Die Gartenlaube (1864)/Heft 1
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No. 1. | 1864. | |
Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.
Wöchentlich 1½ bis 2 Bogen.
Durch alle Buchhandlungen und Postämter vierteljährlich für 15 Ngr. zu beziehen.
Neujahrsgebet.
Wir hofften es mit Schwertern einzuläuten,
Mit deutschen Schwertern dieses neue Jahr,
Kein Kampfruf aber sammelt die Zerstreuten,
Noch harrt des Führers eine bange Schaar,
Ein großes Volk, wie ward es schwach und klein,
So höre Du denn der Verzweiflung Beten:
Herr Gott im Himmel, laß uns Männer sein!
Verlassen noch hast Du der Deutschen keinen;
Dem Muth’gen nur willst hülfreich Du erscheinen:
Wer selbst sich hilft, dem hilft der liebe Gott!
Das Thier des Waldes wehrt sein Nest der Meute,
Und schlaffen Armes schauen wir darein,
Herr Gott im Himmel, laß uns Männer sein!
Wir dankten Dir den Sieg vor funfzig Jahren
Mit einem Fest, deß Jubel kaum verhallt,
Und nun das Schlimmste wieder wir erfahren,
Die Freudenfeuer, die empor Dir lohten,
Der Wange Scham ist heut’ ihr Wiederschein,
Meineid schon ist der Schwur bei unsern Todten –
Herr Gott im Himmel, laß uns Männer sein!
Ihr starres Herz von Dir hinweg gewandt,
Du hast zum Kampfe für Dein heilig Zeichen
Die Armen stets und Niedern ausgesandt;
So rufe Du das deutsche Volk zusammen,
Erschein’ uns in der deutschen Eichen Flammen –
Herr Gott im Himmel, laß uns Männer sein!
Das deutsche Volk, es ist ein Volk von Armen,
Gefesselt noch mit schweren Druck und Band,
Den Traum vom ein’gen freien Vaterland;
Ist’s auch ein Land voll Mühe und Beschwerde,
Soll doch kein fremd Gelüst danach gedeih’n,
Dem Feinde keinen Fußbreit deutscher Erde –
So höre Du denn der Verzweiflung Beten,
Dein heil’ges Feuer stähle Schwert und Muth,
Laß uns den Morgen schau’n, den lang erflehten,
Und sei auch seine erste Röthe Blut;
Zum Kampf, zum Kampf in todesmuth’gen Reih’n,
Nur Männer dürfen um die Freiheit werben –
Herr Gott im Himmel, laß uns Männer sein!
Albert Traeger.
In der engen Felsenschlucht am Fuße der „langen Wand“ war es trotz des ungewöhnlich heißen Mittags im Spätherbst schattig und kühl, denn die Sonnenstrahlen, die nur Morgens ein Viertelstündchen in dieselbe einzudringen vermochten, fielen schon lange nur schräg auf den Saum des Gesteins. Der Boden war mit Felsblöcken, Trümmern und Geröll bedeckt, unter welchem der schmale Wasserfaden einer Quelle fortsickerte, die manchmal, angeschwellt durch die Regengüsse eines Gewitters, die ganze Kluft wie eine Klamm tobend und schäumend ausfüllt und ihr Gewässer in die noch wildere Obernach stürzt, welche tiefer unten zwischen finstern Wäldern dem schwermüthig ernsten Walchensee zustürmt. Erst in halber Höhe der Felswände hatten einige Birken und Fichten sich in den Spalten kümmerlich angehängt und spannten ihre Wurzeln wie Klammern darüber hin; in der Schlucht selbst grünte nichts, denn die thurmhohen Wände drängten sich allmählich so schroff zusammen, daß sie sich oben fast aneinander schlossen und zu der Kühle auch die Dämmerung kam.
Nur an der einen Seite der Schlucht, am Eingange derselben, lag ein kleiner Fleck von kurzem kümmerlichem Rasen. Ueber ihm war an der Wand ein Holztäfelchen angebracht, mit einem kleinen Wetterdach zum Schutze des darauf befindlichen Gemäldes. Es stellte in rohen Umrissen ein nicht zu verkennendes Conterfei der Felsschlucht vor und zeigte im Vorgrunde einen jungen Mann in grauem Rock mit grünem Aufschlag und Kragen, knieend, die Hände zum Gebete faltend und auf dem Kopf ein rothes Kreuz tragend. Eine Büchse lag neben dem Knieenden. Im Hintergrunde sah man dieselbe Gestalt in verkleinertem Maßstabe über die steile lange Wand herabstürzen. Zwischen dem Bilde und den an einem Drahte aufgereihten „Beterln“ oder Rosenkranz-Perlen war eine Inschrift [2] angebracht, noch lesbar, doch etwas verwaschen, denn die Wirkung des kleinen Schutzdaches reichte nicht so weit und hinderte den Regen nicht, unter demselben hereinzuschlagen.
Die Inschrift lautete:
„Am 10. Juni 1806, Sankt Margarethen-Tag, seines Alters
im 24 igisten Jahr, ist hier der ehr- und tugendgeachte Jüngling,
Gotthard Recht, Jagdgehilf, durch einen Sturz von der langen
Wand verunglückt und hat sich erfallen.
Bedenk’ es wohl, mein lieber Christ:
Weißt nie, wie nah das Sterben ist.“
Das Volk im bairischen Hochgebirge liebt es, auf diese Weise die Stellen zu bezeichnen, an welchen ein Unglück, ein besonderes Naturereigniß sich zutrug oder auch ein Verbrechen begangen wurde, und dadurch noch nach Jahren den frommen Wanderer, der daran vorüberzieht, zum Gebete zu mahnen. Die Täfelchen werden je nach Gelegenheit an den Wänden der Häuser, an Bäumen oder auch an eigenen kleinen Säulchen angebracht, welche Martersäulen, kürzer auch „Marterln“ genannt werden.
In die Felsschlucht führte von dem tief unten am Rande der Obernach vorbeiziehenden schmalen Waldsträßchen ein schwieriger, mühevoller Fußpfad herauf, zwischen Gestrüpp und Blöcken hindurch und mehrmals das steinige, jetzt weißgebleichte Rinnsal des Wildbaches kreuzend. Schon eine beträchtliche Strecke vor der eigentlichen Verengerung der Schlucht schwenkte der Weg nach rechts ab und bog in den Hochwald ein, dessen Wand durch einen Zaun von langen Stangen verwahrt war, damit das Vieh sich nicht in die Schlucht verlaufen konnte, wenn es sich von den Alm-Weideplätzen verloren, welche hoch oben über Felsen und Bäumen sich sonnten und grünten, schimmernd und duftend von saftigem Gras und Bergkräutern und mit mancher freundlichen Sennhütte bestreut.
Diesen Pfad kam jetzt ein Mädchen herab, in der bäurischen Tracht der nahen Jachenau, welche damals – vor vierundfünfzig Jahren – noch allgemein und unverfälscht getragen wurde. Ein langer rothbrauner Rock fiel bis auf die Knöchel und die weit ausgeschnittenen niedrigen Schuhe herab und ward wieder auf der Brust als Unterleibchen sichtbar, mit blanken Knöpfen besetzt und mit einer schmalen Spitzenkrause den Hals umschließend. Darüber trug sie eine kaum bis an die Schultern und unter die Brust reichende hellgrüne Jacke mit kurzen Aermeln, deren ebenfalls mit einer Krause abschließende Enden die kräftigen, gebräunten Arme ungehindert hervortreten ließen. Den Raum zwischen Jacke und Leibchen füllte ein leicht umgeschlungenes blaßgelbes Tuch; den grünen Hut mit den breiten aufgebogenen Krampen und den darüber gespannten goldbefranzten, hellgrünen Bändern trug das Mädchen in der Hand. Dadurch wurde das blonde Haar sichtbar, das sie in dichte Zöpfe geflochten und über den Kopf geschlungen trug, auch die meist durch den Hutrand geschützte und darum auffallend weiße, wohlgeformte Stirne und das etwas schmale Angesicht, das trotz seiner fast kränklichen Blässe erkennen ließ, wie schön es gewesen sein mochte, in den Tagen, als noch der Frohsinn der Gefährte der Jugend war. Die Augen hatte sie meist zu Boden gesenkt, als suche sie etwas Verlornes emsig vor sich hin, wenn sie dieselben aber aufschlug, war der Eindruck der ganzen Erscheinung verändert, denn sie waren von dunklem, fast in Schwarz übergehendem Braun und bildeten durch das düstere Feuer, das in ihnen loderte, einen befremdlichen Gegensatz zu der weichen, fast leidend ergebenen Miene. Nur der fein geschnittene Mund, von der Farbe einer blassen Rose, stimmte dazu, denn er war fest, beinahe herb geschlossen, und der Zug um ihn verkündete einen starken, trotzigen Sinn.
In der Hand, neben dem Hute, trug sie einen Kranz, aus solchen Almkräutern und Gewächsen gebunden, welche am längsten zu dauern versprachen, aus den krausen, dorngeränderten Blättern der Stechpalme, den dunklen Ranken des schmalblättrigen Waldepheus, den graubefiederten Blüthendolden der hochhinankletternden Zaunrübe, den tiefgrünen Zweiglein von Scheibenblatt und Immergrün – ein einziger mattweißer Stern von Edelweiß vorn an der Kranzspitze war der ganze lichte Farbenschmuck des Gewindes.
Beinahe ohne aufzublicken war das Mädchen an den Eingang der Klamm gekommen und wandte sich gegen dieselbe, als sie plötzlich stille stand und den überraschten, fragenden Blick auf das Martertäfelchen heftete.
Der Schmuck, den sie mitgebracht hatte, war überflüssig, über dem Schutzdache des Gemäldes hing bereits ein Kranz, aus Tannenreisern und Aesten der zunächst stehenden Gesträuche geflochten.
„Was ist denn das?“ sagte sie halblaut vor sich hin. „Wer hat den Kranz da her gehängt? … Es kommt doch das ganze Jahr fast Niemand in den abgelegenen Winkel – Niemand als ich! Und auch die Betkorallen sind gerückt – ich weiß es ganz genau, wie ich sie vorgestern gelassen hab’ … Wer ist dagewesen?“
Begreiflicher Weise kam in der Oede keine Erwiderung auf die Frage. Einen Augenblick stand sie noch zögernd, dann trat sie rasch vor und streckte die Hand nach dem Kranze aus, eine zornige Empfindung war in ihr aufgewallt und hieß sie, den Kranz wegzuwerfen und zu zerstören – Wer, außer ihr, hatte ein Recht, hier zu trauern? Wer durfte sich anmaßen, ein Zeichen liebender Erinnerung an die Unglücksstätte zu tragen? … Im Begriffe den Kranz zu erfassen, ließ sie jedoch die Hand wieder sinken, hob dann den eigenen Kranz in die Höhe und hängte ihn über den andern. Eine weichere, dankbare Regung war ihr mit einem wohlthuenden, lang entbehrten Gefühle der Wärme zum Herzen geströmt und hatte den Zorn übermannt. In den ersten Wochen nach dem unglücklichen Ereigniß war das Gerede über dasselbe verstummt, der Jäger und sein Geschick waren vergessen, mehr als drei Jahre lang war sie mit ihrer steten Trauer um den Todten allein gewesen – jetzt war es ihr ein unsäglich erfreuender Gedanke, daß es außer ihr noch ein Menschengeschöpf gab, das, wie sie, den Dahingeschiedenen nicht vergessen hatte. Damit kehrten die frühern Gedanken zurück und die Frage nach dem Spender des Kranzes. Der Jäger war fremd gewesen; er hatte in der Gegend weder Befreundete noch Verwandte, die seiner gedenken konnten – sie mußte das vergebliche Nachsinnen aufgeben und kniete in das Gras zu den Füßen der Felswand, um ein brünstiges Gebet für das Heil der armen Seele zu sprechen, die so plötzlich und furchtbar abgerufen worden war aus dem irdischen Leben und Leibe.
Wie sie so in Andacht versank, versank auch bald die Gegenwart um sie her, sie vergaß die drei Jahre des Grams, und die zurückgewendete Seele sah sehnsüchtig in die Tage des Glücks hinüber, welche den Jahren vorangegangen. Sie hörte und beachtete darüber nicht mehr, was um sie vorging, und bemerkte auch die beiden Männer nicht, welche von der Straße her durch das Steingeröll heraufgestiegen kamen. Der Eine davon, in kurzen Lederhosen, Wadenstrümpfen und derb benagelten Bergschuhen, trug die Jacke zusammengeschlagen über der Schulter und dem schneeweißen, durch die Gurten des grünen Hosenträgers noch gehobenen Hemd. Er hatte den Hut abgenommen und trocknete sich mit dem Hemdärmel den Schweiß von dem gefurchten Angesicht und von dem kahlen, nur von einem silberweißen Haarkränzchen eingefaßten Kopf.
Sein Begleiter war beträchtlich jünger, eine schlanke und doch gedrungene Gestalt mit grünem, schmalkrämpigem Spitzhut, in schwarzen Lederhosen und weiten, bis über die Kniee heraufgezogenen Wasserstiefeln. Um den Leib hing lose eine blaue Weste mit Silberzwanzigern als Knöpfen, ein leichtes dunkles Flortuch um den Hals, und um die Mitte ein wohlgefüllter breiter Ledergurt, eine sogenannte Geldkatze. Auf der Schulter trug der Bursche eine langstielige Axt, über welcher die graue Joppe hing – es war nicht zu verkennen, daß er zu den Flößern gehörte, welche – damals noch viel häufiger als jetzt – in den Wäldern an der Isar hinauf große Bäume fällten, zu Flößen verbanden und damit nach München und weit darüber hinaus in die Donau nach Wien fuhren und bis tief nach Ungarn hinab. Dort wurde das Fahrzeug verkauft, und der Fährmann, den Kaufpreis im Gurt und das Beil auf der Achsel, ließ sich die weite Fußwanderung in die Heimath nicht verdrießen, um unmittelbar nach seiner Ankunft Alles zu neuer Fahrt zu bereiten. Das Gesicht des Burschen trug den offenen markigen Schnitt, der die Züge der Isarthaler von Tölz und Laupgries kennzeichnet, aber es war etwas Wüstes und Fremdes darin, ein höhnischer, fast roh unheimlicher Zug um den Mund, der durch den dichten Schnurrbart unter der gebogenen, etwas seitwärts gedrückten Nase keineswegs verdeckt wurde.
„Hab’ ich mir’s nit eingebildet!“ rief, stehen bleibend, der Alte, als er das Mädchen knieen und beten sah. „Da ist sie richtig wieder herunten vor dem verflixten Marterl und laßt die Alm Alm sein! … Aber Binl,“ fuhr er lauter fort, als sie ihn nicht gleich bemerkte, „sage nur, was Du treibst? Ist das eine Zeit, wo man von der Alm weggeht und das Vieh allein laßt? Jetzt, wo schon bald abgetrieben wird und das Vieh am weitesten geht und sucht?“
Das Mädchen hatte sich gelassen erhoben, bekreuzte sich zum [3] Schlusse seines Gebets, warf noch einen traurig sehnsüchtigen Blick auf das Täfelchen und schritt den Kommenden entgegen. „Grüß’ Gott, Vetter!“ sagte sie; „brauchst keine Sorg’ zu haben. Es ist Alles verwahrt auf der Alm: der Bub’ ist bei den Geißen, und die Zwerger-Klar’l ist in der Hütten statt meiner.
„Aber was thust denn schon wieder da herunten in der Kluft?“ entgegnete etwas milder der Alte; „willst denn niemals gescheidt werden, Binl?“
„Gescheidt ist, wer thut was Recht ist!“ erwiderte das Mädchen und schritt neben den Männern her in den Wald; „und ich mein’, wenn ich für einen Abgestorbenen bet’, thu’ ich nur, was Recht ist …“
„Das thust nit! Alles hat sein Maß und Ziel!“ eiferte der Alte. „Das ewige Geflenn ist völlig sündhaft! Es macht den Todten … der Herr geb’ ihm die ewige Ruh! … nit wieder lebendig, und Du versitzest Dich drüber und wirst eine alte Jungfer!“
Das Mädchen schwieg und sah vor sich nieder in das Moos des Waldweges.
„Das muß ein End’ haben!“ rief der Alte weiter. „Und das Gescheiteste ist, Du kommst weg von dem Ort, wo Dich Alles an den Verstorbenen mahnt …“
„Der Ort macht’s nit aus!“ sagte sie traurig; „ich werd’ an den Gotthard denken, auch wenn mich gar nichts mahnen thät’ an ihn!“
„Was soll aber daraus werden? Schau, Binl, Du bist doch sonst so ein richtiges Leut – folg mir und mach’ ein End’! Wie ich Dich als ein kleines Dirnl herausgeholt hab’ aus Deiner Heimath in der Jachenau, da hab’ ich’s Deiner Mutter, meiner Schwester, versprochen, daß ich Dich halten wollt’ wie ein Vater sein Kind …“
„O – Du hast es gethan, Vetter!“ rief das Mädchen rasch mit einem dankbaren Seitenblick auf den Alten. „Du hast es wohl gethan – vergelt’s Gott tausendmal dafür!“
„So zeig’ mir’s auch und folg’ mir wie ein Kind! Ich hab’ Dir alleweil’ viel nachgegeben, vielleicht ein Bissel zu viel! Hätt’ ich nur gleich darein gezecht, wie das Gethu und das Gespenzel angegangen ist mit dem Jager – hab’s all meiner Lebtag gehört „Jagerblut und Bauernblut – thut niemals nicht beisammen gut!“ Aber der Gotthard war so weit ein ordentlicher Bursch’, gegen den sich nichts hat einwenden lassen, und Du bist vernarrt gewesen in ihn … wenn Du ihn nit bekommen hätt’st, ich glaub’, es wär’ Dir an’s Leben gegangen …“
Ein tiefer Seufzer hob die Brust Sabinens. „Das weiß unser Herrgott!“ flüsterte sie kaum hörbar; „es ist mir an’s Leben gegangen!“
„Ich hab’ also nachgegeben, hab’ Ja gesagt, die Hochzeit war schon vor der Thür … da macht der Tapp, der sonst auf den Bergen daheim gewesen ist, wie ich in meiner Taschen, einen Fehltritt, fallt über die lange Wand herunter und erstürzt sich! Du hast ihn seither betrauert wie eine rechtschaffene Wittib – aber Alles muß ein End’ haben, und weil ich ein alter Kerl bin, mit dem es auch bald und geschwind zu End’ gehen kann, so möcht’ ich meine Sachen alle in Ordnung wissen. Meinem Buben will ich das Gut übergeben, und Du sollst heirathen, und wenn Du mir folgen willst, brauchst Du nit lang’ zu suchen um einen Hochzeiter … Na, warum red’st nichts?“ fuhr er fort, als er einige Augenblicke auf eine Erwiderung gewartet hatte. „Bist doch sonst nit auf’s Maul gefallen, und fallt Dir jetzt kein Sterbenswörtl ein?“
„Davon wollen wir ein andresmal reden, wenn wir allein sind, Vetter …“
„Ah was! Vor dem Lipp brauchst’ Dich nit zu scheuen, den geht’s so nahe an wie mich und Dich … der ist Deinetwegen da!“
„Wegen meiner?“ erwiderte das Mädchen erstaunt und ließ einen ihrer finstern Feuerblicke nach dem Burschen hinüberblitzen, daß dieser, sonst reisegewandt und welterfahren, davon betroffen ward und nur mühsam hervorbrachte, daß er den weiten Umweg nicht gescheut habe, nur allein um sie zu sehen.
„Kurz und gut!“ fiel der Alte ein. „Er ist wieder von Wien zurück, hat ein schönes Geldl erlöst und auch sonst schon was Schönes zusammengebracht. Er will nit mehr Floßknecht bleiben, sondern einen eigenen Breterhandel einrichten, drüben in Walgau. Du gefallst ihm; was Du von mir mitkriegst, reicht gerad, daß Ihr recht schön anfangen könnt mit der Haushaltung und mit der Handelschaft – er ist also da und will um Dich anhalten, wie’s Brauch ist, und will Dich heirathen …“
„Ich dank’ schön für die Ehr’ und für die gute Meinung,“ erwiderte das Mädchen gelassen, „aber ich heirath’ nit!“
Der Alte war eben im Begriff, sich sein kurzes Pfeifchen anzuzünden, aber er vergaß das vor Staunen über des Mädchens Rede und stand wie unbeweglich, in der einen Hand das Pfeifchen, in der andern den glühenden Schwamm. „Nit heirathen?“ brachte, er endlich hervor. „Ja, Madel, was willst denn sonst?“
„… Ledig bleiben …“
Jetzt legte der Alte, wie sich besinnend, den Schwamm auf’s Pfeifchen, that ein paar tüchtig qualmende Züge und klappte dann kräftig das Deckelchen zu. „Ich geh’ da einen Seitenweg,“ sagte er paffend, „will im Buchenschlag ein Bissel nachschaun … Geh’ Du mit dem Madel, Lipp, red’ selber mit ihr, wirst wohl keinen Procurator brauchen dazu … mir ist das Gered’ zu dumm!“
Brummend verschwand er im Wald, das Paar ging eine Weile stumm nebeneinander her. Feierliche Stille waltete in dem grünen Dunkel, das oben an den Wipfeln sich in ein wiederscheinendes Abendroth verlor.
„Du hast es vom Vetter gehört, wie ich gesinnt bin mit Dir,“ sagte endlich der Bursche, etwas unsicher. „Was giebst mir für einen Bescheid, Binl?“
„… Ich hab’ ihn Dir schon gegeben,“ war die gleichgültige Antwort. „Ich heirath’ nit, Dich nit und keinen Andern nit.“
„Das ist aber doch übertrieben! Ich glaub’s wohl, daß Du den Jager so recht von Herzen gern gehabt hast … aber was nutzt es ihm, wenn Du Dich so hinunterkränkst wegen seiner? Er ist einmal todt.“
„Für mich nit, Lipp, er hat mein Herz mitgenommen und meine Hand! Wie er mir das Ringel da an den Finger gesteckt hat, hab’ ich’s ihm versprochen, daß ich nur ihn allein gern haben will mein Leben lang … er hat mein Wort mitgenommen unter die Erd’ … ich will’s ihm halten!“
„Du bist nit gescheidt! Das sind überspannte Sachen, die Du Dir selber einred’st … Das ist einmal nit anders in der Welt, als daß Eins dem Andern Platz machen muß! Und was wolltest denn lediger Weis anfangen in der Welt? Als ein alter Dienstbot’ herumfahren, wenn der Vetter einmal die Augen zumacht? Du könntest eine gemachte Frau sein, könntest es gut haben und glücklich sein.“
„Das ist Alles vorbei,“ unterbrach sie ihn rasch, „der Gotthard hat mein Glück mitgenommen und mein Herz und die Lieb’ dazu! Ich kann keinem Mannsbild mehr versprechen, daß ich ihn gern haben wollt’ … das ist nit mehr in mir … und lügen will ich nit am Altar, und will Keinen betrügen …“
„Einbildungen! Das giebt sich Alles mit der Zeit, wenn Du nur erst verheirathet bist!“
„Es ist unmöglich, Lipp – ich kann nit, es wär’ Dein und mein Unglück! Ich weiß wohl, Du verstehst mich nit, und der Vetter nit und Niemand nit! Es weiß ja kein Mensch außer mir, was das für eine Lieb’ gewesen ist zwischen dem Gotthard und mir – eine Lieb’ für die ganze Ewigkeit; so eine reine schöne gottgefällige Lieb’, wie von den Engeln im Himmel droben! Kein Mensch außer mir weiß, wie glücklich ich gewesen bin … selbigesmal am letzten Abend, wo er mir das Ringel gegeben hat und nur noch vierzehn Tag’ hin waren bis zu der Hochzeit … Drum weiß auch außer mir kein Mensch, was ich verloren hab’ … und was ich ausgestanden hab’, wie sie hereinkommen sind, Alle käsbleich … mit der Botschaft, der Gotthard hätt’ sich erstürzt … wie ich mich losgerissen hab’, weil sie mich haben halten wollen – wie ich hinaus bin und hab’ ihn liegen sehn vor mir … maustodt … in seinem Blut … zerschmettert … kaum mehr zum Erkennen …“
Von der Wucht der Erinnerung überwältigt, mußte sie innehalten, Thränen erstickten ihre Stimme.
„Ich glaub’s wohl,“ sagte Lipp nach einer beklommenen Pause, „daß es Dich hart getroffen hat … aber die Zeit ist das beste Pflaster … Es ist am besten, man vergißt, was doch nit mehr zu ändern ist …“
„Vergessen!“ rief das Mädchen mit wildem Hohne. „Als wenn man sich das nur so anschaffen und die Erinnerung wegwischen [4] könnt’, wie die Buchstaben auf der Tafel! … Ich hab’ Dir schon gesagt, Lipp, daß Du das nit verstehst!“
„Warum sollt’ ich’s nit verstehn? Meinst, ich wüßt’ gar nit, wie’s Einem um’s Herz ist bei der Lieb’?“
„Du?“ fragte Sabine und warf ihm einen Seitenblick zu, der ihm durch die Seele ging.
„Was fragst so besonders?“ rief er verwundert.
„Es ist nur …“sagte sie wie nach einigem Besinnen, „weil mir just eine Geschichte durch den Kopf geht – auch eine alte, eine vergessene Geschichte … von einem armen Weibsbild, das vor fünf Jahren in die Isar gesprungen ist, drüben in Walgau … Ein Flößer hat sie verführt gehabt und sich dann von ihr weggeleugnet … Willst wohl gehört haben von der Geschicht’? Hast ihn vielleicht selber gekannt, den schlechten Burschen, den Flößer?“
Lipp zuckte zusammen, biß die Zähne übereinander und erfaßte, daß es ungeachtet des immer tiefern Waldschattens sichtbar war. „Was weiß ich?“ sagte er barsch und doch unsicher. „Die Leut’ reden viel, wenn der Tag lang ist! Lassen wir die alten Geschichten ruhen, Du und ich – es ist Gras drüber gewachsen! Gieb dummer Einbildung nit nach – es könnt’ eine reuende Zeit kommen!“
„Niemals!“
„Ueberleg’ Dir’s doch! Ich hab’ mein’ ordentliches Sach’l bei einander – ich hab’s gut mit Dir im Sinn … Ueberleg’ Dir’s, Binl, und schlag’ ein!“
Er stand still und streckte die Hand aus; mit einer Gebehrde des Abscheus wies sie dieselbe zurück. „Ich hab’s schon gesagt!“ rief sie unwillig. „Ich nehm’ Dich nit und keinen Andern nit!“
„So, so …“ sagte er nach kurzem Schweigen. „Ich verstehe! Das heißt auf Deutsch … mich magst Du nit, Du hast was gegen mich … denn daß Du auch keinen Andern nehmen solltest … das ist ein Gered’! Das machst Du mir nit weiß! Es ist wohl schon öfter vorgekommen, daß sich Einer erstürzt oder daß ein Madel seinen Schatz verloren hat … deswegen aber ist die Welt nit ausgestorben, und noch eine Jede hat sich getröst’! . .. Wer kann für’s Unglück?“
„… Wenn’s aber mehr wär’, als ein Unglück?“
„Wie ist das gemeint?“
Die Beiden hatten nahezu die Höhe erreicht; der Wald ging zu Ende, und durch die letzten Bäume sah man die grüne Matte der Alm liegen und hörte das Glockenbimmeln der weidenden Rinder. „Wir wollen anhalten und ein wen’gel ausschnaufen,“ sagte das Mädchen. „Setz’ Dich dort auf den Marchstein hin … Ich will Dir Alles sagen, damit Du siehst, es ist mir Ernst … Es ist kein Unglück gewesen,“ setzte sie nach einer Weile leiser hinzu, „sondern ein Mord: der Gotthard ist nit hinuntergefallen über den Felsen … ein Anderer hat ihn hinuntergestürzt …“
Sie schwieg; auch der überraschte Zuhörer fand nicht gleich ein Wort der Erwiderung. „Aber woher weißt Du das?“ rief er dann verwundert. „Wer sollt’s gethan haben?“
„Der Gotthard,“ fuhr Sabine stockend fort, „hat sich das Kreuz gebrochen bei dem Sturz und das Genick … der Kopf ist fast unbeschädigt gewesen, und am Schlaf war ein kleines blutiges Mal … rundlich, fast nit größer als ein Groschen … ich hab’s dem Bader wohl gewiesen; er hat gesagt, das käm’ von einem zackigen Stein, an dem er sich aufgeschlagen hätt’ … Ich hab’s glauben müssen, aber es hat mir nit aus dem Sinn gewollt, als müßt’ das Wundmal von einem Schlagring sein, wie ihn die Burschen tragen … Es hat mir keine Ruh’ gelassen, und wie der Auswärts ’kommen ist und es ist aber (schneefrei) ’worden auf der Höh’ … wo er muß hinuntergestürzt sein, – da hab’ ich gesucht und gesucht … und hab’ im Gras, fast hart am Gewänd’, einen Schlagring gefunden … einen zerbrochenen…der Gotthard muß gerungen haben mit seinem Mörder … da muß ihm der einen Streich an den Schlaf gegeben haben … der Ring ist zersprungen von dem Streich … und der Gotthard ist damisch (betäubt) ’worden … und …“
Sie hielt inne, schluchzend und von einem wilden Schauder geschüttelt.
„Das ist verwunderlich,“ sagte Lipp; „aber wenn Du eine solche Vermuthung hast, warum hast Du’s nit lang schon angesagt am Landgericht?“
„Weil’s nichts nützen that … es wär’ ihnen nit genug, den Herrn, und wenn sie was thäten, das Ringel bringt den Mörder nit auf … unser Herrgott allein hat ihm zugeschaut in der unglückseligen Stund’, unser Herrgott allein kann ihn finden!“
„Was soll’s aber hernach mit dem ganzen Verdacht?“
„… Daß ich’s nit verwinden kann, daß er umgebracht worden sein soll … und der’s gethan hat und ihn auf dem Gewissen hat und mich dazu, der sollt’ herum geh’n unterm blauen Himmel und sollt’ frei ausgeh’n und nichts haben dafür? … Ich hab’ einmal gehört, ein Ermordeter hat keine Ruh’ im Grab’ und seine Seel’ kann nit fort von der Erden, bis der Mörder auch drunten liegt bei ihm … Mir ist immer, als wär’ der Gotthard um mich herum und thät mich mahnen, daß er nicht eingeh’n kann in die ewige Glückseligkeit … und ich mein’, ich müßt’ es noch erleben, daß ich ihm die Ruh verschaffen könnt’ … und drum will ich allein und ledig bleiben mein Leben lang …“
Der Bursche schwieg eine Weile wie überlegend; dann erhob er sich rasch. „Das ist mir zu rund!“ rief er. „Ich begreif’ nit, warum Du deswegen nit heirathen sollst … ein Mann könnt’ Dir doch helfen, wenn’s einmal wirklich auf was ankäm’ …
Also gerad’ heraus … Du willst wirklich nit heirathen, Binl?“
„Ich hab’s gelobt – weder Dich, noch einen Andern!“
„Und nochmal gerad’ heraus … ich glaub’s nit, Binl! Aber ich sag’ kein Wörtl mehr zu Dir … mit uns Zwei’ soll’s aus sein; aber merk’ Dir wohl, was ich sag … ich will Dir helfen, Deine Gelöbniß halten! Mich brauchst nit zu haben, Madel, aber daß Du auch keinen Andern nehmen sollst, dafür wird der Lipp sorgen – verlaß Dich darauf!“
Er schritt voraus die grasige Anhöhe hinan und der Hütte zu, um welche er einen Trupp Männer versammelt sah. Sabine folgte langsam und blieb, oben angekommen, steh’n, um einen Blick in die wundervolle Abendlandschaft zu werfen, die sich vor ihr aufthat. Im Westen, über die Möser und das Flachland hin, war die Sonne schon untergegangen; ein rothblauer Duft wogte wie Nebel auf der fernen Ebene. Näher heran, schwarz und schweigend stiegen die Bergrücken des Herzogenstands und der Jocheralm empor, den dunklen Walchensee umrahmend, der nur noch vom Wiederschein des Alpenglühens erglänzte, in das rückwärts der Karwendel die breite Felsenstirn emporstreckte. Die Röthe gemahnte das Mädchen wie Blut und das einbrechende Dunkel wie Grabestrauer: ihre Gedanken waren blutig und nächtlich.
Vor dem Redactionslocale der Gazeta warszawska in Warschau trafen eines Vormittags zu gleicher Zeit drei Knaben zusammen, Jeder ein Zeitungsblatt in der Hand haltend, in welchem mit gesperrter Schrift zu lesen stand, es werde von der Redaction ein junger Mensch gesucht, der fertig und schön Polnisch, womöglich auch deutsch zu schreiben verstehe; der Posten trage fünf Thaler monatlich; Bewerber möchten sich persönlich beim Chefredacteur Krupski zu einer bestimmten Stunde melden.
Diese Stunde war eben jetzt, und die Drei gaben sich denn auch ohne Weiteres als Reflectenten auf die fragliche Stelle zu erkennen. An die erste Begrüßung, die von Seiten des Herrn Krupski sehr kurz war, schloß sich ein nicht viel längeres Examen, denn die beiden Aelteren wurden schon bei der ersten Frage zu leicht befunden. „Verstehst Du Deutsch?“ – an dieser Klippe scheiterte die Blüthe der polnischen Nation. Der Jüngste blieb allein übrig; – „na, verstehst denn Du deutsch?“ war auch hier die Einleitung, „Ja,“ die entschiedene Antwort. Dabei wurde aber der hoffnungsvolle Bewerber über und über roth, denn er sagte sich sehr wohl, daß zwischen Deutsch und Deutsch einiger Unterschied bestehe, und das seinige war durchaus nicht ohne Beigeschmack. Indessen
[5]
– seine Eltern waren so unglücklich, durch die Revolution waren sie um Alles gekommen, er hatte so viele kleine Geschwister – und wollte gern etwas verdienen.
„Wie heißt Du?“ frug ihn Krupski, der den Knaben aufmerksam betrachtete und aus dem, wenn auch nicht schönen, so doch intelligenten Gesichte Arbeitslust und Fähigkeit herauslesen mußte.
„Dawison – Bogumil Dawison,“ war die Antwort.
„Was hast Du bisher gemacht?“ frug der Redacteur weiter.
„Ich war beim Herrn Sequestrator S., aber ich verdiene da gar zu wenig. Außerdem habe ich Schilder gemalt.“
„Schilder – ? was für Schilder?“
„Für die Collecteure, worauf sie die gezogenen Nummern anzeigen,“ erwiderte der Gefragte und setzte hinzu, daß es jetzt darin gar nichts für ihn zu thun gäbe.
„Na, so setz’ Dich her und schreibe, was ich Dir dictire.“ Die Probe fiel günstig aus, die Handschrift war überraschend schön und leicht. Das Engagement wurde abgeschlossen, und überglücklich trat der Knabe des andern Tages seine, wie ihm schien, bedeutungsvolle Stellung an. Er bekam Zeitungsartikel auszuschreiben, Correcturbogen auszutragen und alle jene kleinen Dienste zu thun, welche sich auf den jüngsten Geschäftsangehörigen zu häufen pflegen. Bis spät in der Nacht mußte er zur Hand sein, um das am andern Morgen auszugebende Blatt noch einmal durchzusehen. Krupski ließ ihm denn deswegen auch ein eigenes Logis einrichten. Dasselbe bestand freilich [6] aus nichts weiter, als einem durch einen Breterverschlag dem großen Druckersaale abgewonnenen sehr engen Raume, indessen machte es den jungen Arbeiter glücklich. Das Gefühl einer gewissen Selbstständigkeit kam über ihn; er hatte einen Ort, wo er sich seinen eigenen Arbeiten überlassen konnte, und das spärlich ausgestattete Behältniß, Wohn-, Schlaf- und Studirzimmer in Einem, wurde die Wiege seiner Bildung.
Vor Allem mußte die Kenntniß des Deutschen und Französischen vervollkommnet werden. Als er die Erlaubniß bekam, einzelne kleine Nachrichten aus der Vossischen Zeitung für die Gazeta warszawska in’s Polnische zu übersetzen, fühlte er sich um ein Stück gewachsen. Es ging ihm plötzlich auf, daß es ja nicht unmöglich sei, ein wirklicher Uebersetzer zu werden, und das wurden seine kühnen Träume! Sein Ehrgeiz war angestachelt. Jeder Mensch, welcher gut Deutsch sprach, war für den jungen Polen ein Gegenstand der Bewunderung und des stillen Neides.
Hauptsächlich aber war es das Theater, das seine junge, für alles Echte und Schöne empfängliche Seele mit Entzücken und Begeisterung erfüllte. Ein namenloser Zauber schien ihm um Alles gewoben, was mit der Bühne zusammenhing; der geringste Coulissenschieber war ihm ein beneidenswerthes Geschöpf! Wie oft stand er, fast erstarrt von der eisigen Winterkälte, gepeitscht von Regen und Schnee, in der dunkeln Ecke am Eingangspförtchen, welches zu den Garderoben der Schauspieler führte, um einen flüchtigen Blick jener Glücklichen zu erhaschen!
Mit der Zeit jedoch genügte das Anbeten aus der Ferne seinem regen Geiste nicht mehr; er wollte in eine engere Verbindung mit den Männern treten, denen er sich in dunkler Vorahnung so nah, so verwandt fühlte. Zu diesem Behufe näherte er sich einem alten, freundlichen Manne, dem in der Zeitungsofficin die Besorgung der Theaterzettel oblag. Zaghaft brachte er seine Bitte vor, ihn in die Geheimnisse des Setzens einzuweihen. Bald war er der Handgriffe so mächtig, daß sein Gönner, der Gewissenhaftigkeit und Geschicklichkeit des Schülers vertrauend, ihm die Zettel zu setzen überließ und dafür das weiche Lager suchte. Niemand war glücklicher als Dawison, bis tief in die Nacht stand er am Setzkasten, vor sich das Manuscript des Theaterzettels mit den Namen der Auserwählten und Beneideten, – er war ja nun mit thätig an dem großen Werke der Kunst, wie er in seiner Unschuld sich vorredete. Da schlugen jene Keime in seinem Busen zum ersten Male Wurzel, die wir jetzt als vollendete, prächtige Pflanze bewundern, und es rief wohl schon damals eine leise Stimme in seiner Seele: „Anch’ io sono pittore!“
Bald sollte er dem ersehnten Ziele einen Schritt näher kommen. Durch den Unterricht des pensionirten Tänzers Terracini wurde Dawison mit einigen untergeordneteren Mitgliedern des Warschauer Theaters bekannt, in deren Kreis er durch die glückliche Nachahmung der verschiedensten Persönlichkeiten rasch zu einer gewissen Geltung gelangte.
Von da an hatte der junge Mensch nicht Rast und nicht Ruhe. Zitternd sehen wir ihn eines Tages vor dem Tyrannen des Warschauer Theaters, dem Director Dmuszewski, stehen und um Aufnahme in die dramatische Schule bitten. Sie wurde ihm gewährt. Zwei Jahre seufzte er, „in spanische Stiefeln eingeschnürt“ unter dem Zopfunterricht der Anstalt, die es so gut meinte und so wenig zu leisten verstand. „Wie viele Jahre,“ sagt Dawison selbst scherzend, „hatte ich zu arbeiten, um Alles das zu vergessen, was ich damals gelernt hatte!“
Endlich – endlich kam (1837) der ersehnte Tag des ersten Auftretens! Der Erfolg war günstig; trotzdem gab er seine Stellung bald wieder auf, weil sie ihm nicht genug Gelegenheit bot, sich zu versuchen. Den gährenden Kopf zog es zu den kleineren Truppen. Er ging nach Wilna, wo sein Fleiß willkommen war, und fing an Alles zu spielen. Die sogenannten Liebhaber, polternde Alte, Helden, Intriguanten, gab es in dem gewöhnlichen Sinne schon hier nicht für ihn. Er lernte in jeder Rolle den Menschen herausfinden und ihn in eigenthümlicher Weise darstellen, und den „Vater der Debütantin“ spielte er mit derselben Hingebung, wie den „Hamlet“.
Da löste sich die polnische Truppe in Wilna auf.
„Jetzt kannst du vor das Publicum Warschaus hintreten!“ rief es in Dawison, und mit freudiger Zuversicht flog er seiner Vorstadt entgegen; was sah er für Triumphe vor sich! Sein erster Weg war zu Dmuszewski, dem Director des polnischen Theaters.
Der war nun gar kein Enthusiast. „Es ist Alles recht schön,“ erwiderte er, „ich will gern glauben, daß es Ihnen Vergnügen machen wird, in Warschau aufzutreten – aber was reden Sie von Theaterfreunden? – Sie sind hier längst vergessen, keine Katze kommt Ihretwegen in’s Parterre. Und Honorar? Gage? – nein, Bester. Das ist zu viel! Ist es Ihnen nicht Ehre genug, daß man Sie überhaupt in Warschau auftreten läßt?“
Das war allerdings für Dawison’s augenblickliche Verhältnisse zu wenig. Er wartete deshalb zwar einige Wochen, trat auch einmal auf, schnürte aber doch erleichterten Herzens sein Bündel, theilte vorsichtig sein geringes Reisegeld ein und verließ zum zweiten Male die Hauptstadt, als ihm von Lemberg der Antrag gemacht worden war, an das dortige Theater zu kommen. Hier ging es ihm bald wieder besser. Obwohl der Kampf, den sein höheres Wissen, sein besseres Können gegen den alten Schlendrian aufnahm, ihm unzählige Feinde machte, hielt doch der Intendant Graf Skarbek zu ihm, und Beide hatten die Idee einer gründlichen Reform des polnischen Theaters noch nicht aufgegeben, als ein neuer Umstand plötzlich dem Leben Dawison’s eine ganz andere Richtung gab.
Dawison hatte nämlich in Lemberg unter seinen Collegen auch die Bekanntschaft einer Familie gemacht, deren Mitglieder zu den vorzüglichsten Künstlern der Bühne gehörten. Besonders zeichnete die eine Tochter, eine zarte, junge Dame, das feinste Verständniß und jener instinktive Blick aus, der das Schöne und Richtige trifft, nicht weil er es gelernt nach Regeln sich zu entwickeln, sondern weil er von allem Verkehrten unharmonisch berührt wird. Von der natürlichen Anmuth der Erscheinung angezogen, war der junge Heißsporn bald leidenschaftlich gefesselt. Wanda sollte sein Weib werden. Mit der beglückenden Gewißheit aber, daß sie es auch wollte, war es allein nicht gethan. Hindernisse der mannigfachsten Art traten den Beiden entgegen.
Da bemächtigte sich jetzt, wo Dawison seinen Namen auf ein geliebtes Wesen übertragen wollte, seiner der glühende Wunsch, jenen glänzend aufzurichten durch das Ringen nach den höchsten Zielen. Polen war für seine Pläne kein Boden mehr. Mit andern Ländern verglichen, wie Deutschland und Frankreich, war es in Bezug auf seine Literatur ein verwahrlostes Land. Dawison sah voraus, daß für ihn hier der Tag kommen mußte, wo er sich zu sagen habe: jetzt ist das Gefäß ausgeschöpft. Seine Natur mußte aber Herculesausgaben vor sich sehen, um an eine innere Befriedigung glauben zu können.
Er wollte sich seine Braut mit seinem Ruhm erkaufen – für ihn gab es nur zwei Wege dazu: entweder nach Frankreich oder nach Deutschland. Er wählte, nachdem er die Kunstrichtungen beider Länder genau studirt hatte, das letztere zu seinem neuen Vaterlande, nicht weil ihm hier ein leichterer Weg zum Ziele zu führen schien, sondern gerade weil der ernstere Sinn der Deutschen ihm offener vorkam für die reine Wahrheit, zu deren Darsteller er sich berufen fühlte; weil die Deutschen die einzige Nation waren, welche außer ihrer eigenen reichen Literatur sich auch die Schätze aller anderen zugeeignet haben, und ganz besonders, weil unter ihnen damals fast allein das Verständniß des großen Briten Shakespeare lebte. –
Wenn man in Berlin die O–straße heruntergeht, so kommt man rechts an ein stattliches, wohlverschlossenes, spitalartig gebautes Haus. Hier war es, wo Dawison zum ersten Male einem deutschen Publicum in Deutschland gegenüber stand, und zwar einem Publicum und in einem Locale, welches beides eigenthümlicher nicht gedacht werden konnte. Ein regelrechtes Streckbett, durch einen grünen Teppich kunstvoll seiner ursprünglichen Bestimmung entrückt, bildete das Hauptmöbel des Zimmers, welches durch eine in der Höhe, wo sonst gewöhnlich der Kronleuchter zu hängen pflegt, sich quer unter der Decke fortziehende Leiter eine anmuthige Decoration erhielt; allerhand aus den Wänden hervorstehende Sprossen, Handhaben und Gurte gaben eine passende Vervollständigung. Auf einem Ecktisch endlich stand eine Punschbowle, die durch ihre Riesendimensionen ebenfalls eher den Gedanken an körperliche Kraftübung als an geistige Erfrischung hervorrief.
Der Schauplatz ist im orthopädischen Institut des Dr. –, und diesem Rahmen entspricht das allmählich sich ansammelnde Publicum vollständig. Endlich öffnet sich die Thür, und der Künstler – tritt nicht auf, sondern wird auf einem Rollstuhle hereingefahren. – Wir müssen um einige Zeit zurückgreifen.
Als Dawison von Lemberg, wo er mit Glück seine ersten [7] Proben als deutscher Schauspieler abgelegt hatte, weggegangen war, um sich ausschließlich dem deutschen Theater zuzuwenden, hatte er als sein nächstes Ziel Breslau in’s Auge gefaßt, die Stadt, welche, seinem Vaterlande am nächsten gelegen, auch am ehesten den ihm noch anhängenden polnischen Accent entschuldigen würde. Allein man belächelte hier nur sein Unternehmen. Er ging nach der kleinen Stadt Brieg – vergeblich, nach dem noch viel kleinern Ohlau – umsonst. Nirgends hülfreiches Entgegenkommen. Nur eine einzige Aussicht blieb dem Wanderer noch, Verständniß zu finden, und diese war Berlin, oder vielmehr der dort lebende Hofrath Louis Schneider, von dem er so viel gelesen, der ihm als eifriger Polenfreund geschildert war. Voll Ungeduld eilt der Künstler nach der preußischen Hauptstadt, – auf dem Bahnhofe endlich angekommen, springt er hastig aus dem Wagen und thut einen unglücklichen Fall. Er hat sich auf gefährliche Weise den Fuß verrenkt.
An Stelle der frischen Hoffnung, die im Eisenbahncoupé neben ihm gesessen und ihm still in’s Gesicht und Herz hineingelächelt hatte, sitzt nun ein alter langweiliger Spitaldiener und fährt mit ihm in die Stadt und ruft ihm einmal über das andere zu: „Halten Sie sich man ja recht stille.“ Fast vier Wochen mußte Dawison das Bett hüten. In dieser Zeit aber hatte er durch seine jugendliche Frische, seine Liebenswürdigkeit, durch seinen Witz und sein Talent zu erzählen sich bei allen seinen Zimmernachbarn so in Gunst gesetzt, daß man den Tag, wo er zum ersten Male wieder das Bett verlassen durfte, durch eine Abendgesellschaft zu feiern beschloß. Und das war heute. Dawison las dabei „Hans Jürge“ von Holtei vor. Die Wirkung dieser ersten Huldigung, welche er dem Vaterlande seiner Wahl brachte, war eine unbeschreibliche. Ein buckliger Schulmeister aus Posen fiel ihm schluchzend um den Hals und schwur Stein und Bein, „er selber sei eigentlich auch Schauspieler, er könne es nur nicht so von sich geben; an Dawison’s Stelle aber ließe er sich den schwarzen Bart abschneiden und ohne Weiteres mit 10,000 Thalern am Hoftheater engagiren – und er wolle den sehen, der ihn daran hinderte!“
Dawison folgte nun zwar dem Rathe, insofern sich derselbe auf seinen Bart bezog; trotzdem erfüllte sich der zweite Theil jener kühnen Voraussetzung nicht so ohne Weiteres. Von Louis Schneider aber erhielt er Empfehlung nach Hamburg, an den Director des Thaliatheaters Maurice, auf welche hin er einen Cyclus von Gastrollen eröffnen konnte. Wie er hier gleich durch sein erstes Auftreten Zeugniß seiner Genialität ablegte, sodaß sich an sein Gastspiel ein dauerndes Engagement schloß; wie er dann im Fluge gleichsam das noch zu Lernende an sich riß, Rolle auf Rolle sich schuf und immer höhere Aufgaben zu lösen unternahm; wie sein Ruhm wuchs und er endlich seine Stellung an dem ihm so liebgewordenen Thaliatheater mit dem ihm eröffneten ungleich großartigeren Wirkungskreise am Hofburgtheater in Wien vertauschte – das Alles ist bekannt. In Wien wuchs er vollends zu seiner Größe empor. Kein Theater der Welt vermochte ihm eine Vereinigung so bedeutender Kunstgenossen zu bieten, als das Burgtheater; wie dieses war kein Kunstinstitut geeignet, seine Ansichten klären, seine Ueberzeugungen festigen zu helfen. Seine junge Frau, die er sich schon, als er seine Stellung in Hamburg gesichert wußte, aus Lemberg geholt hatte, bereitete ihm eine reizende Häuslichkeit; die schöne Umgebung Wiens, der heitere, leichte Sinn des Volkes, eine geistreiche, freundschaftliche Genossenschaft – Alles, was ihm entgegenkam, forderte zu Genuß auf. Für Dawison aber gab es noch kein Ausruhen, keine Umschau, kein Rückblicken. Jetzt schuf er seine großen Rollen: er ging mächtig an Shakespeare. Unbefangen, unbeirrt von fremden Anschauungen, folgte er nur sich. Ob es Andere so oder anders gemacht, kümmerte ihn nicht.
Als er 1852 nach Dresden kam, war er ein Phänomen. Man kannte seinen Namen, aber die Erscheinung frappirte auf’s Höchste. Der unzweideutige Beifall, mit welchem er hier aufgenommen wurde, die glänzenden Anträge, die man ihm stellte, vor Allem aber die zarte Natur seiner Frau, welche das Wiener Klima nicht gut zu vertragen schien, erweckten den Entschluß einer Übersiedelung. Mit seiner gewöhnlichen Raschheit führte ihn Dawison aus. Das war jetzt vor zehn Jahren.
„Nicht sechs Monate wird er in Dresden bleiben,“ hieß es in Wien – aber Dawison blieb und ist noch jetzt da. Er fing nun an, wie er sagte, das Leben zu genießen, – allein wie genoß er? dadurch, daß er seinem Schaffenstrieb in neuen Richtungen zu walten erlaubte.
Von dem Ertrage eines Gastrollencyklus in Berlin baute er sich ein reizendes Haus. Er steckte mit ab und hantirte mit Hacke und Spaten in seinem Garten, denn er konnte kaum erwarten, eine Heimath zu haben, die er ganz und gar seiner eigenen Kraft und seinem eigenen Willen verdankte. Aber der Sommer war noch nicht oft in den schönen Garten gekommen, als man die treueste Seele, die dem Manne angehangen hatte, aus ihm hinaustrug. Es war wieder leer; die Blumen wurden von fremden Menschen abgebrochen, das Obst fraßen die Sperlinge. Dawison ging in den Club, und wenn er Nachts nach Hause kam, setzte der Gärtner das Licht auf den Tisch und ließ ihn allein. –
Das war zu trostlos. Im Drange nach Betäubung ging Dawison nach Paris. Er war gerade dort, als über die ganze Erde das große Nationalfest der Deutschen, das Schillerfest, gefeiert wurde. Hier wurde das Fest zu einem kosmopolitischen. Vertreter aller Nationen, aller Stände überfüllten den Cirque de l’impératrice. Die Begeisterung für unser schönes Vaterland, durch deutsche Rede und deutsche Klänge gehoben, ergreift auch die Fremden. Eine schöne Erhebung liegt auf allen Gesichtern, es schwirrt und summt durch den kolossalen Raum. Plötzlich richten sich alle Operngläser auf einen Punkt. „Dawison – das ist er,“ geht es flüsternd durch den Saal – ein förmlicher Beifallssturm empfängt ihn. Er hatte sich bestimmen lassen, den dritten Act des Don Carlos vorzulesen. Bis in die fernsten Ecken dringt sein Wort, alle Gemüther mächtig ergreifend. Man hört nicht mehr athmen, bei der Unterredung des Königs mit dem Marquis Posa nur schlägt zeitweilig die Begeisterung durch, bei den Worten aber: „Geben Sie Gedankenfreiheit“ – da dröhnt heller Jubel durch das Haus.
Alfred de Vigny, der berühmte Akademiker, fällt nach dem Schluß dem Künstler um den Hals: „Ah, que votre patrie est heureux d’avoir un si grand tragédien!“ – demselben, den wir als polnischen Schreiber an der Erlernung des Deutschen verzweifeln sahen. Damals ein Knabe, durch nichts bedeutend, als durch sein Genie und seinen Ehrgeiz, heute ein Mann, dessen Name unter den berühmtesten der Künstlerwelt genannt wird!
Die Aufgabe, die sich Dawison gestellt, läßt sich in wenigen Worten charakterisiren. Sein Bestreben ist: die auf der Bühne verloren gegangene Wahrheit wieder zu Ehren zu bringen. Man hatte im deutschen Theater verlernt zu sprechen; hohles Pathos und Schönrednerei machten sich breit, wo Shakespeare „der Natur gleichsam einen Spiegel vorzuhalten“ befiehlt. Dawison ist bei aller Poesie der Auffassung, bei aller künstlerischen Durchführung seiner Aufgaben, stets wahr, und – die Hauptsache – er wirkt durch die einfachsten Mittel.
Wie er spricht und wie er lacht – wie er bittet und wie er herrscht, das kann man nur von ihm selbst erfahren. Um seine Proteusnatur zu kennen, müßte man ihn in allen seinen Rollen, die er spielt oder gespielt hat, gesehen haben. Die auf unserm Bilde dargestellten Köpfe sind aus jener großen Zahl auf gut Glück herausgegriffen. In jeder Rolle ein Anderer. Wer erkennt in dem altervertrockneten, gutmüthigen Kanzlisten Leberecht Knabe den übermüthigen Benedict aus „Viel Lärm um Nichts“, wer in Franz Moor von heute den Falstaff von gestern? glaubst Du, daß Narciß und Oedipus sich in einer Person vereinigen können, und Ricaut de la Marlinière und Hamlet, und der aalglatte Perin und König Lear, Mercutio und Richard III.?“
Ein seltenes Gedächtniß kommt Dawison zu Hülfe. Er lernt nicht seine Rolle, sondern das ganze Stück und bedarf des Souffleurs nur wenig. Der Schauspieler giebt es nicht viele, welche ein so reiches Repertoir haben, wie er – in dem Zeitraume von 25 Jahren hat er über 550 verschiedene Rollen gespielt. Und doch findet er noch immer Zeit für sich und seine Freunde, denen er, unterstützt von einer anmuthigen Gattin, seine Häuslichkeit zu einem reizenden Aufenthalte zu machen weiß. Dawison hat sich vor kurzem zum zweiten Male verheirathet, und neben dem Genius der Schauspielkunst waltet in der kleinen Villa an der Chemnitzerstraße nun auch die Muse des Gesanges.
[8]
Wenn man in Paris auf dem Bastilleplatz neben der Julisäule steht, so führt links von der breiten, jetzt auch macadamisirten Straßenader, welche die Vorstadt St. Antoine bis zur Barriere du Trône durchschneidet, eine ziemlich schmale Straße von unbedeutendem Aussehen nach Nordost. Es ist die Straße de la Roquette. Der ganze Charakter dieser Straße ist wesentlich verschieden von dem Charakter der andern Straßen, welche die in allen Pariser Revolutionen so berühmt gewordene Vorstadt durchschneiden. Sie ist einsamer, stiller und ruhiger; die Café’s, Läden und Werkstätten verschwinden bereits noch vor der Stelle, wo die Straße den neuen Boulevard „Prinz Eugen“ kreuzt; dann wird das Aussehen derselben von Schritt zu Schritt sogar ärmlich und schmutzig. Die Asphalttrottoire hören auf, das Pflaster wird unregelmäßig, die hohen Pariser Häuser schrumpfen zu einstöckigen, kleinen Gebäuden zusammen. Noch wenige Minuten, und das ganze große, glänzende und geräuschvolle Paris ist verschwunden; man sieht sich mit einem Male an die äußere Grenze der Vorstadt versetzt. Der Wechsel ist um so plötzlicher, da die Straße Roquette in ihrer ganzen Länge kaum eine Viertelstunde mißt. Jenseits des Boulevard „Prinz Eugen“ wird der Charakter der Straße völlig traurig. Grabsteine, Steinkreuze, Todtenkränze, Bilder, welche den Tod und das Grab darstellen, Cypressensträuße, Epheu- und Immortellenkränze bilden die Staffage der Erdgeschosse der ärmlichen Häuser; der Fremde, der die Straße zum ersten Male durchwandert, kann nicht mehr im Zweifel sein – die Straße de la Roquette muß zu einem Friedhofe führen. Und so ist es auch. Sie führt gerade zu der berühmten Begräbnißstätte der Stadt Paris, dem Friedhofe „Père Lachaise“.
Aber sie führt noch an einer anderen Begräbnißstätte vorüber, die vielleicht die Wenigsten von den vielen Tausenden, welche die Straße zum Friedhofe des „Père Lachaise“ wandern, kennen oder beachten. Kurz bevor die Straße den äußern Boulevard kreuzt, erheben sich zur rechten und zur linken Seite derselben zwei kolossale Gebäude von düsterem, unheimlichem Aussehen. Halb schauen sie wie Gefängnisse, halb wie befestigte Forts aus. Hohe Mauern schließen sie in ihrem ganzen Umfange ein. An den Ecken und über den vergitterten Eingangsthoren sind die hohen Mauern mit Thürmen gekrönt, und aus dem innern Raum dieser düstern Umfassung blicken uns die Giebel kolossaler Gebäude an, welche auf der linken Seite der Straße eine sternförmige Gestalt haben. Zu welchem Zwecke dienen diese beiden finstern Gebäude? Das Gebäude links mit den hohen, sternförmig sich ausbreitenden Häusergiebeln ist das Gefängniß für junge Verbrecher von sechs bis zwanzig Jahren. Es ist der einzige Pariser Kerker, welcher einen vollständig inhumanen Charakter trägt; denn in seinen Gängen und Zellen ist die Isolirhaft in ihrer äußersten Strenge eingeführt. Das Gebäude rechts ist nur in den Menschen, welche in demselben detinirt werden, und in dem Schicksale, dem diese Menschen entgegengehen, fürchterlich; in seinen Räumen und in der Behandlungsweise der Verbrecher, welche diese Räume füllen, waltet die humane Behandlungsweise, welche ich in allen französischen Gefängnissen gefunden habe und welche niemals den Zweck der Haft überschreitet. Es ist das Gefängniß der Bagnosträflinge und der zum Tode Verurtheilten, der Lagerplatz des Ausschusses der Bevölkerung des Seinedepartements, bis sie in die Bagnos und nach den Deportationsplätzen in Cayenne abgeführt werden – oder bis sie die Guillotine besteigen. Aus diesem Gefängnisse erlösen nur zwei Dinge, die schrecklichsten im Menschenleben: das Bagno oder der Tod durch Henkershand. Das Gefängniß führt den Namen nach der Straße, welche an seinem finstern, vergitterten Eisenthore vorüberführt. Es heißt „la Prison de la Roquette.“ Sein Ursprung ist ganz neuern Datums. Es ist erst im Jahre 1851 erbaut.
Zwanzig Schritte vor dem vergitterten Eingangsthore, immer noch an der linken Seite der Straße de la Roquette, bemerkt der Vorübergehende im Pflaster fünf größere Steine von heller Farbe. Sie bilden ein großes Quadrat, der fünfte Stein liegt in der Mitte, wo die beiden Diagonalen des Quadrats sich schneiden. Diese fünf fast unscheinbaren Steine bezeichnen den fürchterlichsten Platz in Paris. Sie sind die Verkörperung schrecklicher Erinnerungen, welche bis in das vorige Jahrhundert zurückreichen. Die Erinnerungen triefen von Blut, Schmerz und Thränen. Wir stehen, mit einem Worte, hier auf dem Platze, wo bei jeder Hinrichtung in Paris die Guillotine aufgestellt wird. Nachdem dieses fürchterliche Instrument im verflossenen Jahrhundert bald auf dem Grêveplatze, bald auf dem St. Antonsplatze, bald auf dem Revolutionsplatze, welcher heute der Eintrachtsplatz heißt, gehaust hatte und in der ersten Hälfte unsers Jahrhunderts rund um die Barrieren von Paris herumgewandert ist, hat es endlich hier seit zehn Jahren seine bleibende Stätte gefunden. Aber es steigt auch hier nur während der Finsterniß der Nacht aus der Erde, um nach dem ersten Morgengrauen wieder zu verschwinden. Die Guillotine erfüllt ihr schauerliches Handwerk, bevor sich die Sonne über den Baumgruppen des Boulogner Holzes am Himmel erhebt, und verschwindet, ehe sie der Sonne in das strahlende Feuerauge blickt. Das fürchterliche Instrument schämt sich seines Daseins vor dem Jahrhundert, welches die Menschen mit Recht das Jahrhundert der Civilisation und der Humanität getauft haben. Oder schämen sich die Mörder, welche die Todesstrafe in diesem Jahrhundert der Bildung und der Humanität über den Häuptern ihrer Brüder aussprechen? Nein, diese Mörder haben das Gefühl der Scham lange verloren. Das ist der heutige Hinrichtungsplatz für Paris, und für das Seinedepartement. Der zum Tode Verurtheilte bringt seine letzte Nacht auf der Erde entweder in den im hintern Hofe des Gefängnisses befindlichen Zellen für die Hinzurichtenden, in welche ich die Leser sogleich führen werde, zu, oder er wird aus dem andern Gefängnisse, in dem er bis dahin detinirt war, wenige Minuten vor seiner Hinrichtung in den vordern Hof der „Prison de la Roquette“ geführt, wo ihn der Henker in Empfang nimmt.
Ich zog die Klingel an dem vergitterten Eisenthor, welches auf die Straße de la Roquette hinausführt. Das Thor und der kleine Hof, in den ich von außen hineinblickte, schauten so finster aus. Und draußen lachte die Erde im Blumenschmuck und Sonnenschein. Es war ein strahlender Octobertag. Dann öffnete sich das finstere Thor, Turcos im arabischen Burnus und buntfarbigen Turban empfingen mich und führten mich zu dem Greffier. Ich zeigte ihm meine von dem Polizeipräfecten an alle Gefängnißdirectoren im Departement der Seine lautende Vollmacht vor, mich überall umherzuführen und in allen ihren Diensten und Functionen so genau und so weit zu unterrichten, wie es ihre Pflichten irgend gestatteten. Der Befehl des Polizeipräfecten erschloß mir auch das Gefängniß de la Roquette, welches sehr schwer zugänglich ist. Der Greffier klingelte. Es erschien ein Beamter des Gefängnisses. Ich bat mir als Führer einen der Brigadiers aus, welche bei Felix Orsini, dem fanatischen Gegner Napoleon’s, die letzte Nacht, bevor er das schöne Haupt auf das Bret der Guillotine legte, gewacht hatten. Der Greffier sagte mir die Erfüllung meines Wunsches zu. Der Brigadier kam. „Haben Sie bei Orsini die Nacht vor seinem Tode gewacht?“ fragte ich ihn.
„Ja wohl, mein Herr,“ sagte der Brigadier. „Ich habe sowohl bei Orsini, wie bei Pierri und auch bei Rudio manche Nacht die Wache gehabt. Wie Sie wissen werden, brachten sie einundzwanzig Tage in la Roquette zu.“
Wir gingen. Der erste kleine Hof schloß mit einem großen, mehrstöckigen Gebäude ab. Es dient zu Beamtenwohnungen, zum Aufenthalt für die Wachen – und zum Aufenthalt des Henkers, welcher hier das Opfer der Guillotine in Empfang nimmt. Heute füllten ihn die afrikanischen Soldaten in ihren malerischen Trachten. Ein zweites, mit eisernen Stäben vergittertes Thor führte in das Hauptgebäude des Gefängnisses von la Roquette. Es dient zum Aufenthalte und zu den Arbeitssälen der Bagnosträflinge und der Deportirten. Nach einigen Schritten standen wir in seiner Mitte. Die vier Seiten des dreistöckigen Gebäudes umgeben einen großen innern Hof. Ein Brunnen mit beständig fließendem Wasser bildet das Centrum desselben. Der weite Hof dient den Sträflingen als Aufenthaltsort und Spazierplatz für die Erholungszeit, wozu selbst in diesem Gefängnisse der schwersten Verbrecher zwei Stunden täglich bewilligt sind.
Da la Roquette durchschnittlich 800–900 Sträflinge enthält, welche ihre Abführung in die Bagno’s oder nach den Deportationsorten erwarten, so lösen sich dieselben für die Freistunden abtheilungsweise nach den einzelnen Divisionen ab. Auch zur Zeit, als ich den Hof besuchte, waren viele der Gefangenen in demselben anwesend. Sie gingen und sprachen miteinander, wo und wie sie wollten. Den berüchtigten Gänsemarsch, der in deutschen Zuchthäusern [9] eingeführt ist, um dem Gefangenen die einzige Erholungsstunde des Tages zu einer Stunde der Langeweile und der Ermüdung zu machen, und den ich auch in den meisten englischen Gefängnissen gefunden habe, kannte das Gefängniß la Roquette nicht. „Was für Strafen wenden Sie denn gegen die Gefangenen an, welche sich widersetzen?“ fragte ich meinen Begleiter, als wir zwischen den plaudernden und umhergehenden Gruppen der Bagnosträflinge hindurchgingen.
„Entziehung der Freistunden, der warmen Kost, auch nöthigenfalls Entziehung des Bettes und Einsperrung in eine dunkle Zelle,“ antwortete er.
„Nicht die Prügelstrafe?“ erwiderte ich.
Der Mann blieb stehen und blickte mich verwundert an. „Prügel?“ sagte er, „Prügel? Sie meinen doch Prügel mit dem Stock oder mit der Peitsche?“
„Allerdings, diese meine ich.“
Der Brigadier schwieg einen Moment. Dann fuhr er auf. „Herr,“ rief er, „in Frankreich prügelt man keine Menschen, auch keine Bagnosträflinge! Prügelt man denn in Ihrem Vaterlande Menschen? Sie sind wohl aus Rußland, wo man die Knute gebraucht?“ !
„Nein, ich bin nicht aus Rußland, wo man die Menschen mit der Knute züchtigt, ich bin aus Deutschland.“
Der Brigadier sah mich noch erstaunter an. Es schien ihm unerklärlich, daß es außer Rußland noch ein Land in Europa gebe, wo man Menschen mit dem Stock oder mit der Peitsche züchtige. Endlich erholte er sich von seinem Erstaunen. „Sagen Sie,“ wiederholte er, „ist es wahr, daß man in deutschen Gefängnissen prügelt?“
„Sicherlich,“ sagte ich ihm nochmals, „mit einer so fürchterlichen Sache scherzt man nicht. In den meisten deutschen Zuchthäusern wird die Prügelstrafe nicht selten dictirt und ausgeführt.“
„Prügelt man denn auch Frauen und Mädchen in deutschen Gefängnissen?“ fragte er weiter. Auf seinem Gesichte zeigte sich ein Ausdruck, als wenn er bestimmt ein „Nein“ erwarte.
„Allerdings,“ sagte ich, „man prügelt auch Frauen und Mädchen in deutschen Gefängnissen; man legt sie zu diesem Zweck auf einen Bock, den man „Fuchs“ nennt und auf dem ihnen Arme und Beine mit ledernen Riemen festgeschnallt werden. Die einzige Rücksicht, die man bei dieser Operation auf ihr Geschlecht nimmt, ist, daß man ihnen dabei leinene Hosen anzieht.“
Das wollte meinem braven Brigadier nicht einleuchten. Kopfschüttelnd murmelte er ein „Impossible!“ zwischen den Zähnen, während wir unsere Wanderung fortsetzten.
Wir betraten nun zunächst die Arbeitssäle der Sträflinge, welche sich in den verschiedenen Etagen des dreistöckigen Gebäudes befinden. Sie waren hoch, reinlich und luftig, enthielten aber sonst nichts Bemerkenswerthes, als die Verbrecher, welche hier ihren Fähigkeiten oder dem früher betriebenen Handwerke gemäß beschäftigt wurden. Da arbeiten Schuster, Schneider, Lederzubereiter, Pantoffelmacher, Schmiede, Schlosser, Tischler in den hierzu eingerichteten Werkstätten bis zu dem Tage, wo sie die Reihe der Deportation über das Meer trifft. Aber in diesen grauen, wollenen Jacken und Hosen steckte das gefährlichste Gesindel Frankreichs. Jeder der Gesellschaft war wenigstens ein viel bestrafter Dieb. Wie mancher hatte unter der Anklage des Mordes, der Fälschung und des Straßenraubes gestanden! Während wir durch die verschiedenen Werkstätten gingen, erzählte mir mein Begleiter, indem er mich hie und da auf einzelne Galgenphysiognomien aufmerksam machte, eine lange Reihe haarsträubender Geschichten, in denen Diebstahl und Giftmischerei, Nothzucht und Mord die Hauptrolle übernommen hatten. Ich sah junge Sträflinge, die kaum das zwanzigste Jahr überschritten hatten, mit sanften, weichen Gesichtszügen, und doch hatten sich ihre Hände bereits mit den schändlichsten Verbrechen befleckt, und alte Männer mit weißen Haaren, auf deren Gesichtern die Galeere tiefe Furchen gezogen; ich sah ausgemergelte Gestalten, Augen voll Bosheit und niederträchtiger Tücke und Stirnen, auf denen die Gemeinheit ihren Wohnsitz aufgeschlagen hatte. Aber wozu diese lange Gallerie von Laster und Verbrechen schildern? Es wurde mir unheimlich zu Muthe, wenn ich im Vorübergehen ihre Kleider streifte, und noch heute überläuft mich, während ich schreibe, in der Erinnerung ein Gefühl des Ekels und des Widerwillens. Doch selbst diese Kerle wurden nicht geprügelt, sie wurden in ihrer Verpflegung auf das Menschlichste behandelt, wenn sie auch vom Menschen oft nur die Gestalt behalten hatten. Sie arbeiteten nur von Morgens acht bis Abends acht Uhr, und diese zwölfstündige Arbeitszeit umschloß noch zwei Freistunden. Sie erhielten zu ihrer Nahrung nicht jene wenig schmackhafte Gemüsesuppe, welche man in deutschen Zuchthäusern austheilt, sondern nahrhafte und gut zubereitete Speisen, wenn sie auch nur zweimal die Woche, am Donnerstag und am Sonntag, Fleisch bekamen. Morgens und Abends, zum Frühstück und zum Mittagsessen, erhielt Jeder einen Labetrunk. Die Freistunden und die Stunden von Abends acht Uhr an gehörten ihnen. Sie konnten mit dieser Zeit machen, was sie wollten. Sie konnten arbeiten, spazieren gehen oder lesen.
Zu diesem Zwecke enthielt la Roquette eine nicht unbedeutende Bibliothek, aus welcher sich jeder Sträfling wöchentlich ein Buch entnehmen konnte. Ich ließ mir die Bibliothek zeigen, der ein Sträfling als Bibliothekar vorstand. Die Bücher, welche ich aus den Fächern zog, waren belletristischen, historischen oder wissenschaftlichen Inhalts; ich fand manche Reisebeschreibung, manches naturwissenschaftliche Buch; religiöse oder kirchliche Schriften sind mir weniger zu Gesicht gekommen. Abends war es den Sträflingen gestattet, bis zehn Uhr in ihren Schlafstuben zu lesen. Jeder besaß eine eigene Zelle zum Schlafen, die sich in langen Gallerien nebeneinander an der äußeren Seite des Gefängnisses herumzogen. Jede Zelle hatte die Aussicht auf die hohe Mauer, welche, wie ich schon erwähnte, das Gefängniß der Bagnosträflinge und der zum Tode Verurtheilten in einem ungeheuren Quadrate umschloß. Es fiel mir auf, als ich mit meinem Brigadier diese langen Gänge durchschritt und mir einige Zellen öffnen ließ, daß die Eisengitter nicht dicht vor den Fenstern, sondern in einer Entfernung von vielleicht einem halben Fuß vor den Oeffnungen angebracht waren. Als ich den Kopf hinaussteckte, fand ich, daß es möglich war, mit dem Gefangenen in der Nachbarzelle, wenn derselbe ebenfalls den Kopf aus dem Fenster steckte, eine Unterhaltung anzuknüpfen. Ich äußerte mich hierüber zu meinem Begleiter, und er erwiderte mir: „Das ist richtig; es geschieht dies auch allabendlich von 91/2 bis 10 Uhr. Diese halbe Stunde vor dem Schlafengehen ist den Unglücklichen zu einer Unterhaltung gestattet. Wenn die Uhr des Gefängnisses zehn Uhr schlägt, rufen die, wie Sie bemerken, dort unten an der Mauer aufgestellten Schildwachen, die Lichter auszulöschen. Dann ist die Unterhaltung zu Ende.“
Was sagen die Zuchthausverwalter einiger deutschen Staaten zu einer solchen die Individualität des Menschen berücksichtigenden Maßregel im Pariser Gefängniß der Bagnosträflinge, sie, in deren Gefängnißhöfen die Schildwachen den Befehl erhalten, nach dem Kopfe des Gefangenen zu schießen, der sich an den Fenstern zeigt?
Das Mittelgebäude des großen Hofes hat einen zweiten Durchgang. Dieser führt in einen kleinern Hof. Ein Springbrunnen steht in der Mitte desselben, von einigen Rasenplätzen und Bäumen umgeben. Der Hof ist von zweistöckigen Gebäuden eingefaßt. Es ist hier gar still und einsam und der Contrast um so auffallender, wenn man aus dem Geräusch und Geschwirr des großen Hofes mit seinen ihn umschließenden Werkstätten kommt. Auch ich empfand diesen Contrast, als ich mit meinem Begleiter eintrat; ich hörte nichts, als das Rauschen des in ein weites steinernes Becken zurückfließenden Wasserstrahls. „Wozu dient dieser Hof?“ fragte ich den Brigadier.
„Es ist der Hof der zum Tode Verurtheilten,“ erwiderte er.
Ich schauderte einen Augenblick. „Der Hof der zum Tode Verurtheilten!“ wiederholte ich mechanisch. „Hier sahen Orsini und Pieri zum letzten Male den blauen Himmel und die grüne Erde.“ Wenn ich auch die That der fanatischen Italiener nicht billigen konnte, so wollte mich doch ein Gefühl der Wehmuth beschleichen, wenn ich an die letzten Augenblicke dieser Männer dachte, denen im schönsten Lande der Erde der blaue Himmel zum ersten Male lachte.
„Sie fragten nach Orsini und Pierri,“ sagte mein Begleiter. „Hier ist der Hof, wo sie einen Theil des Tages zubrachten.“
Schweigend ging ich durch die Gänge des kleinen Gärtchens. Die Mittagssonne blickte so golden aus dem azurblauen Himmel hinein, der Rasen war von seltener Frische. Ringsum Alles still. Nur das Wasser plätscherte in Millionen silberner Tropfen über den Stein.
„Ich werde Ihnen nun die Gefängnisse der zum Tode Verurtheilten zeigen,“ sprach der Brigadier.
Er schloß eine starke mit Eisen beschlagene Thüre auf, welche [10] aus dem Gebäude in den Hof führte. Wir traten durch dieselbe auf einen Gang, welcher im Innern des Hauses den Hof von drei Seiten umgab. Auf den Gang öffneten sich eine Menge Zimmer, die zur Apotheke, zum Sectionssaale, zur Todtenkammer, zu einem Consultationszimmer für die Aerzte und zu andern administrativen Zwecken des Gefängnisses dienten. Der Brigadier schloß zwei anstoßende Zimmer auf. Ich trat ein. Ich befand mich im Gefängnisse Orsini’s und Pierri’s während ihrer einundzwanzigtägigen Haft in „Prison de la Roquette“.
Die Zimmer waren nicht unfreundlich. Sie waren groß und hoch. Das Zimmer Orsini’s hatte eine fast viereckige Gestalt. Das Zimmer Pierri’s war um die Breite des Ganges länger. Die Wände hatten einen gelben, ockerfarbigen Anstrich; das von außen mit starken Eisenstangen vergitterte Fenster war ziemlich groß und in der obern Hälfte der Wand. In der Ecke jedes Zimmers stand eine eiserne Bettstelle, während sich ein kleiner, weißer Porzellanofen in der Mitte befand. Außer einigen Rohrstühlen waren keine Möbeln im Zimmer. Der Fußboden war gedielt. In ihrem Aeußeren hatten beide Zimmer also nichts, was an ihre schreckliche Bestimmung erinnerte.
„Die Zimmer auf diesem Gange und im zweiten Stock dienen den zum Tode Verurtheilten zum Aufenthalte, bis sie zur Hinrichtung vor das Gefängniß hinausgeführt werden,“ sagte der Brigadier. „Augenblicklich ist Niemand in la Roquette, dem die Guillotine bevorstände. Die Zimmer werden erst möblirt, wenn sie bezogen werden. Dort links wohnte Pierri, hier rechts Orsini. Sie sehen, beide Zimmer trennt nur eine Wand. Rudio befand sich im obern Stock.“
„Hatten Sie häufig die Nachtwache bei Orsini und Pierri, Brigadier?“ fragte ich.
„Mehrere Male. Sie wissen, Beide brachten einundzwanzig Tage hier zu. Bei Orsini wachte ich die Nacht vor seinem Tode.“
„Wird bei allen zum Tode Verurtheilten die Nächte vor ihrem Tode gewacht?“
„Bei Allen; Sie sehen dort die zwei Stühle, dem Bette gegenüber. Auf dem einen sitzt der Gefängnißbeamte, auf dem andern ein Soldat, das Auge auf das Bett des Verurtheilten gerichtet.“
„Waren Orsini und Pierri heiter und ruhig während der Zeit, wo sie hier detinirt waren?“
„Bis zum letzten Augenblick waren sie heiter und sogar fröhlich. Wenn sie von dem Attentat sprachen, bedauerten sie nur, daß es nicht gelungen sei. Pierri sang zuweilen in seinem Zimmer die Marseillaise oder den Gesang der Girondisten. Dann saß er oft stundenlang da auf dem Mauervorsprung an der Thür und schaute zum Fenster hinaus nach dem Himmel, oder er unterhielt sich mit der Wache, oder er klopfte einmal an die Wand und rief „Orsini“, der in ähnlicher Weise antwortete. Sie hielten sich auch mehrere Stunden des Tages in dem kleinen Gärtchen auf dem Hofe auf, von wo wir eingetreten sind, natürlich nach einander. Erst am Morgen ihrer Hinrichtung sahen sie sich wieder, hier auf dem Gange, als sie aus dem Zimmer traten. „Eh bien,“ rief Orsini, „wo ist denn Rudio?“
Pierri lachte. „Ich habe es mir gedacht, daß wir Beide den Gang allein machen würden,“ erwiderte er.
„Und Orsini’s letzte Stunden, Brigadier? Schlief er ruhig in der letzten Nacht?“
„Ganz ruhig, sechs Stunden. Ich habe nicht bemerkt, daß er erwachte. Nach vier Uhr stand er auf. Er frühstückte und war ganz heiter. Von Neuem sprach er von dem Attentat und bedauerte abermals, daß es nicht gelungen war. Dann kam der Priester. Orsini’s Haltung blieb ganz dieselbe, fest, ruhig und heiter. Hier auf dieser Stelle sah er Pierri wieder, wie ich Ihnen schon sagte. Sie begrüßten sich Beide in herzlichster Weise. Wenn es Ihnen beliebt, so gehen wir nun. Sie haben Alles gesehen. Ich werde Sie nun den Weg führen, den Beide zum Tode gingen. Oder wollen Sie erst noch Rudio’s Zimmer sehen? Sie wissen, er wurde auf Verwendung seiner Frau begnadigt, nach Cayenne deportirt und ist von dort entkommen.“
„Ich weiß. Rudio’s Zimmer interessirt mich nicht. Gehen wir, Brigadier.“
Der Gefängnißbeamte verschloß die Zimmer Orsini’s und Pierri’s von Neuem. Am Ende des Ganges stiegen wir eine kleine hölzerne Treppe hinauf. Wir befanden uns im obern Stock des Gebäudes. An demselben schloß sich der lange Gang, an dessen beiden Seiten die Schlafzellen der Sträflinge liegen und der wieder zum vordern Hofe des Gefängnisses führt.
„Hier gingen sie Beide zum Tode,“ sagte mein Begleiter, als wir in dem Gange dahin schritten; „Pierri ging voran, Orsini drei Schritte hinter ihm, der Priester neben Orsini. Auf dem ganzen Wege sang Pierri mit lauter, tönender Stimme den Gesang der Girondisten. Orsini sang nicht; er wiederholte mir zuweilen die Worte „du calme“. (Ruhig!) Beide sahen stolz und, ich möchte sagen, fröhlich aus.“
Ich las auf dem Gesichte meines Begleiters ganz deutlich die Empfindung, welche die Erinnerung noch heute in ihm wach rief. Er schwieg einen Moment.
„Weiter, Brigadier,“ sagte ich, „weiter.“
„Nun, draußen im kleinen Hofe wurden Beide dem Henker übergeben. Der Henker wartet immer im vordern Hofe, er kommt nur in den Hof der zum Tode Verurtheilten, wenn der Verurtheilte sich zu gehen weigert und sich widersetzt.“
„Hat Orsini den bekannten Brief an Napoleon geschrieben?“ fragte ich im Weitergehen.
„Das kann ich nicht wissen,“ sagte mein Begleiter. „Der Director des Gefängnisses hielt sich oft längere Zeit bei den drei Gefangenen auf.“
Wir waren währenddem wieder in den vordern Hof von la Roquette gelangt. „Es war ein grauer Wintermorgen,“ erzählte mir der Brigadier noch, bevor ich ihn verabschiedete, „vor sechs Uhr. Da draußen war die ganze Vorstadt auf den Beinen. So weit man sehen konnte, erblickte man Kopf an Kopf. Man hörte ein lautes Weinen und Schluchzen unter der Menge, als Orsini und Pierri das Schaffot betraten. Pierri sang noch den Refrain des Girondistenliedes, als er die Stufen des Schaffots hinanstieg, „mourir pour la patrie, mourir pour la patrie!“ „Vive la France, vive l’Italie!“ rief Orsini, als er von dem Schaffot die Menge überblickte, bevor er das Haupt auf das Bret legte.“
Wieder stand ich allein vor dem schrecklichen Thore von la Roquette auf der Stelle, wo das Schaffot aufgestellt wurde. Vor dem Auge meiner Seele erschien das geisterbleiche Antlitz Felix Orsini’s, wie ich es in einem vortrefflichen Bilde bei meinem Freunde Karl Blind in London sah. Und als ich die Straße la Roquette aufwärts nach dem Bastillenplatz ging, da sang ich unwillkürlich mit halblauter Stimme den Gesang der Girondisten. Da war er ja, der Platz, wo das Volk von Paris einst die Bastille stürmte; da sind noch alle die Straßen, welche in die aufrührerische Vorstadt St. Antoine führen. Da weiß ja jeder Stein von den Revolutionen zu erzählen, welche seit siebenzig Jahren fast immer von diesem denkwürdigen Platze ausgingen und ihre Erschütterungen über Europa trugen. Wer vermag zu bestimmen, ob der Tag nicht nahe ist, wo hier wieder das alte, „Allons enfants de la patrie“ erbraust? Wer kann sagen, ob es vor oder in den Tuilerien ausklingt?
2. Unsere Bären.
Die Naturgeschichte „Meister Brauns“, des allbekannten und hochberühmten Gewalthabers im Thierreiche, ist wiederholt zum Gegenstande ausführlicher Darstellung geworden. Der Bär spielt nicht blos in der Wissenschaft seine Rolle, er lebt auch in Wort und Bild im Volksliede und in der Volkssage, in der Wappenkunde und in der Kunst. Die Dichtung aller Völkerschaften, welche mit ihm in Verkehr kommen, hat sich seiner bemächtigt, die Völker haben den plumpen, ernstkomischen Gesellen ausgebeutet, leiblich
[11] wie geistig. Andere Raubthiere lassen gleichgültig oder werden gefürchtet. Der Bär wird geachtet und verehrt. Die feierlichen Gebräuche zur Versöhnung der abgeschiedenen Bärenseele, welche die Indianer Nordamerikas anstellen, die Ehrenbezeigungen, welche sibirische Völkerschaften dem Thiere erweisen, sind nichts anderes, als Erläuterungen unserer eigenen Ansicht.
Es kostet Ueberwindung, ehe man sich eingesteht, daß unsere Anschauungen auf falschen Voraussetzungen oder richtiger auf Mangel an Kenntniß des Bären und seines Wesens beruhen. Wer sich aber vorurtheilsfrei mit Meister Braun beschäftigt, ihn mit anderen Raubthieren vergleicht und sein Wesen einer strengeren Prüfung unterwirft, muß nach und nach doch dahin kommen, sich zu sagen, daß der Bär ein dem allgemeinen Urtheil widersprechendes Geschöpf ist, daß er die Achtung, welche er genießt, nicht verdient.
Das vergangene Jahr hat mir Gelegenheit gegeben, nicht nur unseren braunen Bären, sondern auch seine Verwandten tagtäglich zu beobachten – den braunen Bären in allen Lagen, welche das Gefangenleben eines Thieres möglich macht. Diese Beobachtung hat mein früheres Urtheil gänzlich verändert. Ich habe in einem von Roßmäßler und mir verfaßten Buche, welches Schilderung der Thiere unseres Waldes bezweckt, diesem Urtheil in folgender Weise Worte zu geben versucht: „Der Bär ist ein in geistiger Hinsicht entschieden tief stehendes Thier. Jede Katze, jeder Hund und jeder Marder erhebt sich hoch über ihn. Sein Verstand ist gering. Er besitzt weder große List, noch besondere Beurtheilungsfähigkeit; er hat ein schwaches Gedächtniß und eine nur geringe Erfindungsgabe. Im Verhältniß zu seiner Stärke ist sein Muth nicht der Rede werth. Nur der in höchsten Zorn gebrachte Bär wird furchtbar; für gewöhnlich weicht das gewaltige Thier vor dem schwachen Jagdhunde. Der Bär ist geistig weit unbeholfener, als leiblich. Er lernt wenig und dies Wenige nicht mit Verständniß, sondern nur nach und nach, in Folge der Angewöhnung. Mit anderen Thieren oder mit dem Menschen befreundet er sich nicht. Er erkennt die Oberherrschaft des letzteren an, ordnet sich ihr aber keineswegs aus freudigem Bewußtsein, sondern nur aus Feigheit, in Erinnerung an viele Prügel unter. Dem einzelnen Menschen beweist er selten eine besondere Anhänglichkeit. Er unterscheidet seinen Wärter zwar von anderen Leuten, behandelt ihn aber auch nicht anders, als jeden Fremden, welcher sich mit demselben Geschick wie sein Wärter mit ihm beschäftigt. Jede Handlung des Bären beweist einen schwachen, niedrig stehenden und bildungsunfähigen Geist. Die dem Thiere nachgerühmte Ehrlichkeit ist nur als Plumpheit, die offene Geradheit als Tölpelhaftigkeit zu deuten. Gutmüthig ist der Bär keineswegs; er wird im Gegentheil wie alle tiefgehenden Charaktere augenblicklich zornig, wenn ihm etwas nicht nach seinem Wunsch geht.“
Dieses Urtheil stand fest und war abgefaßt, bevor der Bär des Kölner Thiergartens einen Beleg für seine Richtigkeit lieferte, wie er trauriger nicht gegeben werden konnte. Ich will erzählen, welche Beobachtungen ich gesammelt hatte, bevor ich den Stab über den Bären brach und mir herausnahm, einem Tschudi und anderen tüchtigen Naturforschern zu widersprechen.
Wenige Tage nach Beginn meiner Wirksamkeit als Leiter des Hamburger Thiergartens, zu Ende Januars, brachte mir der Inspector des Gartens die Nachricht, daß die seit October des vorigen Jahres im Zwinger wohnende Bärin zwei Junge geworfen habe. Man kann sich meine Freude denken. Ein junges Thier ist für mich fast dasselbe, was ein neugeborener Mensch für Andere. Seine Entwickelung giebt mir Gelegenheit zu anziehenden, fesselnden Beobachtungen. Ich hoffte solche auch diesmal machen zu können, und – wurde schmählich getäuscht.
Die Bärin hatte sich eine der Zellen des Zwingers zu ihrem Wochenbette erkoren und dort die Jungen einfach auf den Holzboden derselben geworfen. Doch nahm sie Stroh, welches ihr zugereicht wurde, mit Freuden an und machte sich sofort darüber her, ihre Lagerstätte entsprechend zu verbessern. Es schien, als ob sie ihre Kinder mütterlich pflegen werde.
Ich will unentschieden lassen, ob ich einen Fehler beging, als ich anordnete, daß die beiden Eltern getrennt würden. Trübe Erfahrungen, welche früher gemacht wurden, ließen mir solche Trennung gerechtfertigt erscheinen. Ich wußte, daß Meister Braun vom Vaterglück zuweilen eigene Ansichten hat, daß er seine Sprossen erst später als Prinzen von Geblüt anerkennt, bald nach ihrer Geburt dagegen Gelüste zeigt, wie weiland Vater Saturn, der Unersättliche. Vorsicht war jedenfalls angerathen. Die jungen Bärlein waren in der Größe acht Tage alten Jagdhunden etwa gleich, derb vom Leibe, mit dünnen, kurzen, seidenglänzenden, graugelblichen Haaren ziemlich spärlich bekleidet, blind, äußerst hülflos, jedoch sehr gut bei Lunge. Ihre Stimme, welche man häufig vernahm, erinnerte an das Geschrei eines neugeborenen Kindes.
In einem sorgfältig gearbeiteten Bericht des galizischen Naturforschers Pietruwsky hatte ich gelesen, daß eine Bärin, welche von ihm in Haft gehalten worden war und währenddem Junge bekam, diese mit großer Liebe und Zärtlichkeit behandelt, sich um die Außenwelt nicht gekümmert und ausschließlich ihren Kindern gelebt hatte. Die Hoffnungen, welche ich auf unsere Bärin setzte, schienen also gerechtfertigte zu sein. Sie waren dies aber nicht. Ich beobachtete bald, daß unser Bärenpaar sein Glück nicht zu würdigen verstehe. Es schien mir, als ob in der Seele der Mutter die süße Gewohnheit der Gattenliebe mit dem natürlichen Triebe, welcher Zärtlichkeit zum Kinde verlangt, in Streit begriffen wäre. Die Bärin sehnte sich offenbar nach ihrem hohen, wie sie gelangweilten und verstimmten Gemahle. Ihre Sehnsucht ließ sie die Mutterpflichten vergessen. Gefühllos schleppte sie ihre Kinder in der Zelle auf und nieder, unachtsam warf sie die Hülflosen auf den harten Boden hin. Das eine starb schon wenige Stunden nach der Geburt, wie es schien, an Nabelverblutung, das andere folgte ihm zwei Tage später nach. Die abscheuliche Mutter hatte es verschmachten lassen! Unbekümmert um die Leiche ihres Kindes, verlangte sie einzig und allein nach dem Bären, und als ihr Begehr erfüllt wurde, stürzte sie sich gleichsam frohlockend auf ihn zu, beinah in seine Arme.
Meine Entrüstung über die Erbärmliche wurde gemildert durch diesen Beweis des Gefühls. Ich war pflichtschuldigst erbaut und gerührt von solch treuer Anhänglichkeit an den Gatten. Ich konnte nicht unterlassen, meiner abscheulichen – von einem verkrüppelten Schöngeist auch gebührend gerügten – Angewohnheit Folge zu geben, nämlich den Bären mit dem Menschen, bezüglich dessen eheliche Treue mit der des erhabensten Thieres zu vergleichen. Das Ergebniß meines Nachdenkens söhnte mich aus mit den Bären.
Ich sollte abermals getäuscht werden. Mitte Mai begann die Bärzeit. Wir hatten in unserem Zwinger außer den Eisbären, den nordamerikanischen Baribals und unseren gemeinen Bären noch einen männlichen Aasbären, welcher unverkennbar große Sehnsucht nach weiblichem Umgange an den Tag legte. An der Treue des ersterwähnten Bärenpaares zu zweifeln, wäre mir als Frevel erschienen, und ich ging deshalb um so lieber auf den Wunsch der Gesellschaft, gedachtem Junggesellen zu einer passenden Lebensgefährtin zu verhelfen, ein, als ich hoffte, daß die gegenseitige Hingebung des ersten Bärenpaares auch dann nicht gestört werden würde, wenn ich ein zweites treuinnig verbundenes Paar zu ihm bringen würde. Es wurde also eine Bärin für den verheirathungslustigen Aasbären gekauft und zu ihm gebracht. Die Holde konnte allerdings nicht zu den Schönheiten ihres Geschlechts gezählt werden. Sie hatte ihre erste Jugend auf Reisen zugebracht und als Schaustück in Thierbuden geglänzt. Im Laufe dieses wechselreichen Lebens war sie, vielleicht bei einem unliebsamen Streite mit einem der Herren wandernden Thierkundigen, um eins ihrer Augen gekommen. Aber sie war ein Weib und bewahrte jedenfalls die Würde und wenigstens einige Reize ihres Geschlechts.
Petz, der ehrlose Bär, war sichtlich erfreut, mit ihr vereinigt worden zu sein. Er schien die Schönheitsmängel der ihm Bestimmten als Folge neidischer Mißgunst des Schicksals zu betrachten, mit welcher oder welchem nicht zu rechten. Mit großer Zärtlichkeit nahte er sich ihr, und bald hatten sich Beide verständigt. Die Zeit schien günstig, das verbundene Paar dem andern zuzugesellen. Es geschah. Die Thür der Zelle wurde aufgewunden, die einäugige Bärin schritt voran, ihr Gemahl, dessen Brust Hochgefühle zu durchwogen schienen, folgte. Beide befanden sich im Zwingerraume, mit dem anderen Paare zusammen.
Eine allgemeine Bestürzung sämmtlicher Bären war die Folge meines übereilten Beginnens. Sämmtliche vier Bären schlugen in seltener Uebereinstimmung klappend ihre achtungswerthen Gebisse zusammen, schnaubten, brummten, brüllten. Sie fürchteten sich gegenseitig, wie die beiden alten Weiber in Gellert’s Fabel. Die frühere Eigenthümerin der Wohnung stieg auf den Kletterbaum und sah ängstlich nach unten; die Neuvermählte gerieth in Todesangst, gedachte plötzlich vergangener Zeiten und begann alle Unarten zu [12] zeigen, welche Raubthiere anzunehmen pflegen, die einen Theil ihres Lebens im engen Käfig verbracht haben. Sie sprang gleichsam tanzend wie rasend auf und nieder – offenbar aus reiner Angst. Die beiden Bären umgingen sich mit vielsagenden Blicken und noch mehr verrathendem Gebrumm, beschnupperten sich, brüllten und bogen beide ängstlich die Köpfe zur Seite in berechtigter Erwartung furchtbarer Ohrfeigen, welche gegenseitig ausgetheilt werden konnten. Die ursprüngliche Gebieterin des Zwingers saß oben auf dem Kletterbaume und schnappte, die Einäugige tanzte, als ob ihre Glieder aus Stahl gebaut wären und durch Dampfkraft bewegt würden, die edlen Recken fuhren in ihren gegenseitigen Prüfungen fort. Von Minute zu Minute wuchs die Aufregung; die Zwingerbärin war ganz außer sich, obwohl ihr Herr Gemahl sie wiederholt zu beruhigen versuchte, zu ihr hinaufstieg, sie beschnüffelte und dabei brummte, als wolle er ihr Muth einsprechen.
Dagegen schien auch sie ihn zum Handeln antreiben zu wollen; er zeigte aber durchaus keine Lust, mit dem anderen Kämpen anzubinden. Scheinbar in höchster Seelenruhe ging er im Zwinger auf und nieder, ohne sich um den Eindringling zu kümmern. Um so aufmerksamer bewies er sich gegen die Einäugige, gegen das Weib seines Feindes und dies in Gegenwart seiner rechtmäßigen Gemahlin! – eine Aufmerksamkeit, die sich bis zu den zärtlichsten Liebkosungen steigerte.
Diese betrübende Verirrung des einen Bären fand selbst im Herzen des anderen Wiederhall, und erregte in ihm tugendhafte Entrüstung. Eine furchtbare Ohrfeige, welche er dem Sünder verabreichte, war das Ergebniß eines länger währenden Nachdenkens über die verdammenswerthe Handlung, welche schamlos in seiner Gegenwart begangen worden war. Die Ohrfeige, welche einen Ochsen betäubt zu Boden geworfen haben würde, war das Zeichen zum Kampfe, welcher sofort in ernsthafter Weise begonnen wurde und – in Wohlgefallen sich auflöste. Die feigen Kämpen begnügten sich mit einer gegenseitigen Umarmung etwas stürmischer Art, fletschten die Zähne, schnappten, schnauften und ließen plötzlich wieder von einander ab, worauf sie, grollend zwar, aber doch unschlüssig und zwecklos im Zwinger umherliefen. Ich war empört. Jede Katze, jeder Hund, – jede Spitzmaus würde sich muthiger benommen haben! Ich verachtete die Feiglinge aus tiefster Seele.
Man begreift, daß ich wenig Vertrauen mehr hatte, an alten Bären die ihnen nachgerühmten guten Eigenschaften zu entdecken. Ich wandte mich also um so lieber zwei jungen, der Erziehung fähigen Bären zu, welche wir bald nach diesem Vorfalle erhielten. Meine Hoffnung wuchs, als sie wirklich gewissen Erwartungen zu entsprechen schienen. Ein zweites Paar, in etwa gleichem Alter, kam mir sehr erwünscht, ich hatte jetzt vier hoffnungsvolle Zöglinge.
Um der Wahrheit die Ehre zu geben, muß ich gestehen, daß sich alle vier ihres Namens durchaus würdig, d. h. als echte Bären zeigten. Höflich und artig konnte man sie nicht nennen, diese Söhne der Wildniß; man hatte vielmehr oft Gelegenheit eine große Ungeschliffenheit an ihnen zu rügen. Dabei schienen sie eine hohe Meinung von der Richtigkeit ihrer Ansichten zu besitzen; wenigstens bekundeten sie eine merkwürdige Starrköpfigkeit in der Beschäftigung, die sie sich einmal vorgenommen. Aber sie waren ganz ungemein, ich möchte sagen bestechend komisch. Ihr Auftreten hatte mit dem kleiner Buben, welche die ersten Hosen und zwar dem zarten Kindesalter entsprechend eingerichtete Hosen tragen, täuschende Ähnlichkeit; ihr Benehmen erinnerte an gewisse liebenswürdige Unarten, wie solche als Ergebnisse einer, wenn auch nicht gerade allen Ansprüchen genügenden, so doch ungebundenen Erziehung munteren Kindern anhaften. Unsere vier Bären waren, um es ungeschminkt zu sagen, vollendete Flegel.
So lange die lieben oder, wie die schönen Besucherinnen unseren Gartens sich auszudrücken pflegten, die „süßen“ Thierchen gesättigt in ihren Käfigen lagen, beschäftigten sie sich mit der anerkennenswerthen Arbeit, an ihren Vordertatzen zu saugen. Dabei ließen sie ununterbrochen ein beifälliges Gesumm – denn Gebrumm konnte man es nicht nennen – vernehmen, welches schließlich mit lautem Schmatzen beendet wurde. Hatten sie sich an dieser tiefsinnigen Beschäftigung Genüge gethan, so begannen sie zur Abwechslung eine kleine Balgerei, welche in aller Freundschaft begonnen, durch die Zauberwirkung einer unverhofft empfangenen Ohrfeige aber regelmäßig zu ernsterem Kampfe umgewandelt wurde und mit erklärtem Unfrieden endete. Grollend und mit den kleinen Schweinsaugen bösartig schielend oder dem Anderen Zornesblitze zuschleudernd, zog sich hierauf jeder wieder in seine Ecke zurück, betrachtete in wehmüthiger Erinnerung an die süße Mutterbrust seine Pranken, begann an ihnen zu saugen, begann zu summen und summte allen Zorn aus seinem Herzen. Bald regten sich der Uebermuth und die jugendliche Spiellust wieder, ein neues Kampfspiel wurde ausgeführt, von Neuem veruneinigte man sich, und wiederum mußten die Tatzen herhalten. Ich beneidete die Bären förmlich um diese Tatzen, welche so treffliche Ableiter des Unmuths zu sein schienen, weil ich bedachte, daß unsere guten Landesväter, hätten wir solche Tatzen, doch recht zufrieden, froh und glücklich sein würden.
Die Stunde des Fressens veränderte bei den jungen Bären natürlich das ganze Wesen. Sie wurde schon lange vorher durch ein höchst aufrührerisches Gebrüll als eine sehnlich erwartete verkündet. Der Magen schien sich durch Gesumme nicht einschläfern zu lassen, verlangte vielmehr sein Recht in ungestümer Weise. Mit unbeschreiblicher Gier fielen die Bären über ihr Futter her; sie zeigten sich so recht als das, was sie sind, als das Schwein unter den Raubthieren. Von anständigem Fressen, wie man es bei Katzen oder Hunden trotz alles Hungers beobachten kann, war keine Rede. Unsere Bären erstickten fast über der Arbeit und schienen richtig bei den Schweinen die Regeln des Anstandes erlernt zu haben. Sobald der Trog, welchen man ihnen bis zum Rande gefüllt hatte, geleert worden war, legten sie sich, befriedigt von den Freuden des Lebens, wiederum nieder und summten, an den Tatzen saugend, gar vergnüglich.
Wenn ich eben andeutete, daß Bären mit den Schweinen in manchen Stücken übereinstimmen, muß ich zum Ruhm der ersteren sagen, daß sie sich durch ihre Reinlichkeitsliebe von letzteren unterscheiden. So lange ein Bär Wasser zu seiner Verfügung hat, badet er sich, und in der Regel hält er sein Fell immer in Ordnung. Unsere jungen Bären konnten im engen Käfig die Wohlthat des Bades nicht empfangen; sie mußten deshalb zuweilen an das Wasser gebracht und dort gebadet werden. Das Becken, in welchem ein Seehund zwanzig Stunden des Tages verträumte, schien mir besonders geeignet, um als Badewanne zu dienen. Besagtes Becken war aber freilich einige hundert Schritte von den Käfigen meiner Zöglinge entfernt, und wir mußten also jedesmal mit ihnen einen guten Theil des Gartens durchschreiten.
So lange die Bären noch klein waren, ging die Sache vortrefflich. Die Thüren der Käfige wurden geöffnet, alle vier Insassen stürzten in’s Freie, schnaubten sich gegenseitig an, balgten sich und rannten hierauf hierher oder dorthin, in der entschiedenen Absicht, Beute zu machen. Sie stürzten sich mit Raubthiereifer auf jedes lebende Geschöpf ohne Unterschied der Größe, zeigten sich einer Taube oder einem Affen gegenüber äußerst muthig, Angesichts eines Ziegenbockes aber erbärmlich feig; sie rannten auf jedes Ding in blindem Eifer los und erschraken vor allem Ungewohnten; sie versuchten das gestern vergeblich Ausgeführte heute wieder, ohne gewitzigt zu werden; sie zeigten sich charakterlos, feig, störrisch, vergeßlich, dumm, boshaft und tückisch, vor Allem aber schweineartig gefräßig. Von den Fischkörben, den Vogel- oder Affenkäfigen im Hofe waren sie kaum wegzubringen, und wenn wir es wagten, sie mit Gewalt zu entfernen, fielen sie wüthend über uns her und bissen und kratzten gehörig. Mit Schlägen konnte man sie nicht bändigen, es gab nur ein Mittel sie zu locken, ein Mittel so abgeschmackt, wie die Bären selber. Man mußte schnell vor ihnen weglaufen, dann eilten sie ohne Besinnen nach. So wurde es möglich, sie, immer im Trabe freilich, durch den ganzen Garten zu führen.
Unsere Ausgänge waren für alle Zuschauer höchst ergötzlich. Die vier jungen Bären, welche wie Hunde hinter mir oder dem beauftragten Wärter herliefen, jedes Ding unterwegs untersuchten, die Körbe der Gartenarbeiterinnen durchwühlten, bei dem Erfrischungsgebäude auf Stühlen und Tischen herumkletterten und tausend andere Tollheiten in plump-täppischer, komisch-ernsthafter Weise trieben, mußten auch einen erklärten Murrkopf erheitern und belustigen. Ich selbst bemühte mich oft genug vergebens, den meiner Stellung würdigen Ernst zu bewahren.
In der Regel kam ich mit meinen Zöglingen ohne besondere Zwischenfälle zum Seehundsbecken. Dort wurden die Bären gepackt und in das Wasser geschleudert. Das Bad war ihnen
[13][14] stets äußerst unangenehm und dem Seehund nicht minder. Dieser fürchtete sich vor den zottigen Eindringlingen und die Bären natürlich vor dem Seehund. Es kam zu überaus drolligen Vorgängen. Krampfhaft hielten die Bären am Gitter sich fest, ärgerlich brummte der Seehund und wüthend schlug er mit der einen Flossenhand auf’s Wasser, wenn man sich anschickte, die Bären in das Becken zu werfen. Land- und Seethiere standen sich unbedingt feindlich gegenüber. Waren endlich alle fünf im Wasser, so suchte der Seehund die Bären von der Tiefe aus zu schrecken, und diese wiesen ihm die Zähne, sobald er sich oben zeigte.
Nach Beendigung des Bades wußten die Bären ihrer Glückseligkeit kaum Ausdruck zu verleihen. Sie kollerten sich wie übermüthige Buben auf dem Rasen herum, kletterten an den Bäumen in die Höhe, schreckten die Lama’s und schnauften andere Thiere an, setzten die Leute in Schrecken und trieben ähnlichen Unfug.
Das schöne Vergnügen währte aber nur sehr kurze Zeit. Alle Bemühungen, die Bären erziehen zu wollen, scheiterten an der Bildungslosigkeit derselben. Ihre harmlose Munterkeit verlor sich, ihre Rohheit, ihr grobes, ungeschliffenes Wesen zeigte sich mehr und mehr. Als sie den neunten Monat ihres Lebens erreicht hatten, waren sie ganz dasselbe, was ihre Eltern sind – echte Bären nämlich, zu näherem Umgange gänzlich ungeeignet, boshaft, unzuverlässig, stumpfgeistig, dumm, kurz, freundlicher Behandlung gänzlich unwürdig. Jetzt stecken sie im sicheren Käfig und werden mit Vorsicht behandelt. Vielleicht erzähle ich ein anderes Mal mehr von ihnen.
In der Sitzung des Frankfurter Parlamentsvom 31. August 1848 wurde über das deutsche Reichsbanner und die deutsche Flagge verhandelt. Gagern schlug für letztere den doppelten schwarzen Adler mit abgewendeten Köpfen, ausgeschlagenen rothen Zungen, goldenen Schnäbeln und dergleichen offenen Fängen in goldenem Felde vor.
„Gold in Gold,“ wurde hiergegen eingewendet, „sieht man ja nicht; goldene Klauen und goldene Schnäbel in goldenem Felde verschwinden, – so kann der deutsche Adler wohl zwei Köpfe, aber weder Schnäbel noch Klauen haben.“
„Ich kann das Amendement nicht mehr zulassen,“ erwiderte der Vorsitzende, und der Doppeladler wurde ohne Klauen und Schnäbel in die Welt hinausgejagt.
Beim Schluß dieser Verhandlung schlug dann dasselbe Parlamentsmitglied, das vor dem Adler ohne Klauen und Schnäbel gewarnt, noch zusätzlich vor, einen allgemeinen Beschluß zu fassen, daß jedes deutsche Kriegsschiff, welches ein feindliches Kriegsschiff mit mehr als 20 Kanonen einbringe, einen Preis von 50.000 Thlr. erhalten, das gewonnene Kriegsschiff den Namen des Capitains, der es eingebracht, führen, und sobald das Schiff untauglich werde, das nächste neuerbaute den Namen verewigen solle.
Präsident: „Ich stelle die Frage an den Herrn Antragsteller, ob er diesen Antrag als dringlich bezeichnet?“ „Heiterkeit“ steht nach dieser Aeußerung des Präsidenten in den stenographischen Berichten. Die Dringlichkeit wurde natürlich abgelehnt, der Antrag an eine Commission verwiesen, und hier – begraben.
Wäre der Antrag nicht mit Hohn zurückgewiesen worden, so hätte Capitain Jungmann nicht zwölf Jahre um das Gnadenbrod betteln müssen, und die Gefion hieße – Theodor Preußer.
Der Fünfziger-Ausschuß hatte der allgemeinen Stimmung im deutschen Volke Ausdruck gegeben, als er die preußische Regierung zwang, die Dänen aus Schleswig-Holstein zu vertreiben. Vielen aber that der Zwang wehe, und in dem Augenblicke, wo die preußischen Garden das Dannevirk erstürmt hatten, erhoben die Gardeofficiere den Ruf: „Es lebe der Prinz von Preußen!“
Wohl wußte man recht gut, was mit diesem Ruf ausgedrückt werden sollte, noch aber schien es nicht an der Zeit das Panier der Reaction offen aufzustecken, noch kehrte man die freisinnige, die volksthümliche Richtung heraus und gab sich den Anschein in officiösen Schriftstücken den Wünschen der Nation Rechnung zu tragen.
Eine bekannte deutsche Großmacht aber schickte um diese Zeit an seinen Gesandten in Kopenhagen eine Note, in der sie dem Könige von Dänemark versicherte, daß der begonnene Krieg in Schleswig-Holstein keine andere Absicht habe, als die demokratischen, die republikanischen Elemente in Deutschland zu verhindern, sich dieser Frage zu bemächtigen, und daß Dänemark durch den Krieg keinen Schaden leiden solle, sondern in seiner ganzen Integrität aus demselben hervorgehen werde.
Der Malmöer Vertrag machte denn dem Kriege, der kein Ziel hatte, ein Ende zum Vortheile Dänemarks, zum Nachtheile Deutschlands, zum Verderben des Parlaments, zum Unheile für Schleswig-Holstein selbst.
Immerhin war aber dieser Friede nur ein fauler, weil er trotz aller Zugeständnisse die Dänen nicht befriedigte, weil diese – nach den Versicherungen der Diplomatie – vom Kriege noch mehr hoffen durften, als sie in dem Malmöer Vertrage bereits erlangt hatten.
Im nächstfolgenden Frühjahr hatte Dänemark alle Vorbereitungen getroffen, Holstein zurückzuerobern. Sein Heer war vollzählig und bereit zum Aufbruche; seine Kriegsschiffe warteten mit Ungeduld auf das Wort, das ihnen den Angriffspunkt bezeichne. In Deutschland herrschte allgemeine Mißstimmung; das Parlament war durch allerlei kluge und unkluge Ränke von rechts und links um das Ansehen gekommen, in welchem, nachdem der Antrag, ihm eine Parlamentswehr zu schaffen, schon im Fünfziger-Ausschusse gestellt und verworfen worden war, allein seine Macht bestanden hatte; der große Aufschwung des Frühjahrs von 1848 war vollkommen gebrochen; die „Reaction“ durfte schon offener hervorzutreten wagen; die dänische Regierung konnte hoffen, auf noch weniger ernsten Widerstand als schon im Jahre 1848 von Seiten der preußischen Hülfe in Holstein zu stoßen.
So kündigte sie jetzt den verhängnißvollen Malmöer Vertrag und gab voll Vertrauen die Losung zum Angriffe, vorerst für die Flotte. Siegesbewußt entfaltete diese ihre Segel und steuerte den holsteinischen Ufern zu. Am ersten Jahrestage der Eröffnung des Fünfziger-Ausschusses, des Tages, an welchem der Fünfziger-Ausschuß den Beschluß faßte, daß auch die Schleswiger zur Wahl für das erste deutsche Parlament zu berufen seien, am 4. April 1849 warf die stolze Flotte, das Linienschiff Christian VIII. mit 84 Kanonen, die Fregatte Gefion mit 56 Kanonen, zwei Dampfschiffe, eine Corvette, eine Brigg und zwei Transportschiffe, im Ganzen über 170 Kanonen gebietend, ihre Anker aus bei Noer, am Eingänge der Bucht von Eckernförde.
Eckernförde liegt ungefähr in gleicher Entfernung, etwa drei deutsche Meilen, von Kiel, Schleswig und Rendsburg, am Ufer eines Meerbusens, der einen der größten und schönsten Häfen der Ostsee bildet. Er lockte gewissermaßen die Dänen zur Landung. Gelang es ihnen, sich hier festzusetzen, so war Schleswig abgeschnitten und ganz Holstein von hier aus bedroht und beherrscht. Es war vorherzusehen, daß die Dänen hier eine Landung versuchen könnten; und im ganzen Lande ging das Gerücht, daß sie eine solche versuchen würden. Nichts destoweniger war für die Vertheidigung dieses schwachen und doch so bedeutenden Punktes so gut wie gar nicht gesorgt.
Die Bucht von Eckernförde erstreckt sich in meilenweitem Umfange von Osten nach Westen in’s Land hinein. Am äußersten Ende des Meerbusens liegt die kleine freundliche Stadt mit ihren 4000 Einwohnern. Die Nordseite der Bucht ist kahl und erhebt sich in kleinen Hügeln über die See, die Südseite trägt theilweise einen jener schattigen, duftigen, saftigen Buchenhaine, die den Buchten des Holsteiner Landes eine so tiefe und stille Andachtstimmung geben. Auf der Nordseite der Bucht, fast in der Mitte derselben, war auf einer Landzunge eine unbedeutende und unscheinbare Befestigung [15] von Erdwällen angebracht, in welcher acht Kanonen, unter diesen zwei 48pfündige Bombenkanonen, standen. Auf der Südseite der Bucht, kaum eine Viertelstunde von der Stadt, lag eine zweite Batterie von Erdwällen umgeben und von vier 18pfündigen Kanonen besetzt. In jener befehligte ein Hauptmann Jungmann (s. Jahrg. 1862, Nr. 32), in dieser ein Unterofficier Theodor Preußer. In Gettdorf, halben Weges zwischen Kiel und Eckernförde, war unter dem Herzog Ernst von Coburg-Gotha eine deutsche Brigade aufgestellt, um Kiel und Eckernförde zugleich zu Hülfe eilen zu können.
Am Morgen des 5. April um 61/2 Uhr lichteten die dänischen Kriegsschiffe die Anker. Ein frischer Ostwind schien sie zum Einlaufen in die Bucht einzuladen. Langsam und stolz segelte der Koloß Christian VIII. vorauf in die Bucht ein, ihm folgte die Gefion und in geringer Entfernung die Dampfschiffe. Eine halbe Stunde später lagen die beiden mächtigen Kriegsschiffe vor der Nordbatterie und begannen dann den ungleichen Kampf von hundertundvierzig Kanonen gegen acht.
Eine Breitseite nach der andern erschütterte die Luft, durchwühlte die Erde des nördlichen Ufers der Bucht, überschüttete die Batterie und ihre Umgebung mit Eisen und Sand. Aber eine Ladung des mächtigen Orlogschiffes um die andere wurde von den Kanonen der Nordbatterie beantwortet. Zwei volle Stunden dauerte der ungleiche Kampf, mehr denn einmal wurde die deutsche Fahne von den Wällen herabgeworfen, doch immer von der tapfern Besatzung dem Feinde zum Trotz wieder aufgepflanzt. Der größere Theil der Geschütze aber wurde allmählich unbrauchbar; die Besatzung, zum Theil getödtet, verwundet, übermüdet, leistete, trotz aller Aufmunterung ihres tapfern Hauptmanns, nach und nach nur noch schwachen Widerstand; endlich fehlte auch die Munition. Die Nordbatterie schwieg.
Mit freudigem Victoriaruf machten dann die beiden Kriegsschiffe eine Wendung, um auch die kleine Batterie an der Südseite des Hafens zum Schweigen zu bringen. Das Haupttagewerk war vollbracht; es galt nur noch eine Nachlese. „Nur die paar Kanonen dort noch, und der Tag ist gewonnen, Eckernförde unser!“ konnte siegesgewiß der Admiral der kleinen Flotte, Commandeur Paludan, seinen um ihn versammelten Officieren zurufen, als der Christian VIII. in majestätischer Ruhe auf die Südbatterie zusegelte.
Wie gesagt, in dieser vollkommen unscheinbaren, mit den gewöhnlichsten Erdwällen umgebenen Batterie standen vier Kanonen, Achtzehnpfünder; zweiunddreißig Artilleristen bedienten diese, und dreißig Mann Infanterie eines der thüringischen Contingente sollten die Batterie beschützen. Auf den beiden dänischen Kriegsschiffen waren 140 Kanonen und 1600 Mann bereit, dies kleine, letzte Hinderniß wegzublasen.
Der Befehlshaber der Südbatterie aber war Theodor Preußer. Er war der Sohn eines Soldaten, eines deutschen Majors des dänischen Heeres, im Jahre 1825 in Rendsburg geboren. Sein Vater hatte den dänischen Kriegsdienst aufgegeben, während der Sohn seine ersten Erfahrungen ebenfalls im dänischen Heere machte.
Bis zum Jahre 1814 gab es eine Kriegs- und Cadettenschule auch in Rendsburg. Die Dänen waren die letzten Bundesgenossen Napoleon’s I. in Deutschland gewesen; sie kämpften noch für ihn in Deutschland, als er selbst bereits über den Rhein zurückgeworfen war. Der Keim des Deutschenhasses treibt in der ganzen Geschichte Dänemarks mit jeder neuen Lebensthätigkeit des dänischen Völkchens immer wieder neue Früchte. Und das erklärt sich von selbst, weil Dänemark seit Jahrhunderten, ja von Anfang seiner Geschichte an, immer auf Kosten Deutschlands Macht, Ansehen und Wohlstand zu erringen gesucht hat. Der Aufschwung, den die deutsche Nation 1813 nahm, richtete sich auch gegen Dänemark im Bunde mit Frankreich, und die Dänen ahnten mehr als andere Völker, daß Deutschland durch die Bewegung von 1813 einer neuen Zukunft deutscher Größe entgegengehe. Von der Stunde an steigerte sich von Neuem das Mißtrauen, die Eifersüchtelei der Dänen gegen ihre deutschen Mitbürger unter der dänischen Krone. Eine der Folgen dieser Stimmung war es, daß die Kriegsschule und das Cadettenhaus von Rendsburg schon 1814 nach Kopenhagen verlegt wurde.
Hierhin mußten von nun an die Deutschen unter dänischer Herrschaft wandern, die sich dem Kriegswerke widmen wollten. Auch der Major Preußer schickte seinen Sohn, als er das Alter erlangt hatte, in dem er seinen Beruf wählen mußte, nach Kopenhagen auf die Kriegsschule. Aber schon nach Jahr und Tag trat Theodor Preußer aus dem Kopenhagener Cadettenhause und aus dem dänischen Kriegsdienste wieder aus und wurde Landwirth. – Er theilte hierin das Geschick nicht weniger deutscher Jünglinge aus Schleswig-Holstein, die wie er dem Soldatenstande sich widmen wollten, und denen dann in Kopenhagen ihr Beruf auf jede Weise verleidet wurde. Die Dänen spielten hier die Hauptrolle; mit bewußtem oder aus unbewußtem Nationalhasse suchten die Oberofficiere, Lehrer und Cadetten den Deutschen den Dienst zu verleiden. Jede Neckerei, jeder Hohn, jede Zurücksetzung war hier ein gutes Mittel zum Ziele. Nur wer nach und nach sein Deutschthum verleugnen, verstecken lernte, wurde endlich von den Dänen als vollgültig und ebenbürtig angenommen.
Wie manche Stunde bittern Zornes, stillen Hasses, verbissener Verzweiflung mag dem Entschlusse Theodor Preußer’s, wie dem so vieler wackern Deutschen, die wie er sich in diese Laufbahn wagten und aus ihr hinausgedrängt wurden, vorhergegangen sein, ehe er seinen Degen hinwarf und zu Pflug und Schaufel griff!
Wenige Jahre nachher fand der Kriegsruf Schleswig-Holsteins ihn am Pfluge, und trieb ihn als Freiwilligen in das junge deutsche nordalbingische Heer. Er wurde Unterofficier in der Artillerie, und ihm war die Vertheidigung der Südbatterie des Hafens von Eckernförde übertragen. !
Wohl Viele sind gepriesen
Im großen deutschen Land,
Doch dich, mein frommer Friesen,
Hat Gott allein gekannt.
Die Jugend so lieblich verschloß,
Ist jeglichem Laut der Schmerzen,
Ist jeglichem Lob zu groß.
War je ein Ritter edel,
Vom Fuße bis zum Schädel
Ein lichter Schönheitsstrahl –
Mit kühnem und stolzem Sinne
Hast du nach der Freiheit geschaut,
Es war dir Geliebte und Braut. –
Friesen war in Magdeburg geboren und hatte von Jugend auf eine ausgezeichnete Erziehung genossen. Im Jahre 1812 war er als Lehrer an der Anstalt des Dr. Plamann in Berlin beschäftigt und zugleich einer der eifrigsten Freunde und Förderer des damals neu aufblühenden Turnwesens. Der ihm befreundete Turnvater Jahn giebt folgende poetische und doch nach dem einstimmigen Zeugnisse seiner Zeitgenossen durchaus wahre Schilderung von dem jungen Helden: „Friesen war ein aufblühender Mann in Jugendfülle und Jugendschöne, an Leib und Seele ohne Fehl, voll Unschuld und Weisheit, beredt wie ein Seher: eine Siegfriedsgestalt von großen Gaben und Gnaden, den Jung und Alt gleich lieb hatten; ein Meister des Schwertes auf Hieb und Stoß, kurz, rasch, fest, fein, gewaltig und nicht zu ermüden, wenn seine Hand erst das Eisen faßte: ein kühner Schwimmer, dem kein deutscher Strom zu breit und reißend; ein reisiger Reiter, in allen Sätteln gerecht, ein Sinner in der Turnkunst, die ihm viel verdankt. Ihm war es nicht beschieden, in’s freie Vaterland heimzukehren, an dem seine Seele hielt. Von wälscher Tücke fiel er durch Meuchelschuß in den Ardennen. Ihn hätte auch im Kampfe keines Sterblichen Klinge gefällt. – Keinem zu Liebe und Keinem zu Leide; aber wie Scharnhorst unter den Alten, ist Friesen von der Jugend der Größeste aller Gebliebenen.“
Gleich im Beginn des heiligen Kampfen eilte der tapfere Friesen nach Breslau, wo er in die bekannte Freischaar den Majors von Lützow mit Theodor Körner, Graf Dohna, Karl Müller, Dorow, Beerenhorst, Friedrich Förster u. s. w. eintrat. Ein Freundschaftsband umschlang die edlen Jünglinge und Männer, doch zu Keinem fühlte sich Friesen selbst so hingezogen, als zu dem treuen August von Vietinghof. Beide gelobten sich einst in heilig ernster Stunde, daß, wenn der [16] Eine von ihnen auf fremder, feindlicher Erde fiele, der Andere die Leiche des Freundes in’s Vaterland zurückführen sollte. Glücklich hatte Friesen in den unsterblichen Schlachten der Befreiungskriege mitgekämpft und sich durch Muth und Tapferkeit vor Allen ausgezeichnet, als ihn in Frankreich selbst bei einem Streifzuge durch die Ardennen eine mörderische Kugel traf. Eingedenk seines Gelübdes suchte der treue Freund lange vergebens die Leiche des Gefallenen, bis ihn ein günstiger Zufall sie entdecken ließ. Sechsundzwanzig Jahre führte Vietinghof die Gebeine des todten Freundes mit sich herum; von Garnison zu Garnison, von Stadt zu Stadt, den Sarg wie einen theuren Schatz behütend, bis er endlich die Erlaubniß erhielt, die sterblichen Ueberreste des unsterblichen Helden auf dem Berliner Invalidenkirchhofe zu bestatten.
Friedrich Adami, der gewissenhafte und fleißige vaterländische Geschichtsschreiber, theilt in seinem, neuesten Werke, das unter dem Titel „Vor fünfzig Jahren“ vor Kurzem erschienen ist, die betreffende höchst interessante Eingabe an den König Friedrich Wilhelm IV. mit, worin Vietinghof die näheren Umstände über den Tod des Freundes und die Auffindung seiner Leiche erzählt. „Friedrich Friesen,“ so lautet der Bericht, „geboren 1785 zu Magdeburg, evangelischer Religion, von 1808 ab Oberlehrer in der Plamann’schen Lehr- und Erziehungs-Anstalt in Berlin, 1813 Freiwilliger und nachher Lieutenant der Cavallerie und Adjutant beim Chef des Königl. Preuß. Frei-Corps, Oberstlieutenant von Lützow, befand sich im März 1814 nach dem Verlust von Rheims, in dem Augenblick im Auftrage bei der Arrieregarde, als dieselbe bei Rethel in den Ardennen von allen Seiten angegrifien, geworfen und auseinander gesprengt wurde, zu Folge dessen er am 15. März 1814, Nachmittags in der vierten Stunde, von Hunger, Durst und Anstrengung ganz erschöpft, sein ermüdetes Pferd am Zügel hinter sich herleitend, in dem Walde von Huillens, unweit des Dorfen la Lobbe, eine Meile von Launoy und drei Meilen von Mezières, von zwei Holzhauern und einer kleinen Abtheilung französischer Nationalgarde gefangen und bald darauf durch Kolbenstöße, Axtschläge und eine Flintenkugel durch die Brust meuchelmörderisch getödtet worden ist. Einer der Mörder, und namentlich der, welcher den tödtlichen Schuß vollführte, war der Schäfer Brodie von der Ferme Puesieux in Grandchamp und der Anführer der Nationalgarde, der Maire Coche von Launoy, 1816 Notaire daselbst.
Den gänzlich entkleideten Leichnam ließ der Maire Deslyou von la Lobbe, als er davon Anzeige erhalten, noch am Abend des 15. März 1814 in das Dorf bringen und am folgenden Tage auf dem dortigen Kirchhofe feierlich begraben. Das Benehmen des Maire Deslyou erklärt sich nur daraus, daß derselbe Royalist war und, nach seiner mir gemachten Angabe, bei der Besichtigung des so ausgezeichnet schönen Leichnams unwillkürlich hätte annehmen müssen, daß der ermordete preußische Militair hohen Standes sei, weshalb er sich auch veranlaßt gesehen, über den Hergang der Todesart ein procès verbal Aufzunehmen.
All diese näheren Thatsachen wurden mir jedoch erst später im Verfolg des Umstandes bekannt, daß ich im December 1816 durch einen glücklichen Zufall zu Lützow’s Corpssiegel, welches Friesen an jenem verhängnißvollen Tage bei sich getragen und welches nach seiner Ermordung von einem der französischen Nationalgardisten genommen, mir aber an einem von ihm im Holzgriff desselben angebrachten Kreuzschnitt besonders kenntlich war, gekommen bin. Denn als ich am 7. April 1814 in Nouvion unweit Compiègne vom Lieutenant Wilhelm von Lützow den Tod des Lieutenant Friedrich Friesen erfahren, ward mir nur die Gegend zwischen Rethel und Mezières, wo er gefallen, angedeutet und einige Tage nachher der erste Pariser Friedensschluß bekannt, und sofort der Rückmarsch nach dem Rhein angetreten; dadurch mir aber leider die Gelegenheit benommen, die Begräbnißstätte meines Freundes Friesen schon damals genauer zu ermitteln und dem Angelöbniß, welches wir am Ende 1813 vor dem Abmarsch aus Holstein nach Frankreich uns gegenseitig gegeben, pflichtgetreu nachzukommen, wenn Einer von uns Beiden für König und Vaterland in Frankreich fallen sollte, seine Gebeine dem wälschen Boden zu entreißen. – Um jedoch mein gegebenes Wort in dieser Beziehung zu lösen, waren selbst durch den Wiederausbruch des Krieges von 1815 mir die Umstände nicht günstig; indem ich, von einer am 16. Juni in der Schlacht von Liany erhaltenen Schußwunde noch nicht vollständig geheilt, kaum bei einem Truppentheil, dem Füsilierbataillon des königl. 25. Infanterieregiments in Landercy wieder eingetroffen war, trat gedachtes Regiment in Folge des zweiten Pariser Friedens den Rückmarsch in die Heimath an und rückte im December 1815 als Garnison in Erfurt ein. Das Geschick wollte es jedoch anders, denn schon im Februar 1816 wurde ich mittelst Allerhöchster Cabinetsordre zum Füsilierbataillon des königl. 14. Infanterieregiments, welches bei dem Occupationscorps des Generallieutenants Grafen von Zieten in Frankreich stand, versetzt und ich dadurch im Stande, meine diesfälligen Nachforschungen zu erneuern; zufolge derselben mir Anfangs December 1816, in, der Cantonnirung zu Launoy, durch den Unterofficier Danner meines Compagnie Lützow’s Corpssiegel überreicht wurde, welches er von seinem Quartierwirth mit dem Bemerken erhalten, daß dasselbe bei einem im März 1814 im Walde von Huillens erschossenen und in la Lobbe begrabenen preußischen Officier gefunden worden sei. Hierauf begab ich mich am 5. Decbr. 1816, in Begleitung des damaligen Lieutenants Meisner, nach la Lobbe und erhielt von dem Maire Deslyou den genauesten Aufschluß über Alles, wonach ich forschte, und fand den eingesargten Leichnam zwar schon verwest, indeß den Kopf meines Freundes Friedrich Friesen an einer mir bekannten Stirnnarbe, die ihm als achtjährigem Knaben durch einen Steinwurf von einem seiner Gespielen oberhalb des rechten Augen einige Linien tief im Schädel zugefügt, und an einem schadhaften Vorderzahn der unteren Reihe, welcher ihm 1810 hier auf dem Fechtboden, durch das Zerspringen der Hieberklinge seinen Gegners, beschädigt worden war, außer allem Zweifel unverkennbar vor; nahm die Gebeine mit mir und habe sie seitdem auf allen meinen Hin- und Herzügen als mein heiligstes Besitzthum in der Hoffnung mit mir geführt, für sie dereinst möglichst hier in vaterländischer Erde, in welcher seine im Jahre 1813 hochbejahrt gestorbene Mutter bereits ruht, eine passende Ruhestätte nach vorher erfolgter Anzeige und Genehmigung zu erhalten.“
So hatte der treue Freund sein Wort gehalten, und König Friedrich Wilhelm IV. ertheilte ihm gern die erbetene Erlaubniß zur späten Beerdigung der theueren Gebeine. En war ein wunderbares Begräbniß, das nach 26 Jahren, am 15. März 1843, in Berlin stattfand. In einer Halle den dortigen Invalidenhauses war der offene Sarg aufgestellt, in welchem sich, durch die kunstgeübte Hand eines Anatomen, des Stabsarztes Dr. Schotte, das Skelet vollständig geordnet und verbunden fand. Mehrere Damen, darunter die Gräfin Ahlefeldt, die Gattin des berühmten Lützow und einst die zärtliche Freundin des Todten, hatten den Scheitel mit dem wohlverdienten Lorbeer geschmückt und die übrigen Gebeine mit Kränzen und Blumen bedeckt. Eine große Anzahl alter Cameraden und Freunde hatten sich eingefunden, die Friesen noch gekannt, als er Lehrer an der Plamann’schen Anstalt gewesen, so der Director August, Professor Bellermann, Geheimrath Beuth, General von Petersdorf, Turnmeister Eiselen etc. Sie Alle blickten jetzt mit tiefer Rührung auf die sterblichen Ueberreste des jungen Helden, den sie einst in frischer Jugendblüthe, vor Allen herrlich und strahlend gesehn. Mit militärischen Ehren wurde der Sarg zur Erde bestattet, sämmtliche Officiere des Invalidencorps waren in Paradeuniform gegenwärtig, und eine Abtheilung der Veteranen stand im Hofe aufmarschirt. Am Grabe sprach Professor Zeune, ein vertrauter Freund Friesen’s, einige erschütternde Worte, indem er im Gegensatz zu der damals stattgefundenen Ueberführung der Leiche Napoleon’s von St. Helena nach dem Dom der Invaliden hervorhob, daß diese Bestattung nicht eitle Ruhmsucht, sondern deutsche Liebe und Treue veranlaßt hätten.
Selbst das romantische Mittelalter hat keinen Poetischeren Beweis von Ergebenheit und Freundschaft aufzuweisen, und dreist darf sich der wackere Vietinghof mit dem treuen Knappen messen, der das Herz seines im Morgenlande gefallenen Herrn unter tausend Beschwerden nach der Heimath brachte. Auch die Dichtkunst hat sich der rührenden That bemächtigt, und der berühmte Immermann dieselbe in einer interessanten Episode gefeiert. Auf dem Invalidenkirchhof zu Berlin, wo auch Scharnhorst, Lützow und so mancher Held der Befreiungskriege ruhn, liegt das Grab Friesen’s mit dem eisernen Kreuz geschmückt, zu dem die immer höher wachsenden Lebensbäume ihre grünen Zweige neigen.
- ↑ Verfasser der „Huberbäurin“, „Almenrausch und Edelweiß“ etc. etc.D. Red.