Die Gartenlaube (1864)/Heft 44

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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Keil
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Entstehungsdatum: 1864
Erscheinungsdatum: 1864
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[689]
Der böse Nachbar
Erzählung von Levin Schücking.
(Fortsetzung.)

Es mochte zehn Uhr sein, als er Allmer zu sich bescheiden ließ, um sich mit ihm zu verständigen. War Allmer entschlossen, ihn zu verlassen, wie es nach der Annahme der Herausforderung von seiner Seite allerdings schien, so wollte Horst sich von ihm einen andern tüchtigen Mann vorschlagen lassen, dem er die Verwaltung seiner Besitzung übertragen konnte. Allmer war nicht daheim. Horst befahl nun, sein Pferd zu satteln. Er war von einer eigenthümlichen Unruhe besessen, die ihn daheim nicht rasten ließ. Er ritt durch’s Dorf … draußen lenkte er sein Thier auf den Weg nach Falkenrieth. Es war eine Beschäftigung, Falkenrieth einmal wiederzusehen. Ein gutes Stück des Tages ließ sich hinbringen mit Untersuchungen, welche Wiederherstellungen die zunächst nöthigen sein würden. In lässigem Schritt trug ihn der schwerknochige Rappe hin.

Als er angekommen war, fand sich das Haus des Wärters vor der Brücke so leer wie damals, als Horst zum ersten Male hier gewesen. Er mußte für seinen Klepper selbst sorgen, und so führte er das Thier der Stallthür zu, hinter welcher er damals Eugeniens flüchtigen Fuchs untergebracht. Als er die Stallthür geöffnet, stieß er einen leisen Schrei der Ueberraschung aus. An der alten Stelle, mit demselben Damensattel auf dem Rücken, stand der Fuchs Eugeniens an der Krippe und kaute widerwillig an einigen daliegenden Strohhalmen.

Horst fühlte alles Blut zu seinem Herzen schießen. „Sie da!“ sagte er sich athemlos … aber zugleich faßte er sich zu einem kühnen Entschlusse.

Er wollte dies Zusammentreffen benutzen; er fühlte, daß es ein unermeßliches Glück für ihn sei, sich gegen sie aussprechen zu können … Aug’ in Auge mit ihr mußte er ja eine Brücke zu einem ruhigen, freundlichen Verständniß wenigstens finden, und das schien ihm schon ein unsägliches Glück zu sein. Schnell führte er seinen Klepper in den Stall und befestigte ihn in einer Weise, die für ein friedliches Verträgniß mit dem muthwilligen Fuchs Gewährschaft leistete, und dann eilte er davon, über die Brücke, dem Portal des kleinen Schlosses zu.

Die Portalthür, welche von der Terrasse unmittelbar in den ovalen Salon führte, stand halbgeöffnet, aber der Salon war leer. Horst sah sich flüchtig darin um; dabei entdeckte er, daß die Thür nach dem weiß und rosaroth decorirten Nebensalon nur angelehnt war. Er eilte hastigen Schrittes – die Schritte klangen in dem leeren Gebäude und auf dem knarrenden Parket laut hallend wieder – auf diese Thür zu. In dem Augenblicke aber, wo er sie öffnete und sah, daß auch dieser Raum leer war, vernahm er das rasche und, wie es schien, heftige Aufreißen einer Thür in einiger Entfernung, einige Zimmer vor ihm, wie am Ende der Reihe von Gemächern, worin er sich befand.

„Bei Gott … sie flieht vor dir… sie hat dich erblickt und will dir ausweichen!“ sagte er sich mit einem Gefühl von innerer Demüthigung und Aerger und Verdruß, daß seine Wangen sich hoch und zornig rötheten … „aber es soll ihr nicht gelingen, ich will sie sehen … ich will zu ihr reden – das Haus hat nur den einen Ausgang – ziehen wir den Schlüssel ab, und sie ist gefangen!“

Er ging zurück, verschloß die Portalthür und steckte den Schlüssel zu sich. Dann kehrte er in den Raum zurück, den er verlassen hatte, schritt in den nächsten, ein ganz kleines Boudoir mit alten verblichenen Seidentapeten, in die allerlei Chinoiserien eingewebt waren; auch hier war seine Flüchtige nicht; er eilte weiter, in ein kleines, verfallenes Badezimmer, und damit war die Zimmerreihe zu Ende. Die Flüchtige war nicht da, wohin war sie verschwunden? Keine Thür führte aus dem Raume, das Fenster ging nach hinten auf den kleinen See hinaus, an dem Falkenrieth lag; da hinaus war keine Rettung gewesen! Hatte am Ende der Eckschrank sie aufgenommen … es wäre gar zu komödienhaft gewesen! … Horst stand einen Augenblick betroffen und zögernd da, ehe er die Hand nach der schmalen dunkelgebohnten Thür des Eckschrankes ausstreckte … dann streckte er sie aus, aber die Hand zitterte, als er es that, sein Gesicht entfärbte sich dabei, und doch, er riß die Thür auf und athmete überrascht tief und wie erleichtert auf. Es war kein Wandschrank. Das Ding war auf eine Täuschung berechnet. Es war eine geheime Treppe, die, schmal, gewunden, in die Höhe führte. Also konnte die Flüchtige nicht entwischt sein, nur weiter in ein oberes Stockwerk entflohen. Horst stürmte die Stufen hinauf; er gelangte an einen Absatz, wo zu seiner Linken eine Thür in die Entresolgemächer führen mußte … jetzt, wohin sollte er sich wenden’? … hatte sie sich in diese Gemächer hineingeflüchtet oder weiter hinauf ganz nach oben, in die Mansardenzimmer, zu denen die Treppe wahrscheinlich weiter führte? Er stand einen Augenblick schwankend … dann war es ihm, als höre er oben, über seinem Kopfe, ein Geräusch, und hastig, athemlos stürmte er weiter, die gewundenen, unter seinem Fuß knirschenden Stufen hinan.

Aber nicht dahin kam er, wohin er zu kommen glaubte, auf einen Vorplatz, der zu einer Reihe Mansardenräumen führte; er [690] sah plötzlich über seinem Kopf die Decke, in dieser Decke einen viereckigen Ausschnitt, in diesem Ausschnitt eine ihn schließende Klappe, die sich eben senkte, um die Durchlaß gewährende viereckige Oeffnung zu schließen. Im Eifer, im zornigen Sturm seiner Verfolgung, fuhr er mit beiden vorgestreckten Armen wider diese Klappe an, schleuderte sie empor und stand, bevor eine Secunde vergangen, in dem obern Raum, in den die Oeffnung führte; zugleich fiel mit einem heftigen lauten Gekrach die stürmisch aufgeschleuderte schwere Klappe zurück und in den Durchlaß hinein.

Horst sah sich in einem runden, eiförmig über ihm gewölbten Raum, der sein Licht von oben erhielt; er sah vor sich Eugenie stehen und fühlte sich vor Aufregung, Verwunderung und Bestürzung völlig sprachlos. Die Verwunderung, die Bestürzung wurden verursacht von dem Anblick, den ihm das junge Mädchen darbot.

Ihr Gesicht war dunkelroth und wurde dann leichenblaß, bleich wie der Kalk an der Wand hinter ihr … sie streckte beide Arme vor, sie lallte ein paar unverständliche Worte, sie ließ dann die Hände sinken, sie schlug sie vor’s Gesicht, als ob sie einen fürchterlichen Anblick von sich abwehren wolle, sie verrieth in jeder ihrer Bewegungen einen Zustand, als ob sie sterben wolle vor Angst.

Horst stand mehrere Minuten lang stumm und ohne eine Silbe hervorbringen zu können vor diesen Symptomen einer unerklärlichen Erschütterung.

„Mein Fräulein,“ stammelte er endlich, einen kleinen Schritt näher tretend „ … finde ich Sie hier … sehe ich endlich …“

„Kommen Sie nicht näher, kommen Sie nicht näher, rühren Sie mich nicht an, oder ich sterbe!“ rief Eugenie auf mit einem herzerschütternden Tone der Verzweiflung.

„Um Gotteswillen, Sie scheinen ja eine ganz fürchterliche Angst vor mir zu haben … ich begreife nicht …“

„O, Sie sind ein fürchterlicher, ein abscheulicher, böser Mensch!“ rief sie jetzt wie im hellen auflodernden Zorn, „wie ist es möglich, daß…“

„Ich ein böser, abscheulicher Mensch? Das sind seltsame Vorwürfe, während ich Ihnen doch nur gefolgt bin, um Ihnen zu sagen …“

„Sie sollen mir nichts sagen, ich will nichts hören, nichts … keine Silbe, Sie sollen mich gehen lassen, ohne mich anzurühren!“

„Nun, mein Gott,“ versetzte Horst, der bei diesem seltsamen Benehmen, bei diesem beleidigenden Mißtrauen der jungen Dame auch ein Etwas wie plötzlichen Zorn in sich aufkochen fühlte, „ich bedaure in hohem Grade, daß Sie sich unnützer Weise so furchtbar ängstigen … Sie anzurühren ist durchaus nicht meine Absicht, wenn ich auch nicht im Entferntesten ahne, weshalb Sie zu fürchten scheinen, daß ich etwa die Pest habe und meine Berührung Sie tödten würde! Und wenn Sie gehen wollen, ohne mich angehört zu haben, mein gnädiges Fräulein, so vertrete ich, wie Sie sehen, Ihnen den Weg nicht!“

Eugenie sah ihn groß an; es schien, sie bedurfte der Zeit, seine Worte zu verstehen und sich klar zu machen. Sie athmete hoch auf. Sie machte einen Schritt der Klappe zu, die allein aus diesem Behältniß hinausführte; Horst zog sich, sie mit Blicken, in denen Zorn und Trauer lägen, messend, so weit zur Seite zurück, wie es ihm nur möglich war, er drückte sich förmlich an die Wand.

Sie hielt ihr Auge in scheuer Angst auf ihn gerichtet, während sie langsam schwankend weiter ging … es war, als ob sie eines Zusammenraffens all ihres Muthes bedürfe, bevor sie wagte, sich zu bücken, um den Ring zu fassen, mit dem man die Klappe aufhob … noch einen letzten Angstblick auf ihn, dann wagte sie es in der That; aber die Klappe hob sich nicht!

„Sie sehen,“ sagte jetzt Horst in fast spöttischem Tone, „die Klappe ist zu schwer für Sie; Sie werden am Ende doch gestatten müssen, daß ein so gefährlicher Mensch wie ich Ihnen näher tritt, um die Arbeit für Sie zu verrichten!“

Eugenie riß mit aller Kraft, mit beiden Händen an dem Ringe … aber fruchtlos. Horst sah ihr mit ironisch bitterem Lächeln zu, ohne ihr zu helfen!

„Es geht nicht,“ sagte er dann, „Sie sehen, ohne mir mit einem guten Wort eine gewisse Ehrenerklärung zu gönnen, ist keine Rettung für Sie möglich!“

Eugenie sah zu ihm aus, und plötzlich schössen ihre Augen voll Thränen; ein ganzer Strom rieselte ihre bleichen Wangen hinab.

„O mein Gott!“ rief Horst von diesem Anblick wie vollständig umgewandelt und mit einem Tone wahrer Trauer aus, „bin ich Ihnen denn wirklich eine so fürchterliche, so ganz entsetzliche Erscheinung … beruhigen Sie sich doch, Sie werden im nächsten Augenblick befreit sein und mich nie wieder sehen!“

Betroffen von diesem Tone hielt Eugenie ihre Thränen ein, in dem Blick, den sie auf ihn warf, während er jetzt rasch an den Ring herantrat und sich zu ihm niederbückte, lag etwas von zurückkehrender Beruhigung.

Aber auch dem Kraftgriff, mit dem Horst den Ring emporreißen wollte, folgte die Klappe nicht.

„Das alte Holzwerk hat sich geklemmt, die Klappe ist so heftig in die Oeffnung hineingeschlagen, daß sie nun schwer wieder herauszuziehen ist…“

Er machte noch einen vergeblichen Versuch, und blickte dann halb rathlos, halb spöttisch zu dem jungen Mädchen auf.

Eugenie begegnete diesem Blick mit einem Ausdruck von zurückkehrender grenzenloser Bestürzung.

Horst schwieg einen Augenblick.

„Sie denken,“ sagte er dann achselzuckend, „ich spiele Komödie und stelle mich nur so, als vermöchte ich die Last nicht zu heben.“

Eugenie antwortete nicht.

„Es thut mir leid,“ fuhr er fort, „aber ich kann leider nichts daran ändern. Vielleicht werden wir fertig damit, wenn es Ihnen möglich wäre, Ihre Furcht vor mir so weit loszuwerden und mir so nahe zu kommen, daß wir den Ring gemeinsam fassen … vielleicht gelingt es unseren vereinten Kräften, was ich allein mit dem besten Willen nicht zu Stande bringe!“

Der Versuch mit vereinten Kräften wurde gemacht… Eugenie trat dazu rasch und wie ein wenig beschämt über ihr bisheriges Betragen heran und zeigte auch kein Symptom von Erschrecken, als Horst’s Schulter beim Niederbeugen die ihre berührte. Nichts destoweniger mißlang der Versuch.

Horst stieß nun einen zornigen Ausruf aus, kniete mit beiden Knieen vor dem Ring und zog daran mit dem Aufgebot aller seiner Kraft, so daß die Schweißperlen über seine Stirn rannen. Nach einigen Augenblicken erhob er sich.

„Mein gnädiges Fräulein,“ sagte er, „ich bedauere Ihnen erklären zu müssen, daß wir hier in allem Ernste eingesperrt sind. In der Hast, Ihnen zu folgen, in dem stürmischen Verlangen, Sie zu sehen und die Gelegenheit, mich gegen Sie auszusprechen, um keinen Preis fahren zu lassen, habe ich eine Unbesonnenheit begangen und diese einzige Thüre in die Freiheit sich auf eine Weise hinter mir schließen lassen, die uns nun den Ausgang versperrt. Es ist das leider mein Charakterfehler, daß ich ein wenig rasch und unbesonnen bin, und hier seh ich einmal wieder, wohin das führt! Wir sind gefangen! Ich kann Ihnen nur mein Bedauern darüber aussprechen, und – das Ehrenwort eines Mannes, daß ich es bedauere! Ich habe diese Lage verschuldet … ob Sie mir glauben wollen, daß es unabsichtlich geschah, das muß ich Ihnen überlassen … große Hoffnungen hegen darf ich in dieser Beziehung freilich nicht, denn ich habe Sie von einem so seltsamen Mißtrauen, von einem solchen Schrecken vor mir erfüllt gesehen …“

„Mein Gott, o mein Gott!“ antwortete Eugenie nur, die wieder leichenblaß geworden war und sich in rathloser Angst rund umher in dem Raume umsah, ob denn nichts da sei, das ein Mittel zur Rettung aus dieser Lage werden könne.

Auch Horst untersuchte den Raum jetzt näher. Es war offenbar das Innere einer Thurmkappe, wie man ihrer zwei, in der Form kleiner Kuppeln, mit Kupfer gedeckt, außen die beiden Thürme krönen sah, welche rechts und links Schloß Falkenrieth flankirten.

Die Wände bestanden aus gekrümmten, daubenartig nebeneinander befestigten und nach oben hin immer schmaler werdenden Eichenbohlen, die um eine oben angebrachte runde, vielleicht zwei Fuß im Durchmesser haltende Oeffnung, durch welche das Licht einfiel, zusammenliefen. Ein starker Holzring wie eine Radfelge hielt sie hier zusammen. Durch die Oeffnung aber blickte man in eine kleine, die Kuppel krönende, rings offene Thurmlaterne hinein. Die Höhe der Kuppel betrug ungefähr sieben Fuß vom Boden an. Der Raum selbst war vollständig leer; er zeigte nichts als die mit weißer, stellenweise abgefallener Tünche überzogenen Wände und auf dem Boden, da wo Eugenie zuerst gestanden, ein blaubroschirtes Buch.

„Die Hülfe aus unserer Lage,“ hub Horst nach einer Pause wieder an, „kann uns nur von außen kommen. Aber sie herbeizuziehen [691] haben wir kein Mittel. Wir … in unserem gegenseitigen Verhältniß wenigstens nicht! Wär’ es anders, Fräulein Eugenie … wäre nicht dies räthselhafte Mißtrauen, dieser unverdiente Abscheu, welchen Sie mir beweisen … so wäre es vielleicht nicht so; so wäre eine Möglichkeit, daß wir uns über ein Rettungsmittel verständigten!“

Eugenie blickte ihn fragend an, mit einem wahrhaft hülfeflehenden Blick. Horst war grausam genug, diesen Blick nicht zu beachten, ihn nicht zu beantworten. Er sagte nur: „So aber kann nicht die Rede davon sein! Nehmen Sie immerhin an, daß ich zu stolz bin, nur davon zu sprechen. Wir können nichts thun, als warten, bis man unruhig um unsertwillen wird, bis man uns sucht, bis man das ganze Haus durchstreift hat und endlich auch in diesen Thurm gelangt.“

„O mein Gott, das ist ja ganz entsetzlich!“ machte Eugenie ihrem Jammer in einem wahren Angst- und Entsetzensschrei Luft.

„Wenigstens eine kleine Geduldprobe,“ sagte Horst ruhig. Dann nahm er das am Boden liegende Buch auf, blätterte darin und setzte sich bequem auf den Boden nieder, den Rücken gegen die Wand lehnend.

„Wollen Sie mir erlauben, daß ich mir mit Ihrem ‚Pferde des Phidias‘ die Zeit ein wenig vertreibe?“ sagte er.

Sie nickte leis mit dem Kopfe, offenbar überrascht und verwundert ihn anstarrend.

Horst begann anscheinend ganz ruhig zu lesen. Von Zeit zu Zeit schielte er freilich ganz unmerklich über die Blätter zu Eugenien hinüber. Sie stand, sich wie müde an die Wand lehnend, halb abgekehrt von ihm, die Arme über der Brust verschränkt, die Blicke auf den Boden geheftet. Von Zeit zu Zeit schweiften diese Blicke verstohlen zu Horst hinüber … immer fragender, immer häufiger, immer sprechender.

Horst schien immer tiefer in seine Lectüre versunken.

Nach einer langen Pause machte sie eine Bewegung, die ihn aufzufahren zwang; sie schlug die Hände zusammen, sie rief wie mit dem Tone einer zornigen Verzweiflung, wie aus tiefster Brust: „O mein Gott, ich möchte sterben!“ Und dann stieß sie mit der Stirn an die Wand, und blieb in dieser Stellung, Horst halb den Rücken zukehrend.

Der junge Mann ließ jetzt die Vorspiegelung, als ob er lese, fallen; er legte das Buch sanft in seinen Schoß und hielt die Blicke auf Eugenie geheftet. Es war, als ob er auf etwas harre … der Ausdruck gespannter Erwartung lag in seinen bewegten Zügen. Aber die Erwartung schien sich nicht erfüllen zu wollen. Eine lange Pause verging, worin Eugenie so stumm und regungslos dastand, wie es je die marmorne Statue der Flora gethan. Eine Viertelstunde verstrich so. Da endlich regte die Statue sich … sie blickte plötzlich um sich, Horst hatte kaum Zeit, das Buch wieder aufzugreifen.

„Ich begreife nicht, wie Sie so ruhig lesen können,“ sagte sie unwillig, „mir ist es nicht möglich, länger in dieser Lage auszuhalten … meine Kniee tragen mich nicht länger …“

„Lassen Sie sich nieder, wie ich es that. Was wollen Sie … man muß sich in die Nothwendigkeit zu fügen wissen! Wünschen Sie das Buch vielleicht zurück?“

„Und doch,“ versetzte Eugenie, ohne diese Frage einer Antwort zu würdigen, „doch sagten Sie vorhin, es gäbe ein Mittel, Hülfe herbeizurufen…“

Ueber Horst’s Züge flog ein Ausdruck von Genugthuung bei diesen Worten Eugeniens.

„Allerdings,“ versetzte er lebhaft. „Es giebt eins. Aber besorgen Sie nicht, daß ich es Ihnen vorschlagen werde!“

„Besorgen …“

„Ja,“ fuhr Horst in demselben Tone, der etwas von Vorwurf und etwas von tiefem Gekränktsein hatte, fort. „dies Mittel setzt ein freundliches Einvernehmen voraus, und Sie haben mir hinlänglich angedeutet, wie vermessen es von mir sein würde, ein solches zwischen uns je zu hoffen! Ich würde Sie beleidigen, wenn ich mein Mittel nennte, und das ist nicht im Entferntesten meine Absicht. Ich bin ohnehin zerknirscht genug, daß meine Unbesonnenheit Sie in diese Lage gebracht hat; ich werde mir meine Unvorsichtigkeit nie verzeihen!“

Eugenie sah ihn fragend und mit einem Ausdruck an, der ganz und gar nichts mehr von dem früheren, halb zornigen, halb angstvollen Gereiztsein verrieth. Es lag im Gegentheil etwas wie ein rückhaltloses Hülfeflehen darin.

„Haben Sie denn kein Erbarmen mit mir?“ sagte sie nach einer Pause leise, mit zitternder Lippe.

„Gewiß, das größte … um so mehr, da ich ganz fühle, wie entsetzlich Ihnen dies Eingeschlossensein mit einem Manne sein muß, der sich, Gott weiß weshalb, in so hohem Maße Ihre Ungnade, Ihren Haß, Ihr unbegrenztes Mißtrauen zugezogen hat. Sie haben mir das Alles aber so unverhüllt und rückhaltlos gezeigt, daß ich es als völlig fruchtlos und überflüssig betrachten muß, dagegen anzukämpfen, und statt mein Rettungsmittel zu nennen, lieber der Zeit überlasse, uns zu befreien, und unterdessen zum ‚Pferde des Phidias‘ zurückkehre.“

„Der Zeit,“ rief Eugenie aus, „aber, mein Gott, wie lange kann es währen … die Wärtersleute drüben sind daran gewöhnt, daß ich stundenlang in Falkenrieth sitze und da lese, Briefe schreibe, arbeite … vor Abend würden sie vielleicht nicht auf den Gedanken kommen, nach mir zu sehen, zu suchen!“

„So müssen wir bis Abend warten,“ sagte Horst mit einem Seufzer und legte sich ruhig auf die Seite, den Kopf auf den Arm stützend.

„Ich sehe,“ antwortete Eugenie, „Sie verlangen, ich soll Sie um Verzeihung wegen meines Betragens bitten … das ist es, was …“

„O nein, nein, nein!“ fiel Horst lebhaft, sich aus seiner Stellung erhebend, ein, „nicht das ist es, was ich verlange.“

„Und was verlangen Sie denn?“

„Nichts. Gar nichts. Die Welt, in welche ich hier gerathen bin, hat mir so wenig freundliches Entgegenkommen gezeigt, sie hat so rasch die froheste Hoffnung, mit der ich das Haus meiner Väter wiederbetrat, zerstört, daß ich beschlossen habe, sie sehr bald wieder zu verlassen. Wenn man mich zurückstößt, so bin ich zu stolz, noch einmal wiederzukommen. Ich werde dahin zurückgehen, wo ich zwar keine Beschäftigung und keinen Zweck mehr habe, aber wenigstens unter Menschen bin, die mir freundlich gesinnt sind!“

Horst ließ, nachdem er dies mit einem offenbaren Ausdruck von Trauer und Schmerz gesprochen, den Kopf wieder auf seine Hand sinken.

„Aber, mein Gott,“ sagte Eugenie mit einem Tone sehr großer Ueberraschung, „weshalb sollten Sie solche Menschen nicht auch hier finden, wenn Sie selbst ihnen in einer Weise entgegenkommen, die zeigt, daß Sie Werth auf eine solche Gesinnung legen?“

„Habe ich etwa das Gegentheil gezeigt?“

„Nun, ich meine doch … wenn Sie damit beginnen, meinen armen harmlosen Vetter erschießen zu wollen …“

„Das ist ein Vorwurf, der vielleicht mich trifft; vielleicht habe ich in dem Punkte Unrecht gehabt. Aber Sie wissen nicht, wie tief verwundet ich mich fühlte. Ich hatte seit Tagen nur noch für den einen Augenblick gelebt, wo ich Sie wiedersehen würde. Ich hatte Alles überhört, was mir mein Administrator von der Unzugänglichkeit Ihres Vaters erzählt …“

„Was Allmer Ihnen erzählt von der Unzugänglichkeit meines Vaters?“ unterbrach ihn lebhaft Eugenie.

„Nun ja,“ fuhr Horst fort, „ich glaubte zu wissen, daß Sie mich freundlich empfangen, mit Theilnahme den rückkehrenden Nachbar in seiner Heimath begrüßen würden, aus der er so lange verbannt war … ein einsames Herz, das verlassen allein steht in einer kalten, öden Welt, hat solche Hallucinationen, mein gnädiges Fräulein; und nun wurde ich in rücksichtsloser, grober Weise zurückgewiesen … und das, das empfand ich tief, sehr tief, mehr als ich es Ihnen heute sagen mag; daher ließ ich mich hinreißen zu etwas, das … nun, dessen Beurtheilung ich Ihnen preisgebe!“

Eugenie hörte Horst’s Worten zu mit einem Ausdruck der unverstelltesten Verwunderung.

„Aber um’s Himmelswillen,“ sagte sie, „wenn Sie Werth auf die Art, wie ich Sie in Ihrer Heimath begrüßte, legten, weshalb kauften Sie dann Falkenrieth?“

„Weshalb ich Falkenrieth kaufte? Nun, weil es mir gefiel … mehr noch, weil ich davon in Ihrer Gegenwart bei unserm ersten Zusammentreffen hier gesprochen und ich Ihnen nicht als ein Charakter erscheinen wollte, der unbedacht Vorsätze faßt, die er später nicht ausführt, und mehr noch aus einem Grunde, den … den ich Ihnen nicht gestehen kann …“

[692] „Aber Sie wußten ja, Herr Allmer hatte Ihnen ja gesagt, daß es mein sehnlichster Wunsch, mein seit Jahren gehegtes Verlangen sei, Falkenrieth zu besitzen, daß ich eine Summe dafür geboten, für welche es mein geworden wäre, wenn kein Anderer, wenn Sie nicht gekommen …“

„Davon weiß ich keine Silbe!“

„Allmer hatte es Ihnen nicht gesagt, Ihnen den Kauf nicht widerrathen?“

„Widerrathen? … er hat mir den Kauf gerathen … nur sich geweigert, Theil daran zu nehmen, d. h. mich bei dem wirklichen Abschluß zu unterstützen.“

„In der That?“

„So ist es!“

Eugenie schien aus einer Ueberraschung in die andere zu gerathen.

„So sind Sie allerdings gerechtfertigt in dem, was Sie wider meinen Vetter und mich unternommen – aber wider meinen Vater …“

„Auch wider Ihren Vater habe ich ein Verbrechen begangen?“ rief Horst aus.

„Sie wissen, er hat eine kindliche Freude an seinen Sammlungen, und das Juwel dieser Sammlungen …“

„Habe ich … doch nicht etwa geraubt, zerstört?!“

Eugenie antwortete nicht; sie sah ihn nur mit ihren großen, verwunderten Augen an.

„Nennen Sie es mir, das Juwel … und ich will Boten nach allen vier Weltgegenden aussenden, um es wieder herbeischaffen zu lassen und es Ihrem Vater zu ersetzen!“

„Nein … in der That … Sie sind kein böser Mensch,“ sagte Eugenie mit einem plötzlich eigenthümlich veränderten Wesen, ihre Gestalt aufrichtend, mit lächelndem Antlitz und mit Wimpern, in die Thränen schossen, und dabei Horst ihre Rechte entgegenstreckend „… wir haben Ihnen viel, viel abzubitten und ich am meisten!“

„Nichts, nichts, was ich Ihnen nicht verzieh,“ rief Horst, ihre Hand ergreifend, „nichts, was ich nicht vergäße über dem Glück dieses Augenblickes, der alle meine schönen Hoffnungen wieder aufleben läßt, die Träume, die ich hegte, nachdem ich Sie zum ersten Male hier in Falkenrieth gesehen …“

„O, lassen Sie uns nicht von Träumen reden,“ fiel hastig und dunkelroth werdend Eugenie ein, „die harte Wirklichkeit umschließt uns zu eng, uns arme Gefangene; ich hoffe, Sie denken jetzt an nichts Anderes, als an unsere Befreiung.“

„Unsere Befreiung – Sie haben Recht … soll ich Ihnen mein Mittel nennen?“

„Muß ich denn gestehen, daß ich seit einer halben Stunde brenne, es zu erfahren?“


(Schluß folgt.)




Leipzigs Wasserpionier.


Ein Industriebild. Von Friedrich Hofmann.


„In der großen Seestadt Leipzig –“

so beginnt ein altes Scherzlied, welches ohne Zweifel die ausgedehnten Sümpfe verherrlichte, mittels deren es einst Leipzigs schöner Gegend gelungen war, hier Osten und Westen unnahbar zu trennen. Es gehörte der hohe Dammbau der Leipzig-Lindenauer Chaussee dazu, um die deutschen Brüder diesseits und jenseits der Sümpfe zueinander zu bringen. Und wenn die drei Ströme dieser Ebene, die tückische Elster, die verdächtige Pleiße und die gemüthliche Parthe den ihnen eigenthümlichen Uebermuth des Ueberflusses entwickelten, so mochte Leipzig zu einer temporären Seestadt wohl Wasser genug haben, aber weiter nichts.

Anders ist es heute, ja gerade umgekehrt. Die ehemalige Macht der Ueberschwemmungen ist gebrochen, üppiges Wiesengrün wurde Herr über die Sumpflächen, der prahlerische Spiegel weiter Wasserflächen heuchelt kein Seebild mehr in die Ebene der Weltschlachten, – aber ein viel überraschenderes Wunder fesselt Dich, reisender Mann, der Du von Lindenau des hohen Weges her Dich der alten Stadt der Messen, Buchhändler und Lerchen nahest: der schrille Pfiff der Dampfpfeife schreit, Du blickst hinüber zur Rechten, und Du traust Deinen Augen kaum – ein Dampfschiff fährt zwischen dem grünen Meer der Wiesen dahin! Es ist wahrhaftig so! Die Dampfsäule steigt auf und legt sich zwischen die Erlen, Hainbuchen und Eichen, welche den Weg des Schiffs beschatten, und auch die Schiffsglocke ertönt – eine andere Dampfsäule kommt dieser von der Stadt her entgegen, Wimpel flattern, es kracht der Böller – Dein letzter Zweifel schwindet, und Du eilst in die neue Seestadt, um mit eigenen Augen zu sehen, welch Leben sich in ihrem Hafen entwickelt.

Eile nur, Du bist gerade zurecht gekommen – zum denkwürdigen 25. Juni 1864, dem Feste der Einweihung eines Canals, welcher die Elster mit der Pleiße verbindet und einen directen Schifffahrtsverkehr zwischen den Bahnhöfen der Stadt und dem großen Canal ermöglichen soll, der einst die Gewässer Leipzigs mit der Saale verbinden wird. – Wir begeben uns zum ehemaligen durch die Messen weltbekannt gewordenen Gerhard’s Garten. Dort sehen wir deutsche, sächsische, leipziger und schleswig-holsteinische Fahnen von Gebäuden und Bäumen lang herabwallen, Dampf qualmt auf, und vieler Menschen Stimmen murmeln und schreien durcheinander. Dort ist der Hafen; aber sie bauen ihn erst; auf schwankem Stege überschreiten wir die Pleiße, vor uns dringt der neue Canal in Gerhards Garten hinein, und jenseits drängen Hunderte von Männern durcheinander, trotz des beginnenden Regens Alle mit frohen Festgesichtern, aus denen der Stolz strahlt, Zeugen der Krönung eines gelungenen schweren Werkes und Gäste eines Mannes zu sein, der die Krone des Tages trägt.

Da steht er, der Doctor Carl Heine, jener „Leipziger Bürger“, welchem die Gartenlaube schon 1856 ein Denkmal der Anerkennung in ihren Spalten setzte. Carl Heine gehört zu den thatkräftigen Geistern unserer Nation, aber nicht zu denen, welche fruchtverheißende Gedanken über weite Länder ausstreuen und ganze Völker fernen Zielen entgegenführen, sondern zu den energisch-praktischen, welche auf beschränktem Gebiete Großes leisten, ihre engste Heimath zu ihrem Wirkensfelde ausersehen und hier die widerstrebende Natur mit dem Aufwande aller Kraft zwingen, eine andere Gestalt anzunehmen und die Mittel, die sie bisher zum Schaden für Tausende in Ueberfluß hatte, in den Nutzen für Hunderttausende zu verwenden. Darin besteht die Größe des Mannes, in ihr ist er ein Muster deutscher Bürgertugend und darum ein würdiger Gegenstand nochmaliger Besprechung in diesem Weltblatte.

Im neuen Canal und in der Pleiße liegen die Fahrzeuge bereit. Ein neues Dampfschiff von 15–18 Pferdekraft, für hundert Personen, nach Art der Alsterdampfschiffe von Schlick in Dresden erbaut, macht heute seine erste Fahrt. Zwei ältere Dampfschlepper stehen bereit, mächtige Boote, von 120 Fuß Länge, 16 Fuß Breite, mit Kajüten versehen und festlich geschmückt, in’s Tau zu nehmen; diese drei Fahrzeuge und viele kleinere Boote und Barken nehmen die fünfhundert besonders geladenen Gäste des Festgebers auf. Ein Boot mit Musik begleitet sie, ein zweites dergleichen führt einen zweiten Zug von Booten, in welchem die fünfhundert Arbeiter Heine’s Platz finden. Die Musik ertönt, Böller krachen, ein Hoch erschallt, beantwortet von Tausenden an den Ufern und an den Fenstern der Gebäude, ein Blumenregen fällt auf Heine’s Festgondel, und die Fahrt beginnt.

Wenn Männer einer Stadt in erhöhter Stimmung vor den Werken eines Mannes stehen, der Bürger ist, wie sie, so reißt das Herz sie über die Rücksichten des Alltags fort, und sie fühlen es in solchen Augenblicken ihrer eigenen Ehre schuldig, der Wahrheit allein die Ehre zu geben. Darum lauschen wir in stiller Freude, wie hier, weß das Herz voll ist, der Mund übergeht.

Wir fahren den Schleußen des Canals entgegen.

„Mag’s auf meine alte Glatze regnen, den Hut zieh’ ich ab vor einem Bau, der unsern Vätern im Traum zu kühn gewesen wäre. Und das ist eines Mannes Arbeit, wir fahren durch ein neues Land, das ein Mann aus Sumpf und Oede geschaffen hat!“

„Wenn wir ihn recht bewundern sollen, müssen wir von ihm

[693]

Carl Heine.

Zahlen sprechen lassen. Heine’s wasserbahnbrechende Thätigkeit hat, wie Sie wissen, ein doppeltes Ziel. Wollte er die weiten Sumpfstrecken zunächst zwischen Leipzig und dem Dorfe Plagwitz (unweit Lindenau, eine Stunde von Leipzig entfernt) zu bauwürdigem Land umgestalten, so bedurfte er trocknes gutes Erdreich zum Ausfüllen derselben, und dieses gab ihm am besten das hochgelegene Terrain von Plagwitz. Und wollte er von dort das Ausfüllmaterial möglichst billig nach Leipzig schaffen, so bedurfte er einer Wasserstraße. Deshalb ließ er die Elster ausbaggern und für Boote bis zu 3000 Centner Tragfähigkeit befahrbar machen, und ebendeshalb verband er Plagwitz durch einen Canal mit der Elster. Der Canal giebt nun das Erdreich, das in Leipzig neues Bauland aus den Sümpfen erhebt, und jemehr Füllmaterial für Leipzig nöthig ist, desto weiter kann der Canalbau fortschreiten. Hätte Heine weiter nichts zu überwinden, als die Schwierigkeiten der Natur, so würden wir sein Werk schon bedeutend weiter gediehen sehen; – um so höher haben wir das zu ehren, ja anzustaunen, was trotz alledem bereits durch ihn geschehen ist. Nicht weniger als 1,100,000 Quadratellen Land umfaßt der neue Stadttheil, den Heine gegründet hat, und bildet, nach dem Durchschnittspreis von 1½ Thlr. für die Quadratelle Bauplatz, einen Grundwerth von 1,300,000 Thlr. Von diesem Areal waren ehedem 600,000 Quadratellen der Hochfluth ausgesetzte Wiesen und 200,000 Quadratellen sumpfige Gärten, von Gräben durchschnitten, welche Fieberluft über die Stadt hin verbreiteten; – jene Wiesen, früher um 44,000 Thlr. feil, haben jetzt einen Werth von 700,000 Thlr. Dafür hatte allerdings Heine nur für die Herstellung des Baugrundes der West, Rudolfs-, Wiesen-, Plagwitzer- und Elsterstraße nahe an eine halbe Million Kubikellen Füllmaterial herbeizuschaffen! Die Waldstraße nahm dessen sogar über eine ganze Million in Anspruch.“

„So also entstand die neue ‚alte Seestadt Leipzig‘! Um sich von Wasser zu befreien, mußte sie die Schifffahrt einführen!

„Es ist wirklich so. Um einen Hafen zu bekommen, baute Heine eine Stadt, die ganze westliche Vorstadt, die man Heine-Stadt nennen sollte. Jene Prachtstraßen mit bereits über zweihundert Häusern sind Ehrensäulen, die ihm kein Feind entreißt. Da steht die Menschenmenge auf Heine’s Meisterstück, seiner Weststraße! Hört nur das ‚Hoch!‘ von der Brücke, und welche That war sie selbst, die das ganze südwestliche Leipzig näher an Frankfurt gebracht hat!“

„Ist’s nicht ein wahres Volksfest, diese Canaleinweihung beim schönsten Regenwetter? Jetzt möchte ich in Heines Herz sehen können. Wie muß das freudig schlagen beim Anblick einer solchen Theilnahme für ihn und sein Wirken! Fast kein Haus steht am Ufer und keine Menschengruppe drängt heran, daraus nicht ein Blumenregen auf ihn niederfiele. Man wird stolz darauf, zu einer Bevölkerung zu gehören, die einen hervorragenden, so hochverdienten und doch so viel angefeindeten Mitbürger so sinnig und großartig zu ehren versteht.“

[694] „Ging doch unser König ihr mit dem besten Beispiel voran. Als er vor zwei Jahren die Rundschau im Leipziger Regierungsbezirk hielt, widmete er den Heine’schen Etablissements einen ganzen Tag. Diese Auszeichnung hat Manchem über die eigentliche Bedeutung des Mannes erst die Augen öffnen müssen!“

„Ist die Nothwendigkeit solcher Augenöffnung auch an sich ebenso beklagenswerth als ihr Gelingen für die Zukunft erfreulich, so hat dies wenigstens bis jetzt dem armen Plagwitzer Weg nicht weiter geholfen.“

„Ja, der Plagwitzer Weg!“ erscholl es im langgedehnten Unisono über das ganze Boot.

„Welche absonderliche Bewandtniß hat es denn damit?“

„Wie Allen wohl bekannt, hat unser Heine sich in Leipzig große Grundbesitzungen geschaffen und in Plagwitz erworben, wie wir ja in einer halben Stunde selbst sehen werden. Es mußte ihm nun darum zu thun sein, Leipzig und Plagwitz, das er durch die erste Leipziger Dampfschifffahrt verbunden hat, auch durch einen Landweg auf kürzester Strecke zu verbinden. So weit Heine auf eigenem Gebiet von Leipzig und Plagwitz aus dies ausführen konnte, ist’s geschehen, auch eine Brücke gebaut, unter welcher selbst beim höchsten Wasserstand seine Schiffe und Boote passiren. Dazwischen liegt jedoch städtisches und Universitäts-Eigenthum – und darüberweg darf bis heute nur der Fußweg führen, den wir soeben linker Hand dem Ufer sich nähern sehen und von dem aus uns abermals der fröhliche Gruß einer Völkerwanderung unter Regenschirmen entgegenjubelt!“

„Hoch! Hoch! Wiederum Böller, Fahnen, Blumen. Wie wimmelt es jetzt von Kähnen um die Boote, und dazwischen schlüpfen die langen schlanken ‚Grönländer‘ dahin, eine rüstige Gesellschaft ‚Leipziger Seeleute‘, welche richtige Grönländer Gondeln in Gebrauch haben. Welch ein Fest! Aber wie nöthig auch, um unsern Heine die Schmerzen des Plagwitzer Weges auf Augenblicke vergessen zu machen.“

„Da kommen wir zum Hochzeitswehr – rechts dort! Das weiß auch von einem Stück Heine’scher Arbeit zu erzählen. Heine hatte bis 1862 zur Entwässerung der Leipziger und Plagwitzer Grundstücke circa 9000 laufende Ellen Schleußen, theils aus Thonröhren, theils aus Backsteinen bestehend, angelegt, das fehlende Gefälle aber durch unter dem Grunde der Elster angelegte mächtige eiserne Ducker ermöglicht.“

„Diese Riesenarbeit war hier mit besonderer Schwierigkeit auszuführen, denn der Stadtrath machte es Heine zur Bedingung seiner Concession zu diesem Bau, daß die Duckers hier groß genug seien, um künftig sämmtliche Schleußen der südwestlichen Vorstadt von Leipzig aufzunehmen, weil für sie keine andere Entwässerung möglich sei. Diese Bedingung vertheuerte die Arbeit um etliche tausend Thaler, vor denen die Stadtcasse gerettet war.“

„O die Stadtcassenfanatiker! So nennt sie Heine, – und doch gehen die Herren vom Rath nicht auf ein Anerbieten ein, wie es sicherlich noch kein Bürger seiner Stadt gemacht hat. Hören Sie Heine’s eigene Worte. Da habe ich sein jüngstes Schriftchen, es sind ‚Betrachtungen über die Elster-Regulirung bei Leipzig‘, vom Mai 1864, und da heißt es: ‚Ich habe dem Rathe der Stadt Leipzig das Anerbieten gemacht, auf meine Kosten ein großes Wehr zu erbauen, um die Hochwasser an der Westseite der Stadt Leipzig abzuführen, für welche Arbeit mich die Trockenlegung eines mir gehörigen Areals von nur zwanzig Acker entschädigen soll. Dabei habe ich, als Nebenproduct dieser Vorschläge, einen mit Händen greifbaren, sofortigen Gewinn von etwa 80,000 Thalern für die Stadtgemeinde nachgewiesen und die Trockenlegung von etwa sieben Millionen Quadratellen Fläche zugesagt, deren kleinster Theil in kürzester Zeit ein Vermögen von einer Million Thaler für die Stadtgemeinde und etwa 300,000 Thaler für die Universität repräsentiren muß, ganz abgesehen von den Vortheilen für die Verkehrsverhältnisse der Stadt überhaupt. Für alle diese Vortheile habe ich nichts verlangt, als eine Wasserkraft, die der Stadt gegenwärtig beinahe mehr kostet, als sie einbringt, wenn man die Wehre auf dem Mühlenconto bucht, wohin sie doch gehören. Ich habe dabei die Beseitigung aller dem Unternehmen etwa entgegenstehender Berechtigungen übernommen, welche als wirkliche Rechte Dritter nachgewiesen werden; ich habe mich dabei ferner selbstverständlich der competenten Strompolizeibehörde untergeordnet und beanspruche die gedachte Wasserkraft nicht eher, als bis ich die Wahrheit der von mir in Aussicht gestellten Erfolge durch factische Herstellung wirklich erwiesen habe. Aus Rücksicht auf das von den Herren Technikern (einer Regulirungs-Commission) seit zehn Jahren bearbeitete Regulirungswerk fanden meine billigen Vorschläge bisher keine Berücksichtigung; auch die einstimmig beschlossenen, auf Annahme meiner Offerte gerichteten Anträge der Herren Stadtverordneten ruhen gegenwärtig in der Hand des Stadtraths zu Leipzig, und ich vermuthe, daß sie lange ruhen werden.‘“

„Ist denn so etwas möglich?“

„Armer Heine!“

„Nichts als Plagwitzer Wege!“

„Amen! Ihr Herren. Die Natur ist hier zu reizend, um sie uns durch den Stadtrath verderben zu lassen. Wie lieblich ist dieses Wäldchen, zwischen dem der Fluß mit heimlicher tiefer Verschwiegenheit seine festliche Last dahinträgt! Sie nennen’s das Ritterspürchen und die tiefste Stelle des Flusses das Ritterloch. Prächtige Hainbuchen und Eichen! Es wird einem hoch und deutsch zu Muthe bei ihrem Anschauen. Verzeihen Sie es mir, wenn es mich gerade hier zu der Frage drängt: Was haben diejenigen Männer Leipzigs, welche sich ihrer Bürgerwürde bewußt sind, bisher für ihren Mitbürger Heine gethan? Haben sie sich nicht damit begnügt, zuzusehen, was ihre Stadtverordneten ausrichten werden, und geduldig mit zu murren, wenn sie nichts ausrichteten? Haben sie sich ermannt zu allen gesetzlichen Mitteln, um durch gemeinsames und einmüthiges Auftreten die Stimme der Bürgerschaft selbst bis zum schwersten Gehör vordringen zu lassen? Nein! – Nicht einmal in der Presse haben sie sich seiner angenommen, auch da, wie überall, dem einen Manne den ganzen Kampf allein überlassen. – Betrachten Sie diese Eichen recht genau! Wer an einem solchen Kampfe keinen Theil nimmt, den soll auch ihr ehrendes Blatt nicht schmücken.“

Lebewohl, Du stiller Wald! Du hast heute keine Macht, die Gemüther der Männer zu beruhigen. Mochten doch viele derselben gerade durch diesen Triumphzug muthiger Arbeit nicht nur von dem Unrecht, das Andere, sondern von dem, das sie selbst durch ihre passive Stellung zu seinen Kämpfen an Heine begangen, recht schmerzlich überzeugt worden sein. –

Vorbei sind wir am Ritterloch. Bald sehen wir links drüben die stattliche Brücke, welche die Grenze zwischen dem Leipziger und Plagwitzer Gebiet bildet, dann noch eine kurze Fahrt und wir verlassen den Fluß, der, nun getheilt, als Luppe und Elster sich der Saale zuwendet, während wir durch ein Schleußenthor in den breiten Plagwitzer Canal einbiegen.

Welch ein Leben! Hier erst ist die ganze Menge der Boote, Barken, Gondeln, Kähne, Grönländer zu überblicken, hier zeigen die hohen ansteigenden Ufer bis zur „Königsbrücke“ am dermaligen Ende des Canals die herbeigeströmte Menschenmasse, hier ist auch das Ziel des Festzugs, der nun die Fahrzeuge aller Art verläßt, um sich in des Festgebers Besitzung, seine stattliche Wohnung mit dem geräumigen und geschmackvollen Park zu begeben, wo Leib und Seele erquickt werden sollen mit Speisen und Freuden.

Wir ziehen es jedoch vor, erst des Mannes hiesige Bau- und industriellen Werke zu betrachten. Bei der Herfahrt im Canal sahen wir zuerst links und rechts am Lande großartige Ziegelfabriken; die Brennerei selbst ist ausgezeichnet durch die rauchverzehrende Construction der Oefen; die an sich einfache Einrichtung befreit die Nachbarschaft gänzlich von den sonst so beschwerlichen Unannehmlichkeiten großer Feuerungsanlagen.

Weiter erblickten wir zur Linken ein Fabrikgebäude mit schlanker Esse. Hier wurden anfangs die langhaarigen sogenannten Halb-Plüsch-Teppiche nach englischer Weise fabricirt; Mangel an Betriebscapital nöthigte, das Etablissement der jetzt einträglicheren mechanischen Stickerei zu widmen.

Am Ende des Canals zur Rechten erhebt sich ein zur Farbeholzbereitung dienendes Dampfsägewerk, das für Leipziger Handelshäuser arbeitet. Alle diese Bauten Heine’s entstanden, während zugleich unter seinen rastlosen Händen aus einem ärmlichen Dorfe ein blühender Ort, der einem Städtchen gleicht, wie durch Zauberkraft emporstieg. Die Unternehmungen in Plagwitz begann Heine in den Jahren 1854 und 1855, und in wenigen Jahren erwarb er sämmtliche Bauergüter des Dorfes mit allen dazu gehörigen Feldern und Wiesen. Er war dadurch in der Lage ohne irgend ein Hinderniß die schönsten und breitesten Straßen anzulegen, die mit Obstbäumen, Linden und Ahorn zu beiden Seiten bepflanzt [695] sind und namentlich an ihren Anfangs- und Endpunkten einen malerisch imposanten Anblick gewähren. Der Besitz der Bauergüter des Dorfes machte, wegen eines rationelleren Wirthschaftsbetriebes, auch neue Wirthschaftsgebäude nothwendig, die im Jahre 1860 erbaut worden und in ihrer Art Sehenswürdigkeiten durch Zweckmäßigkeit und Geschmack der Anlage sind; dies gilt namentlich auch von Heine’s stattlichem Wohnhaus, von dessen dreiunddreißig Ellen hohem Thurme man bei günstiger Witterung eine Fernsicht bis Schkeuditz und Lützen hat. Die Heine’sche Oekonomie (mit ihren 80 Milchkühen, 30 Pferden etc.) kann jeder Musterwirthschaft zur Seite gestellt werden. Sie war es, die den Director der landwirthschaftlichen Lehranstalt zu Lützschena, Vogeley, bewog, vor einigen Jahren seine Anstalt nach Plagwitz zu verlegen; hier erfreut sie sich seitdem eines zahlreichen Zuspruchs, wozu namentlich der Umstand beiträgt, daß den Zöglingen durch die unmittelbare Nähe Leipzigs die Möglichkeit gegeben ist, Collegia an der Universität zu hören. Gegenwärtig ist diese Anstalt von Jünglingen aus mehr als zwanzig deutschen Staaten besucht.

Das gesammte Heine’sche Areal an Feldern und Wiesen in Plagwitzer und den angrenzenden Fluren beläuft sich dermalen auf circa 400 Acker, worunter mehr als zwei Millionen Quadrat-Ellen zum Bauen geeignetes Land sich befinden. –

Die Entwickelung des Dorfes geschah in fast amerikanischem Maßstab. Als Heine 1854 den ersten Kauf dort that, mochte ganz Plagwitz 14 bis 16 Häuser zählen, schon 1858 war es auf 42 Häuser mit 457 Einwohnern gestiegen, und gegenwärtig hat es weit über 100 Häuser mit mehr als 1500 Einwohnern. Die Mehrzahl der Häuser baute Heine selbst oder trug wenigstens zum Bau bei; auch eine Schule gab er dem Orte und sorgte endlich dafür, daß er, gemeinschaftlich mit dem nahen Nachbardorf Lindenau (1000 Einwohner) Gasbeleuchtung erhielt. Die Gasanstalt ist seit Michaelis 1863 in Betrieb.

Werfen wir noch einen Blick auf Heine’s größtes Unternehmen, den Canal, welcher Leipzig, und zwar von seinen Bahnhöfen aus, mit der Saale verbinden soll. Die Eisenbahnen ließen den Werth schiffbarer Canäle eine Zeit lang zurücksetzen, und noch jetzt sind die Vorurtheile gegen sie nicht ganz überwunden. Geläuterte Begriffe der Volkswirthschaftslehre, von der Erfahrung geprüfte Berechnungen über Verkehrskosten allein bringen sie wieder zu Ehren. Namentlich ist nun Leipzig in dem Fall, doppelten Gewinn von einer großen Wasserstraße zu ziehen, weil sie die Regulirung ihrer zahlreichen Wasserarme erleichtert und die Trockenlegung großer werthvoller Landstrecken ermöglicht, während sie zugleich die Kosten der Herbeischaffung von Häuser- und Straßenbau-Material außerordentlich verringert. Man berechne nur, welche Vortheile die Beschaffung von Steinen, Kalk, Kies, Thon, Sand u. dergl. Rohmaterial gewähren würde, und man wird Heine beistimmen, wenn er behauptet, daß der Entwickelung jeder Stadt engere Grenzen gezogen sind, sofern sie eine Wasserstraße nicht besitzt. – Gegenwärtig hält der Bau an seiner schwierigsten Stelle, „wo das zu bearbeitende Land aus harten Steinmassen besteht und der Durchbruch in einer Tiefe von 49 Fuß herzustellen ist, während in einer Entfernung von 40 Ruthen das Terrain merklich fällt, so daß in einer Entfernung von 6000 Ellen dem Canalbette nur eine Tiefe von drei Ellen zu geben sein wird.“ – Man kann von diesem Werke nicht scheiden ohne den Wunsch, daß es zum Wohl und zur Ehre der Stadt, des Landes und des kühnen Mannes kein Anfang ohne Ende bleiben möge.

Die Leser der Gartenlaube müssen es diesem Artikel verzeihen, wenn ihm vielleicht hier und da eine zu starke Localfärbung anhaften sollte. Es ist oben angedeutet, und sie haben nunmehr ersehen, daß Heine’s Wirken, wie auch die Folgen seiner Unternehmungen über weitere Gebiete segensreich sich später ausbreiten mögen, doch gegenwärtig die engen Grenzen der nächsten Umgebung seiner Vaterstadt und seines dermaligen Wohnsitzes nicht übersteigt. Wenn aber auf so beschränktem Raume so Großes mit so eifriger Anstrengung geschaffen wurde, so verdient es wohl die Ehre, als Muster für viele andere Orte aufgestellt zu werden, und dann ist es doch immer ein deutsches Stückchen Erde, wo so Tüchtiges vollbracht wird, und ist’s ein deutscher Mann, der es vollbringt.

Wir eilen nun zu den Festschaaren, mit denen wir gekommen sind, und freuen uns mit allen Gästen, den rastlosen, mit dem Augenblick geizenden Industrie-Pionier und Wasserbahnbrecher als ebenso liebenswürdigen Wirth und noch mehr, als väterlichen Freund seiner Arbeiter achten zu lernen. Wir kommen eben zurecht, um den Anmarsch der fünfhundert Arbeiter, gefahren- und wettererprobte Männer jeden Alters, zu sehen. Sie begrüßt Heine mit einer Rede, die Allen das Herz erhebt, Alle begeistert für Das, was er in ebenso einfachen als schönen Worten preist: die Ehre der Arbeit! Mit der Dankbarkeit eines edeln Gemüths gedenkt er der Hingebung, mit welcher seine Arbeiter so oft ihrem schweren Werke obliegen müssen, einer Hingebung, welcher Geld keinen Lohn zu gewähren vermöge, welche nur das tiefe Bewußtsein belohnen könne, daß die Arbeit die höchste Zierde des Menschen und zugleich seine höchste Genugthuung sei. Gleich herzlich erhebt er das Verdienst der allgemein geliebten und geachteten Führer seiner Arbeiter, dankt Allen, die in schweren Stunden den Muth nicht sinken ließen, und schließt mit einem Hoch auf das Wohl aller seiner Arbeiter. – Und wie nun Dr. Ferdinand Götz von Lindenau, allen Turnern des Vaterlandes bekannt, das Wort Allen aus der Seele nehmend, Heine als den Mann preist, der, unter Tausenden, ja Hunderttausenden einzig dastehend, seine Werke so thatkräftig ihrem Ziele entgegenzuführen vermöge, ein Vorbild des echten Bürgersinns, frei von kleinlichen Bedenken und ängstlichem Zaudern, und mit dem Wunsche schließt, daß der Mann uns und allem Guten noch recht lange erhalten bleiben möge, da erschallt ein Hoch, wie es nur die wahrste Begeisterung bringt und das sein Echo finden möge, so weit die Gartenlaube zu Herzen redet, die gleicher Begeisterung für alles Große im Vaterlande fähig sind.




Wie soll man essen?


Je mehr in dem ruhelosen Treiben und Jagen des geschäftlichen Lebens das Essen selbst zu einem bloßen Geschäfte wird, dem man möglichst wenig Aufmerksamkeit und Zeit gönnen will, desto häufiger finden die Aerzte Gelegenheit, Folgezustände dieser Ueberhastung zu beobachten und zu behandeln, die man sonst nur bei unpassender Nahrung oder bei Ueberladung des Magens finden konnte. Mannigfaltige Verdauungsstörungen, wie Druck im Magen und Unterleibe, sogenannte Verschleimung u. a. m., selbst Darniederliegen der gesammten Ernährung kommen endlich zu Tage und werden mehr oder weniger kunstgerecht mit Arzneimitteln, Mineralwässern und Wassercuren, mit Bullrich’schem Salz, Hoff’schem Malzextract, Daubitz’schem Kräuterliqueur und unzähligen andern Mitteln, Mittelchen und Methoden behandelt und gemißhandelt.

Die Alten hatten nicht Unrecht, die Hauptmahlzeit wenigstens mit religiösen Gebräuchen zu umgeben, welche nicht nur sinnbildlich die Bedeutung der Handlung darstellten, als des ersten Schrittes eines Lebensvorganges, der dem Blute neue Stoffe zuführt, aus welchen der Körper seine Wärme und sein Wachsthum, die Muskeln und Nerven ihre Kräfte, das Gehirn die Grundlage und Bedingungen aller Vorstellungen und Gedanken, kurz aller Geistesthätigkeit beziehen, sondern welche auch dem Körper und dem Geiste die Ruhe und Sammlung verliehen, die dieser wichtigen Lebensgrundlage zukommt. Denn das Essen ist nicht allein die Speisung einer Maschine, durch welche dieselbe in Gang gesetzt und erhalten wird, sondern zugleich der Anfang der steten Erneuerung dieser Maschine selbst, ohne welche dieselbe alsbald abgenutzt sein würde.

Die Nahrungsstoffe und Speisen, ihre Zubereitung und Menge sind allerdings von der höchsten Wichtigkeit, aber fast nicht geringere Bedeutung kommt auch der Art und Weise des Essens zu, die keineswegs immer dem Zwecke entspricht, das Genossene möglichst vollständig auszunutzen und mit möglichst sparsamer Verwendung von Mitteln und Kräften dem Organismus neue Kraftquellen zuzuführen. Schon die Zeit des Essens wird namentlich in den größeren Städten oft mehr als gut ist durch die Tagesgeschäfte bedingt, wodurch dann die rasche Abnutzung der Geschäftsleute großentheils mit herbeigeführt wird. Denn trotz aller Biegsamkeit und Schnellkraft der menschlichen Natur, welche es erlaubt, sich den verschiedensten Lebensbedingungen anzuschmiegen, werden doch [696] die Grenzen dieser Kräfte nicht ungestraft überschritten. Jedenfalls ist große Regelmäßigkeit sehr zweckmäßig, und die Lebenseinrichtungen müssen so getroffen werden, daß die Hauptmahlzeit mit der Stunde zusammenfällt, wo die Lust und das Bedürfniß zu essen am größten ist, d. i. nach vollbrachter Hauptarbeit, indem dann nicht allein das Bedürfniß am größten, sondern auch die zur Vollendung des Mahles und der Verdauung erforderliche geistige und körperliche Ruhe am ehesten zu haben ist. Die Hauptsache ist aber, daß der Magen sich in dem für die Verarbeitung des Genossenen günstigsten Zustande befindet.

Der ganze Magen ist inwendig von einer dichten Lage von Drüsen ausgekleidet, in welchen der Saft bereitet wird, der die Speisen auflöst und zur Aufsaugung in die Blutgefäße geeignet macht. Während der Ruhe laden sich diese Drüsen allmählich mit jenem Saft, der beständig ausfließt, so lange sich zu verdauende Stoffe im Magen befinden. Der Magen muß also eine Zeit lang in Ruhe sein, damit die Drüsen sich laden können, und der Zeitpunkt, wo sie am stärksten geladen sind, giebt sich durch das Hungergefühl zu erkennen. Wird letzteres nicht befriedigt, so entleeren sich die Drüsen trotzdem, ihr Saft fließt ungenutzt in die unteren Theile des Verdauungsrohres ab und das Hungergefühl geht wieder vorüber, „man hat sich überhungert“ und ist nun nicht mehr im Stande, gleich zu essen und ordentlich zu verdauen. Es darf also so lange vor der Hauptmahlzeit nicht gegessen werden, daß sich in der Zwischenzeit ein ordentliches Hungergefühl ausgebildet hat; es darf aber auch nicht länger gewartet werden, als bis letzteres sich geltend macht. Die Dauer dieser Zwischenzeit ist bei verschiedenen Personen nicht gleich: Kinder und Schwächliche haben das Bedürfniß zu essen öfter, als Erwachsene und Kräftige, und natürlich dauert diese Zeit um so länger, je stärker der Magen vorher mit Speisen gefüllt war und demgemäß in Thätigkeit gesetzt wurde. Im Allgemeinen wird es richtig sein, wenn gesunde Erwachsene nicht später als vier Stunden vor dem Mittagsessen ein leichtes Frühstück einnehmen und wenn in der Zwischenzeit der Magen nicht durch Kleinigkeiten, wie Backwerk, Leckereien, Chocolade, Bier und dergl. zur Entleerung seiner sich eben wieder ansammelnden Verdauungssäfte gereizt wird.

Ist solchergestalt die Zeit des Essens herangekommen, so soll man nicht hastig von der Arbeit weg zum Mahle stürzen, sondern Geist und Körper vorher beruhigen. Blut und Nervenkräfte, die für das Denken oder für Muskelarbeit in Anspruch genommen sind, werden dem Magen entzogen, der doch zur Verdauung ihrer nicht entbehren kann; auch verhindern die hastig fortarbeitenden Gedanken und die nach rascher Arbeit eine Zeit lang fortdauernde Unruhe das regelmäßige und gehörige Zerkleinern der Speisen durch Messer und Zähne, und der ungenügend zerkleinerte und halbdurchkaute Bissen beschwert den Magen, verzögert und stört die Verdauung. Als zweite Regel erkennen wir also: eine kurze Ruhe des Geistes und des Körpers vor dem Essen.

Zum Beginn der Tagesarbeit ein leicht erregendes Getränk, wie Kaffee oder Thee, zu nehmen, ist weit zweckmäßiger, als nahrhafte Speisen, namentlich für Solche, welche allein oder vorzugsweise mit dem Kopfe arbeiten, weil größere Anforderungen an die Verdauung die Klarheit und Freiheit des Denkens beeinträchtigen. Zu langes Fasten ist aber in mehrfacher Beziehung schädlich: es entkräftet den Körper, reizt durch zu starken Hunger zur späteren Ueberladung des Magens, und der im nüchternen Zustande sauer abgesonderte Speichel greift die Zähne an und belästigt den Magen. Ein kräftiges Frühstück von leicht verdaulichem Fleisch oder Eiern und Weißbrod ist das beste Mittel gegen solche Uebelstände, die in der Regel nach kurzer Zeit auch Bleichsucht herbeiführen.

Einige Stunden nach diesem Fastenbrecher folge das Mittagessen, aber nicht in Hast während einer kurzen Arbeitpause und bei fortarbeitenden Gedanken, sondern in aller Ruhe. Die Hauptmahlzeit wird zweckmäßig mit einer Suppe eingeleitet, welche den sich nun ergießenden Magensaft aufnimmt und verdünnt, so daß er sich leicht mit den nachfolgenden festeren Speisen vermischen und diese durchdringen und auflösen kann. Um diese Auflösung zu erleichtern, müssen die festeren Speisen vor allen Dingen gut gekauet oder, wo die Zähne fehlen, recht weich zubereitet und mit dem Messer fein zerkleinert werden. Aber auch dann schlucke man nicht hastig, damit die Bissen gehörig mit Speichel durchfeuchtet werden, dessen Absonderung durch das Kauen stärker erregt wird. Es giebt nichts Verderblicheres, als während des Essens Geschäfte zu verhandeln oder zu lesen; denn bei abgezogener Aufmerksamkeit wird nicht nur das Kauen vergessen und der Magen mit groben Bissen beschwert, sondern das Gehirn entzieht dem letzteren die für die Verdauung erforderlichen Nervenkräfte und reichlicheren Blutmengen. Eine leichte Unterhaltung, welche den Geist zerstreut, ohne ihn anzustrengen, ist bei Weitem das Zuträglichste für die Mahlzeit. Deshalb soll man wo möglich nicht allein oder unter Fremden, sondern in der Familie oder mit guten Bekannten zu Mittag essen.

Ein Glas Wasser, das nicht zu kalt sein darf, um nicht durch Abkühlung die Magenverdauung zu verzögern, gegen Ende der Mahlzeit getrunken, erleichtert die Auflösung der genossenen Speisen; auch ein Glas Bier, Wein oder bei schwereren Speisen ein Schnäpschen unterstützt die Verdauung durch Beförderung der Magensaftabsonderung. Aber alle diese Mittel müssen sehr mäßig genossen werden, wenn sie nicht mehr schaden als nützen sollen. Dann esse man aber auch nicht mehr, als der Magen ohne Belästigung zu fassen und zu bewältigen vermag. Stärkere Mahlzeiten erfordern Reizmittel, die aber nicht ohne Schaden bleiben, und ein Theil des Genossenen geht unter solchen Umständen unverdaut und also ungenutzt durch den Darmcanal.

Nach der Mahlzeit gönne man sich eine kurze Zeit der Ruhe des Körpers und des Geistes, damit das Geschäft der Magenverdauung ohne Störung von Statten gehe. Der Magen erfordert nämlich jetzt einen stärkeren Zufluß von Säften aus dem Blute, um die Speisen gehörig auflösen und umwandeln zu können, und dieser Zufluß wird beeinträchtigt, wenn gleichzeitig das arbeitende Gehirn oder die arbeitenden Muskeln den Nerven- und Blutstrom für sich in Anspruch nehmen. Je stärker und je schwerer verdaulich die aufgenommene Mahlzeit war, desto mehr ist natürlich diese Ruhe Bedürfniß. Nach ihr wird die weitere Tagesarbeit um so besser von Statten gehen, wenngleich niemals so gut als Vormittags, wo in Folge der Nachtruhe alle Kräfte frischer und das Blut vollständiger durchgearbeitet war. Die Speisen erfordern eben Zeit, um vollständig in Blut, die flüssige Quelle aller unserer Kräfte und Leistungen, umgewandelt zu werden. Nach dem Essen zu schlafen ist keineswegs für Alle nützlich, da viele Menschen durch Schlafen nach Tische für den ganzen übrigen Tag unbrauchbar werden. Die natürliche Müdigkeit, welche sich namentlich nach starken Mahlzeiten einstellt, wird am besten durch leichte, anregende Unterhaltung oder Lectüre, durch eine Cigarre oder Pfeife Tabak, und endlich durch kräftigen Kaffee – der aber zum Besten der Verdauung wenig oder gar keinen Rahm und noch weniger Milch enthalten darf – überwunden. Schwarzer Kaffee gewährt den doppelten Vortheil, zugleich die Verdauung zu befördern, indem er die Magensaftabsonderung neu anregt. Diese künstlichen Mittel sind aber sehr entbehrlich, wenn in der Mahlzeit das Maß gehalten worden ist, daß der Magen nicht überladen oder durch zu schwere Speisen belästigt ist.

Die Dauer der Magenverdauung ist nach der Beschaffenheit und Menge der aufgenommenen Speisen verschieden lang. Das Gefühl giebt den sichersten Maßstab, ob man ihr noch weiter Rücksicht zu schenken hat. Jedenfalls muthe man aber dem Magen nicht zu bald nach einer tüchtigen Mahlzeit wiederum Verdauungsarbeit zu, denn die Magensaftdrüsen erfordern mindestens drei bis vier Stunden und nach starkem Mahle wohl doppelt so lange, um wieder ordentlich absondern zu können. Bedarf der Körper während dieser Zeit einer Erquickung und Anreguug, so ist abermals Kaffee oder Thee, allenfalls ein Glas Bier, bei Kindern Milch mit Weißbrod, bei schwerer Arbeit, die in der Regel nicht mit starken Mahlzeiten verbunden zu sein pflegt, auch wohl ein Butterbrod u. dergl. m. am Platze. Abends läßt man dann, namentlich wo das Mittagessen früh, d. h. etwa um die Mitte des Tages eingenommen wird, ein leichtes Abendessen nachfolgen.

Es soll nicht behauptet werden, daß viele Leute sich nicht auch bei erheblichen Abweichungen von diesen Regeln ganz gut befinden, aber jedenfalls wird die Befolgung derselben dazu beitragen, daß die genossenen Speisen besser ausgenutzt werden, und ebenso dazu, manche unscheinbare Ursachen von Unwohlsein und Krankheit fern zu halten.
Fr. Dornblüth. 
[697]

 Volk, werde hart!

Den Nachkommen der Freiburger Edelpflüger gewidmet.


Es klang wie lang verhaltner Jammer,
Schrill wie ein Schrei der höchsten Noth,
Und hielt den Wand’rer in der Kammer
Wach bis zum frühen Morgenroth.

5
Er hörte nicht den Lärm der Schmiede,

Er lauschte, bis in’s Mark erstarrt,
Des Schmiedes schmerzerfülltem Liede:
„O Landgraf, Landgraf, werde hart!“

Und hart ward er bei solchem Wachen,

10
Schritt eisern aus dem Wald hervor

Und trat auf’s Haupt dem schnöden Drachen,
Der sich das Volk zum Fraß erkor;
Doch, ob die Mächt’gen auch erbebten,
Verklungen ist das alte Lied,

15
Des Volkes Dränger überlebten

Den Landgraf und den Ruhler Schmied.

Wohl ging des Landgrafs Art verloren.
Des Drachen Kamm schwoll schrankenlos,
Doch werden immer neu geboren

20
Die Schmiede in des Volkes Schooß,

Und noch ertönt aus jeder Schmiede
Bang durch die schwüle Gegenwart
Der alte Klang im neuen Liede:
Volk, werde hart! Volk, werde hart!

25
Du hörst das Lied bei’m fleiß’gen Hämmern,

Doch härtet Dich nicht Lied noch Schlag,
Schon oft sahst Du das Frühroth dämmern,
Und noch verschliefst Du jeden Tag;
Die Noth, die einst den Fürsten weckte,

30
Noch immer ist sie Deine Noth,

Der Drache, den sein Fußtritt schreckte,
Hält ärger Dich als je bedroht.

Kein Landgraf wird Dich mehr erretten,
Kein Fremder wagt für Dich den Strauß,

35
Nur eig’ne Kraft zerbricht die Ketten,

Tritt eisern aus Dir selbst heraus!
Dem Kind das kindliche Vertrauen,
Doch Du, gehöhnt oft und genarrt,
Laß Dich im Manneszorn erschauen:

40
Volk, werde hart! Volk, werde hart!

Volk, werde hart! Volk, werde hart!Albert Traeger.




Bilder von der deutschen Landstraße.
2. Der Handwerksbursch.
I.
Wanderzwang und Wanderlust. – Die Insignien des Gesellenstandes. – Der Knotenstock und die Tabakspfeife. – Die Raupe, die Wurst und der „Berliner“. – Die Ausrüstung des Wanderburschen und das Reisegeld. – Auf der Straße. – Heimath und Fremde. – Die Erkennungszeichen der Handwerksburschen. – Die Schwäger. – Löwenschütz und Kathof. – Zunft-Charakteristik. – Ceremoniel beim Zureisen. – Das Umschauen. – Obermeister und Zeichenmeister. – Das Geschenk.

Jeder Geselle, welcher sein Handwerk zünftig erlernt hatte und dasselbe einst als Meister zu betreiben gedachte, war bekanntlich früher genöthigt, mindestens drei Jahre „auf die Wanderschaft“ zu gehen. Nur selten und nur in den äußersten Nothfällen wurde dem wandernden Sohne eines Meisters oder einer Meisterswittwe von der betreffenden Innung ein Theil der gesetzlichen Wanderzeit nachgelassen, wobei übrigens je nach den Umständen eine geringere oder höhere Summe Geldes an die Handwerkscasse zu entrichten war. Unsere älteren Leser erinnern sich deshalb noch recht gut der Zeit – als weder an Eisenbahnen noch an Gewerbefreiheit zu denken wir – wo die Landstraßen wie von Fuhrmannswagen so auch von zahlreichen Handwerksburschen belebt waren.

Wanderzwang! – Und doch kein Zwang! – Wem hätte nicht in den Tagen seiner Jugend, wenn der Frühling in das Land gezogen kam, selige Wanderlust die Brust geschwellt! Wer hätte nichts von jenem geheimen Regen in unserem Innern erfahren, wenn es uns in der sonst lieben, trauten Heimath zu enge ward und uns unwiderstehlich hinauszog in die Fremde! Gewiß, den bei weitem meisten Handwerksburschen, welchen die Freude an der Wanderzeit nicht durch beengende Familienverhältnisse in der Heimath getrübt wurde, mußte der Wanderzwang als willkommene Gelegenheit erscheinen, recht viel von fremden Ländern und Menschen sehen zu können. Was der Vater dem Knaben aus seiner Wanderzeit erzählt hatte, was der Lehrling in der Werkstätte nach dem Feierabende den Gesprächen der Gesellen abgelauscht, was Schule und Bücher dem Gedächtniß überliefert und welche anderen Bilder aus der Fremde die Einbildungskraft des angehenden Wanderburschen beleben mochten, – alle diese Dinge sollten in wenigen Jahren in Wirklichkeit an seinem Auge vorüberziehen. Dazu kam, daß die Lehrzeit mit ihren mancherlei Anfechtungen und Leiden und namentlich ihrem Pennalismus, der in der Werkstatt des Handwerkers einst eine eben so große Rolle spielte, wie in den Sälen der Lyceen und Akademieen, überstanden war und der nach Handwerksgebrauch „zum Gesellen Gesprochene“ die ihm gewordene [698] Freiheit gerade in der Fremde in vollen Zügen zu genießen hoffte. Wie stolz darum auch der schwarze Cylinderhut auf dem Kopfe des eben erst zum Gesellen Ernannten saß, und wie gravitätisch auch in der rechten Hand des Neulings der Rohrstock mit mächtiger Quaste paradirte, – die Freude an diesen Insignien der Gesellenwürde sollte immer nur von kurzer Dauer sein, denn der Hut überzog sich gar bald mit dem üblichen schwarzen Wachstuche, wie es die Sitte auf der Wanderschaft erforderte, und ebenso wurde der Rohrstock nur zu bald mit dem Wanderstabe, d. h. mit dem Knotenstocke, vertauscht.

Du Knotenstock! Du oft einziger treuer Gefährte des Wanderburschen in den Tagen der Freude wie des Leids! Wie bist du in diesen modernen Tagen durch allerlei naseweises, unsolides und phantastisches Volk von Reisestöcken in so tiefes Vergessen gesunken! Wie warst du einst als theures Familienstück, das vom Vater auf den Sohn und vom Sohn auf den Enkel forterbte, hoch in Ehren gehalten, und wie freudig schlug dir das Herz, wenn du nach oft nur zu langem Ausruhen von deinem wohlbewahrten Ehrenplatze wieder herabstiegst und dein von Staub und Spinneweben umzogenes Kleid gereinigt wurde, daß du über Berg und Thal in trunkener Lust die Frische des Wanderlebens wieder einsogest wie in den Tagen deiner Jugend! – Und ein solider Stock war dieser Knotenstock! Langsam und stetig war er in die Höhe gewachsen aus festem Wachholderholz, fast unzählbar waren seine schönen Knoten und die neben diesen eingeschlagenen Nägel, die als blitzende Augen nach allen Seiten ausschauten, um den Handwerksburschen rechtzeitig vor jeder Gefahr zu warnen; sein mit Eisen beschlagener Fuß gewährte in allerlei Noth und Anfechtung eine zuverlässige Stütze. Kein Wunder also, wenn der Wanderbursch seinen treuen Begleiter fest an der Hand nahm, die sich ihm in der Gestalt eines langen Riemens darbot, und ihn, wenn Beide müde Abends in einem Orte einwanderten, aus Dankbarkeit sanft hinter sich nachzog.

Nächst dem Knotenstocke stand die mit langer Spitze und mächtigen Troddeln versehene Tabakspfeife mit unserem Wanderburschen im intimsten Verkehre. Nicht nur „auf der Walze“, d. h. auf der Straße, sondern auch am Abende in der Werkstätte und auf der Herberge verscheuchten ihm ihre Wolken gar manchen Unmuth und erhöhten ihm den Genuß manch traulichen Stündchens. Zudem hatte er als Geselle mit hoher polizeilicher Erlaubniß das Recht, eine Pfeife mit Anstand zu rauchen, und die Berliner Professoren Kranichfeld und Virchow hatten sich damals mit ihren Verketzerungen der „nicotinfreien“ Tabaksblätter noch nicht hervorgewagt. – Zu den übrigen Ausrüstungsgegenständen des Wanderburschen gehörte der lederne Tabaksbeutel, welcher auf der linken Brust getragen wurde, und eine in Weidengeflecht oder auch in einem ledernen Futterale geborgene „Schnapsbulle,“ welche an der anderen Seite der Brust herabhing. Außerdem blickte, an einer langen Schnur befestigt, unter dem linken Rockschooß ein blechernes Behältniß hervor, welches das Wanderbuch und zuweilen auch eine Landkarte barg. Dieses blecherne Behältniß war für die Handwerksburschen der eherne Schild, an welchem die Pfeile der reitenden und Fuß-Gensdarmerie abprallten.

Kleider, Wäsche, Arbeitszeug und dergleichen nahm das Felleisen oder die „Raupe“ auf, an deren Stelle indessen bei gewissen Zünften das „Bündel“ oder die „Wurst“ trat. Der sogenannte Berliner, d. h. eine mäßig große Rolle, welche den kleineren Theil der Kleidungsstücke des Handwerksbnrschen enthielt und über der linken Achsel zu tragen war, ist erst in späterer Zeit in Aufnahme gekommen, als man hie und da anfing, die alten Gebräuche des Handwerksburschenwesens theilweise zu verlassen und der Bequemlichkeit halber den übrigen Theil der Reiseeffecten in einem Kofferchen durch die Post nachkommen ließ. Wie auf dem Felleisen, so waren auch über dem mit Hülfe eines Nebengesellen schön und fest geschnürten Bündel zwei Paar Stiefeln sichtbar, deren Absätze sich nach außen richteten, während die kleine Schmierbüchse, mehrere Bürsten und andere kleine Utensilien an den Seiten des Tornisters untergebracht wurden. Ein wohlausgestattetes Felleisen wog nicht selten gegen einen halben Centner. Daher kam es, daß der Handwerksbursch seinen Tornister zuweilen auf einem kleinen eisernen Gestelle fuhr, wobei er allerdings von Brücken-, Straßen- und Pflasterzoll befreit war. Am schwersten hatten die Schuhmacher zu tragen, da das Gewicht des von ihnen auf die Wanderschaft mitzunehmenden Handwerkszeuges zehn bis zwölf Pfund betrug. Weniger schwer – und dies mit vollem Rechte – war der Schneider belastet, obschon seine „bekleidungs-akademischen Hülfsmittel“ – wie man heute zu Tage schicklicherweise wohl sagen muß – blos aus Metall bestanden; sein Handwerkszeug wurde nämlich repräsentirt durch eine Scheere, einige Nadeln und den Nähring. Auch die Buchbinder gehörten in dieser Hinsicht zum leichten Fußvolk: sie führten nur das Falzbein, den Heftstift, die Heftnadel und das Schärfmesser mit sich. Diejenigen Zünfte, welche kein Handwerkszeug auf die Wanderschaft mitzunehmen brauchten, wie z. B. die Tuchmacher, die Färber, die Seifensieder, die Weber etc., hatten in die fremde Werkstelle doch wenigstens eine Arbeitsschürze, bezüglich ein Schurzfell mitzubringen. Doch machten die Sattler auch hiervon eine Ausnahme. Die Bauhandwerker bekamen in jeder Stadt, wo sie Arbeit nahmen, das Handwerkszeug gegen einen billigen Miethzins geliehen. Die Färber führten häufig ein Buch in Quartformat bei sich, in welches allerlei erprobte Färberecepte verzeichnet und Tuch- und Garnproben eingelegt wurden.

Zur vollständigen Ausrüstung des Handwerksburschen gehörte endlich auch das Reisegeld. Wenn die Entdeckung, mit wie wenig Verstand oft ein Land oder ein Ländchen regiert wird, einst großes Aufsehen erregt hat, so würde die Ueberraschung noch viel größer sein, wenn wir – alle Rücksichten bei Seite setzend – verrathen wollten, mit wie wenig Reisegeld oft ein Handwerksbursch durch alle deutschen Reichsgebiete hindurchzukommen wußte. In der That war das Reisegeld dem Wanderburschen oft sehr knapp zugemessen, weshalb schon der Lehrling die hie und da abfallenden Trinkgelder für die Zukunft sparen mußte. Wir begreifen darum auch die Entrüstung jenes Prager Schusterlehrlings, welcher jeden ersparten Kreuzer einem öffentlichen Standbilde des heiligen Nepomuk zum Aufheben übergeben hatte und schließlich, als er seine Wanderschaft antreten wollte und sich sein Geld zurück erbat, nicht einen Heller wiederbekam; wir theilen – sage ich – die Entrüstung des Armen, wenn er in die Zornesworte ausbrach: „Du heiliger Nepomuk bist ein ebenso gemeiner Spitzbube, wie die anderen Spitzbuben auch!“

Wohl müssen wir gestehen, daß der Handwerksbursch rücksichtlich der Lebensbedürfnisse von Haus aus meist nicht eben verwöhnt war und daß er, noch jung und den ungewohnten Dingen auf der Wanderschaft sich unschwer anbequemend, trotz mancher Widerwärtigkeiten frischen leichten Sinnes fröhlich seine Straße zog, ohne sich um den folgenden Tag weiter Sorge zu machen. Dennoch läßt sich nicht verkennen, daß das Wanderleben im Gegensatz zur Heimath auch seine Schattenseiten bot. Es war nicht nur der Wechsel des Klimas, es war die ganze veränderte Lebensweise im Essen und Trinken und Schlafen, es waren die Unbilden und Wechselfälle des Wetters und der Jahreszeiten, welche auf den körperlichen und geistigen Zustand des jungen Handwerksburschen einen nicht geringen Einfluß ausübten. Man denke sich ferner in die Lage eines Wanderburschen, der bei großer Geschäftsstockung seines Gewerbes vielleicht ein halbes Jahr „laufen“ mußte, ehe er Arbeit bekam. Da wurde das Felleisen oder das Bündel von Woche zu Woche leichter, Kleider und Wäsche wurden zu Fetzen; zum Besohlen der Stiefeln fehlte das Geld, trotz Regen, Schnee und Eis ging es auf dem „Deutschen“, d. h. barfuß oder in Stiefeln, denen der letzte Rest von Sohle abhanden gekommen war.

Durchnäßt bis auf die Haut legte sich der arme Handwerksbursch am Abende im Wirthshause mit triefenden Kleidern auf ein Bündel Stroh, an warmes Essen war natürlich ebenfalls nicht zu denken; denn das oft sauer verdiente und gesparte Geld war mit dem letzten Mutterpfennig, der in den Rock oder auch in einen Gurt eingenäht war und im letzteren Falle um den bloßen Leib getragen wurde, längst verausgabt. Das einzige, letzte Hemd wurde schon seit Wochen ununterbrochen auf dem Leibe getragen. Trotz aller Vorsicht nahm der „abgerissene“ Wanderer unversehens aus einer schmutzigen Herberge oder einem unreinlichen Wirthshause ein Volk abscheulicher und entsetzlich lästiger Sechsfüßler mit sich. Wie warst du da willkommen, du murmelnder frischer Quell in dem von der Hauptstraße abseits liegenden stillen Thale! Da wurde gewaschen und gebadet, und an den Zweigen der Weiden hingen die weißen Gewänder zum Trocknen, und daneben am sonnigen Rain lag unser Wanderbursch mit anderen Leidensgefährten derselben Art lang ausgestreckt – auch von dem Letzten entblößt! In solcher Lage hat gar mancher Bursch wehmüthig an das Vaterhaus gedacht und unwillkommene Gelegenheit gehabt, über Heimath und Fremde im Stillen Betrachtungen anzustellen.

[699] Und dennoch halfen Jugendlust und Jugendmuth leicht und schnell über solch bittere Erfahrungen hinweg! Zudem war ja auch bei den Wanderburschen getheilter Schmerz nur halber Schmerz; denn er reiste selten oder nie allein, sondern immer in Gesellschaft von Gesellen seiner eigenen oder auch einer fremden Zunft. „Mit Erlaubniß! Sind Sie ein fremder (Bäcker- etc.) Geselle?“ war auf der Straße die stehende Anrede. Die Worte: „Zu dienen, ich bin ein fremder (Bäcker- etc.) Geselle!“ enthielten die übliche Antwort. Darauf reichte man einander die Hand. Nachdem alsdann über Woher? und Wohin? die nöthigen Mittheilungen gewechselt worden waren, theilte man sich im gemüthlichen Geplauder die gegenseitigen Erfahrungen und Erlebnisse mit, für die Zukunft wohl auch Reisepläne entwerfend, die freilich dadurch oft gekreuzt wurden, daß nicht alle zugereisten Gesellen in der in’s Auge genommenen Stadt Arbeit bekamen.

Der in das Handwerksburschenleben Eingeweihte erkannte nicht nur an bestimmten, oft unscheinbaren Abzeichen am Felleisen oder dem Bündel und an der Kleidung, sondern auch am Gange und an der Haltung, welcher Zunft der Einzelne angehörte. So trugen die Gerber ihr Bündel in einem gelben, die Färber in einem dunkelblauen Tuche. Bei diesen war der Knotenstock in Blauholz schwarz, bei jenen in Eichenlohe gelb gefärbt. Das Bündel der Seifensieder hatte an beiden Enden sogenannte Wulste, während dasjenige der Seiler an beiden Seiten schön abgerundet sein mußte und an einem vom Seiler selbst gefertigten Gurte getragen wurde. Die Mühlknappen erkannte man an ihrem weißen Bündel und die Klempner – wenigstens in späterer Zeit – an dem grünen Berliner. Bei den Brauern mußte auf dem Felleisen eine weiße Schürze sichtbar sein, ebenso bei den Maurern zwei Finger hoch das Schurzfell. Die Nagelschmiede führten einen in ein ledernes Schurzfell gewickeltes Bündel, auf welchem außen eine Raspel befestigt war, während die Hufschmiede an dem in gleicher Weise angebrachten Hammer zu erkennen waren. Die Bäcker trugen zwar auch blaue Bündel, ihr Knotenstock war aber von weißer Farbe. Die Zimmerleute erkannte man an ihren weiten manchesternen Hosen, die Maurer dagegen an den steifen Stiefeln, an den Hosen von weißem englischen Leder, an ihren zugeknöpften Röcken und dem mehr seitwärts nach hinten zu gesetzten Hute. Die Metzger trugen einen Gurt um den Leib und meist blau- oder rothweiße Jacken. Die Schieferdecker erkannte man an ihrem Hammer, welcher an einer um den Leib geschlungenen Kette getragen wurde. Bei den Schornsteinfegern endlich war das Erkennungszeichen die in einem Gürtel eingehakte Kratze.

Auch die verschiedene Art der Arbeit bewirkte Erkennungszeichen für die betreffenden Handwerke. Bei den Färbern sorgte die Küpe, bei den Gerbern die Lohe für ein untrügliches Signalement. Die Bäcker erkannte man an den Säbelbeinen, die Tischler und Buchbinder an der erhöhten rechten Schulter. Bei den Seilern war die linke Seite nach vorn zu gehalten und der Kopf etwas geneigt; bei den Schmieden dagegen das linke Bein nach innen gebogen und die Haltung, uamentlich bei hohen Staturen, gebückt. Die Schuster pflegten bekanntlich einen gewissen Körpertheil mit ganz besonderer Emphase nach hinten zu strecken; die Schneider dagegen ließen durch besonders auffallende burschikose Tracht und den Schnitt des Haares auf ihre Kunst schließen. In dieser Hinsicht stand den Schneidern am nächsten das Volk der jungen Barbiere, welche außerdem an dem Schlenkern der Arme und an den geseiften Händen zu erkennen waren.

Sieben Zünfte – und gewiß nicht zufällig gerade sieben – nämlich die Roth- und Weißgerber, die Seifensieder, die Färber, die Hutmacher, die Kupferschmiede und die Schornsteinfeger, führten den gemeinschaftlichen Namen „die Schwäger“. Die Meister dieser Innungen redeten die Gesellen mit Du an, und unter den Gesellen eben derselben Zünfte war der Du-Comment eingeführt. Bei fast allen übrigen Zünften aber wurden die Gesellen vom Meister und untereinander mit Sie angeredet. Auf der Straße und beim Zureisen auf der Herberge riefen die Schwager einander ein kurzes „Hui, Schwager!“ zu, wobei jedes Mal die rechte Hand gleichsam salutirend über das rechte Auge zu legen war. Wenn sich fremde Bäckergesellen begegneten, so rief der erste: „Hui, Schütz!“ und der zweite antwortete: „Löwenschütz!“ Die Bäcker führen nämlich einen doppelten Löwen im Wappen. Die Metzger begrüßten einander mit dem Worte: „Katzof!“ (Schlächter), worauf mit dem ebenfalls dem Judendeutsch entlehnten Worte: „Ken“ (Ja) geantwortet wurde. Unter den Schwägern bildeten die Schornsteinfeger die am wenigsten von der Cultur beleckten, da natürlich außer den Söhnen der Schornsteinfegermeister nur Jungen der niedrigsten Stände sich diesem Berufe zuwandten. Die Färber repräsentirten in der „Schwägerschaft“ die Aristokratie, da sie meist wohlhabenderen Familien entstammten, hohe Löhne empfingen und auch, wie wir weiter unten wahrnehmen werden, auf der Wanderschaft nicht auf der Herberge, sondern bei den Meistern Quartier und Kost erhielten. Die Gerber waren aus Gründen, die wohl ebenfalls ziemlich nahe lagen, nicht selten versucht, anderen Zünften gegenüber ihre Ueberlegenheit durch ein gemessenes, zurückhaltendes Wesen an den Tag zu legen. Von den Schuhmachern ging – gewiß aber nur boshafter Weise – die Rede, daß sie, meist eigensinniges, knurriges, zum Krawallen geneigtes, auf ihr Metier äußerst stolzes Volk, die knotige Seite des Handwerksburschenleben in Manieren und Sprache vertreten hätten, die raffinirtesten Schimpfer wären und in der ganzen Welt in schwarzem Bunde mit allen Depots des Frankfurter Hühneraugenpflasters stünden. Unter den Fettlappen oder Tuchmachern gab es viele gemüthliche Gesellen oder vielmehr „Knappen“, die einen derben Schwank und Scherz unter Umständen mit Geld bezahlten. Die Schneider endlich, die ja selbst dem Kaiser „auf den Leib kommen“ – selbstverständlich nur beim An- oder Abmessen – und in England die höchsten Staatsmänner zu ihren Zunftgenossen zählen, hielt man für die affectirtesten und rücksichtlich des Blickes den Astronomen verwandtesten unter dem gesammten Gesellenstande, und mit Recht mögen sie wohl manchen Anlaß zu Spott und Hohn gegeben haben; daß sie aber auch viefach unschuldig leiden mußten und daß ihnen häufig Dinge untergeschoben wurden, die sich später als reine Erfindungen erwiesen, dafür fehlt es ebenfalls nicht an Belegen. So wurde in vielen deutschen Städten in früherer Zeit gemunkelt, die Schneidergesellen säßen nicht selten auf ihrer Herberge bei verschlossener Thür um einen großen runden Tisch herum, über welchem ein an einer Schnur befestigter Hering von der Decke des Zimmers herabhinge. Während jeder Geselle nun seine beiden Zeigefinger auf den Tisch zu legen habe, setzte der Altgeselle den Hering durch einen Schlag in Bewegung, wobei die um den Tisch Sitzenden sich bemühten, mit der Zunge mit dem hin und her geschwungenen Hering in Berührung zu kommen, um auf diese Weise ihren Fischappetit zu stillen. Die sorgfältigsten, die gewissenhaftesten Forschungen haben ergeben, daß diese ganze Erzählung rein aus der Lust gegriffen ist und sich als eine infame Beleidigung der ganzen ehrsamen Schneiderzunft erweist. Selbstverständlich reden wir hier nicht von der Gegenwart, sondern von längst vergangenen Zeiten.

Beim Zureisen in eine Stadt, wo seiner Zunft angehörende Meister wohnten, hatte der Handwerksbursch gewisse alte Gebräuche zu beobachten. Ohne Ausnahme war es bei allen Zünften Sitte, „mit Rock, Stock, Hut und Bündel“ oder „Felleisen“ einzuwandern. Das Bündel war hierbei stets über der linken Schulter zu tragen und der Cylinderhut mußte mit einem schwarzen Wachstuch überzogen sein. Im Sommer legte man den Staubmantel vor dem Thore ab. Bei den Hufschmieden und einigen anderen Zünften wurde der linke Tragriemen des Felleisens, welcher zum Einhaken eingerichtet war, beim Einwandern in eine Stadt oben über den Tornister zurückgeschlagen. Zuweilen und namentlich wenn Festtage im Anzuge waren, wurde die Sache auch mit Humor betrieben. In Wien, Lauban, Zittau und vielen andern deutschen Städten kam es nicht selten vor, daß dreißig bis vierzig Färbergesellen, die von verschiedenen Seiten zugereist kamen, sich vor einem und demselben Thore sammelten, aus der Stadt eine Musikbande herbeiholten und in Procession unter Vorantragung einer langen Stange, von welcher eine blaue Färberschürze herabwehte, mit Trompeten und Pauken ihren Einzug hielten. Alsdann wurde vor das Haus des Obermeisters gezogen, diesem ein Vivat gebracht, und in gleicher Weise hierauf auch die Herberge begrüßt.

Das Ceremoniel beim „Umschauen“ oder „Zusprechen“ war ebenfalls an ganz bestimmte Formen gewiesen. In manchen Städten wurde das „Geschenk“ von jedem einzelnen Meister verabreicht, in anderen aber im Ganzen aus der Handwerkscasse ausgezahlt. Auf der Herberge erhielt der zugereiste Handwerksbursch vom Herbergsvater das „Umschaubuch“, welches die Namen der Meister mit Angabe ihrer Wohnungen enthielt. Das Umschaubuch wurde zunächst zum Obermeister getragen, welcher in längerer oder kürzerer Ansprache – der sogenannten „Schuldigkeit“ – die bei einzelnen [700] Zünften sogar in einen Dialog zwischen dem Meister und dem Gesellen überging, begrüßt wurde. In Norddeutschland waren längere, in Süddeutschland dagegen kürzere Grüße in Gebrauch. So lautete der Gruß der Seifensieder folgendermaßen:

Gesell: „Verzeihen Sie, sind Sie der Herr Meister?“

Meister: „Ja.“

G.: „Erlauben Sie, Herr Meister! Ich möchte gern meine Schuldigkeit bei Ihnen ablegen.“

M.: „Recht gern.“

G.: „Ehrliche Meister und Gesellen lassen Sie freundlich grüßen von wegen des Handwerks.“

M.: „Von welchen ehrlichen Meistern und Gesellen bringst Du mir den Gruß?“

G.: „Von den ehrlichen Meistern und Gesellen aus N. N.“

M.: „Sei willkommen von wegen des Handwerks.“

G.: „Verzeihen Sie, Herr Meister, liegt das Gesellenbuch hier?“

M.: „Ja.“

G.: „Erlauben Sie, Herr Meister, ich wollte Ihnen um ein ehrliches Geschenke angesprochen haben. Ich werde mich verhalten, wie es einem ordentlichen Burschen zukommt.“

Selbstverständlich mußten die in der Stube des Obermeisters etwa anwesenden Gesellen beim Eintritt des Zureisenden sich von ihren Sitzen erheben. Hierauf schrieb der Obermeister den Namen des zugewanderten Gesellen in das fragliche Buch ein. Vom Obermeister ging es alsdann zum Zettel- oder Zeichen-Meister, bei welchem das Wanderbuch aufgezeigt werden mußte. Dieser schrieb, um das zu häufige Wiederkommen des betreffenden Gesellen zu verhüten, seinen Namen mit Angabe des Datums in das vorgezeigte Wanderbuch. Die Zeichen, welche der Zettelmeister verabreichte, bestanden in runden oder auch viereckigen Marken, welche den Namen und die Wohnung desjenigen Meisters enthielten, bei welchem gegen Abgabe des Zeichens das Geschenk ausgezahlt wurde.




Charakterköpfe aus der deutschen Liedertafel.
II.

Im gewöhnlichen Leben vermag der Herr Director sein Jupitergesicht nicht immer beizubehalten, dafür trägt er aber eine je nach der Stärke seines Vereines mehr oder minder werthvolle goldene Uhr, eine ditto Uhrkette und einen Siegelring der schwersten Sorte, sämmtlich von verschiedenen Jahrgängen. Einige der hervorragendsten Mitglieder würdigt er seiner besonderen Vertraulichkeit, die ihn in unbewachten Stunden schon bis zum Eingehen von Brüderschaften geführt hat. Die andern nähern sich ihm mit einem aus Begeisterung und Ergebenheit zusammengemischten Gefühl.

„Herr, gieb ihm eine unbegrenzte Fähigkeit, in den allerverschiedensten Bier- und Weinsorten jedwedem Zutrinkenden Bescheid zu thun!“ das ist bei der Einsegnung eines Directors das Gebet, welches erfahrene Sangesgenossen für ihn zum Himmel richten. Zu seiner vollständigen Ausrüstung gehört außerdem eine seltene Macht der ungebundenen Rede und die Fähigkeit, Nachts beim Oeffnen der Thür mit einem unmerklichen Ruck die Vorsaalklingel anhalten und mit derselben Geschwindigkeit das Schlaggewicht der Nachtuhr abhängen zu können.

Man sagt, daß es Directoren gäbe, welche sich in der ersten Zeit hinter dem Rücken ihrer Ehehälfte auf diese Künste an heimlichen Orten und mit ledernen Klingeln eingeübt hätten, – das kann ich indessen nicht glauben. Man sagt ja so viel!

Im Gegentheil habe ich unter der Classe dieser würdigen Männer gerade die zärtlichsten Gatten gefunden. Immer besorgt, ihrem nächtlich harrenden Gespons die Freude des Wiedersehens auf jede Weise zu erhöhen, versehen sie sich an den Tagen der Vereinszusammenkünfte schon in den Vormittagsstunden mit einem kleinen Geschenk, um die liebe Frau zu überraschen, falls dieselbe bei ihrer Heimkehr noch munter sein sollte. Schläft sie freilich, dann hat sie sich’s selbst zuzuschreiben, wenn ihr die zugedachte Freude entgeht, und der beobachtende Director kommt deshalb auch bald dahinter, für dergleichen Morgengaben kleine, dem Verderben nicht ausgesetzte Fabrikate zu wählen, die er wie ein Amulet längere Zeit bei sich tragen kann und womit er eintretendenfalls sogleich jede eheliche Aufwallung besänftigt. Kein Billigdenkender wird dem Manne diese Vorsicht zu einem Verbrechen machen wollen.

„Wenn wer ein braf weip hat, der sorge und thue, daß ihme kein Rauch und Zank daraus wirt,“ lehrt Fischart, und es ist nichts als fernere Befolgung dieses weisen Rathes, wenn der Herr Director seinem „brafen weip“ das Herannahen benachbarter Gesangfeste absichtlich verschweigt und vorsorglich drei bis vier Wochen vorher sich den Schlüssel zu dem Wäschschrank zu verschaffen sucht, um daraus für sich eine kleine Hemdenanleihe zu machen. Denn die Erfahrung hat ihm gelehrt, daß die besorgte Mutter seiner Kinder dem Wunsche, „er möge sobald als möglich wieder heimkommen“, dadurch einen concreten Ausdruck zu geben vermeint, daß sie ihm die Reisetasche nur in der spärlichsten Art mit Weißzeug ausstattet. Früher hat ihn das oft in Verlegenheit gesetzt. Jetzt knöpft er zu Haus das heimlich an sich gebrachte Linnen unter den Ueberrock, und wenn er es im Coupé der legal bewilligten Aussteuer einverleibt hat, fühlt er sich vollständig sicher. Uebrigens darf man nicht in Jedem, der bei Beginn einer Sängerfahrt versteckte Wäsche zu Tage fördert, den Director vermuthen. Alle verheiratheten Sangesbrüder verstehen sich mehr oder weniger auf dergleichen Exercitien, nur haben sich die Häuptlinge darin die größte Gewandtheit angeeignet, weil sie am häufigsten in die Lage kommen, sie auszuüben.

Der Geburtstag wird dem Herrn Director alljährlich zum herbsten Prüfungstage; denn am frühesten Morgen schon überrascht ihn sein Verein mit einem hinter seinem Rücken einstudirten Morgengesange, wobei dann gewöhnlich auch irgend eine kompositorische Jugendsünde des Gefeierten wieder einmal an das helle Licht des Tages gezogen wird.

Als fungirenden Herrn Director erblickt man ihn stets von vier Solisten garnirt, und das ist ein Anblick, welcher jedem Anthropologen das größte Interesse abnöthigen muß. Was nur für Gegensätze in Schädelbildungen, Haarfärbung, Knochenbau, Temperament etc. geben kann, sie kommen hier zur Erscheinung. Diese Abweichungen sowohl von Andern, als unter sich, geben Jedem der in Frage Stehenden sein besonderes Fascikel menschlicher und unmenschlicher Gefühle, Zufälle und Leidenschaften, zu deren alleinigem Ausdruck ihn seine Stellung berechtigt.

Es liegt in der Natur der Sache, daß der lyrische Tenor der Liebling sämmtlicher unverheiratheter Damen ist, während die verheirateten Frauen mehr für den Bariton incliniren. Heldentenor und tiefer Solo-Baß theilen sich in den Beifall der Männerwelt und fühlen sich wohl dabei; denn obgleich im Allgemeinen die angegebenen Grenzen gegenseitig respectirt werden, so kommen doch bei ihren Ruhmesgenossen bisweilen Überschreitungen vor, welche zu den gefährlichsten Feindschaften führen können.

Das Ideal zarter Mädchenherzen, der provençalische Minnesänger, ist zwar ein durchweg blonder Charakter, allein was hat nicht Liebe und Eifersucht schon zu Wege gebracht! Um das sensibelste aller Instrumente nicht zu verstimmen, sind daher alle Mitglieder und namentlich der Herr Director auf das Sorglichste beflissen, von dem „Rühre mich nicht an, ich sinke“ des Vereins alle schädlichen Einflüsse fern zu halten. Man weiß, was man an ihm hat und daß er es ist, der den Leistungen erst den feinsten Lack giebt. Deswegen wird er auch nur sparsam „herausgelassen“; erst wo nichts Anderes mehr verfängt, schiebt man ihn vor und ist des Erfolges sicher.

Jedes öffentliche Auftreten ist daher ein Ereigniß, das durch einen unmäßigen Verbrauch von geschlagenen Eiern und Kandis eingeleitet wird. Während noch der Beifall rauscht, tritt aber schon sein Herr Director auf ihn zu: „Lieber Graseporst, Du hast wieder ganz herrlich gesungen, aber thu’ mir den Gefallen und knöpfe Dir den Frack zu, es zieht.“ Und nun wird Graseporst in viele Quadratruthen Shawls und gewärmte Decken gewickelt und wieder in den Kasten gelegt, wie die Boa constrictor, mit welcher der Menageriewärter immer zuletzt noch das Publicum zu einer besondern „kleinen Recommandation“ nöthigt.

Was ein richtiger Tenor ist, den wird man aus dem größten Menschengewühl herauserkennen, und wenn er ein Papagenoschloß vor dem Munde hätte. Er liebt es sich in helle Farben zu kleiden. [701] Wenn er dürfte, ginge er ganz rosenroth. Dem ist aber sein Schneider total entgegen, und zwischen Beiden besteht deswegen ein ewiger Krieg, in welchem unser Freund freilich immer den Kürzern zieht. Kaum daß es ihm gelingt, dann und wann ein rosa Aermelfutter durchzusetzen.

Der lyrische Tenor.

Dagegen rächt er sich durch eine beispiellose Verschwendung von Himmelblau und besteckt sich heimlich mit Rosenknospen, wie eine Festtorte. Man sieht, daß seine Laufbahn nicht eine so ganz und gar dornenlose ist, wie es auf den ersten Anblick scheinen könnte. Außerdem ruht der Fluch auf seiner Stellung, mit den Augen fortwährend nach noch nicht entdeckten Sternen suchen zu müssen. Nun hat zwar die vorsorgliche Mutter Natur jedem wahren lyrischen Hochsänger ein paar Quadratzoll Weißes im Auge mehr gegeben, als andern Menschen, aber bei dem verschwenderischen Gebrauch, den er davon macht, kostet es ihn oft die schmerzlichste Anstrengung, den trotzdem eintretenden Mangel zu decken.

Der sentimentale Bariton.

Eins hängt mit dem Andern zusammen. Seine unaussprechliche Kopfhaltung nöthigt ihn dann wieder alle wirkungsvollen Lieder auswendig zu lernen, und das kommt ihm bisweilen sehr schwer an. Er macht deswegen häufige und einsame Spaziergänge, die er aber immer so zu beenden weiß, daß er zu Ausgang der Unterrichtsstunden zufällig an den besuchtesten Mädchenpensionaten vorübergeht. Die lose Schaar, der er hier begegnet, kennt ihn auch ganz gut und weiß ihn durch die Bezeichnung „das Blümchen’ oder „der Goldschnitt“ von allen seinen Concurrenten treffend zu unterscheiden.

Der Heldentenor.

Zu diesen gehört in erster Reihe der sentimentale Bariton, in der Regel „ein schöner Mann“. Es ist dieser seiner augenscheinlichen Begabung wegen der interessanteste Gegenstand für große Schnittwaarenhändler, denen er noch ganz besonders durch die immensen Carreaux seiner Hosenmuster zu imponiren weiß. Die Vertreter der größten Modewaarenhandlungen gehen ihm Tage lang nach und machen ihm die glänzendsten Offerten, in der Regel ohne ihren Zweck zu erreichen, denn wenn er sich selbstständig machen will, ist sein erster Gedanke die Anlegung einer Luxuspapierfabrik.

Der tiefste Baß.

In seiner Jugend hat er keine Ahnung davon, daß der Gott des Gesanges in ihm schlummert. Er wird davon ganz plötzlich erst durch den namenlosen Beifall überzeugt, welchen ihm der Vertrag der „letzten Rose“ bei einer Landpartie einbringt. Eine junge Wittwe, die es dabei mit der Ohnmacht kriegt, ist ihm ein Fingerzeig von oben, in sich zu gehen und einen Wirkungskreis zu suchen, wo er es mit widerhaltigeren Probeobjecten zu thun hat.

In seinem Vereine nimmt er eine ganz exceptionelle Stellung [702] ein, die durch eine Atmosphäre feiner Parfüms markirt ist. Sologesang ist seine einzige Leistung, gewöhnlich läßt er sich dieselbe von einem Seminaristen auf seinem Zimmer – fünf Neugroschen die Stunde – einüben. Der wahre Bariton singt nie, wie er eigentlich könnte. Er bedauert stets „heute doch nicht ganz bei Stimme zu sein“, und das ist sehr schade; denn wenn dieser Fall wirklich einmal einträte, so, denke ich, müßte das einen großen Genuß geben. Von der Betheiligung am Chorgesang hat er sich gänzlich losgesagt, seit der erste Tenor sich seine chronische Sextenbegleitung nicht mehr gefallen lassen wollte. Er betrachtet daher den Verein auch nur als Folie; um sich dies aber nicht merken zu lassen, legt er bei Stiftungsfesten in der Besorgung von Cotillonorden und bei Landpartien im Losbrennen von Feuerwerk einen großen Eifer an den Tag.

Wenn er sich photographiren läßt, und das geschieht in der Regel bei jedem Mondwechsel, so bittet er stets, mit seinem Bilde nicht zu indiscret umzugehen. Die nächsten Tage sieht man ihn aber vor allen Aushängekästen stehen, und er kann sich ganz heftig erbosen, wenn er sein Conterfei nicht neben dem einer Schönheit vom Theater erblickt. Er arbeitet aus allen Kräften, um sich in den Ruf eines „gefährlichen Menschen“ zu bringen; deswegen trägt er auch nur gestickte Cigarrenetuis, Portemonnaies, Notizbücher und wechselt damit, sobald er glauben kann, daß seine Bekannten durch ein anderes wieder überrascht werden. Das kostet ihn viel Geld.

Man kann dem Bariton-Solisten keine größere Schmeichelei sagen, als wenn man seine Stimme mit dem Klange eines Violoncello’s vergleicht. Der lyrische Tenor dagegen betrachtet sich als die menschgewordene Schalmei, obwohl er nie in seinem Leben eine solche gehört hat. Mag nun diesen beiden Vergleichen etwas Wahres zu Grunde liegen oder nicht, so viel ist sicher, daß der Heldentenor in der allernächsten Verwandtschaft zu der Trompete steht. Er hat etwas entschieden Kriegerisches in seinem ganzen Wesen. Ihm sind alle Räume für die Entfaltung seiner Stimme zu klein, und wenn er an seine Jugend erinnert wird, wo ihn, wie er behauptet, ein Theaterdirector für die Oper gewinnen wollte, so kann er in die fürchterlichsten Verwünschungen gegen sein Schicksal verfallen, welches ihn eine fideicommissarische Leihbibliothek erben ließ.

Privatim ist er stets mit der Einübung einer großen Rolle beschäftigt, denn er lebt der festen Ueberzeugung, daß ihm eines Tages das Glück lächelt und er plötzlich gebeten wird, für den heiser gewordenen Lohengrin einzutreten. Er könnte es sich nicht vergeben, wenn ihn die Mahnung unvorbereitet träfe. So betrachtet er sich zum Theater gehörig und er giebt seinem Kunstberuf einen äußern Ausdruck, indem er in seinen Lesezirkel die „Signale für die musikalische Welt“ und einige der bekanntesten Theaterzeitungen aufnimmt, außerdem aber sich mit durchreisenden Inhabern von Stereoskopencabineten und anderen Zauberern Arm in Arm an öffentlichen Vergnügungsorten zeigt.

Seine Kinder heißen, wenn er deren hat und bei ihrer Namengebung zu Rathe gezogen worden ist, Masaniello, Elsa, Recha, Hundebert – anders thut er’s nicht. Dabei ist er ihnen aber sonst ein guter Vater und seinen Sangesgenossen ein ausgezeichneter Camerad. Trotzdem wird er von den Letzteren immer wieder auf das Empfindlichste dadurch gekränkt, daß sie ihm beim nächtlichen Ständchensingen mit ängstlicher Sorgfalt aus dem Wege gehen.

Es war nicht immer so. Einst durfte auch er seine Stimme zu den halbgeöffneten Fenstern der Schönen mit emporklingen lassen, allein seitdem man bemerkt hat, daß der Nachtwächter, durch die immer lauter schmetternden Töne angezogen, regelmäßig schon bei dem zweiten Verse höchst fragweise erschien, „was denn das wieder für ein Scandal sei,“ – seitdem verschweigt man unserm Helden alle derartigen minniglichen Unternehmungen. Er ahnt so etwas und hat mit einem gräßlichen Fluche geschworen, jegliches Piano vom Erdenrunde zu verbannen.

Fern diesem ganzen leidenschaftlichen Treiben steht der tiefe Baß, der eherne Grundpfeiler jeder Harmonie. Dies schönste Bewußtsein füllt seine Brust, aber macht sie nicht stolz. Er lächelt über die Thorheiten seiner Umgebung; groß übersieht er sie und kommt deswegen nie in Gefahr, an denselben Theil zu nehmen. Entgegengesetzt den drei von den Wirbeln der widerstrebendsten Leidenschaften hin und her Geschleuderten, durchschifft er ruhig wie Kühleborn die Wogen. Drängt sich die kleine Außenwelt zu lärmend an ihn heran, dann, weiß er, braucht er nur niederzutauchen in die grundlosen Tiefen seiner gewaltigen Resonanz, um ganz allein zu sein mit seiner Majestät, denn Niemand vermag ihm in diese Regionen zu folgen.

Selbstverständlich gilt dies nur von dem tiefsten Baß, von jener phänomenalen Erscheinung, die sich in jedem Vereine nur in einem einzigen Exemplare vorfindet. Die große Menge der übrigen zweiten Bässe steht vor ihrem Meister, wie Faust vor dem Erdgeiste. Aber mild lächelt er ihnen zu, wenn das tiefe C sich aus den Kellerräumen seiner Kehle entwickelt: „Fürchtet Euch nicht, ich thue Euch nichts.“ Es scheint in der That unglaublich, daß ein Mensch mit einem so furchterregenden Schnarrwerke in der Brust nicht manchmal in Versuchung kommen sollte, davon einen unchristlichen Gebrauch zu machen. Und doch wird man nie davon gehört haben, daß sich dieses tiefste aller Organe je feindlich gegen einen Nebenmenschen gekehrt habe. Man denke an Sarastro.

Der tiefe Baß steht deswegen allein schon hoch über dem Löwen, wenn ihn auch nicht die angeborne Möglichkeit sein Leben mit Pflanzenkost zu fristen von dem König der Thiere noch zu seinem Vortheile unterschiede.

Nur in einem Punkte ist er verwundbar, und leider drückt sich bisweilen schon bei der Geburt der Dorn in diese weiche Ferse. Je tiefer nämlich die Stimme herabgeht, umsomehr steigt, nach einem übrigens ganz natürlichen Gesetze, die Vorliebe für das Rasselnde, welches im Buchstaben r liegt, und unser Freund kann von einer chronischen Schwermuth ergriffen werden, wenn er eines Tages inne wird, daß er ja doch eigentlich „Hempel“ heißt, oder gar „Leimlein“, wie es häufig der Fall ist.




Amerikanische Special-Mittheilungen der „Gartenlaube“.
Nr. 1. Eine Präsidentenwahl.

Wir stehen mitten in einem Präsidentschaftswahlkampfe. Ja wohl, ein Kampf ist’s, und ein „Feldzug“ wird es nicht unpassend genannt, dieses Ringen zweier großen Parteien um die Stimmenmehrheit, und trotz aller Mängel des hiesigen Parteilebens ist es obendrein ein großartiger Kampf. Es wird in jedem dieser aller vier Jahre wiederkehrenden Präsidentschafts-Wahlkämpfe ein Stück Weltgeschichte fertig, ein größeres Stück, als im Mittelalter in einem Jahrhundert zurückgelegt wurde, und indem sich jeder Mensch im Lande – höchstens die Kinder in der Mege ausgenommen – irgendwie an diesem weltgeschichtlichen Thun betheiligt und obendrein sich bewußt ist, daß die Augen aller denkenden Zeitgenossen sämmtlicher Erdtheile auf dasselbe gerichtet sind, bekommt diese Wahlbewegung ein ungemein aufgeregtes Ansehen.

Um diese Zeit erkennt man das amerikanische Volk kaum wieder. Seine sonstige Kühle und Gleichgültigkeit weichen einer fast fieberhaften Unruhe, seine sonst nur passive, ruhig zusehende Betheiligung an der Politik seines Landes einer selbstthätigen und lauten. Man kann kaum zwei Menschen beisammen sehen, ohne sie zugleich von der Wahl, den Wahlbewerbern, ihren Glaubensbekenntnissen und Aussichten reden, wenn nicht etwa gar sich streiten zu hören. Jeder stimmberechtigte Bürger (und selbst solche, die es nicht sind) wird zum Propagandisten seinen Parteistandpunktes, die Frauen und Kinder werden davon mit angesteckt, und so verschlingt auf ein paar Monate die Politik fast jedes andere allgemeine Interesse. Kein anderer Volkscharakter hat so wenig Anlage dazu, sich für irgend etwas zu begeistern, als der anglo-amerikanische, und dennoch macht sich während einer Präsidentenwahl etwas bemerklich, welches der Begeisterung sehr ähnlich sieht. Man arbeitet sich künstlich in eine tiefe Ergriffenheit für die Landesangelegenheiten der Gegenwart hinein und bringt dafür Opfer an Zeit, Geld und Gesundheit, welche andere Nationalitäten nur bringen, wenn sie wirklich begeistert sind. Stadt und Land bekommen in solchen Zeiten ein festliches Aussehen. Riesige Banner in den Landesfarben und mit Inschriften aller Art versehen hängen aus den obersten Fenstern einander gegenüberliegender Häuser über fast jede Straße herab; viele Privathäuser sind mit Flaggen geschmückt; hier und da werden wohl riesige Freiheitsbäume errichtet und mit Blumengehängen, den Landesfarben und der phrygischen Freiheitsmütze verziert; nicht selten durchziehen bei Tage, gewöhnlich aber fast jede Nacht, Aufzüge der Parteien die Straßen, Transparente mit allerlei Inschriften oder sinnbildliche Gegenstände tragend, von Musik oder Trommeln geführt, Hurrah für die Partei und ihre Candidaten schreiend, Feuerwerke abbrennend und zuletzt in Wahlversammlungen in Sälen oder unter freiem Himmel endend, bei denen oft drei, vier und mehr Redner sich hören lassen, so eindrucksvoll und kräftig wie möglich. Jede Partei hat in jedem Oertchen von einiger Größe, sowie in jedem Stadtviertel größerer Städte ihr „Hauptquartier“, [703] wo täglich die gewerbsmäßigen Politiker zusammenströmen, die übrigen Bürger wenigstens gelegentlich vorsprechen, um die Bedeutung der Tagesereignisse für die Parteiaussichten und die höchst erfinderischen Wahlmanöver zu berathen, durch welche jede Partei der andern Abbruch zu thun sucht. Die politischen Tagesblätter, welche in solchen Zeiten ihre Ernte halten, führen eine leidenschaftlichere Sprache als sonst; die Beweisführung zu Gunsten jeder Partei wird folglich fanatischer und sophistischer, und da um solche Zeit Jedermann mehr als gewöhnlich Politisches liest, so stecken sie das ganze Volk mit mehr oder weniger Sophismus und Fanatismus an. Jedermann redet so, als glaube er allen Ernstes, die Welt werde untergehen, oder mindestens die Freiheit und Bildung des Landes der Barbarei und Knechtschaft Platz machen, falls seine Partei in der bevorstehenden Wahl unterliegen müsse.

Bei einer so ernsten, allgemein ergriffenen Volksstimmung ist es kein Wunder, wenn dieses sonst so prosaische Volk einen poetischen Anstrich bekommt. Es regnet Gedichte politischen Inhalts, auf die Wahl bezüglich; es erscheinen eine Masse Caricaturen auf die Parteien und ihre Candidaten und werden begierig durchmustert: die Flaggen, Banner, bunten Laternen und Transparente sind oft sehr geschmackvoll und tragen mitunter sehr sinnreiche Kraft- und Wahlsprüche; die Redner – und es giebt deren alsdann viele Tausende – suchen allen möglichen Redeschmuck hervor und fließen über von Bildern und Gleichnissen, witzigen Anspielungen und schwunghaften Seitenhieben auf die Gegenpartei. In den Redepausen treten Sänger auf, welche politische Gedichte voller Witz und Laune, oder aber voll tragischen Ernstes solo recitiren, seltener im Chor singen, der jedoch wenigstens immer den Refrain vorträgt und wobei die ganze Volksmenge stürmisch mit einfällt. Das Alles steckt wie gesagt an; die Elektricität, welche große Volksmassen einander am Ende immer mittheilen, steigen bei jedem Einzelnen die Aufregung, welche dann wieder auf die Masse rückwirkt.

Einen schroffen Gegensatz zu dieser Zeit vor der Wahl bildet diejenige nach derselben. Die siegreiche Partei vermeidet in der Regel ein die andere verletzendes Frohlocken, die unterlegene fügt sich ganz ruhig der Entscheidung der Stimmenmehrheit und tröstet sich mit Hoffnungen auf zukünftige Wahlsiege. Eine allgemeine Abspannung ist eingetreten, und was ausgesehen hatte wie ein Weltgericht mit obligatem Weltuntergange, das erweist sich ebenso harmlos, wie ein Bühnenschauspiel: die gefallenen Helden stehen hinter dem Vorhange wieder auf und gehen nach Hause oder zu anderen Geschäften über. Nach der Wahl kann man Jedermann zugestehen hören, daß die im Parteikampfe gebrauchten Gründe doch beiderseits übertrieben, die benutzten Massen auch auf der eigenen Seite nicht immer die reinsten und edelsten waren; daß die Gegenpartei nicht ganz so schwarz ist, wie sie angestrichen wurde, und daß innerhalb der eigenen Partei bei weitem nicht Alles ist, wie es sein sollte.

So wenigstens war es immer bis zu dem verhängnißvollen Präsidentschafts-Wahlkampfe von 1860 gewesen. Damals wurde zuerst innerhalb der Union „vom Stimmkasten an den Protzkasten Berufung eingelegt“, und die noch wüthende Sonderbunds-Bewegung mit ihrem Ergebniß, dem blutigen Bürgerkriege, entstand. Damals machten die praktischsten aller Menschen und größten aller Erfinder, die Angloamerikaner, zum ersten Male die merkwürdige Entdeckung – welche allerdings andere gebildete Völker schon längst kannten – daß man in einem und demselben Bundesstaate wohl verschiedene Nationalitäten, Racen und Religionen, aber nicht verschiedene Culturzustände, nicht die Barbarei und die Civilisation, nicht die Sclaverei und die Freiheit vereinigen könnte. Bis dahin hatten allerdings die südlichen, auf Negersclaverei, Verthierung der armen Weißen und große Boden-Aristokratie begründeten, von normannischem Adelstolze strotzenden Staaten mit den nördlichen auf vollständigste Demokratie und freie Arbeit gebauten Freistaaten an demselben Strange gezogen; aber nur unter der Bedingung, daß die „schwarzen Barone“ des Südens die ganze Union beherrschen dürften, um das Wachsthum des Nordens beschränken, die Durchführung der Demokratie in alle Lebensgebiete hinein vereiteln, kurz die Union allmählich in eine über Sclaven und willenlose Pöbelmassen gebietende Oligarchie verwandeln zu können. Sobald es aber gewiß wurde, daß der Norden trotzdem an Bevölkerung, Reichthum, Macht und Bildung den Süden weit überholte, sobald der Norden auch einmal einen Präsidenten in seinem Sinne haben wollte: da spielten die schwarzen Barone nicht mehr mit; sie richteten ihren Sonderbund auf und trieben es absichtlich zum Blutvergießen, um die Brücke zur Versöhnung hinter sich abzubrechen.

Heute, vier Jahre später, ist ihr Versuch der Zerstörung der Union als gescheitert zu betrachten. Der Sonderbund und seine treibende Ursache, die Sclaverei, röcheln soeben beide ihre Seele aus. Die Zeit der Präsidentenwahl ist wieder da, und die schwarzen Barone, im Felde besiegt und außer Stande, ihre ganz erschöpfte Macht mit den Waffen zu behaupten, suchen sich durch ihre Mitverschworenen im Norden Luft zu schaffen, welche einen Präsidenten im Sinne der Sonderbündler wählen sollen. Mc. Clellan, der Candidat der „demokratischen“ Partei, der geheimen und offenen Bundesgenossen des rebellischen Südens im Norden, würde, wenn er zum Präsidenten gewählt wäre, darauf verpflichtet sein, mit dem fast besiegten Süden einen Waffenstillstand abzuschließen, unsere Heere zurückzurufen von ihrer Siegeslaufbahn und die Wiederherstellung der Union auf lediglich friedlichem Wege, also auch unter Fortbestand der Sclaverei, zu betreiben. Abraham Lincoln dagegen, der jetzige zur Wiederwahl aufgestellte Präsident, der Candidat der „republikanischen Unionspartei“, ist durch das Parteiprogramm (die „Platform“) zur vollständigen Niederwerfung des Sonderbundes und zur Zerstörung der Sclaverei verbunden.

So einfach nun, wie wir die Frage, um welche es sich bei dem jetzigen Wahlkampfe im Wesentlichen handelt, darstellen, erscheint sie freilich vielen Mitkämpfenden selber nicht, sondern sie wird durch Parteiauffassung vielfach entstellt und die Entscheidung durch viele Nebenfragen erschwert. Dem mit allen Fortschrittsbestrebungen sympathisirenden Europäer wird es schwer zu begreifen, wie es im freien Norden selbst eine große Partei geben könne, welche dem Süden Sieg wünscht, der die Demokratie auf den Tod bekämpft und die Sclaverei für den naturgemäßen und gottgewollten Zustand aller, nicht blos der schwarzen, Arbeiter erklärt. Allein der nördliche Flügel der „demokratischen“ Partei besteht weit überwiegend aus viehisch verdummten katholischen Irländern, aus den dümmsten Schichten der eingewanderten wie eingebornen Bevölkerung überhaupt. Es ist leicht für Demagogen, diese Massen zu mißleiten, da sie entweder gar nicht lesen können, oder doch nur Zeitungen und Flugschriften ihrer eigenen Partei lesen, die Versammlungen der Gegenpartei nicht besuchen, oder höchstens zu dem Zwecke, um sie durch wüstes Geschrei zu stören und zu vereiteln, und da sie fast soldatisch den Geboten der Parteiführer gehorchen. Es ist leicht, ihren Racenhaß und ihre Vorurtheile gegen die Neger, auf deren Befreiung es ankommt, durch die Verleumdung zur Siedehitze anzuflammen, daß die Schwarzen blos befreit werden sollen, um die weißen Arbeiter mehr und mehr zu versclaven. Der größte Blödsinn wird solchen Menschen glaublich, wenn er recht oft wiederholt wird, und im Entstellen, Lügen und Verleumden haben die „demokratischen“ Häuptlinge durch langjährige Uebung eine seltene Meisterschaft. Es ist endlich der größte Theil der katholischen Geistlichkeit mit ihrem tiefgehenden Einflusse lebhaft an der „demokratischen“ Partei interessirt, wie der weit überwiegende Theil der protestantischen an der Antisclavereipartei; auch sind solche rohe Massen der Bestechung nicht unzugänglich – und man vermuthet, daß im jetzigen Wahlkampfe Jefferson Davis, die englische Aristokratie, Louis Bonaparte und die Rothschilds große Summen zu solchem Behufe verwenden.

Die Aussicht ist, daß trotzdem Mc. Clellan geschlagen, Lincoln wiedererwählt wird. Es haben, da von den wiedereroberten Sclavenstaaten nur Maryland, Delaware, Westvirginien, Kentucky und Missouri stimmberechtigt sind, fünfundzwanzig von den sechsunddreißig Staaten abzustimmen, von denen alle für Lincoln sicher scheinen, außer New-Jersey, Kentucky, Indiana, Illinois und Missouri; selbst diese aber mögen noch für Lincoln gewonnen werden. Von den vierthalb Millionen Wählern dieser fünfundzwanzig Staaten werden allem Anscheine nach zwei Millionen und darüber für Lincoln’n Wiederwahl und nicht volle anderthalb Millionen für Mc. Clellan’s Präsidentschaft stimmen. Von den 231 Wahlmännem, welche von diesen Wählern zu wählen sind, um den Ausfall der Volkswahl festzustellen, werden höchst wahrscheinlich 178, ja vermuthlich nahezu alle Lincoln-Männer sein. Man würde aber sehr irren, wenn man glaubte, daß Lincoln wirklich der Mann der freien Wahl jener zwei Millionen sei; es wird der Wahrheit viel näher kommen, wenn man annimmt, daß nicht der vierte Theil derselben ihn zu ihrem Candidatcn ausersehen haben würde, wäre eine andere Wahl möglich gewesen. Sein Mangel an Bildung, seine übermäßige Bedächtigkeit, seine Abneigung gegen die radicalen Sclavereifeinde und deren Politik, seine Schwäche, die ihn zum Werkzeuge Anderer, besonders den Staatssecretair Seward macht, vor Allem aber die Rücksichtslosigkeit, mit welcher er seit Jahren auf seine Wiederwahl hinarbeitet und dafür dem Lande ganz unersetzliche Menschen- und Geldopfer auferlegt hat – dies entfremdete ihm frühzeitig gerade den gebildetsten und edelsten Theil seiner Partei, welcher daran dachte, entweder Fremont, oder den gewesenen Finanzsecretair Chase, oder den gescheidten General (früher Advocaten) Butler als Candidaten der Freiheitspartei aufzustellen. Noch Ende August waren die Aussichten Lincoln’s auf Wiederwahl entschieden ungünstig; seitdem haben die großen Siege Sherman’s bei Atlanta, Farragut’s bei Mobile und Sheridan’s im[WS 1] Shenandoahthale die fast verzweifelte Stimmung aller Patrioten sehr gehoben. Diese Siege, die begründete Hoffnung, daß der Krieg in der Hauptsache noch diesen Herbst zu Ende gehen werde, und ein fast romantisches Zusammentreffen verschiedener Lincoln günstiger Umstände und in seinem Interesse angesponnener Intriguen, deren Schilderung wir auf einen nächsten Artikel verschieben müssen, haben binnen wenigen Wochen einen Wahlsieg Lincoln’s am 8. November außer aller Frage gestellt.

Die Wiederwahl Lincoln’s bedeutet trotzdem nicht einen Sieg der Intrigue, der Corruption und des gouvernementalen Einflusses über den gesunden republikanischen Sinn des ihn wählenden Volkstheiles – nichts weniger als das; denn die große Masse der „Administrations“-Partei ist der sittlich und geistig ehrenwertheste Theil des Volkes. Sie ist blos ein Beweis der vollendeten politischen Klugheit des Angloamerikaners und eine glänzende Probe des großartigen Patriotismus, dessen dieser bessere Theil der Nation fähig ist.

Das Räthselhafte, das in diesen Aussprüchen liegen könnte, klären wir das nächste Mal auf.

New-York, 25. September 1864.
Adolph Douai. 




Blätter und Blüthen.

Alexander Dumas. Unter seinen vielen geselligen Tugenden besitzt Alexander Dumas Vater auch die, ein ganz vortrefflicher Koch zu sein. Er versteht wirklich die edle Kochkunst aus dem Grunde, und nichts ist spaßhafter, als ihn kochen zu sehen. Mit vorgebundener Küchenschürze, in der ein langes Küchenmesser steckt, steht er hochaufgerichtet da, überwacht die Kasserole und die Tiegel, wirft hier ein wenig Pfeffer in eine Speise, schöpft dort die Bouillon in einem Topfe ab, schwingt den Rührlöffel, macht Witze, erzählt Anekdoten, stellt culinarische Thesen auf – es ist eine wahre Komödie, bei der man aus dem Lachen nicht herauskommt. Früher machte er auch alle seine Einkäufe selbst und begab sich wöchentlich mehrmals nach den Hallen, um die nothwendigen Küchenbedürfnisse herbeizuschaffen. Die „Damen der Halle“ (vulgo: Fischweiber, [704] Obst- und Gemüseverkäuferinnen etc.) kannten ihn alle sehr wohl, und sein Erscheinen war ihnen ein Fest. Sie eilten ihm entgegen, umringten ihn, schmeichelten ihm, und er nahm die Huldigungen dieser Grazien sehr gnädig an und erzählte ihnen zum Dank rührende Geschichten oder lustige Anekdoten, die sodann wahre Ströme von Thränen oder endloses homerisches Gelächter unter den reizenden Zuhörerinnen hervorriefen. Eines Tagen aber wäre ihm von diesen Damen beinahe ein schlimmer Handel bereitet worden; bei seiner Ankunft in den Hallen empfing ihn nicht die gewohnte lärmende Begeisterung, sondern ein wahrer Hagel von Vorwürfen und sogar Drohungen. Er hatte nämlich gerade seine „Musketiere“ vollendet und Porthos von einem Felsblock erdrückt sterben lassen. Diese Todesart für den braven, den guten, den edeln Porthos hatte die weichen Gemüther und die empfindsamen Seelen der Damen der Halle dermaßen empört und verletzt, daß sie den Urheber diesen entsetzlichen Verbrechens dafür züchtigen wollten. Nur durch die schleunigste Flucht konnte sich der hart bedrängte Schriftsteller der Rache der wüthend auf ihn einstürmenden Amazonen entziehen.

Alexander Dumas ist ein unverwüstlicher und unermüdlicher Arbeiter; die Arbeit ist ihm Freude und Bedürfniß, seine schöpferische Kraft ruht nie. Er steht regelmäßig sehr zeitig auf und arbeitet Jahr aus Jahr ein täglich zwölf bis vierzehn Stunden. Es ist höchst interessant, ihn in seinem Arbeitscabinet zu beobachten. Möglichst leicht bekleidet – in Hemdärmeln, leinenem Beinkleid, Pantoffeln – sitzt er an seinem Schreibtisch, die Feder fliegt über das Papier, er schreibt schön und deutlich, streicht nie aus; macht sich ja einmal eine Correctur nöthig, so nimmt er sofort einen frischen Bogen, da er in seinen Manuskripten durchaus keine Striche dulden will. Seit dreißig Jahren bedient er sich derselben Papiersorte in blauer Farbe, zur Schonung der Augen, wie er sagt. Da seine Thür den ganzen Tag hindurch ohne Unterlaß von Freunden, Bekannten und wohl auch von Zudringlichen belagert ist, so wird er sehr oft gestört, und ich habe häufig bewundert, mit wie liebenswürdiger Geduld er sich derartige Unterbrechungen gefallen läßt. In der Regel schreibt er ganz ruhig weiter und blickt gar nicht vom Papiere auf, hört, was man ihm sagt, giebt Antwort darauf, aber schreibt dabei immer fort. Wenn die Unterbrechungen zu häufig werden und die Schaar der Besucher sich in bedenklicher Weise vermehrt, so bittet und fleht er endlich, daß man ihn allein lassen solle; hilft indeß das Flehen nichts, so wird er endlich heftig, faßt verzweiflungsvoll seinen Kopf mit beiden Händen und erklärt, daß sein Zimmer geräumt werden müsse. Diese Zornesausbrüche sind aber bei ihm höchst selten, und sogar in seiner Verzweiflung ist er noch liebenswürdig und spaßhaft.

Um ein Uhr frühstückt er und um sechs Uhr speist er zu Mittag. Da sein Haus für seine zahlreichen Freunde und Bekannten stets gastfrei geöffnet ist, so finden sich zu den Mahlzeiten immer sehr viele Gäste ein, und je zahlreicher der Tisch besetzt ist, desto heiterer und vergnügter wird Dumas. Er entfaltet seine ganze Liebenswürdigkeit, seinen unauslöschlichen Humor und ist der angenehmste und geistreichste Wirth. Er selbst ist überaus mäßig, ißt sehr wenig und trinkt noch weniger, aber freut sich wie ein Kind, wenn seine Gäste seiner Küche und seinem Keller Ehre machen. Nach beendeten Mahlzeiten zieht er sich sogleich wieder in sein Arbeitszimmer zurück und schreibt oft bis spät in die Nacht. Während des Tages geht er nur selten aus; er besucht die große Welt gar nicht, weist fast alle Einladunqen zurück, besucht die Theater nur höchst selten und vermeidet alle officiellen Feste. Dagegen hält er, wie ich bereits gesagt habe, offenes Haus und freut sich, wenn die Gäste recht zahlreich bei ihm einsprechen. Wie sein Haus, so steht auch seine Börse seinen Freunden immer großmüthig offen, und man muß ihm fast den Vorwurf machen, daß er in dieser Beziehung allzu freigebig ist; er gehört zu denen, die nicht „nein“ sagen können, und so wird er oft das Opfer seines guten Herzens. Dumas ist kein Financier; das weiß übrigens die ganze Welt. Indessen verzeiht man dem liebenswürdigen Manne gern diese Schwäche, die durch tausend andere seiner vortrefflichen Eigenschaften wieder aufgewogen wird. Seine Werke werden ihm übrigens, wie sich von selbst versteht, ganz vortrefflich bezahlt, ja mit Gold aufgewogen; man honorirt ihn nach den Buchstaben und zwar so, daß jeder Buchstabe, den er schreibt, mit einem Centime berechnet wird. Die Schriften von George Sand sind die einzigen, die nach demselben Modus honorirt werden. Trotz dieser brillanten Bezahlung und trotz seines wirklich riesenhaften Fleißes befindet sich doch seine Casse selten in glänzenden Umständen, und namentlich in früheren Zeiten sah er sich zuweilen genöthigt Paris zeitweilig zu verlassen, um einem gezwungenen Aufenthalte in Clichy (dem Schuldgefängnisse) zu entgehen. Es existiren zahlreiche Anekdoten über die geistreiche Art, auf welche der große Romancier sich stets aus solchen momentanen Klemmen zu helfen wußte, und namentlich auch über die Mittel, die er anwandte, um sich die Gerichtsboten, die ihn unbarmherzig verfolgten, vom Halse zu schaffen. Eines Tages erzählt man ihm, daß ein solcher Gerichtsbote, der ihm gerade viel zu schaffen gemacht hatte, im tiefsten Elend gestorben sei und man nicht wisse, wovon man ihn begraben lassen solle.

„Wie viel kostet das Begräbniß?“ fragt Dumas.

„Vierzig Francs!“ ist die Antwort.

„Hier haben Sie achtzig Francs,“ sagte Dumas, „dafür können Sie gleich zwei solcher verdammter Kerle begraben lassen!“

Zur Vervollständigung dieser kurzen Skizze will ich die nachstehende Zusammenstellung mittheilen, die Alexander Dumas bereits vor sechszehn Jahren selbst aufstellte und die ich seinen Memoiren entlehne:

„Ich habe zwanzig Jahre hindurch täglich zehn Stunden gearbeitet; das ergiebt 73,000 Arbeitsstunden. Während dieser zwanzig Jahre habe ich 400 Bände Romane und 35 Schauspiele geschrieben. Die Romane haben eine Summe von 11,853,000 Francs eingetragen, die also zu vertheilen sind:

Den Setzern 261,000 Francs.
00 Druckern 528,000 Fr
00 Papierhändlern 633,000 Fr
00 Bücherheftern 120,000 Fr
00 Buchhändlern 2,400,000 Fr
00 Unterhändlern 1,600,000 Fr
00 Commissionären   1,600,000 Fr
00 Messagerieen 100,000 Fr
00 Leih-Bibliotheken 4,580,000 Fr
00 Zeichnern 28,000 Fr
Sa.: 11,853,000 Francs.

Meine Schauspiele haben die Summe von 6,360,000 Francs eingetragen, die sich also vertheilt:

Den Directoren 1,400,000 Francs.
00 Schauspielern 1,225,000 Fr
00 Decorateuren 210,000 Fr
00 Costumiers 140,000 Fr
00 Theaterbesitzern   700,000 Fr
00 Comparsen 350,000 Fr
00 Feuerwächtern 70,000 Fr
00 Holzhändlern 70,000 Fr
00 Schneidern 50,000 Fr
00 Oelhändlern 525,000 Fr
00 Pappenhändlern 60,000 Fr
00 Musikern 257,000 Fr
00 Armen 630,000 Fr
00 Zettelträgern 80,000 Fr
00 Kehrweibern 20,000 Fr
00 Versicherungs-Gesellschaften 60,000 Fr
00 Controleuren   140,000 Fr
00 Maschinisten 180,000 Fr
00 Friseuren 93,000 Fr
Sa.: 6,260,000 Francs.


Wenn ich einen täglichen Arbeitslohn zu 3 Francs anschlage und das Jahr mit 300 Arbeitstagen berechne, so haben meine Bücher während zwanzig Jahren 692 Personen ernährt. Meine Schauspiele haben während zehn Jahren in Paris 347 Personen, in der Provinz 1111 Personen, zusammen 1458 Personen ernährt. Somit haben meine Bücher und meine Schauspiele im Durchschnitt 2160 Personen ernährt.“

Diese Zahlen sprechen! sie zeugen für ein reiches, thätiges Leben. Wie man auch über Alexander Dumas denken, wie man sein Talent und seine Muse beurtheilen möge, so wird man doch seinem Fleiße, seiner unermüdlichen Thätigkeit und schöpferischen Kraft alle Anerkennung zollen müssen; ganz ebenso, wie alle Jene, die das Glück haben, ihn persönlich zu kennen, sich dem Zauber seiner unwiderstehlichen Liebenswürdigkeit nicht zu entziehen vermögen. Zum Schluß noch folgender charakteristische Zug, der den Verehrern des geistreichen Schriftstellers die beruhigende Gewißheit verschaffen wird, daß er sich sehr wohl befindet und ein hohes Alter zu erreichen hofft.

Dumas hatte den Wunsch nach einem Landaufenthalte ausgesprochen, und einige seiner Freunde hatten in der Nähe von Paris ein derartiges Absteigequartier für ihn aufgefunden. Er macht sich sogleich auf, um das neue Eldorado in Augenschein zu nehmen. Unterwegs aber bemerkt er ein Landhaus, das ihm sehr gut gefällt und das zu verkaufen steht; er besichtigt es und nach kurzer Unterhandlung kauft er das Haus für 80,000 Francs.

„Das ist aber entsetzlich theuer!“ bemerkt ihm einer seiner Freunde.

„Theuer?!“ entgeguet Dumas, „im Gegentheil, es ist halb verschenkt! Sie müssen freilich wissen, daß ich mir zwanzig Jahre Zahlungsfrist ausbedinge!“

Man darf nicht vergessen, daß Dumas 1802 geboren ist, demnach jetzt in seinem 62. Jahre steht!!



Der Dorfbarbier.
Illustrirtes Volksblatt.
Herausgegeben von Friedrich Hofmann.
Vierteljährlich nur 10 Ngr.
Bisher ein Blatt für „gemüthliche Leser“ und des gemüthlichen Scherzes, des milden Tadels im humoristischen Gewande hat sich derselbe besonders seit seinem neuen Jahrgange mehr und mehr zu einem entschiedenen Parteiblatte umgewandelt und als solches in den liberalen Kreisen allgemeinen Anklang gefunden. Mit Schärfe und Energie wird er fortfahren seine satirische Geißel zu schwingen gegen Alles, was dem Volke sein Recht, seine Ehre und seine Freiheit verkümmern und schänden will, doch auch in ernsten Mittheilungen das große Publicum in einfacher und Jedermann verständlicher und anziehender Sprache über seine theuersten und wichtigsten Interessen aufzuklaren suchen und überall mit Entschiedenheit auftreten, wo Kampf Pflicht und von Nöthen ist. Den[WS 2] Lesern der „Gartenlaube“ ist übrigens der Name des neuen Herausgebers durch so manchen anziehenden Artikel hinlänglich bekannt.
Die Verlagshandlung von Ernst Keil in Leipzig.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: in
  2. Vorlage: Der