiente Berühmtheit. Es ist aber auch für die Laien ein herrlicher Anblick, diese schönen rothen Ochsen und Kühe zu sehen, wenn sie mit ihren kräftigen Gliedern und mit ihren schön geschwungenen Hörnern auf der Weide bald in philosophischer Ruhe daliegen, bald in tollem Uebermuthe „herumbieseln“, oder wenn sie mit ihren spiegelblank glänzenden, messingbeschlagenen Stirnhölzern geschmückt den schweren Erntewagen wie spielend nach der Scheuer ziehen, den Segen Gottes unter sicherem Dache zu bergen. Dabei sehen sie Einen so treuherzig, ehrlich und gutmüthig an, als wollten sie ihre voigtländische Nationalität recht bieder und gemüthlich an den Tag legen. Niemand soll mir sie dumm nennen, diese prächtigen Thiere; der Ausdruck ihres Blickes und ihres ganzen Wesens ist keineswegs der der Dummheit, sondern der ruhigen, bescheidenen, ausdauernden Kraft. Der Voigtländer hält aber auch auf sein Rindvieh, das hier fast mit gänzlichem Ausschluß der Pferde vorzugsweise zur Betreibung des Feldbaues benutzt wird, und ein voigtländischer Knecht ist auf ein schönes Gespann Ochsen eben so stolz und hat sie mit Recht eben so lieb, wie der herrschaftliche Kutscher seiner stattlichen Rosse sich freut. Selbst im Auslande ist die voigtländische Race sehr gesucht, und von den belebten Viehmärkten Plauens und anderer Städte werden Hunderte von Ochsen und Kühen nach fernen Gegenden verkauft, häufig zugleich mit den hier gewöhnlichen Stirnbändern und Geschirren, um die Thiere in der neuen Heimath die alten gewohnten Arbeitsgeräthe nicht entbehren zu lassen.

Wenden wir uns von ihnen noch einmal zu den Menschen, welche auf den Hügeln und in den Thälern des Voigtlandes geboren wurden oder ihre Lebenstage verbrachten. Es ist gar mancher wackere und bedeutende Mann unter ihnen, den das Voigtland mit Stolz zu den Seinigen zählt. Wenigen dürfte es bekannt sein, daß einer der ersten deutschen dramatischen Dichter im Voigtlande lebte; es war Paul Rebhuhn, der um die Mitte des 16. Jahrhunderts als Pfarrer und Superintendent zu Oelsnitz die Dramen „Susanna“ und „die Hochzeit zu Cana“ dichtete. Der bekannte Oberhofprediger Hoe von Hoenegg zu Dresden, der im dreißigjährigen Kriege als Rathgeber des Kurfürsten von Sachsen auf dessen Politik einen bedeutenden Einfluß übte, verwaltete früher das Superintendenten- und Pfarramt zu Plauen. Auch seinen gelehrten Bauer hat das Voigtland aufzuweisen, in dem Bauer Schmidt zu Rothenacker, der es als Autodidakt dahin brachte, sich gründliche wissenschaftliche Bildung zu erwerben und mehrere Sprachen zu lesen und zu sprechen, nichts destoweniger jedoch nach wie vor seinen Sack Korn auf dem Schiebebock zur Mühle fuhr. Das echteste Kind des Voigtlandes aber ist der edle Dichter Julius Mosen, der Sohn eines Schullehrers in Marieney bei Oelsnitz, der in der duftigen Waldpoesie seiner lyrischen Gedichte, in der Kraft, Innigkeit und Klarheit seiner Lieder und Balladen, in dem treuen, frommen deutschen Sinne seiner vaterländischen Gesänge wie seiner Dramen die ganze Natur und den ganzen Volkscharakter seines Heimathländchens treu wiederspiegelt. – Möchte dem kranken Sänger ein frischer Hauch duftiger Waldesluft von seinen heimathlichen Bergen, aus denen er so reiche Nahrung für sein geistiges und dichterisches Leben schöpfte, Erquickung und Stärkung zuwehen und neue Lebenskraft in die sieche Hülle seines Geistes einzuflößen im Stande sein! –

Vermag auch nicht Jeder, wie der Genius des Dichters, Sinn und Gefühl in des Liedes herrlichem Flusse dahinzuströmen, das mögen wir zum Schlusse von dem Voigtländer im Allgemeinen noch rühmen, daß ein freier, frischer Sinn und ein warmes, inniges Gefühl für des Vaterlandes Wohl und der Menschheit Fortschritt in seinem biedern Herzen wohnt, in seinem Leben thatkräftig sich äußert. Darum haben unter ihm die Giftpflanzen der pietistischen Frömmelei und des niederträchtigen Servilismus nie Boden gewinnen können; eine vernünftige und ungeheuchelte Frömmigkeit, die allem Muckerthum abgesagter Feind ist, und ein offener, warmer Sinn für Licht, Recht und Freiheit sind im Voigtlande zu Hause und werden es hoffentlich, trotz aller Versuche, die hin und wieder gemacht worden, seine Sinnesart in das Gegentheil zu verkehren, unverändert bleiben, so lange seine hohen Fichtenwälder zum Himmel ragen, seine grünen Wiesen lieblich blühen, seine klare Elster frisch und munter über den Felsgrund dahinfluthet.


Kleiner Briefkasten.

F. O. in G. Ob der betreffende Waisenhaus-Vater in Elberfeld mit erwachsenen oder unerwachsenen Mädchen in der Kammer gebetet hat, können wir Ihnen nicht mittheilen.

Br. in W. Bedauern sehr, ablehnend antworten zu müssen. Wir haben mindestens 30 ähnliche Berichtigungen liegen.

? in Ronneburg. Vielleicht haben Sie Recht. Deshalb bleibt die That des Verstorbenen immer eine unpatriotische.

K. in Dbch. Wird nach Wunsch abgeändert werden. Ihr Freund aus Weida ist jetzt glücklicher Ehemann und lebt in Böhmen.

S. K. in Paris. Angekommen und angenommen. Bitte in dieser Weise fortzufahren. Die Ms. Angelegenheit lassen wir bis zur Verhandlung ruhen.


  1. Wie es in manchen Staaten der Druck der Kirche auf die Schule mit sich bringt. Wir meinen damit jenen unseligen, geistlähmenden, starren Dogmendruck, nicht etwa jene edle Mutterpflicht der Kirche gegen die Schule, die sie zur Bewahrung der Richtung auf immer reinere, ven menschlichen Schlacken gereinigte Gotteserkenntniß ausübt und ausüben soll.
  2. Ueber Leben und Wirken des Schöpfers der Lessingstatue, der Schiller-Goethegruppe und des Lutherdenkmals verweisen wir unsere Leser auf Jahrgang 1857, Nr. 41.
    D. Redact.