Die Gartenlaube (1865)/Heft 1

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Textdaten
>>>
Autor: Verschiedene
Illustrator: {{{ILLUSTRATOR}}}
Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
aus: Vorlage:none
Herausgeber: Ernst Keil
Auflage: {{{AUFLAGE}}}
Entstehungsdatum: 1865
Erscheinungsdatum: 1865
Verlag: Ernst Keil
Drucker: {{{DRUCKER}}}
Erscheinungsort: Leipzig
Übersetzer: {{{ÜBERSETZER}}}
Originaltitel: {{{ORIGINALTITEL}}}
Originalsubtitel: {{{ORIGINALSUBTITEL}}}
Originalherkunft: {{{ORIGINALHERKUNFT}}}
Quelle: commons
Kurzbeschreibung: {{{KURZBESCHREIBUNG}}}
{{{SONSTIGES}}}
Eintrag in der GND: {{{GND}}}
Bild
Bearbeitungsstand
fertig
Fertig! Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle Korrektur gelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Um eine Seite zu bearbeiten, brauchst du nur auf die entsprechende [Seitenzahl] zu klicken. Weitere Informationen findest du hier: Hilfe
Indexseite

[1]

No. 1.   1865.
Die Gartenlaube.


Illustrirtes Familienblatt.Herausgeber Ernst Keil.


Wöchentlich 1½ bis 2 Bogen. 0Durch alle Buchhandlungen und Postämter vierteljährlich für 15 Ngr. zu beziehen.




Der Richter.
Nach brieflichen Mittheilungen. 0Von J. D. H. Temme.


1.0 Der Ruf der Nachteule.

In einem anmuthigen Bergkessel, nicht weit von dem freundlichen Friedrichshafen am Bodensee, liegt das kleine Dorf Schönthal. Die Berge umher, die es einschließen, sind nicht zu hoch und dachen sich meist allmählich ab. So scheint die Sonne schon früh des Morgens in das Dörfchen hinein, und ihre letzten Strahlen verschwinden erst wieder, wenn auch jenseits der Berge der Abend bald anbrechen will. Das Dörfchen ist wohlhabend; seine hellen hübschen Häuser, die freundlichen Gärten vor und neben diesen zeigen es. Ein klarer Bach rauscht an dem Orte vorüber und verliert sich dann zwischen Weiden und Gebüsch in die grünen Wiesen, die sich ringsum ausbreiten. Die Berge sind mit Waldung bedeckt und die Bäume ziehen sich bis unten in die Schlucht hinein, wo sich buntes Buschwerk anschließt. Ersteigt man die Berge, so hat man oben auf der Höhe die reizendste Aussicht und weiß nicht, soll man den Blick lieber wenden in die stille Schlucht mit den hellen Häusern, den freundlichen Gärtchen, den grünen Wiesen, dem blauen Bache, der zwischen dem Allen sich hindurchschlängelt, oder hinaus in die weite Ferne jenseits der Berge, zurück in die fruchtbaren Ebenen und holzreichen Gebirge des Württemberger Landes, vorwärts auf den mächtigen grauen Bodensee, über ihn hinweg in die hoch zu den Wolken hinaufragenden Alpen und Schneefirnen der Schweiz, in das Glarner und Appenzeller Land, in das Toggenburg bis weit hinten nach Graubünden hinein.

Zu Ende des Dörfchens in der Schlucht liegt auf einem kleinen Hügel die Kirche, um dieselbe herum der Friedhof, zu dessen Füßen das Pfarrhaus, welches von dem freundlichsten Gärtchen des Dorfes umgeben ist. An einem hellen und warmen Nachmittage des Mai saßen in diesem Gärtchen an der Vorderseite des Hauses der Pfarrer und seine Frau. Es waren ein paar alte Leute. Das lange, etwas lockige Haar des Pfarrers war silberweiß, unter der Mütze der Pfarrerin sahen weiße Löckchen hervor. Sie waren Beide noch rüstig; man sah ihnen die stille Zufriedenheit an, die das lange, ruhige und zufriedene Leben in dem stillen Thale ihrem Innern gegeben hatte. Der Pfarrer las seine Zeitungen und rauchte seine Pfeife. Die Pfarrerin strickte und ließ über das Strickzeug hinweg die Augen durch das Gärtchen, über Dorf und Schlucht zu den Bergen hinaufschweifen. Beide tranken sie ihren Thee; Brod und Himbeeren und Johannistrauben lagen in Schüsseln daneben. So saßen sie an dem kleinen Tische unter dem Schatten eines Kirschbaums, dessen rothe Frucht zu ihnen herunter hing.

Aus dem Hause trat ein junges Mädchen zu ihnen, das siebenzehn bis achtzehn Jahre zählen mochte. Sie war das schönste und reizendste Bild dieses Alters; hoch und schlank gewachsen; die Züge regelmäßig und edel geformt; das ganze Gesicht weiß wie die Blüthe und roth wie die Frucht der Kirsche; die großen dunklen Augen voll träumerischer Gluth - Alles an ihr freundlicher Liebreiz, unbewußter Adel und das selige Glück eines Kindes. Sie war die Tochter des alten Pfarrerpaares; das einzige Kind, das ihnen der Himmel erst in später Ehe geschenkt hatte, war sie zugleich der Augapfel, das Glück der Eltern.

„Darf ich meinen Spaziergang machen?“ fragte sie.

„Wohin heute?“ fragte der Vater nur zurück.

„Zu dem Ahornberge nach dem See hin.“

Der Vater nickte.

„Du bleibst doch nicht zu lange?“ fragte die Mutter.

„Vor Sonnenuntergang bin ich wieder da, Mütterli.“

Sie kehrte in das Haus zurück, um Hut und Tuch zu dem Spaziergange anzulegen. Die beiden Eltern sahen ihr mit dem vollen Glücke ihrer Herzen über das liebliche Kind nach.

„Wie schön sie ist!“ sagte die Mutter.

„Und wie brav!“ sagte der Vater.

„Und wie freundlich und kindlich und liebevoll gegen uns!“ sagten sie alle Beide.

„Wenn sie einmal von uns müßte, Vater! Wenn ein Mann sie in die Fremde holte!“

„Sie ist noch jung.“

„Aber sie kann alle Tage heirathen.“

„Sie könnte auch hier bei uns bleiben, Mutter.“

„Wer wäre in diesem Dorfe ein Mann für sie?“

„Mein Nachfolger zum Beispiel. Ich bin alt, ich könnte mir einen tüchtigen jungen Geistlichen adjungiren lassen.“

Die Pfarrerin antwortete nicht; sie sah auf ihre Stricknadeln nieder, aber mit einem eigenthümlichen Ausdrucke ihres Gesichts. Und dieser Ausdruck schien zu sagen: „Das Kind ist so besonders schön, ist so brav und edel, hat die vortreffliche Ausbildung in der Pensionsanstalt zu Canstatt erhalten und sollte als Pfarrerin in dem kleinen Dorfe, in der engen Schlucht versauern!“

Sie selbst hatte als Pfarrerin in dem kleinen Dorfe und in der engen Schlucht ein langes Leben voll Glück und Zufriedenheit verlebt; aber das Mutterherz hat seine besonderen Pläne und Hoffnungen und Träume. Sie wurde in ihren Hoffnungen und Träumen unterbrochen. Aus einem der Berge, die das Thal umgaben, ertönte der schrille Schrei einer Eule; die länger gezogenen [2] melancholischen Töne des Vogels der Nacht folgten. Es dauerte nur ein paar Secunden; dann war Alles still. Der Pfarrer blickte unmuthig in die Gegend, aus der die Töne kamen.

„Das ist nun schon seit vierzehn Tagen,“ sagte er verdrießlich.

„Und so früh, noch am hellen Tage,“ sprach die Pfarrerin; aber weniger verdrießlich.

„Das Thier ärgert mich,“ fuhr der Pfarrer fort. „Ich bin nicht abergläubisch, aber der Schrei der Nachteule war mir immer widerwärtig.“

„Mich ängstigt er,“ meinte die Frau; „aber nur des Nachts, wenn Alles still ist, oder wenn der Wind heult.“

Sie sprachen nicht weiter darüber. Der Pfarrer las, die Pfarrerin strickte wieder. Sie sah aber auch wieder über das Strickzeug hinweg, und da gewahrte sie etwas, worüber ein neues Gespräch der alten Leute sich entspann. Oben an der Kirche über dem Pfarrhause stand ein junger Mann in der eleganten Kleidung der Touristen; es war eine hohe Gestalt, von stolzer Haltung.

„Da ist der fremde Herr wieder,“ sagte die Pfarrerin. „Wer er nur sein mag? Er muß nun schon seit vier bis fünf Wochen in der Gegend sein.“

Auch der Pfarrer sah den jungen Mann.

„Er wohnt unten am See in dem Heusser’schen Landhause,“ sagte er.

„Aber wer er sein mag?“ wiederholte die Frau.

„Er nennt sich Bormann.“

„Ja, ja! Aber hinter dem simplen Bormann muß mehr stecken. Er hat das ganze Haus für sich allein gemiethet. Er hält sich Bedienten, Kutscher, Wagen und Pferde; er hat seine Gondeln auf dem See. Alles für sich ganz allein. Er muß sehr reich sein.“

„Er soll ein Kaufmannssohn aus Hamburg sein,“ meinte der Pfarrer, „und in Hamburg sind sehr reiche Kaufleute.“

„Das mag sein. Aber er hat so etwas besonders Vornehmes, Stolzes! Wie ein Fürst!“

„Auch die Hamburger Kaufleute werden vornehm und stolz sein können.“

Sie wurden in ihrem Gespräche unterbrochen. Das schöne Mädchen kehrte aus dem Hause zurück. Sie war jetzt in Hut und Shawl und schien eilig zu sein, ihr Gesicht war etwas geröthet. Es war eine so feine Röthe in dem feinen Gesichte. Der weiße runde Hut, den sie trug, warf mit seinem breiten Rande einen so wunderbaren Schatten gegen die Abendsonne darauf. Das Mädchen war wunderbar schön. Sie war eilig; sie machte dennoch den Umweg zu den Eltern, um Abschied von ihnen zu nehmen. Nur für eine Stunde. Zum Sonnenuntergang wollte sie zurück sein. Die Sonne schien nur noch kaum über die Berge der Schlucht herüber; in einer Stunde mußte sie auch schon jenseits, da hinten über dem oberen Bodensee, untergegangen sein.

„Bis nachher,“ sagte sie freundlich.

„Bis nachher, Johanna,“ sagten freundlich die beiden alten Leute.

Sie ging. Sie ging so glücklich.

„Du bleibst doch nicht zu lange?“ rief ihr die Mutter noch nach. Die besorgliche Frau hatte es ihr schon vorhin gesagt.

„Nein, nein, lieb Mütterli!“

Und das schöne Mädchen wandte sich noch einmal um, während sie diese Worte rief. Und sie sahen noch einmal das schöne, blühende Gesicht, die dunklen Augen, die in diesem Momente nicht träumten, sondern hell glänzten in Glück, in Ahnung, in Verlangen.

„Wie schön und brav sie ist!“ sagte die Mutter noch einmal.

„Mein Gott, wenn wir das Kind verlieren müßten!“ rief auf einmal die Mutter. Sie war blaß geworden.

„Mutter, wie kommst Du auf den Gedanken?“

Die Pfarrerin antwortete nicht, aber sie war blaß geblieben. Und so war sie noch lange und suchte es dem Manne zu verbergen. Sie wußte ja selbst nicht, was es war; sie hatte wohl eine Ahnung, aber auch für diese keinen Grund.

Der Pfarrer ging in das Haus, um noch an seiner Predigt für morgen zu studiren, denn es war Sonnabend. Die Pfarrerin saß allein in dem Gärtchen. Der Gedanke: wenn wir das Kind verlieren müßten, wollte sie nicht wieder verlassen und machte ihr das Herz schwerer und schwerer.

Die Sonne war untergegangen. Unten in der Schlucht war es schon dunkel. Der alte Pfarrer in seinem Studirstübchen arbeitete schon bei der Studirlampe. Die Pfarrerin saß noch unter den rothen Kirschen in dem Gärtchen vor dem Hause. Die Stricknadeln ruhten vor ihr auf dem Tische. Sie blickte zu dem Abendhimmel hinaus, an dem noch einzelne goldene Wolken ruhten. Sie sah den Weg hinunter, den ihre Tochter zurückkommen mußte. Die Sonne war schon untergegangen und noch vor Sonnenuntergang hatte das Mädchen zurück sein wollen. Es wurde dunkler; die Wolken hatten nur noch oben einen hellen Saum. Die Pfarrerin wurde unruhig.

„Wo das Kind bleiben mag?“

Die Wolken oben am Himmel waren grau geworden, unten in der Schlucht lag der volle dunkle Abend. Die Pfarrerin litt es nicht mehr auf ihrem stillen, einsamen Platze. Sie ging in das Haus, in das Studirstübchen ihres Mannes.

„Vater, die Johanna ist noch nicht wieder da.“

Der Pfarrer war noch am Studiren. Seine Gedanken waren in seinen Büchern.

„Sie wird schon kommen,“ sagte er.

Die Frau wagte nicht, ihn weiter zu stören. Sie ging in die Küche zu den Mägden, in die Scheune zu dem Knechte.

„Habt Ihr die Johanna nicht gesehen?“

Niemand hatte sie gesehen. Sie kehrte in das Gärtchen vor dem Hause zurück und ging bis an das Pförtchen. Sie sah, sie horchte in den Weg hinein, den das Mädchen vorhin gegangen war, den es zurückkommen mußte. Sie sah, sie hörte nichts. Es wurde ihr heiß.

„Mein Gott, wo bleibt das Kind? Es ist ihr doch nichts zugestoßen? Dort, in dem dunklen Wege!“

Sie ging wieder in das Haus, in die Küche, in die Scheune, zu den Mägden, zu dem Knechte.

„Das Kind ist noch immer nicht wieder da. Geht doch in das Dorf, nach ihr zu fragen, ob kein Mensch sie gesehen hat. Sie wollte zum Ahornberge und schlug den Weg dahin ein.“

Die Leute gingen in das Dorf. Sie selbst ging in die nächsten Nachbarhäuser, aber sie fand Niemanden, der ihr Kind gesehen hatte. Die Domestiken kehrten zurück. Im ganzen Dorfe hatte kein Mensch von dem Fräulein etwas gesehen oder gehört. Sie ging wieder zu ihrem Manne hinauf.

„Vater, die Johanna ist noch immer nicht wieder da. Im ganzen Dorfe weiß kein Mensch von ihr.“

Die Gedanken des Pfarrers verließen seine Bücher.

„Unser Kind? Johanna? Es ist ja neun Uhr! Sie hätte seit zwei Stunden zurück sein müssen!“

„Ja, Vater, und ich habe eine so entsetzliche Angst. Wenn das Kind nicht wiederkehrte!“

„Wie kommst Du auf den Gedanken, Mutter?“

„Schon seit einigen Tagen war es mir so besonders. Vorgestern war ich mit ihr oben an der Kirche. Wir sahen auf den Kirchhof herunter, auf die Gräber, die vor uns lagen, auch auf die Ruhestätte, die wir beiden alten Leute für uns bestimmt haben. Da wurde es mir auf einmal so schwer auf dem Herzen. ‚Johanna,‘ sagte ich, ,Deine Liebe sollte uns dahin geleiten. Wenn nur fremde Menschen an unserem Sarge stehen, zu dem Grabe da unten uns das Geleite geben müßten, unser Kind dort nicht für uns beten dürfte?’

‚Dürfte, Mutter?‘ rief sie. ‚Wie wäre das möglich?‘

Sie war mir seit einiger Zeit so sonderbar vorgekommen. Sie hatte etwas auf dem Herzen und wollte es mir manchmal sagen. Sie konnte es nicht. Darüber hatte ich nachdenken müssen, als ich zu den Gräbern hinunterblickte. Da hatte ich ihr das Wort gesagt. Es erschreckte sie.

‚Mutter, wie wäre das möglich?‘ rief sie.

‚Sieh mich an, Johanna,‘ sagte ich. ‚Hast Du etwas, das Du mir nicht sagen kannst?‘ Sie konnte mich nicht ansehen. Sie war blaß geworden. ‚Johanna, was ist es mit Dir?‘ fragte ich sie. Sie fiel mir weinend an die Brust.

,O meine liebe Mutter,’ sagte sie, ‚vertraue mir, vertraue Deinem Kinde, das immer Gott und seine Eltern vor Augen haben wird.‘

Ich konnte nicht weiter in sie dringen. Hätte ich es gethan!“

„Du hast mir nichts davon erzählt, Mutter,“ sagte der Pfarrer.

[3] „Ich wollte Dich nicht beunruhigen. Und jetzt ist unser Kind fort, und wir haben die Todesangst.“

Sie erzählte, wie sie es vergeblich gesucht habe. Er warf sich in die Kleider.

„Ich werde sie selbst suchen, mit dem Knecht.“

Er ging mit dem Knecht, sein Kind zu suchen. Sie erstiegen den Ahornberg und fanden sie nicht; sie fanden keine Spur, daß sie dagewesen sei.

„Johanna! Johanna, mein Kind!“ rief er in den Berg, in die Schlucht, in die Berge umher hinein.

„Fräulein Johanna!“ rief der Knecht.

Sie erhielten keine Antwort. Sie durchirrten den Berg auf allen seinen Seiten. Sie erstiegen die benachbarten Berge und riefen: „Johanna, Johanna, mein Kind!“ „Fräulein Johanna!“ Sie erhielten keine Antwort; sie fanden keine Spur der Verschwundenen und kehrten endlich zum Dorfe zurück.

„Biete das ganze Dorf auf, sie zu suchen,“ sagte der Pfarrer zu dem Knechte. Ihn selbst hatten Angst und Anstrengung erschöpft. Der alte Mann sah aus wie eine Leiche. Seine Füße trugen ihn nicht mehr.

Der Knecht geleitete ihn nach Hause, bot dann das Dorf auf, das Kind des Pfarrers zu suchen. Die Leute liebten den Pfarrer und sein Kind. Das ganze Dorf machte sich mit dem Knecht auf, in die Nacht, in die Berge, die Verlorene zu suchen. Die Pfarrerin saß in ihrem Stübchen vor einem Gebetbuche. Der leichenblasse Greis trat zu ihr ein.

„Unser Kind ist fort, Mutter.“

Er fiel in seiner Erschöpfung nieder. Die schwache Frau tröstete den Mann.

„Vater, es lebt ein Gott im Himmel. Er wird uns unser Kind wiedergeben.“

Die beiden alten Leute saßen die ganze Nacht, verzagend und hoffend, hoffend und verzagend. Kein Schlaf kam in ihre Augen. Als der Morgen anbrach, erhielten sie Nachricht. Ein Mann vom See kam in die Pfarrei.

„Sie suchen Ihre Tochter, Herr Pfarrer. Vielleicht kann Folgendes Sie auf die Spur führen. Ich bin Nachbar des Heusser’schen Landhauses, in dem der fremde, reiche, junge Herr wohnt, Bormann soll er heißen, und aus Hamburg soll er sein. Gestern Abend, als es schon dunkel war, sah ich, wie der Bediente des Herrn dessen kleine Segelgondel, die er unterm Hause in der Bucht liegen hat, fertig machte. Ich fragte ihn, wohin er noch im Dunkeln fahren wolle. Er sagte, sein Herr wolle noch eine Spazierfahrt auf dem See machen. Er legte Kissen zum Sitzen hinein, machte die Segel zurecht, legte ein paar Ruder hinzu, für den Fall, daß kein Wind sei. Als er fertig war, ging er in’s Haus. Ich blieb, weil ich nichts zu thun hatte, in der Nähe stehen. Es dauerte lange, bis Jemand wiederkam; und da kam der junge Herr nicht allein, es war ein Frauenzimmer bei ihm. Erkennen konnte ich sie nicht; es war dunkel und ich mochte nicht nahe herangehen; ich glaubte nur zu sehen, daß sie eine große Gestalt war. Sie gingen zu dem Schiff; er sprang zuerst hinein; dann reichte er ihr die Hand und sie folgte ihm. Sie sprachen, soviel ich hören konnte, nichts mit einander. Die Beiden waren ganz allein. Er nahm die Ruder, stieß vom Lande ab und ruderte mitten in den See hinein. In der Finsterniß und in dem Nebel, der schon auf dem Wasser lag, kamen sie mir bald aus den Augen. Ich dachte noch darüber nach, wer das Frauenzimmer gewesen, und wohin er am späten, dunklen Abende mit ihr gefahren sein könne, als der Diener wiederkam, der den Nachen zurecht gemacht hatte. Er schien aus Neugierde hergekommen zu sein. Ich trat an ihn heran. ‚Wer war das Frauenzimmer, mit dem der Herr abfuhr?‘ Auch er wußte es nicht.

„Der Herr, erzählte er mir, war nach Dunkelwerden nach Hause gekommen. Niemand hatte ihn ankommen sehen. Er hatte dem Diener befohlen, das Segelschiff zu einer Spazierfahrt zurecht zu machen. Als der Diener zurückkam, fand er die sämmtlichen Leute des Hauses um den Herrn versammelt. Er theilte ihnen mit, daß er nach einer am Abend erhaltenen Botschaft auf der Stelle abreisen müsse und nicht wiederkehren werde. Er bezahlte ihnen Allen ihren Lohn aus und empfahl ihnen die Sorge für das Haus, dessen Eigenthümer morgen kommen und es wieder in Besitz nehmen werde. Die Miethe für Haus und Mobiliar war schon für den Monat vorausbezahlt. Dann nahm er Abschied von den Leuten. Er werde in dem Segelschiff abfahren; er werde selbst fahren; Niemand solle ihn zu dem Schiff begleiten. Damit war der Herr gegangen. Niemand war ihm gefolgt. Nur ein Stubenmädchen hatte ihm nachgesehen. Er war zuerst wieder in sein Zimmer gegangen. Aus diesem war er fast unmittelbar darauf zurückgekehrt; aber nicht allein; es war eine Dame in Hut und Shawl mit ihm gewesen. In der Dunkelheit hatte das Mädchen sie nicht näher erkennen können. Mit der Dame hatte er das Haus verlassen.“

Das hatte der Diener dem Manne vom See erzählt; das erzählte dieser dem Pfarrer und der Pfarrerin wieder.

„Der fremde Herr,“ setzte der Mann noch hinzu, „muß unermeßlich reich gewesen sein; er war auch nichts weniger als geizig. Aber dennoch war er bei Keinem von seinen Leuten beliebt. Er war hochmüthig, herrisch, er war hart gegen sie; sie sagen, er habe kein Herz. Ich mußte Ihnen das Alles mittheilen, Herr Pfarrer,“ schloß der Mann. „Was Sie sich daraus entnehmen wollen, müssen Sie wissen.“

Die unglücklichen Eltern wußten es. Sie hatten den Fremden in der Nähe des Pfsarrhauses, sie hatten ihn dann wartend oben an der Kirche gesehen, sie hatten jenes auffallende Eulengeschrei gehört, jetzt ahnten sie, daß es das Signal gewesen war, welches ihrem Kinde galt. Ihr unschuldiges, reines Kind freilich, seine Unbefangenbeit –! Aber wer mag unthätig zurückschauen, wo das schleunigste Handeln zur Rettung Noth thut? War ihr Kind zu retten?

Sie verfolgten die Spur, die sie gefunden hatten. Sie war freilich in demselben Augenblicke wieder verloren. Aber sie fanden sie bald wieder, in Schaffhausen. Am frühen Morgen war das kleine Segelschiff dort angekommen, mit einem Herrn und einer Dame. Der Herr hatte das Schiffchen dem ersten besten Schifferburschen geschenkt, war dann mit der Dame zum Eisenbahnhof gegangen und hatte hier mit ihr gefrühstückt. Mit dem ersten Zuge der Eisenbahn waren sie weiter gefahren. Damit war ihre Spur völlig verloren.

Der Pfarrer schrieb nach Hamburg. Man wußte dort nichts von einem Herrn Bormann, welcher der junge, reiche Fremde gewesen sein konnte. Auch keine andere Kunde kam von den Entflohenen, keine einzige; kein Brief, keine Zeile, kein anderes Lebenszeichen der Tochter an ihre verzweifelnden Eltern.


2. Die Nacht in der Buchhauser Linde.

Fünf Monate später, an einem kalten, dunklen Octoberabend, hielt im mittleren Deutschland vor einem einsam an der Chaussee gelegenen Wirthshause eine mit vier Pferden bespannte Extrapost. Es war ein eleganter, fest verschlossener Reisewagen. Der Postillon stieg vom Pferde, ging an den Wagen und rief zu dem Fenster desselben, das nicht geöffnet wurde, hinauf:

„Wir sind an der Buchhauser Linde!“

„Gut!“ wurde aus dem Innern des Wagens von einer männlichen Stimme geantwortet.

Der Postillon ging in das Wirthshaus, das man die Buchhauser Linde nannte. Er war bekannt in dem Hause; er fuhr den Weg oft. In der Wirthsstube unten traf er den Wirth.

„Kann heute Nacht eine Herrschaft bei Euch logiren, Lindenwirth?“

„Warum nicht? Dafür ist die Buchhauser Linde da.“

„Aber es ist etwas Vornehmes!“

„Desto besser. Wie viele sind ihrer?“

„Ein Herr und eine Dame. Es sind junge Leute; sie scheinen mir auf der Hochzeitsreise zu sein; und vornehm sind sie auch, denn sie befehlen und bezahlen gehörig. Der Herr wenigstens. Donner, was kann der commandiren, und immer oben vom höchsten Stock herab. Dann wirft er aber auch mit den Thalern nur wieder so um sich. Die arme Frau freilich –“

„Was ist es mit der Frau?“ fragte der Wirth.

„Die saß immer still vor sich hin. Sie hat eigentlich kein Wort gesprochen. Nun, sie ist auch krank, oder unwohl, wie der Herr sagt. Sie hatte den ganzen Weg über Kopfweh; sie war damit schon auf der Station angekommen. Darum mußte ich langsam fahren, und darum halten wir auch hier an und machen hier Nachtquartier. Vor einer halben Stunde schon fragte mich der Herr, ob wir nicht bald an ein ordentliches Wirthshaus kämen, [4] wo man zu Nacht bleiben könne; seine Frau halte es bis zur nächsten Station nicht mehr aus. Ich sprach ihm von der Buchhauser Linde. Ich mußte ihm über Alles Bescheid geben, wo das Haus liege, ob die Wirthsleute ordentliche Leute seien, ob man hier gut logire. Und als er Alles wußte, befahl er mir, hier zu halten und Nachtquartier zu bestellen. Ich soll mit den Pferden bleiben, damit es morgen früh gleich weitergehen kann!“

„Wie heißt die Herrschaft?“ fragte der Wirth noch. „Und wo sind sie her?“

Der Postillon wußte es nicht.

„Der Name steht in meinem Begleitezettel; aber ich habe wahrhaftig nicht danach gesehen. Es wird ja auch nicht darauf ankommen, Lindenwirth, wenn sie nur bezahlen.“

So mochte auch der Lindenwirth meinen. „Nummer eins und zwei heizen,“ befahl er einer Magd.

„Oben doch?“ fiel der Postillon ein. „Dem Herrn war besonders daran gelegen, daß seine Frau in der Nacht nicht durch das geringste Geräusch gestört werde; wenn sie an ihren Kopfschmerzen leide, so könne sie nicht vertragen, wenn nur Jemand in ihrer Nähe spreche.“

„Seid ohne Sorgen, Schwager,“ sagte der Wirth. „Sie sind allein da oben, und die ganze Nacht soll sich keine Maus rühren.“

Wirth und Postillon gingen hinaus zum Wagen. Der fremde Reisende war unterdeß ausgestiegen, wohl ungeduldig über das Ausbleiben des Postillons. Er kam den Beiden entgegen.

„Bekomme ich Quartier?“ frug er kurz.

„Zu Befehl, Euer Gnaden.“

„Sind keine Fremden im Hause?“

„Kein Mensch.“

„Ich darf unter keinen Umständen heute Nacht gestört werden!“

„Euer Gnaden dürfen unbesorgt sein. Es werden schon zwei Zimmer für Sie geheizt, die ganz allein liegen.“

„Ich bedarf nur eins.“

„Wie Euer Gnaden befehlen.“

Ein Knecht kam aus dem Hause mit Licht, um zu leuchten.

„Das Licht fort!“ befahl der Fremde. „Es schmerzt meine kranke Frau.“

Der Knecht ging mit dem Lichte wieder in das Haus. Der Reisende kehrte zu dem Wagen zurück. Der Wirth wollte ihm folgen.

„Sie können am Hause bleiben,“ wurde ihm befohlen.

Der Wirth ging zum Hause zurück. „Alle Hagel, der ist wahrhaftig vornehm,“ sagte er für sich, indem er sich in Gedanken berechnete, wie viel es ihm eintrage.

Der Reisende hatte jedes Wort kurz, befehlend, in fast absichtlich verletzender, hochfahrender Weise gesprochen. In den Wagen sprach er mit milderer Stimme hinein; kurz und befehlend schien freilich sein Ton, wie sein ganzes Wesen immer zu sein.

„Wir werden hier bleiben. Darf ich Dich bitten?“

Es erhob sich Jemand im Wagen. Man hörte Seide rauschen. Auf den Arm des Reisenden gestützt, stieg eine Dame aus dem Wagen. An seinem Arme ging sie mit ihm zum Hause. Sie mußte leidend sein; sie schritt schwer und mühsam neben ihm. Sie gingen Beide schweigend. In der Hausthür trat ihnen der Wirth entgegen. Hinter ihm stand der Knecht mit dem Lichte. Der Wirth war wohl neugierig, sich die beiden Fremden anzusehen.

„Zurück mit dem Lichte! Ich befahl es schon einmal!“ rief strenge der Reisende.

Der Knecht trat wieder zurück. Der Wirth hatte aber auch vorher wenig gesehen. Der Fremde war in einen weiten, langen Reisepelz gehüllt; eine Pelzmütze mit langem, breitem Schirm verdeckte das ganze Gesicht und ließ nur einen Theil eines schwarzen, krausen Bartes sehen. Die Dame trug gleichfalls einen weiten Pelz, der mit schwerer schwarzer Seide überzogen war. Ihr Gesicht wurde von einem schwarzen Schleier verborgen. Herr und Dame waren ein paar hohe Gestalten. Der Herr schien schlank zu sein; seine Bewegungen waren rasch, leicht, stolz. Haltung und Bewegungen der Dame zeigten nur, daß sie leidend war.

Das war Alles, was der Wirth beobachten und wahrnehmen konnte. Er führte die Fremden in das für sie bestimmte Zimmer, welches im ersten Stockwerke lag.

„Es liegt nach hinten,“ sagte er zu ihnen. „Da werden Sie nicht gestört werden. Vorn hätten Sie nicht so ruhig schlafen mögen. In der Nacht wird oft auf der Chaussee gefahren.“

„Gut!“ erwiderte der Fremde kurz.

Das Haus lag an der Chaussee; es hatte zwei Stockwerke. In dem oberen waren nur Fremdenzimmer, unten zu ebener Erde war die Wirthsstube, wohnten und schliefen der Wirth und seine Leute. Der Wirth wollte mit in das Zimmer treten.

„Sie bleiben zurück,“ befahl ihm der Fremde.

Der Wirth blieb zurück.

„Befehlen Euer Gnaden noch etwas?“ fragte er.

„Nachher!“

„Aber Ihre Sachen?“

„Nachher!“

Damit schloß der Fremde dem Wirth die Thür vor der Nase zu. Im Zimmer war Licht; geheizt wurde es von außen. Der Wirth kehrte nach unten in die Wirthsstube zurück. Wohl hatte er für das vornehme, hochfahrende Wesen des Fremden schon seine Rechnung gemacht, dennoch aber mußte er den Kopf schütteln. Aber er schlug wohl auch etwas auf die Rechnung hinzu. Nach zehn Minuten kam der Reisende in die Wirthsstube. Er kam in Pelz und Pelzmütze; man sah von seinem Gesichte wieder nichts, als den glänzend schwarzen, krausen Vollbart.

„Meine Sachen hinauf,“ befahl er dem Wirth. „Sodann Thee für meine Frau. Für mich später Abendbrod – was Sie haben, und eine Flasche Wein. Auch frisches Wasser. Rufen Sie den Postillon hierher!“ befahl er dann.

Der Postillon kam.

„Morgen früh um fünf muß angespannt sein,“ befahl er dem Postillon. „Mit dem Glockenschlage werden wir fahren.“

Er verließ das Zimmer. Er hatte immer gleich, in dem nämlichen kurzen, herrischen, hochfahrenden Tone gesprochen. Und es war nichts Gemachtes darin, Ton und Wesen schienen dem Manne durch lange Gewohnheit zur andern Natur geworden zu sein; durch Gewohnheit von früher Jugend an wenigstens. Denn er konnte noch nicht alt sein. Die gerade Haltung, die Elasticität seiner Bewegungen, die frische Stimme ließen auf einen noch jungen Mann schließen; auch der glänzend schwarze Bart sprach hierfür.

(Fortsetzung folgt.)





Barmherzig und herzig!

„O heil’ge Jungfrau!“ Gut getroffen
Hat jede Kugel aus dem Knick,
Am Boden sucht voll gläub’gem Hoffen
Den Himmel brechend noch sein Blick;

5
Im langen Traum der Fiebernächte

Umwaltet es sein Lager mild,
Als ob es Trost und Labung brächte,
Der Gnadenreichen holdes Bild.

Sie fleht zu Gott um seinen Segen

10
Und ordnet sorglich den Verband;

Ein Amulet blitzt ihr entgegen,
Unwillig zittert ihre Hand,
Sein Heiligthum erscheint ihr Lüge – –
Sie schaut in’s bleiche Angesicht,

15
Des Tapfern todtbedrohte Züge

Und freundlich übt sie ihre Pflicht.

Hin durch der nord’schen Eichen Schatten
Bedächtig wallt ein seltsam Paar,
Oft will des Kranken Kraft ermatten,

20
Dann bietet sie den Arm ihm dar,

Sie hält ihn fest und immer fester,
Er kennt die treue Stütze schon;
So leitet die barmherz'ge Schwester,
Den sie gerettet, Oestreich’s Sohn.

[5]

Der erste Ausgang.
Originalzeichnung von Paul Thumann.






25
Wortlos die jungen Herzen schlagen,

In gleichem Glück, in gleichem Weh,
Noch eine Frist von kurzen Tagen
Und dann ein ewiges Ade. – –
Nein, ewig nicht, der Hoffnung Ranke

30
Umschlingt in frischer Blüthenpracht

Die morschen Trümmer jener Schranke,
Die sie getrennt mit finst’rer Macht.

Ein neuer Glaube ward den Beiden,
Von Menschen-Satzung unberührt,

35
Der über alle Erdenleiden

Den einz’gen Weg zum Himmel führt:
Für ihn des Siegers Lorbeerkrone!
Zur heil’gen Jungfrau still sie fleht, –
Daß er die Dulderin belohne,

40
Zu ihrem Gott ist sein Gebet


Albert Träger.
[6]
Trenck’s Gefängnißbibel und ihre Blutschrift.

Die merkwürdigen Schicksale des Freiherrn Friedrich von der Trenck, seine lange grausame Haft in den Festungswerken Magdeburgs sind allgemein bekannt, und manche unserer Leser haben wohl noch die in vielfachen Auflagen und Bearbeitungen verbreitete Selbstbiographie des Gefangenen in den Händen gehabt. Man kann sich daher denken, wie sich der Verfasser dieser Zeilen ergriffen und zugleich von unheimlichem Schauer durchrieselt fühlte, als er vor Kurzem ein Buch zur Durchsicht erhielt, welches jahrelang während Trenck’s Gefangenschaft in dessen Händen war. Es ist dies seine Gefängnißbibel, das einzige Buch, welches man ihm gestattete.

Dieser Umstand an sich wäre wohl schon hinreichend, daß wir das ehrwürdige Buch nur voll innigen Mitleidens für den Gefangenen zur Hand nehmen; allein sobald wir den Band aufschlagen, so fallen uns fast auf allen Seiten äußerst regelmäßige, schöne Schriftzüge auf, die zwar bald mehr bald weniger verblaßt erscheinen, aber trotzdem noch vollkommen leserlich sind. Der freie äußere, auch wohl der obere und der untere Rand der Blätter – Alles ist mit Schrift bedeckt, aber es war nicht Tinte, es war sein eigenes Blut, welches Trenck als Schreibmaterial benutzen mußte!

Diese merkwürdige Bibel befindet sich jetzt im Besitze des Buchhändlers und Autographensammlers O. A. Schulz in Leipzig, von dem sie hoffentlich einmal in eine große öffentliche Bibliothek oder eine Sammlung historischer Merkwürdigkeiten übergehen wird.

Die in ihr enthaltenen meist aus dem Jahre 1759 herrührenden Aufzeichnungen, die wir unsern Mittheilungen zu Grunde legen, sind ganz verschiedener Art; das größte Interesse des Lesers wird darunter jedoch Trenck’s eigene Leidensgeschichte während seiner Gefangenschaft erregen, welche er unter dem Titel erzählt: „Warhaffte, auf Gewissen, Ehr und Beweiß gegründete Erzählung von dem Zusammenhange meiner zur Entweichung aus Magdeburg vorgehabten Anschläge.“

Wenn wir diese ursprünglichen Aufzeichnungen mit den später in Trenck’s Selbstbiographie gedruckten Berichten vergleichen, so fehlt zwar an einzelnen Stellen die völlige Uebereinstimmung, doch ist dieser Umstand leicht erklärlich. Trenck war unter strenger Aufsicht, als er im Gefängnisse jene erste Erzählung niederschrieb. Er mußte deshalb hierin Vieles verhehlen, Anderes durfte er nur halb andeuten, und mancher Name mußte verschwiegen werden, den Trenck später in seiner Biographie ungefährdet nennen durfte. Trotzdem aber besaß er Muth genug, in seinem Berichte die unsäglichen Martern nicht unerwähnt zu lassen, welche ihm übertriebene, barbarische Strenge bereitete. – Schon im ersten Jahre seiner neuen Haft hatte Trenck alle Anstalten zur Flucht aus den Casematten Magdeburgs getroffen, in welche er zuerst eingekerkert worden war, und konnte auf glücklichen Erfolg rechnen, als man ihn plötzlich in das eigens für ihn errichtete Gefängniß in der Sternschanze transportirte. Was den Unglücklichen hier erwartete, das zeigte sich ihm in gräßlicher Deutlichkeit beim ersten Betreten seines Kerkers. In den Boden des Gefängnisses sah er nämlich einen – Leichenstein eingemauert, auf dem sein Name, durch einen darunter befindlichen Todtenkopf hinreichend illustrirt, eingegraben war. Man rechnete also darauf, daß Trenck diese schauerliche Zelle lebendig nicht wieder verlassen würde und daß sie einst als sein Grab dienen sollte. Er wurde in Ketten geschmiedet, die ein Gewicht von achtundsechzig Pfund hatten und jede freie Bewegung seiner Glieder hinderten, bis es endlich seiner außerordentlichen Geschicklichkeit gelang, sich der furchtbaren Fesseln beliebig zu entledigen und dieselben blos zur Zeit der Visitationen anzulegen.

Allein auch in jeder anderen Hinsicht behandelte man Trenck mit wahrhaft grausamer Strenge. So erzählt er in jenen Mittheilungen, daß ihn der Hunger oft zur Verzweiflung und dem Wahnsinne nahe gebracht habe und daß der Mangel an hinreichender Nahrung der hauptsächliche Grund seiner ersten Fluchtversuche gewesen sei. Auch aus diesem neuen Gefängnisse, so undurchdringlich es schien, versuchte Trenck zu wiederholten Malen zu entweichen, und diese Fluchtversuche geben ein deutliches Bild der außerordentlichen Kraft, Ausdauer und Geschicklichkeit des Gefangenen. Den aus mehrfach übereinandergefügten eichenen Bohlen bestehenden Fußboden seines Kerkers hatte er durchschnitten, und als Werkzeug hierbei diente ihm nichts als ein großer Nagel, dem Trenck auf seinem Leichensteine die erforderliche Schärfe geben konnte. Dreißig Fuß weit hatte sich Trenck schon unter den Mauern seines Gefängnisses in der Erde bis zu einer Mine hindurchgearbeitet, aus welcher er seine endliche Flucht, wiewohl vergeblich, zu bewerkstelligen hoffte. Wie erfinderisch mußte er sein, um den ausgewühlten Sand aus dem engen Gange, den er sich grub, zu entfernen! Trenck fand jedoch unter den wachthabenden Soldaten oft genug Freunde und thätige Hülfe, und durch diese unterhielt er auch den Verkehr mit der Außenwelt, namentlich mit Wien, von woher er häufig ansehnliche Summen Geldes bezog, durch das er sich immer wieder neue Freunde unter den ihn bewachenden Soldaten erwerben konnte.

Die unterirdischen Arbeiten, welche Trenck’s Flucht vorbereiten sollten, erforderen wahrhaft übermenschliche Anstrengungen. An einer Stelle seiner Beschreibung sagt er selbst: „Mein Leib sah dabei einem Lazaro gleich, denn weil ich das Hemde nicht schmutzig machen durfte, in dem dicken frisnen Rocke aber gar nicht hin und wieder kriechen konnte, so mußte die ganze Arbeit mit nackendem Leibe in dem nassen Sande geschehen, folglich war mir der Rücken von den scharffen Steinen aller Art verwundet, die Ellenbogen, Brust und Finger aber auf dem Sande abgeschunden. Nichtsdestoweniger hatte ich dabey keine andre Krankheit als Hunger, weil ich eben damals magere Kost hatte und bei saurer Arbeit viel essen wollte.“

Auch dieser Fluchtversuch mißlang und zog Trenck die härteste Behandlung zu. Das Bett, welches er mit einem Theile des ausgegrabenen Sandes angefüllt hatte, wurde ihm sogleich genommen, und wie man auch sonst noch unmenschlich mit ihm verfuhr, erzählt er mit folgenden Worten: „Man schmiedete mich also von neuem, doch in eben die vorigen Ketten fest. Der ganze Boden ward aufgebrochen und alle Gräben[1] ausgemauert, womit man Tag und Nacht in einer Arbeit bis den 2. September[2] zubrachte. Ich aber erlitt die unchristliche Strafen, daß ich bis dahin, folglich achtundsechzig Stunden auf der bloßen Erde liegend, von meiner Arbeit ohnehin abgemattet, ohne Schlaf wachen mußte. Sodann mußte ich ohne Strümpfe, entkleydet wie ich bin, ohne Stroh auf dem von denen Maurern benetzten Boden, ohne einmal ein trocken Brett unter dem Kopfe zu haben, mit meinen fürchterlichen Mordketten sitzen und den Kopf an der feuchten Mauer stützend schlafen, und die Schildwachen bekamen die Ordre mich alle Viertel Stunden zu wecken, welches noch gegenwärtig fortdauert. In diesem auch in Algier nie erhörten Zustande konnte ich nichts anderes als den sichern Tod erwarten, wollte aber, nachdem ich so viel erdauert, nicht gern durch einen Selbst Mord meine Feynde lachen, meine Freunde hingegen weinen machen.“

Man denke sich die furchtbare Lage des Unglücklichen, dem man zur Strafe auch nicht einmal den Schlaf, seine einzige Erquickung, mehr gönnen wollte. In Trenck’s Gefängnißbibel finden wir ein ergreifendes Gedicht von ihm niedergeschrieben, welches er bei dieser Gelegenheit verfaßte und das seinen trotz aller Leiden noch ungebeugten Muth sowie ein festes Gottvertrauen bekundet. Trenck führt das Lied auch im zweiten Bande seiner Selbstbiographie an; allein dort ist es verändert und auch nicht so vollständig wiedergegeben, wie wir es in der Blutschrift seiner Bibel finden. Er selbst bezeichnet dies Gedicht, aus dem wir hier einige Verse anführen wollen, als „Lied bey dem Viertelstündigen Wecken in der Nacht.“

Weckt mich nur, Ihr meine Wächter,
Wenn die Viertelstunde schlägt;
Treibt mit mir Eu’r Spottgelächter,
Lauscht nur ob mein Fuß sich regt,
Um den nie erhörten Willen
Eurer Obern zu erfüllen.

Weckt mich nur, ihr Menschen-Knechte,
Denn ihr thut nur was ihr müßt;
Aber den, der ohne Rechte
Meiner Unruh Ursach ist,
Wird sein bös Gewissen wecken
Und mit Vorwurfs-Larven schrecken.

Allen, die in Ketten liegen,
Wird der Schlaf ja noch erlaubt.
Niemand stört dem sein Vergnügen,
Der im Traum sich glücklich glaubt.
Mir allein wird es verhindert,
Daß der Schlaf mein Leyden lindert.

[7] Ein Wechsel, der in der Besetzung des Festungscommandos erfolgte, milderte später die harte Behandlung des unglücklichen Trenck. Sein bisheriger Peiniger, General Bork, wurde durch den menschenfreundlicheren Oberstlieutenant von Reichmann ersetzt, und am Schlusse der in jener Bibel enthaltenen Erzählung des mißglückten Fluchtversuches giebt Trenck, in der Hoffnung auf bald erfolgende Begnadigung, sogar umständlich die Mittel an, wie sein Gefängniß verwahrt werden müsse, um jede Flucht unmöglich zu machen.

In dieser Hoffnung auf die Gnade des Königs hatte sich Trenck indeß getäuscht, und obgleich er am Schlusse seines im Jahre 1759 abgefaßten Berichtes den Vorsatz ruhiger Ergebung in sein Schicksal ausspricht, so versuchte er doch später noch einige Male, sich aus seiner schweren Kerkerhaft zu befreien, bis endlich das Weihnachtsfest des Jahres 1763 ihm die Freiheit brachte.

Außer der merkwürdigen Erzählung seiner verunglückten Befreiungsanschläge enthält die Gefängnißbibel Trenck’s noch eine Menge der verschiedenartigsten Aufsätze, sowohl in Prosa als in Versen, und auf dem Schlußblatte des alten Testamentes giebt der unglückliche Verfasser ein genaues Verzeichniß seiner Arbeiten, von denen wir nur einige noch kurz erwähnen wollen. Der erste Artikel ist ein Brief in Versen an den „Durchlauchtigsten Gouverneur der Festung“, den Erbprinzen von Hessen-Cassel. Trenck bittet denselben auf das Rührendste um Schonung und Milde. Später finden wir eine „Danksagungs-Ode bei Erhaltung einer Flûte traverse. Ein Schäfer-Gedicht“. Trenck hatte um die Vergünstigung gebeten, sich die traurigen Stunden seiner Kerkerhaft durch Musik verkürzen zu dürfen, und der Gouverneur war menschenfreundlich genug gewesen, diese bescheidene Bitte zu erfüllen. Ein Gedicht unter dem Titel: „Brief einer Seele aus dem Fegefeuer an den Gott Zebaoth“, bezeichnet Trenck selbst als „im doppelten Verständniß“ aufzufassen. Der Gefangene ruft darin die Gnade des erzürnten Königs an; indeß hatte auch diese Bitte, die wohl gar nicht in die Hände Friedrichs des Großen gelangte, keinen Erfolg.

An mehreren Stellen sagt Trenck selbst von sich, daß er recht eigentlich „für die Feder“ geboren sei, und in seiner Selbstbiographie erzählt er, wie er nach seiner Befreiung während eines Aufenthaltes in Leipzig „seinen Freund Gellert“ aufgesucht und diesem verschiedene literarische Arbeiten in gebundener und ungebundener Sprache zur Beurtheilung vorgelegt habe. Von allen diesen wären nun Trenck’s Fabeln ganz besonders von Gellert gelobt und der Verfasser zur Fortsetzung dieser Gattung Gedichte aufgefordert worden, wogegen der ängstliche Herr Professor die politischen Abhandlungen Trenck’s als der persönlichen Sicherheit ihres Urhebers gefährlich bezeichnete. In Trenck’s Bibel befinden sich eine Anzahl Fabeln, welche zum größten Theile Gellert’s Lob rechtfertigen. Fast immer aber hat der Inhalt auch dieser Gedichte mehr oder weniger Bezug auf das unglückliche Verhängniß des Verfassers.

Auch Aufsätze satirischen Inhaltes weist Trenck’s Bibel auf. Ein Gedicht: „Geschichte des Major von Mops“, geißelt unbarmherzig einen feigen Maulhelden, wie Trenck in der Einleitung sagt: einen russischen Officier Namens von Mohr, den er 1749 in Petersburg als Knutmeister kennen gelernt habe. In der von uns mehrfach angeführten Biographie dagegen versichert Trenck, daß unter diesem Major von Mops kein Anderer als der Landmilizmajor von Bruckhausen gemeint sei, welcher den armen Gefangenen während dessen schwerer Haft auf das Unerhörteste gepeinigt habe. Dieser Satire folgt eine „Arie des Major Mopsen bei Betrachtung seines Stockes“.

Natürlich gebot ihm die Vorsicht, sich die Verspotteten durch genauere Bezeichnung nicht noch mehr zu Feinden zu machen, denn es ist unzweifelhaft, daß die zu den poetischen Ergüssen benutzte Bibel oft genug von seinen Wächtern revidirt wurde. Aus diesem Grunde führt auch Trenck in der Erzählung seiner Fluchtversuche nur diejenigen ihm behülflich gewesenen Mannschaften der Besatzung namentlich an, von denen er wußte oder annehmen konnte, daß sie inzwischen verstorben waren. Mit wahrer Dankbarkeit und Rührung spricht er besonders von einem Grenadier Namens Gebhardt, der sich ihm als der treueste Freund und Helfer erwiesen habe. Gebhardt und dessen Frau vermittelten lange Zeit die Correspondenz Trenck’s mit der Außenwelt, und jene Beiden waren es, welche dem Gefangenen wiederholt das aus Wien bezogene Geld verschafften. Gebhardt verlor gleich zu Anfang des siebenjährigen Krieges sein Leben und Trenck dadurch die bisherige Hülfe bei dem Verkehr mit seinen auswärtigen Freunden. Manche andere Verse Trenck’s zeigen, daß derselbe trotz aller seiner Leiden sich im Ganzen seine heitere Stimmung zu bewahren wußte, während andere Gedichte in französischer Zunge seine bekannten ungewöhnlichen Sprachkenntnisse darthun. Freilich läßt der Anblick des Blutes, mit dem auch diese heiteren Verse geschrieben sind, im Leser keine frohe Laune aufkommen.

Auch mit politischen Abhandlungen beschäftigte sich Trenck in seiner Haft, und seine Bibel enthält in dieser Beziehung einen höchst merkwürdigen Aufsatz, der einen überaus verheißungsreichen Titel führt. Es sind dies die: „Gedanken über die mögliche Mittel zu gäntzlicher Veränderung der sogenannten Politic oder Staats-Klugheitsgrundsätze und dem daraus folgenden und sicher ohne Unterbrechung zu erhaltenden Frieden der ganzen Chrystenheit.“

Obgleich Trenck den unbedruckten Raum auf mehr als sechshundert Seiten seiner Bibel dazu verwandte, um diese Aufgabe zu lösen, so ist er dennoch, wenigstens so weit uns das Manuscript vorliegt, damit bei weitem nicht fertig geworden, sondern nur bis zum zweiten Capitel gekommen. Das Vorhandene läßt allerdings noch keine klare Darlegung von den Mitteln erkennen, die schließlich den ewigen Frieden der Welt verschaffen sollen. Trotzdem zeigt sich Trenck im ersten Capitel jener Arbeit als erfahrener Menschenkenner, indem er die Temperamente in ihren Kennzeichen und Aeußerungen auf das Ausführlichste beschreibt und dann immer angiebt, zu welchen Staats- und andern Verrichtungen Menschen dieses oder jenes Temperaments geeignet sind. Das zweite Capitel dieses Fragmentes handelt von der Seele, und hier tritt Trenck als ein scharfer Gegner der damals so verbreiteten Ansichten des Halleschen Philosophen Wolff auf. Dieser Abschnitt beweist zugleich, daß Trenck seine Bibel nicht blos benutzt hat, um darin allerhand Gedanken und Einfälle aufzuzeichnen. Er belegt vielmehr seine Behauptungen, die allerdings ziemlich freidenkerischer Art sind, mit einer Masse von Citaten aus den Schriften des alten und neuen Testaments. Das Muckerthum und den Pfaffentrug greift er mit den schärfsten Waffen an, doch darf man hieraus nicht schließen, daß Trenck ein sogenannter „Freigeist“ war, denn von seiner wahrhaft gläubigen Gesinnung zeugen in jener Bibel eine Menge geistlicher Lieder, die er während seiner Gefangenschaft verfaßt hat und welche von ihm oft zu seinem eigenen Trost, wie er selbst sagt, in schweren Leidensstunden gesungen worden sind.

Wahrhaft unbegreiflich erscheint es, daß man Trenck nach seiner eigenen Versicherung wohl die Erlaubniß zum Schreiben gewährte, aber ihm dabei keine Tinte zukommen ließ. Um sich eine Flüssigkeit zum Schreiben zu verschaffen, stach sich Trenck in die Finger und fing das Blut in einem Scherben auf; war es darin geronnen, so erwärmte er es wieder in der Hand und warf die „fibrösen“ Theile fort. Eine genaue chemische Untersuchung der Schriftzüge in seiner Bibel hat bestätigt, daß Trenck sich stets des Blutes zum Schreiben bediente; nur zuweilen findet sich etwas Ruß dem Blute beigemischt.

Trenck erzählt, daß er acht ganze Bände auf solche Weise während seiner Haft geschrieben habe. Auf dem Museum zu Berlin befindet sich unsers Wissens noch ein derartiger Band nebst zwei von Trenck gravirten Zinnbechern. Diese letztere Arbeit bildete ebenfalls eine Zeit lang die Unterhaltung des Gefangenen. Als Werkzeug hatte er nichts Anderes, als einen fein gespitzten Nagel und vermittelst dieses dürftigen Instrumentes versah er die Becher, welche man ihm bald von allen Seiten brachte, mit wirklich kunstvollen Gravirungen. Nicht nur die Figuren waren von größter Regelmäßigkeit und Naturtreue, auch die auf den Bechern vielfach angebrachte Schrift war vorzüglich schön und dabei ohne alle optischen Hülfsmittel so außerordentlich fein ausgeführt, daß auf dem schmalen Rande eines Bechers oft zwei Zeilen Schrift unter einander standen, die nur mittelst eines Vergrößerungsglases gelesen werden konnten.

Mit Trenck zugleich war der ehemalige Gouverneur der Festung Reisse, General Wallrabe, Staatsgefangener in Magdeburg, weil er die ihm anvertraute Festung an die Oesterreicher verrathen hatte. Er genoß zwar eine weit bessere Behandlung als Trenck, mußte aber bis zum Tode Friedrich’s des Großen, vierzig Jahre lang, in Haft bleiben. Auch Trenck’s fernere Schicksale waren abenteuerlich genug und der vielgeprüfte Mann beschloß sein Leben 1794 zu Paris auf dem Schaffot durch Robespierre’s tyrannisches Machtwort.



[8]
Ein Abend bei Heinrich Heine.
Fragment von H. M…n.

Welchen Eindruck die Frage Gerard de Nerval’s[3]: „Soll ich Sie Ihrem berühmten Landsmanne Heine vorstellen?“ auf mich gemacht hatte, ist mir unmöglich zu beschreiben. Die Verehrung, welche die Jugend der damaligen Zeit für den Dichter des „Buches der Lieder“ fühlte, wird der heutigen Jugend, welche schon einer vollständig verschiedenen Generation angehört, kaum verständlich sein, und die fieberhafte Aufregung, in der ich mich den ganzen Tag befand, welcher diesem für mich so bedeutungsvollen Abend voranging, ihr vielleicht ein mitleidsvolles Lächeln entlocken.

Gegen acht Uhr traf ich Gerard im Café Frascati und wir schlenderten, über Politik sprechend, der Wohnung meines berühmten Landsmannes, wie ihn mein Begleiter nannte, zu. Ich werde in diesen Zeilen noch öfter auf Gerard de Nerval zurückkommen, der eine so merkwürdige Erscheinung in der modernen französischen Literatur bildet, und ihn daher vorläufig nicht weiter schildern.

Als wir das Zimmer betraten, in welchem der kranke Dichter beinahe neun Jahre lang mit einem herzzerreißend schmerzhaften, langsamen, aber desto gewisseren Tode rang, beschlich mich eine Art von religiösem Gefühl, das hier im Tempel der Freigeisterei freilich nicht recht an seinem Platze war, gegen das ich mich indeß nur mit Mühe zu wehren vermochte. Heine saß in einem großen schwarzgrünen, ledernen Fauteuil und sein Kopf war in ein weißbezogenes Kopfkissen zurückgesunken; auf seinem Schooße ruhte ein aufgeschlagenes Buch und auf dem Tische neben ihm, auf dem eine mit grünem Schirm behangene Lampe brannte, ein Blatt Papier, worauf er eben einige Bemerkungen mit Bleistift geschrieben zu haben schien. Ich hatte schon viele Portraits von ihm gesehen, aber, wie es nur zu häufig ist, keins war dem Dichter ähnlich; denn der Ausdruck von tiefem Gefühl, welcher das schon ziemlich abgemagerte Gesicht des leidenden gewissermaßen beleuchtete, ist keinem Maler wiederzugeben möglich. Es war nicht das Gesicht, das ich erwartete, ein Gesicht, in dem der sarkastische Zug meiner Ansicht nach den sichtbaren Vorrang behaupten mußte – es war das Gesicht eines Poeten – eines Denkers, Niemand konnte sich täuschen. Gerard ergriff meine Hand und stellte mich Heine vor, und ich bemerkte ganz gut, welch einen unangenehmen Eindruck entweder mein Besuch oder meine Persönlichkeit auf diesen gemacht hatte, denn eine leichte Kopfbewegung und ein ermüdetes Lächeln waren die einzigen Zeichen des Willkommens, welcher mir geboten wurde. Einige Zeit lang unterhielt sich Gerard mit ihm über die glänzende Aufnahme, welche die von ihm selbst geleitete französische Uebersetzung seiner Gedichte in Frankreich gefunden halte, und ich drehte unmuthig meinen Hut zwischen den Knieen, mit mir selbst uneinig, ob ich mich empfehlen oder noch einige Zeit dableiben sollte. Plötzlich jedoch wandte sich der Dichter zu mir und fragte mit ziemlich accentuirter Stimme: „Und was sagt man in Deutschland zu der Idee, die mir gekommen ist, mich selbst zu verdolmetschen?“

„Ich bin seit einigen Jahren nicht in Deutschland gewesen,“ antwortete ich, „kann Ihnen daher Nichts darüber sagen.“

„Das ist schade,“ erwiderte er, „heute Morgen hatte ich den Besuch der Dichterin L. und des Professors S., die mir sagten, daß man sich sehr dafür interessirt hätte. Denken Sie Sich, Gerard, die gute Dame nannte mich ,Herr Doctor’, und ich lachte mich innerlich recht satt darüber, obgleich dieser Titel mir doch mit Recht zukommt. Wahrhaftig, lieber Herr, man hat in Deutschland ganz Recht, mich einen Renegaten zu heißen; denn wenn der König von Preußen mir den Hofrathstitel ertheilte, wäre ich fähig, mich darüber lustig zu machen, und für einen Deutschen ist das doch herzlich schlecht – nicht wahr?“

Ich wußte nichts zu antworten und begnügte mich zu lächeln. „Ja,“ fuhr er fort, sich zu gleicher Zeit an mich und an Gerard wendend, „ich bin ein sehr ungeschickter Mensch und sehe ein, daß ich in Deutschland täglich unpopulärer werden muß, denn mein Deutschland ist ein musterhaft tugendhaftes Land. Lachen Sie nicht, Gerard, Sie kennen es nicht, obgleich Sie es ein Dutzend Male bereist und Herrn von Goethe’s Faust übersetzt haben, wofür Ihnen der edle Herr eigenhändig einen Brief geschrieben hat, in dem er Sie becomplimentirt und Ihnen sagt, daß er sein Werk jetzt erst so recht beurtheilen kann, nachdem er es in Ihrer Uebersetzung gelesen.“

Er sank matt in sein Kissen. Nach wenigen Minuten aber sprach er weiter: „Ich sage Ihnen, Herr Gerard de Nerval, ich, der ich meine sieben Sachen so ziemlich allein übersetzt habe, daß ich jedesmal, wenn ich meine Uebersetzung lese, bei der Sie mich treulich unterstützt haben, mich beim Schopf nehmen und mich in irgend einem Krähenwinkel Deutschlands, wo man mich noch liebt, – wenn es nämlich noch solche Krähenwinkel giebt – auf einen öffentlichen Markt führen und rufen möchte: ,Haut ihn! haut ihn!’“

Gerard lachte, auch ich versuchte es, aber es wollte mir nicht gelingen. Wie konnte ich dem vordem angebeteten Idole gegenüber, das sich selbst persiflirte, heiter sein?

„Wahrhaftig,“ fuhr er fort, und seine Stimme wurde mit jedem Worte schneidender und mißtönender, „wahrhaftig, ich komme mir vor, als wenn ich mit der Casse meines literarischen Werthes aus Deutschland durchgegangen wäre und jetzt hier in Frankreich alle die Papiere versilbern wollte. Jedesmal, wenn ein Deutscher zu mir kommt, läuft es mir kalt über den Rücken, als wenn es ein geheimer Agent des deutschen Parnassus wäre, der meine Auslieferung von der französischen Regierung erlangt hätte und mich zurückzuführen gekommen wäre, dahin, ‚wo da ist Geheul und Zähneklappern‘, ich meine nach Deutschland.“

Sein Kopf, den er während dieser Worte mühsam in die Höhe gehalten hatte, fiel in sein Kissen zurück, und wie nach einer langen Arbeit schloß er ermüdet die Augen.

„Ja,“ begann Heine bald darauf wieder, ohne seine Stellung zu verändern, „sogar nach tausend Jahren werde ich noch verleumdet werden, und das dieser unglücklichen Uebersetzung halber. ,Sehen Sie, meine Herren!’ wird der Professor der älteren Literatur an einer Universität von Neuseeland sagen, ,jenes Zeitalter, wo die Menschen noch verschiedene Sprachen hatten, brachte eine Art von Geschöpfen hervor, die sich zu den Schriftstellern verhielten, wie der Affe zum Menschen, man nannte sie Uebersetzer. Diese Halbmenschen hatten nun die Aufgabe, die Werke eines Dichters denen, die nicht seine Sprache redeten, verständlich zu machen, und thaten das meistentheils wie die Affen, wenn sie ihren Mitaffen die Gebehrden der Menschen voräffen. Nun war da in jenem Lande, wo unsere Geologen in den Thälern ganze Schichten von versteinerten Nachtmützen aufgefunden haben und welches man Germanien nannte, ein Poetlein, Heine geheißen, welcher uns ein seltenes Beispiel von Geisteszerrüttung gegeben hat, indem er an seinen eigenen Werken zum Affen ward und sie den Franzosen vorgesticulirte!’ Ja, sehen Sie, Gerard, so wird es werden, und Sie haben einen großen Theil der Schuld auf Ihrem Gewissen.“

Ein unaussprechlich schmerzhafter Zug lagerte sich um Heines Mund, nachdem er dieses in fieberhafter Aufregung gesprochen; seine Augen schlossen sich wie vorhin und Schweißtropfen perlten auf seiner Stirn.

„Ist Ihnen unwohl?“ fragte Gerard, der zu ihm herangetreten war.

Heine zeigte auf die in meiner Nähe herabhängende Klingelschnur, die ich zog. Eine Dame trat eiligst herein, warf nur einen Blick auf den Kranken, nahm dann von einer Console ein Fläschchen, von dessen Inhalt sie einige Tropfen in ein Glas Wasser fallen ließ, und näherte das so zubereitete Getränk den Lippen des Leidenden, welcher ein paar Schlucke davon trank. Einige Minuten später schien sich der Schmerz soweit gelindert zu haben, daß er die Augen wieder aufschlug und der Dame die Hand reichte, welche diese in der ihren behielt.

Aufmerksam betrachtete ich die Dame – ich errieth es, sie war Heine’s Frau. Heine’s Frau! Die, welcher es gelungen war, den wie ein Schmetterling von Liebe zu Liebe flatternden Dichter [9] zu fesseln! Wie viele von Heine’s Leserinnen und Verehrerinnen mochten gern an meiner Stelle gewesen sein, hätten gern sie gesehen, welche des Dichters letzte Liebe war! Damals war Frau Heine noch sehr hübsch und zeigte Anlage zur Corpulenz. Es war eine sehr einfache Frau, sehr einfach, sowohl in ihrem Aeußern als auch in ihrer geistigen Erscheinung. Keineswegs das Ideal eines Dichters, wohl aber eine Frau, die es zu verstehen schien, wie man einen Kranken pflegen muß. Und das hat sie getreulich gethan bis an das Ende des Dichters.

Heine’s Stimme erweckte mich aus meinen Betrachtungen; ziemlich beißend fragte er mich, ob ich den Hüter würdig der Ruine fände. Ich verstand ihn im ersten Augenblick nicht, auch ließ mir Gerard keine Zeit zum Antworten, indem er Madame Heine erinnerte, daß sie ihm gestern ein Buch für den Doctor Blanche hätte geben wollen, es aber vergessen habe. Sie antwortete, daß sie es nicht gefunden, und bat ihn, selbst nachzusehen in dem großen Bücherschranke, der im Nebenzimmer stand. Gerard verließ das Zimmer.

„Warum begleitest Du ihn nicht?“ fragte Heine seine Frau.

„Ich traue mich nicht,“ antwortete sie.

„Närrin,“ sagte Heine, „er ist ja heute gar nicht aufgeregt, er ist ja ruhig wie ein Lamm; gehe, mein Kind, geh, er könnte sich gekränkt fühlen.“

Frau Heine ließ die Hand ihres Mannes aus der ihren und schickte sich, obgleich zögernd, zum Hinausgehen an, vorher aber warf sie einen Seitenblick auf mich, den ich zu verstehen glaubte. Ich sagte darum zu Heine:

„Dürfte ich Sie bitten, mir zu erlauben, Herr Heine, Madame zu begleiten und mir Ihre Bibliothek anzusehen?“

„Das junge Deutschland,“ antwortete er mir, „scheint galant geworden zu sein. Gehen Sie mit ihr, und wenn Gerard sie beißen will, nehmen Sie einen Band meiner Uebersetzung und schleudern Sie ihn in des Ungeheuers Rachen; er wird sich die Zähne daran ausbeißen, denn diese Uebersetzung ist zäh, wie ein Dichterleben!“

„Was fehlt denn Gerard?“ fragte ich Frau Heine, als wir das Zimmer verlassen und in ein anstoßendes getreten waren.

„Wissen Sie nicht, daß er wahnsinnig ist?“ antwortete sie erstaunt.

„Wahnsinnig?“ rief ich.

„Ganz gewiß,“ antwortete mir Frau Heine. „Man kann es eigentlich nicht wahnsinnig nennen, denn ganze Tage lang spricht und handelt er wie ein vernünftiger Mensch, aber plötzlich, ohne den geringsten Grund, verliert er den Verstand, und dann redet er das tollste Zeug, das man sich nur denken kann, und darum läßt ihn auch der Doctor Blanche, in dessen Anstalt er wohnt, nur selten ausgehen.“

Man kann sich denken, welchen Eindruck das soeben Gehörte auf mich machte und wie sehr der Anblick Gerard’s, der gerade mit einem Buche aus dem andern Zimmer trat, mich ergriff. Ohne, wie ich Heine gesagt hatte, mir seine Bibliothek auzusehen, begleitete ich Gerard in das Vorderzimmer zurück, wo der kranke Dichter, der sich schon wieder erholt zu haben schien, in dem Buche blätterte, das er vor sich hatte. Wir setzten uns, und er begann wieder ein Gespräch mit Gerard über einige Sonette, die Letzterer vor einigen Tagen gedichtet hatte. Dieses Gedicht sollte den Titel „Jesus am Oelberge“ haben und die Qualen der Kreuzigung des Geistes durch den Zweifel schildern, welcher der körperlichen Marter voranging. Gerard declamirte einige Verse seines Gedichtes, die den höchsten Enthusiasmus des Kranken hervorriefen, welcher nach dieser Erregung einige Minuten lang in eine Art von Halbschlaf verfiel. Gerard starrte träumerisch vor sich hin, und ich war wie berauscht von dem Geiste der beiden Dichter, von denen der eine sterbend war, der andere wahnsinnig sein sollte.

„Sind Sie schon einmal auf der Leipziger Messe gewesen?“ fragte mich Heine plötzlich. Ich antwortete bejahend.

„Jeder Maler, der Scenen aus der biblischen Geschichte malen will, müßte die Leipziger Messe besuchen,“ fuhr er fort; „ich war einmal dort … ich besinne mich nicht mehr, wann; aber daß es im Anfange meiner literarischen Laufbahn war, weiß ich gewiß. Da sah ich Köpfe, die mir die Bibel besser erklärten, als alle Commentare. Es giebt unter den polnischen Juden eine Stufenleiter von der abscheulichsten, Ekel erregenden Häßlichkeit an bis zur vollkommen plastischen Schönheit, welche für das künstlerische Studium der heiligen Schrift vom höchsten Nutzen sein muß. Ich sah einmal vor einer Restauration auf einer leeren Kiste sitzend einen ungefähr fünfundzwanzigjährigen Juden, der mit einem so unaussprechlich traurigen Blick auf das bunte Gewühl um sich blickte, daß ich mir den jungen Daniel lebhaft vorstellte, wie er, vielleicht auch auf einer Kiste auf der Messe zu Babylon sitzend, verächtlich-traurig auf die lärmenden, lachenden, schimpfenden Juden herabsah, die ihr Leid, ihr Weh, ihre verlorene Freiheit und ihre harte Gefangenschaft vergaßen … wenn sie nur handeln konnten! Denn, täuschen Sie sich nicht, meine Herren! man hat dem Juden die Geldgier als Fundamentallaster aufgebürdet – dem ist nicht so. Das Laster aller Laster, welches den Juden beherrscht – besonders den polnisch-deutschen – ist die Handelsgier; er ist wie der Spieler, welcher nicht des Gewinnes, sondern nur des Spieles halber spielt.

Der Jude muß kaufen und verkaufen, sonst ist er unglücklich, und ich glaube fast, daß jedesmal, wenn das alte Testament von den Leiden des Volkes Gottes sprach, es meinte, daß es gerade einmal nichts zu handeln gehabt hätte. Würde die Regierung ein Gesetz erlassen, das den Christen allein den Handelsbetrieb gestattete – seien Sie versichert, daß die Juden sich massenhaft taufen lassen würden. Außer diesem kenne ich am Juden kein Laster, er ist gut, weichherzig, wohlthuend, sich aufopfernd und edel; handeln aber muß er, und wenn er auch nach dem abgeschlossenen Geschäfte den Gewinn vielleicht für wohlthätige Zwecke verschenken sollte, er wäre doch der Verzweiflung nahe, wenn eben dieses Geschäft ihm mißlungen wäre! Um jedoch wieder auf meinen Daniel zu kommen, ich kann Ihnen gar nicht sagen, welch ein tiefer, inniger, herber Leidensausdruck sein Gesicht überschattete.“

„Er dachte vielleicht an irgend eine Susanne,“ sagte ich.

„Ich glaube nicht,“ erwiderte Heine, „die Liebe existirt nicht bei diesen Juden, wohl aber ein exaltirtes Gefühl für Familie und Häuslichkeit, das in ihrem Herzen jene ersetzt. Wahrhaftig, meine Herren, ich habe auf der Leipziger Messe alle männlichen Typen der heiligen Schrift gesehen, und ich wiederhole es Ihnen, ich würde jedem Maler anrathen, eine Reise dorthin zu machen.“

„Haben Sie auch den Ihren Ideen entsprechenden Typus eines Judas gefunden?“ fragte ich.

Heine schwieg einen Augenblick. „Sie haben Recht,“ sagte er endlich, „der fehlte mir, und so wie ich die Juden kenne, so ist mir immer die Persönlichkeit dieses Schülers des Heilands unbegreiflich geblieben. Was er gethan, liegt so wenig in der jüdischen Natur, wie das Mordbrennen und das Wegelagern; und ich würde mich weigern, der Madame Ischarioth, seiner Frau Mutter, ein Zeugniß ehelicher Treue auszustellen, besonders da die römischen Centurionen, wie Josephus sagt, den schönen Jüdinnen sehr gewogen waren, was ihnen ihre Nachfolger, die heutigen Lieutenants, gewissenhaft nachmachen. Haben Sie den Muth, Gerard, dem Judas Ihres Gedichtes einige Tropfen römischen Blutes in die Adern fließen zu lassen?“

Doch Gerard hörte den Scherz seines Freundes nicht; seit einigen Augenblicken schon hatte ich bemerkt, daß sein Blick fest auf den Boden geheftet war und daß er mit den Fingern seiner Rechten krampfhafte Bewegungen machte … Heine richtete sich auf und warf einen forschenden Blick auf ihn. „Klingeln Sie!“ rief er hastig. Ich gehorchte – wiederum trat Frau Heine ein, doch kaum hatte ihr Mann mit dem Finger auf Gerard gezeigt, als sie sich schleunigst entfernte und einige Minuten später mit einem ältlichen, aber noch rüstigen Manne, den ich als den Portier des Hauses wiederzuerkennen glaubte, zurückkehrte. Dieser, welcher ganz gut zu verstehen schien, was er zu thun hatte, näherte sich Gerard und ergriff ihn bei der Hand.

„Wollen Sie Ihrem besten Freunde einen Dienst erweisen?“ fragte er. Gerard hob den Kopf in die Höhe und sah ihn scharf an.

„Ich kenne Sie nicht!“ sagte er mit rauher Stimme.

„Das glaube ich wohl,“ antwortete der Andere ruhig. „Herr Alexander Dumas schickt mich zu Ihnen; er befindet sich sehr unwohl in einem Hause einige Straßen von hier und bittet Sie, sich schleunigst mit mir zu ihm zu begeben.“

„Dumas krank!“ rief Gerard fieberhaft, sprang auf, griff nach seinem Hute und verließ ohne uns weiter im Geringsten zu beachten, von dem Andern gefolgt, schnell das Zimmer.

Ich saß da, ohne eine Silbe von Allem, was vorgegangen war, verstanden zu haben.

[10] „Und morgen wird der Unglückliche aufwachen,“ sagte Heine nach einer kleinen Pause, „ohne sich des heute Abend Vorgefallenen nur zu entsinnen. Würden Sie das Wahnsinn nennen? Die Geschichte mit einem plötzlichen Unwohlsein Dumas’, den er wie einen Bruder liebt, hat mir schon manchmal gedient. Jetzt führt ihn mein Portier zum Doctor Blanche, dessen Anstalt er bewohnt, und wenn die Krankheit seit einem Monate nicht wesentlich fortgeschritten, so ist er morgen schon wieder auf den Beinen.“

„Ich habe nie von alledem gewußt, obgleich ich Gerard seit zwei Monaten kenne,“ sagte ich.

Heine hatte seinen Kopf wiederum in’s Kissen zurückfallen lassen. Seine Augen waren nicht geschlossen, seine Hand nicht zusammengekrampft, kein Zeichen körperlichen Schmerzes war an ihm sichtbar, und doch las ich in seinen abgemagerten Zügen solch herben, herzzerreißenden Schmerz, daß ich Alles aufzubieten suchte, um ihn zu zerstreuen, und mich, wie es gewöhnlich bei solchen Gelegenheiten geht, sehr ungeschickt dabei benahm und die Sache verschlimmerte.

„Wie ist denn diese sonderbare Geisteskrankheit dem armen Gerard gekommen?“ fragte ich in der Absicht, ihn durch eine Erzählung nach und nach auf ein anderes Thema zu bringen. Er schwieg einen Augenblick.

„Nehmen Sie doch jenes Buch da vom Fenster,“ sagte er. „Es sind Schiller’s Gedichte, thun Sie mir den Gefallen und lesen Sie mir ‚das verschleierte Bild zu Saïs‘ vor.“

Ich gehorchte, suchte das Gedicht und las es. Als ich geendet hatte, sah mich Heine regungslos an. „Sie fragten mich, woher Gerard’s Geisteskrankheit komme,“ sagte er, „Schiller hat Ihnen geantwortet, wenn Sie anstatt ‚Wahrheit‘ – ‚Glück‘ setzen … Ja,“ fuhr er nach einer Pause fort, „wen Jupiter strafen will, macht er zum Dichter! Armer Gerard! Denken Sie Sich, lieber Herr, er hat in der ganzen literarischen Sippschaft keinen einzigen Feind … alle Börsen sind ihm offen und Niemand weiß, woher ihm sein Wahnsinn kommt, ich auch nicht, und doch errathe ich es! … Einen großen Dichter haben Sie heute Abend gesehen, er ist verrückt; kommen Sie einmal des Donnerstags her, dann will ich Ihnen Alfred de Musset zeigen, welcher in einer Flasche Absynth Vergessen und Tod sucht und ihn sicher bald finden wird. Ich habe ihn oft und hart angegriffen und muß doch eingestehen, daß er einer der größten Poeten unserer Epoche ist … nein gewesen ist; denn jetzt ist er nichts mehr als eine Ruine … Sie können Sich auch den Doctor der Jurisprudenz Heinrich Heine ansehen, welcher die Rückenmarkdarre hat, obgleich man ihm das Gegentheil einreden will – das ist auch einer der Dichter unserer Zeit, die an einer Art von poetischem delirium tremens sterben werden, und recht bald, so Gott will … Lieber Herr, thun Sie mir den Gefallen, wenn Sie einmal einen Sohn haben, der poetische Anlagen besitzt, geben Sie ihm so viel Grütze zu essen, daß er fett wird und seine ganze Poesie in seinem Fette verschwindet …“

Ich konnte es nicht länger ertragen.

„Schweigen Sie, schweigen Sie!“ rief ich, „Sie regen mich zu schmerzlich auf … und Sich gewiß noch mehr.“

Heine lachte.

„Armer junger Mann!“ sagte er, „leben Sie noch ein Jahrzehnt in der Welt und Sie werden über die Jeremiaden des sterbenden Poeten lachen, wie unser ganzes Geschlecht!“

Und er lachte weiter mit einem krampfartigen, mißtönenden Lachen, das mir das Mark in den Knochen erstarrte und machte, daß ich mich meilenweit fortwünschte.

Ich schauderte … es ist mir unmöglich, die Gefühle, die mein Gehirn verwirrten, wiederzugeben. Der Cynismus des Kranken erregte mir Abscheu, seine Schmerzen Mitgefühl, sein Geist Bewunderung. Als ich ihm darauf bemerklich machte, welchen Antheil das deutsche Publicum an Heine’s Leiden nehme, lachte er aus vollem Halse, d. h. so sehr es seine Krampfanfälle zuließen.

„Sie haben Recht,“ sagte er, „neulich war der große Schimpanse des Jardin des Plantes auch unwohl, und ganz Paris interessirte sich für den kranken Affen, und als er endlich starb, gab es Kindermädchen, die täglich den Garten besuchten, welche traurig den Kopf hängen ließen und seufzend ihren Gefreiten sagten: ‚Ach, solch einen Affen giebt es nicht mehr!‘ Ich werde eher in Deutschland vergessen werden, als der große Affe des Jardin des Plantes, und ich will Ihnen auch erklären weshalb und Deutschland gegen mich selbst vertheidigen. Ich hätte mir als lyrischer Dichter Ruhm erwerben können … und Deutschland hätte mich geliebt, als satirischer hätte es mich gefürchtet, als Polemiker hätte es auf mich gehört und mich gehaßt! Nun bin ich aber, Gott sei’s geklagt, so ziemlich Alles gewesen und Niemand weiß mich zu classificiren; da mein Deutschland sich aber nicht gern den Kopf über Kleinigkeiten, wie ich bin, zerbricht und zu viel zu thun hat, um die transscendentalen Ideen seiner Politiker zu begreifen, so macht es unter mein Dichten und Trachten einen Strich und sagt: diese Rechnung ist geschlossen! und geht zu einem anderen Conto über.“

Ich mußte malgré moi die Einfälle des Kranken belächeln.

„Bitte, holen Sie mir einmal aus dem Schranke dort Alfred de Musset’s Poesien,“ sagte er, „geben Sie das Buch her, hier … lesen Sie mir einmal diese Stelle vor. Ich kann den Menschen nicht leiden, und doch ist es mir ein Bedürfniß, seine Verse zu hören.“ Ich las … es war eine der besten und zugleich der schrecklichsten Poesien des verzweifelten Dichters. Es ist „Les voeux stériles“ betitelt und ist wahrscheinlich in Deutschland wenig bekannt. Das Gedicht ist an die Poeten und poetischen Naturen gerichtet und prophezeit ihnen, daß die Menge sie und ihre Gefühle immer verhöhnen wird, daß die Menge nur an Thatsachen, an „fließendes Blut“ glaubt, aber „tiefe, verzehrende Seelenschmerzen“ als poetische Erfindungen verlacht. Es ist unmöglich, eine Analyse dieses schaurigen Meisterwerkes zu geben, und diejenigen, welche sich für die Unterhaltung interessiren, die ich an diesem mir unvergeßlichen Abend mit Heine hatte, müssen es selbst lesen. Mit geschlossenen Augen hatte mir Heine zugehört und während meiner Lectüre in kleinen Zügen das vorher von seiner Frau bereitete Getränk geleert. Als ich geendet hatte, fragte er mich, ob ich das Gedicht schon früher gelesen. Ich verneinte es.

„So lesen Sie es, so oft Sie können,“ sagte er, „und wenn Sie ein Dichter sind oder Anlagen dazu haben, was ich fast befürchte, dann lesen Sie es täglich Morgens, Mittags und Abends, lernen Sie es auswendig und lehren Sie es Ihre Kinder; beinahe möchte ich Ihnen sagen, wie die Juden in ihren Gebeten: schreiben Sie es an die Pfosten Ihres Hauses und binden Sie es vor Ihre Stirn.“

„Und wenn das Alles nicht hilft?“ fragte ich schüchtern.

„Ja dann,“ sagte der kranke Dichter sehr ernst, „wenn es geschrieben steht … dann kann kein Musset helfen, dann, mein lieber Landsmann, kann ich Ihnen nur rathen, die Märtyrerkrone mit Würde zu tragen und“ – er lächelte beißend – „Ihr Geld keinem Schwindler anzuvertrauen! Und nun leben Sie wohl, lieber Herr, ich werfe Sie hinaus, aber, Sie werden mir verzeihen, ich muß mich schonen, denn ich erwarte noch einen Besuch und habe sehr viel gesprochen … Leben Sie wohl, und wenn Sie wieder nach Paris kommen, besuchen Sie mich – wenn ich nämlich dann noch sichtbar bin,“ setzte er mit einem mir gezwungen scheinenden Lachen hinzu.

Ich ging näher und reichte ihm die Hand … Heute darf ich es gestehen, hätte ich mich nicht mit Gewalt bezwungen, ich hätte geweint.

Eine Dienerin öffnete die Thür und meldete: „Frau von Girardin.“

„Da kommt mein seit einem ganzen Monate erwarteter Besuch!“ rief Heine.

Eine schlanke, noch jugendliche Figur mit einem höchst interessanten Gesichte trat ein und ging auf den Dichter zu, dem sie herzlich die Hand drückte.

„Ave, Delphina gratia plena, moriturus te salutat!“[4] rief Heine; „ich werde heute Abend sehr Pedant sein, liebe Madame, ich habe eine ganze Stunde mit einem Deutschen, dem hier, gesprochen.“

Erröthend verneigte ich mich und schritt der Thür zu.

„A propos!“ rief mir Heine nach, „da Sie wahrscheinlich einmal dem Verlangen unterliegen werden unsere Unterhaltung zu veröffentlichen, so thun Sie mir doch den Gefallen, Nichts von Ihrer eigenen Erfindung hinzuzusetzen und meine Gedanken so dem hochverehrten Publicum wiederzugeben, wie Sie solche von mir erhalten. Thun Sie mir den Gefallen, seien Sie ein ehrlicher Mensch … nicht wahr?“

Ich ging. –

[11] Einige Jahre später kehrte ich von den Antillen nach Paris zurück; ich suchte alte Bekannte auf und erkannte, wie wenig Heine sich in seinen Prophezeiungen getäuscht hatte. Er war seiner furchtbaren Krankheit erlegen.

Frau von Girardin war gestorben.

Alfred de Musset war der so lang gesuchte Tod in seinem letzten Glase Absynth geworden. An einem Laternenpfahl in einer entlegenen Straße hatte man eines Morgens einen Leichnam hängen gefunden. Es war Gerard de Nerval, der sich selbst die Schlinge um den Hals gelegt hatte.




Norwegischer Bauern-Zweikampf.

Ein Volksbild von Adolf Tidemand.

Ein Tag der Freude war’s, ein Hochzeitsfest, zu welchem die Gäste aus ihren zerstreuten Gehöften sich sammt ihren Familien im Hochzeitshause zusammengefunden hatten. Wir überblicken den weiten Raum der Stube eines alten norwegischen Bauernhauses vom Kellereingang bis zum Dach hinauf. Diese Stuben sind so gebaut, daß das Hauptlicht von oben, vom Rauchfang kommt. Der durch die Rauchschichten des Hintergrundes phantastisch hervorragende Drachenkopf ist eine kranartige Vorrichtung, um den großen eisernen Topf oder Kessel über das Heerdfeuer zu halten. Durch hölzerne Klammern an der Hinterwand befestigt, kann derselbe hin- und herbewegt werden. Der Drachenkopf spielt eine große Rolle bei allen älteren und selbst noch neueren Verzierungen der norwegischen Bauernwohnung. Die Feuerstelle ist von Steinen errichtet und ausserhalb mit Holzbohlen bekleidet. Neben ihr hat in der Regel das große Familienbett seinen Platz.

Um die festen Tische gereiht saß das harte, zähe Völkchen, dem die rauhe Natur der Heimath auch die Sinne gehärtet und den Geist gesteift hat; fremd der Beweglichkeit der Menschen unter milderen Himmeln, geht, wie der Lauf des Blutes, der Strom der Gedanken und der Gefühle nur gemessenen Schritt; aber höher als irgend einem Landmann der stammverwandten germanischen Reiche hebt ihm die Brust das Mannesbewußtsein, der Freiheitsstolz, ein unantastbares, ritterliches Ehrgefühl. Eben weil auf seinem Heimathboden kein Adelsstand den Vorzug der Ritterlichkeit für sich allein forderte und mit seiner Wucht Bürger und Bauern zu unedler Niedrigkeit hinabdrückte, blieb die germanische Würde des Freien in Norwegen Eigenthum und Eigenschaft des ganzen Volks.

Je starrer beim Bauern die Lebensformen und je bestimmter sie ausgeprägt sind, um so gewaltiger braust die Leidenschaft auf, wenn das bezaubernde Feuerwasser das träge Blut erhitzt und in Wallung gebracht hat und wenn dann ein scharfes Wort alten Groll ritzt oder den Stolz der Ehre verwundet. So ritterlich wahrte dieses Volk die Würde der Freien, daß es selbst von auflodernder Feindschaft nicht zu gemeiner Prügelei hingerissen wurde; der Zweikampf entschied, eine Erbschaft der Gottesurtheile, über das verletzte Recht, und ritterlicher als die Ritter, nicht geschirmt hinter stählernem Panzer und Helm, bot der Kämpfer, Aug gegen Aug, dem Gegner die freie Brust, und die Waffe Beider war die Streitaxt. Diese Aexte, die man noch häufig findet, wurden als Stab und Waffe zugleich geführt; sie waren zierlich gearbeitet und die Griffe, mit welchen man die Hiebe des Gegners parirte, mit eisernen Schienen umwunden.

Die Zweikämpfe auch dieser Bauern fanden nach bestimmten Regeln und zwar so häufig statt, daß man erzählt, die Frauen hätten zu solchen Festlichkeiten stets das Todtenhemd ihrer Gatten mitgenommen, falls sie’s etwa nöthig haben sollten; daß sie aber auf der Stelle und in Gegenwart der ganzen Versammlung, wo sie hervorgerufen worden, auch ausgekämpft wurden, ist bei der einfachen Ursprünglichkeit des Wesens dieses Volkes nicht anders zu erwarten. So sehen wir auch auf unserem Bilde den Kreis der Festgenossen noch an die Wände der Halle zurückgedrängt, wie sie für den Kampf freie Bahn gemacht hatten. Nur der alte Geigenspieler hatte seinen Platz zwischen Heerd und Kellereingang behauptet. Und selbst jetzt, wo der blutige Streit entschieden ist, stehen noch Alle, vom Schrecken gebannt, im Kreise und die Kinder auf den erflobenen höheren Plätzen. Nur drei Männer legen Hand an den Todten und den Todeswunden, aber zwischen sie drängt sich die alte Mutter und flucht dem unseligen Sieger, dessen Scheideblick noch an seinem Opfer haftet.

Und wer ist der Künstler, dem wir dieses neue Kleinod der Kunst verdanken? – Ein treues Kind des Volkes, das er durch seine schönsten Werke verherrlicht.

Adolf Tidemand ist zu Mandal in Norwegen, am 14. August 1815 geboren. Wie der Lebensgang so vieler Männer, deren rastloses Schaffen ihren Namen zu einem vielgenannten erhebt, ist auch der seinige bis jetzt ein sehr einfacher gewesen. Von Kopenhagen, wo er seine Jugendzeit den Vorstudien seiner Kunst gewidmet, wollte er sich nach München begeben, dessen Kunstruf für die Leute im Norden damals den meisten Reiz hatte, gerieth aber auf seiner Reise nach Düsseldorf und fühlte sich hier und besonders in Hildebrandt’s Nähe bald so heimisch wohl, daß er nicht nur hier seine Studien vollendete, sondern, nachdem er Italien gesehen und später seine Heimath wieder besucht hatte, nach Düsseldorf zurückkehrte, um da seinen Wanderstab für immer niederzulegen. Er gehört, trotzdem er seitdem Mitglied der Akademieen zu Christiania, Stockholm, Berlin, Kopenhagen und Amsterdam geworden, deren jede den genialen Mann gern in ihrem Kreise sähe, mit ganzem Herzen dem Düsseldorfer Künstlerkreise an, wo ihn Liebe und Hochachtung von allen Seilen umgiebt.

Als Künstler hat Adolf Tidemand für die Malerei ein neues Reich erobert, zu dessen Beherrschung ihm gerade die Düsseldorfer Schule die rechten Mittel in die Hand gab. Früher der vaterländischen (d. h. norwegischen) Historie zugeneigt, fand er sich bald durch die Notwendigkeit, für die Darstellung der Vergangenheit auch das Leben der Gegenwart seines Volks zu studieren, von der großartigen Charaktereigenthümlichkeit desselben so angezogen, daß er fortan die Verherrlichung des norwegischen Volkslebens in allen seinen Aeußerungen von der höchsten Lust bis zum tiefsten Leid zu seiner Berufsaufgabe erhob. Ging er damit, nach der schulmäßigen Classification, von der Historie zum Genre über, so hat er sich doch nicht von den gewohnten Regeln desselben binden lassen, sondern sowohl hinsichtlich der räumlichen Größe, als hinsichtlich der Stoffwahl sich die Hand frei erhalten. Indem er auch längst untergegangene Sitten und Gebräuche seines Volks in den sprechendsten Scenen darstellt, nähert er sich dadurch eben so sehr der Historie, als er durch die Dimensionen, die er für die Darstellung von Sitten und Gebräuchen der lebenden Generation anwendet, vom gewöhnlichen Maße des Genre abweicht. Aber in allen seinen Bildern weiß Adolf Tidemand, wie sich sehr treffend ein neuerer geistreicher Kunstkritiker ausspricht, mit bewunderungswürdiger Treue und Liebe den Typus des norwegischen Bauern zu schildern; „er hat eine ungemeine Begabung für Auffassung des Charakteristischen im Volke überhaupt sowohl, wie in den einzelnen Individuen. Schlicht, natürlich und voll wahrer tiefer Empfindung, besitzen seine Bilder außerdem noch das Verdienst eines sorgfältigen Studiums und meisterhafter Behandlung. Mit Unrecht hat man ihnen den Vorwurf gemacht, daß sie der Schönheit entbehrten. Die Köpfe seiner norwegischen Bauern sind freilich nicht im gewöhnlichen Sinne schön, aber sie sind schön durch die Wahrheit und Tiefe der Charakteristik. In dem mit Hans Gude (dem berühmten Landsmann und Kunstgenossen Tidemand’s, dem Verherrlicher der Natur Norwegens, mit welchem derselbe Vieles gemeinsam schuf, indem er mit seinen Genrefiguren dessen Landschaften ausschmückte) gemalten 'Leichenbegräbnis am Sognefjord’ waltet ein Maß seelenvoller Schönheit, das durch 'hübsche Gesichter’ nie und nimmer erreicht worden wäre.“ – Außer den genannten Bildern gehören „die Haugianer“ (religiöse Sekte) und die "Katechisation eines Küsters in einer Landkirche Norwegens“ zu den ganz besonders hervorzuhebenden Werken.

Wir können von unserm Gegenstand nicht scheiden, ohne einen dringenden Wunsch gegen unsere deutschen Künstler auszusprechen. Ist unser deutsches Volk nicht derselben Verherrlichung werth, wie das norwegische, oder ist der ungeheure Stoff, den die vielen deutschen Stämme vom Meer über die Ebenen bis zu den Mittel- und Hochgebirgen des Vaterlands bieten, wirklich schon erschöpft?

[12] Kaum die Thür ist geöffnet zu den Hallen dieses Reichthums – und dennoch zieht es die große Masse unserer Künstler vor, ihre Vorwürfe auf fremden Gebieten der Geschichte, der Mythologie, der Legende zu suchen, anstatt da, wo das volle Leben ihnen winkt. Was anders verursacht es, daß das Volk vor den meisten ihrer Bilder kalt bleibt, als der Umstand, daß sie für des Volkes Herz nichts bieten? Auf Gegenseitigkeit beruhen auch in der Kunst Wirkung und Geschäft.




Das Werk eines deutschen Bürgers.
Von Ludwig Walesrode.
I.
Herzog August und seine kostspieligen Tollheiten. – Seine Schulden bei den Bürgern Gotha’s und die Insolvenz seines Nachlasses. – Herzog Friedrich IV. wird von seinen „Unterthanen“ in englische Lebensversicherungen eingekauft. – Sein Tod. – Ein englischer Gerichtshof in Gotha. – Kings Bench. – Lord Brougham, Advocat für die gothaischen Kläger. – Englische Proceßkosten. – E. W. Arnoldi. – Stiftung der Gothaischen Lebensversicherungsbank.

Im Jahre 1804 gelangte Herzog August von Gotha-Altenburg zur Regierung, sicherlich einer der bizarrsten Fürsten, welche jemals die Geschicke eines deutschen Landes oder Ländchens geleitet haben. Die wunderlichen Einfälle dieses Mannes grenzten an eine Tollheit, in welcher selbst der weiland königlich dänische Kammerherr von Polonius schwerlich eine „Methode“ zu entdecken im Stande gewesen wäre. Ich verweise auf einen von kundiger Hand im Jahrgange 1857 der „Gartenlaube“ mitgetheilten Artikel über diesen Fürsten und auf die Illustration dazu, welche besagten Herzog August (nach einem in Gotha befindlichen Gemälde) darstellt, im Gewände einer Griechin, auf einem antiken Ruhebette hingestreckt, einen King-Charles-Hund auf dem Schooße. Ueberhaupt liebte es der Herzog auf den weitgestreckten Corridors und dem großen Hofe seines Residenzschlosses Friedenstein in den verschiedensten Verkleidungen, als indischer Priester, als jüdischer Rabbi etc., umher zu wandeln. Selbst mit der Farbe seiner Perrücke wechselte er in einem fort – das Gesicht war geschminkt und mit Schönpflästerchen beklebt. Bei alledem war er ein Mann von Geist, der sich sogar schriftstellerisch versuchte. „Kyllenion oder auch ich war in Arkadien“ lautet der Titel eines von ihm in der Manier der Wieland’schen „Grazien“ verfaßten Buches. Es wird ihm auch noch ein anderes Werk „Vierzehn Briefe eines Karthäusers“ zugeschrieben. Ein Zeitgenosse Carl August’s und gewissermaßen dessen Wandnachbar, besuchte der Herzog häufig den weimarischen Hof, zum großen Verdrusse Goethes, dessen in classischer Ruhe gesammeltem Wesen die Bizarrerieen des Herzogs, besonders dessen frivole wortspielende Witzelei, wenig behagten. So oft Herzog August in Weimar war, blieb Goethe von der Tafel seines fürstlichen Freundes fort.

Trotz dieser souverainen Absonderlichkeiten oder, wenn man will – Narrheiten, gehörte Herzog August, hinsichtlich seiner Regierung, zu den besten deutschen Fürsten seiner Zeit. Er verstand es sein kleines Land glücklich durch die Stürme zu lootsen, mit welchen der Napoleonische Siegeszug die Staaten Europas in ihren Grundvesten erschütterte. Dem freundschaftlichen Verhältniß; in das er zum französischen Kaiser trat und an welchem eine ungeheuchelte Bewunderung vor dem Genie Napoleon’s den größten Antheil halte, verdankten die Einwohner des Gothaisch-Altenburg’schen Herzogtums, daß die Noth jener Zeit, welche schwer auf den andern deutschen Staaten lastete, mit keinem merklichen Ungemach sie berührte. Wer etwa heute dieses intime Verhältniß des Herzogs zu Napoleon ein undeutsches schelten wollte, den möchten wir an das „Parterre von Königen“ erinnern, auf das Napoleon aus seiner kaiserlichen Loge im Erfurter Theater hinabsah. – Aber auch als nach dem Sturze Napoleon’s die Karte von Deutschland revidirt wurde, wußte Herzog August sein Ländchen vor dem Verschlingungsgelüste der benachbarten Großmächte zu schützen. Auch kann man ihm nicht nachsagen, daß sein Land unter dem Drucke einer verstärkten absolutistischen Reaction die Befreiungsthat des deutschen Volkes abbüßen mußte, wie das fast im ganzen deutschen Vaterlande geschah. Noch heute hört man von älteren Leuten in Gotha, die sich jener Zeit erinnern, seine humane und milde Regierung rühmen. Eben so wenig wurde die Steuerkraft des Landes besonders scharf angezogen. Die Abgaben waren äußerst mäßig, obgleich der Herzog Geld und zwar sehr viel Geld brauchte für die oft kostbare Inscenesetzung seiner barocken Einfälle, besonders aber für eine verschwenderische Hofhaltung, bei welcher natürlich die keiner Controle unterworfenen Hofbediensteten, in auf- und absteigender Linie, ihr Schäfchen in’s Trockne zu bringen wußten. So berechnete z. B. das Hofmarschallamt die jährlich für die herzogliche Tafel verbrauchte – Petersilie mit fünfhundert Thalern.[5]

Vor Allem aber war der Herzog freigebig bis zum Exceß. Er beschenkte mit vollen Händen nicht blos seine Höflinge und Günstlinge, sondern Jeden, der seiner Laune gerade in den Wurf kam. Natürlich, daß die Bijouterie- und Modewaarenläden in Gotha, wo der Herzog seine Einkäufe stets in eigener Person besorgte, diesen Zug fürstlicher Freigebigkeit sich besonders zinsbar zu machen wußten. So erzählt man noch heute in Gotha, daß sämmtliche goldene Tabatieren, die der Herzog nach und nach als Präsente für irgend einen Günstling seiner Umgebung in der dortigen P.’schen Handlung, das Stück zu vierhundert Thalern ein kaufte, im Gründe nur aus einer einzigen und zwar immer aus einer und derselben goldenen Dose bestanden, welche der jeweilig Beschenkte regelmäßig gedachtem Handlungshause für hundert Thaler wieder überließ. Noch weit bedeutender waren die Einkäufe, welche der Herzog viele Jahre hindurch in dem damals ersten Putz- und Modewaaren-Geschäft von Madam Schenk in Gotha machte, wo er nicht selten ganze und kostbare Aussteuern für Bräute aus der Stadt Gotha anfertigen ließ. Da der Herzog nicht gleich bezahlte, so stieg sein Conto bei den Handels- und Gewerbsleuten Gotha’s, die ihm ihre Waaren lieferten, auf enorme Ziffern, abgesehen von den baaren Summen, welche ihm begüterte Einwohner Gotha’s zur Bestreitung seiner laufenden Ausgaben und der Geldunterstützungen, um die er selten vergebens angesprochen wurde, vorgeschossen hatten. Die Bürger der kleinen Residenzstadt rechneten sich’s zur hohen Ehre an, in das vertrauliche Verhältniß als Gläubiger zu Serenissimus getreten zu sein. Hielt doch Jeder sich der prompten Wiederbezahlung mit Zinsen und sonstiger allergnädigster Berücksichtigung für sicher.

Da starb Herzog August im Mai 1822, und zur nicht geringen Bestürzung seiner zahlreichen Gläubiger in Gotha ergab die gerichtliche Aufnahme der Erbschaftsmasse, daß der Herzog schon längst insolvent gewesen. Mit dem Manuskripte eines unvollendeten Romanes, betitelt „Panedone“ (All-Lust), das sich unter seinem Nachlasse fand, konnte seinen Gläubigern wenig gedient sein. Diese All-Lust erschien fast als ein posthumer Witz des Verstorbenen über seine nicht sonderlich all-lustig gestimmten Creditoren. Die Forderungen wurden jetzt gegen den als Friedrich der Vierte zur Regierung gelangten Bruder des verstorbenen Herzogs ungestüm geltend gemacht. Es hätte über den unzulänglichen Nachlaß des „Hochseligen“ der Concurs erkannt werden müssen, wenn nicht das Ministerium des neuen Landesfürsten, zur Vermeidung des Scandals, eine Abkunft mit den Gläubigern dahin getroffen hätte, daß ihnen ihre Forderungen in fünfjährigen Raten, vom 1. Februar 1824 bis zum 1. Februar 1829 bezahlt werden sollten, falls der nunmehr regierende Herzog Friedrich der Vierte so lange am Leben bleiben würde. Diese etwas bedenkliche Clausel veranlaßte die gemeinsam handelnden Gläubiger zu dem Entschluß, das ihnen so kostbare Leben des Herzogs Friedrich des Vierten bei der Londoner Lebensversicherungs-Compagnie „Union“ auf fünf Jahre und auf den Betrag der summirten Forderungen zu versichern.

Aber die „Union“ ließ sich sehr schwierig herbei, den durch ihre Generalagentur für Deutschland, das Handlungshaus Corty und Compagnie in Hamburg, ihr zugegangenen hohen Versicherungsantrag anzunehmen, und das nicht ohne Grund. Es war nämlich

[13]

Das Ende eines norwegischen Bauernzweikampfs.
Nach einem Gemälde von Adolf Tidemand.

[14] allgemein bekannt, daß Herzog Friedrich, der zur Stärkung seiner Gesundheit niedrere Jahre in Italien gelebt hatte und dort mit Hülfe der Jesuiten katholisch geworden war, total geistesschwach und der Sprache fast völlig beraubt die Regierung des ihm zugefallenen Landes angetreten hatte. Die nicht ungegründete Befürchtung des Direktoriums, daß diese Geistesschwäche und der Sprachmangel mit einem lebensgefährlichen organischen Uebel zusammenhängen, wurde indeß von den beiden Leibärzten des Herzogs beseitigt, welche eine vom Vorstande der Union ihnen vorgelegte Reihe von Fragen, den Gesundheitszustand den zu Versichernden betreffend, in beruhigendster Weise beantworteten. Sie erklärten ausdrücklich, daß der Herzog an keinem andern körperlichen Gebrechen leide, als an einem grauen Staar auf dem linken Auge und einer bloßen Schwerfälligkeit der Sprache, die seit dem Jahre 1819 eingetreten sei. Sonst aber seien Umstände, die sein Leben in Gefahr bringen und eine Versicherung darauf mehr als gewöhnlich gefährden könnten, bei ihm weniger als bei jedem Andern zu fürchten, da die Lebensweise des Herzogs nach ärztlicher Anordnung auf das Genaueste geregelt sei und seine Umgebung auf’s Sorgfältigste über die Erhaltung seiner Gesundheit wache.

Trotz dieser beruhigenden officiellen Erklärung der herzoglichen Leibärzte übernahm die Union doch nur unter außergewöhnlichen Vorsichtsmaßregeln den Versicherungsantrag. Sie verlangte in dem gegenwärtigen Falle eine jährliche Prämie von fünf Procent, während sonst bei neunundvierzig Jahre alten Personen – so alt war damals der Herzog – nur eine Prämie von zwei und vier Fünftel Procent bei Versicherungen auf fünf Jahre üblich war. Die Versicherer schlugen mithin die außerordentliche Gefahr, die nach ihrer Meinung für die Dauer des körperlichen Wohlbefindens des Herzogs Friedrich vorhanden war, auf zwei und ein Fünftel Procent an und verlangten mithin fast das Doppelte der gewöhnlichen Prämie. Außerdem erklärte die Union, daß sie nicht die ganze Summe, mit welcher die Beteiligten das Leben des Herzogs versichern wollten, übernehmen werde, daß sie aber bereit wäre die Versicherung des Restes bei andern Londoner Gesellschaften zu vermitteln. Dieser Umstand allein dürfte schon den enormen Betrag der Schulden constatiren, die Herzog August bei seinen Landeskindern contrahirt halte. Die Betheiligten gingen auf die ihnen gemachten Bedingungen ein. Die Union übernahm die Versicherung bis zur Höhe der von ihr festgestellten Summe und versicherte den Rest bei vier andern englischen Gesellschaften, nämlich bei der Atlas Assurance Company, London Assurance Corporation, West of England Company und der Eagle Assurance Company. Bei der damaligen schwerfälligen Correspondenz zwischen Gotha, Hamburg und London verging eine geraume Zeit, bevor das Geschäft definitiv abgeschlossen wurde. Erst im Juni 1824 erhielten die Gothaer Interessenten ihre Policen und zahlten die erste Prämie an den Unteragenten der Union in Erfurt.

Aber nicht viel über ein halbes Jahr später (am 11. Februar) starb, unerwartet für seine ganze Umgebung, Herzog Friedrich nach einem Schnupfenanfalle, der den Aerzten keinen Anlaß zu irgend welcher Besorgnis; gegeben hatte, und mit ihm erlosch die Gothaisch-Altenburgische Dynastie. Bei der, wie es heißt, auf Anordnung des Großherzogs von Weimar vorgenommenen Section fand sich in der Schädelhöhle eine das Gehirn zusammenpressende Balggeschwulst, die sechs Zoll drei Linien in der Länge und drei Zoll zwei Linien in der Breite betrug und über acht Loth schwer war, während sich zwischen den Gehirnhäuten und dem Gehirn eine Menge Wasser vorfand, deren Gewicht nicht weniger als zwanzig Loth betrug. Diesen widernatürlichen Wassererguß erklären die Aerzte für die nächste Veranlassung des schnellen Todes des Herzogs, während sie unwiderleglich beweisen zu können aussprachen, daß die Ursache des beschränkten Geisteszustandes des Herzogs schon in dessen frühesten Lebensjahren entstanden wäre und den Tod desselben nicht herbeigeführt hätte. Der Befund dieser merkwürdigen Section wurde officiell in der Gothaer Zeitung veröffentlicht.

Die Inhaber der Policen machten nunmehr ihre Forderungen an die englischen Versicherungsgesellschaften geltend. Die Union und die West-Company leisteten Zahlung für die bei ihnen versicherten Summen, die drei übrigen Gesellschaften erklärten aber nach vielen Weiterungen, daß sie wegen eines Bruches der Bedingungen nicht zahlen würden. Alle Vorschläge, sie günstiger zu stimmen, wären ebenso vergeblich, wie die Versuche, sie zur Angabe eines speciellen Grundes ihrer Weigerung zu vermögen. Es blieb den Interessenten in Gotha nichts übrig, als ihre Ansprüche auf gerichtlichem Wege zu verfolgen. Aber auch die Klageführung vor den englischen Gerichtshöfen wußten die Compagnieen auf alle Weise zu erschweren. So wollten sie z. B. eine Bürgschaft von fünfhundert Pfund Sterling, welche das Haus Rothschild für die Kläger geleistet, für nicht sicher genug gelten lassen!

Endlich, nach langen, zu keinem Endziele führenden Verhandlungen, ordnete der Gerichtshof der Kings-Bench aus seiner Mitte eine Untersuchungs-Commission nach Gotha ab. Es war das nicht etwa eine Commission von Rechtsgelehrten, die sich über diese Angegelegenheit an Ort und Stelle unterrichten und mit den gothaischen Behörden in Vernehmen setzen sollten, sondern ein vollständiger englischer Gerichtshof, dem mit specieller landesherrlicher Ermächtigung des durch den Erbvertrag von 1826 zur Regierung gelangten Herzogs Ernst des Ersten von Sachsen-Coburg-Gotha die Befugniß eingeräumt war, auf deutschem Grund und Boden nach englischen Rechtsnormen zu verfahren und für seine Verfügungen und Requisitionen unweigerliche Folgeleistung zu fordern.

In der Geschichte deutscher Rechtspflege dürfte dieser Fall wohl einzig in seiner Art dastehen.

In England würde ein ähnlicher Verzicht auf die eigene Justizhoheit zu Gunsten eines ausländischen Forums so gut wie eine mathematische Unmöglichkeit, etwas geradezu Undenkbares sein. Wir brauchen nur, um von eben Erlebtem zu sprechen, an die Erbitterung zu erinnern, welche sich bei Gelegenheit des Müller’schen Processes in der englischen Presse gegen den dortigen deutschen Rechtsschutzverein kund gab. Und doch war in der Thätigkeit dieses Vereins auch nicht eine entfernte Spur von richterlichen Usurpationen oder von dem Versuche einer Beeinflussung des englischen Rechtsganges zu entdecken, da bekanntlich das löbliche Wirken des Vereins sich darauf beschränkt, dem deutschen Landsmanne die ihm schwer zugänglichen Mittel zur Erstreituug seines Rechtes oder zu seiner Vertheidigung vor englischen Gerichtsschranken zu Gebote zu stellen.

Leider aber können wir nicht constatiren, daß sich damals in unserm Vaterlande auch nur eine einzige patriotische Stimme zu einem Proteste gegen den fremdländischen Gerichtshof auf deutschem Boden erhoben hätte; keiner der berühmten Rechtslehrer, welche jener Zeit an deutschen Universitäten docirten – Savigny, Thibaut, Mittermaier, Zachariä – ließ sich auch nur mit einem Ausdrucke des Erstaunens über diesen fremden Einbruch in das deutsche Recht vernehmen. Erst im Jahre 1830, nachdem der Proceß schon längst zu den Acten gelegt war, durfte der in Gotha damals erscheinende „Allgemeine Anzeiger der Deutschen“ seiner durch das Imprimatur des Censors autorisirten Entrüstung gegen den englischen Gerichtshof Luft machen, freilich unter ausdrücklicher Wahrung der dankbarsten Anerkennung gegen den regierenden Herzog, der lediglich „in der Absicht, seinen Unterthanen zu dem Ihrigen zu verhelfen“, fremdes Recht und fremde Richter in’s Land gerufen hatte.

Die Sitzungen der Kings-Bench Commission, die volle fünf Monate dauerten, fanden unter dem Präsidium eines Mr. Mitchell im Gasthofe „zum Mohren“ in Gotha statt, in welchem die right honourable gentlemen ihren Wohnsitz aufgeschlagen hatten, zur großen Genugthuung des Mohrenwirthes, da diese seltenen Gäste nach höchstem englischen Style lebten, aber zu eben so großem Mißvergnügen der an dem Rechtshandel betheiligten gothaischen Bürger, welche die Zeche für jene Herren bezahlen mußten.

Die englische Untersuchungs-Commission nahm auch durchaus keinen Anstand, von den ihr eingeräumten Befugnissen den ungenirtesten Gebrauch zu machen – sie that, als ob sie zu Hause wäre, und da sie’s einmal durfte, that sie – unseres Bedünkens – Recht daran. Den damaligen Gothanern jedoch muß es curios genug vorgekommen sein, ihren „hochseligen“ Landesvater gewissermaßen wieder aus seinem Grabe ausgescharrt zu sehen, um nochmals dem unbarmherzigen, pietätlosen Secirmesser der fremden Richter unterworfen zu werden. Denn die Untersuchung ging vorzüglich darauf aus, nicht blos den körperlichen und geistigen Zustand, sondern auch die geheimen Lebensgewohnheiten weiland Herzog Friedrich’s des Vierten auf’s Gründlichste festzustellen. Die Leibärzte des Verstorbenen wurden zu dem Behufe vor den Schranken der Kings-Bench-Commission im „Mohren“ der ganzen Peinlichkeit eines englischen Kreuzverhöres unterworfen, und sie mußten sich’s gefallen [15] lassen, daß ihr abgegebenes amtliches Gutachten zur Superrevision auswärtigen medicinischen Autoritäten unterbreitet wurde. Ebenso mußten sich die Hofleute und Diener Herzog Friedrichs dem Gerichtshofe stellen, um sich über die physischen und moralischen Eigenheiten des Herzogs zu Protokoll vernehmen zu lassen. Selbst die Waschfrauen wurden über die Gesundheitsverhältnisse des Herzogs examinirt. Von auswärtigen Zeugen wurden mehrere Personen aus Stadtilm vorgeforden, die den Herzog in einem Zustande von Geistesabwesenheit und kindischer Abhängigkeit von seiner Umgebung gesehen haben wollten. Zwei Deutsche, ein Professor Hasper aus Leipzig und ein Herr Rißler, ich weiß nicht woher, dienten dabei, im Interesse der englischen Compagnie, als Aufspürer von den Klägern nachtheiligen Zeugen. Der „Allg. Anzeiger der Deutschen“ findet, in dem erwähnten Artikel, die „Schamlosigkeit“ dieser Zeugenaussagen über oder gegen das Leben eines eben verstorbenen deutschen Regenten ganz gleich der Schamlosigkeit, welche die Zeugenvernehmungen in dem noch im frischen Andenken lebenden Scandalprocesse gegen die Königin Caroline von England zu Tage förderten. Endlich wurde die Untersuchung, nachdem sie, wie bereits bemerkt, fünf volle Monate gedauert halte, geschlossen und die Acten nach England geschickt, ohne daß den Klägern Einsicht in dieselben gestattet wurde, während die Beklagten in England ohne Schwierigkeiten Abschriften erhielten. Dagegen hatten die gothaischen Bürger die Ehre, die Gasthausrechnnug für die hohe Commission mit circa sechstausend Thalern berichtigen zu dürfen.

Die deutschen Policeninhaber beschlossen jetzt, zunächst ihre 3208 Pfund Sterling betragende Forderung gegen die Atlas Company einzuklagen, da ja ein günstiges Urtheil in dieser Sache auch für die andern Forderungen entscheidend sein mußte. Die Hauptverhandlung fand vor dem Geschwornengericht der Kings-Bench am 21. October 1828 statt, unter dem Vorsitze des Lord Tenterdon. Der Anwalt der deutschen Kläger war kein Geringerer, als der berühmte spätere Lordkanzler Brongham, der mit glänzender Beredsamkeit, kräftig und gewandt, ihre Sache führte. Ueber die Ergebnisse des Zeugenverhöres wurde vom Gerichtshofe Dr. Green, Arzt am londoner Thomashospital, vernommen, dessen Aussage dahin lautete, daß die Geistesschwäche des Herzogs nicht der Art war, daß sie seine physische Gesundheit benachtheiligte, daß er (Zeuge) jedoch, wenn ihm die Ausstellung des besagten Gesundheitsattestes übertragen worden wäre, es für nöthig erachtet haben würde, der Geistesschwäche des Herzogs und seiner mangelhaften Sprachorgane Erwähnung zu thun. Der Vorsitzende, Lord Tenterdon, erklärte demnach, er würde den Geschworenen zu entscheiden geben, ob ihrer Meinung nach Thatsachen verschwiegen worden seien, die den Versicherern hätten bekannt gemacht werden sollen; fiele die Antwort bejahend aus, so wäre die Police dem Gesetze nach für null und nichtig zu halten. Diese Aeußerung machte sichtlich einen den Klägern nachtheiligen Eindruck auf die Stimmung der Geschwornen, so daß Lord Brougham es nicht für rathsam hielt, es auf einen Spruch ankommen zu lassen, sondern es vorzog, sich – wie die englische Proceßordnung es erlaubte – mit dem Vorbehalte abweisen zu lassen, das; er auf eine neue Untersuchung antragen könne.

Aber die Kläger verzichteten auf eine weitere Verfolgung ihres Rechts vor dem englischen Forum. Ihr Muth war durch den ungeheuren Kostenaufwand dieses ersten Versuches gebrochen. Lord Brougham liquidirte für seine Bemühungen als Anwalt nicht weniger als 2700 Pfund Sterling (gegen 19,000 Thaler); eine gestellte Caution von 900 Pfund Sterling war für die Kosten der Verhandlung vor der Jury daraufgegangen. Kurz, Alles in Allem gerechnet, belief sich der gemachte Aufwand bereits auf 27,000 Thaler, während es sich zunächst nur um ein Object von 3208 Pfund Sterling oder nicht ganz 22,000 Thaler handelte!

So endigte, noch bevor es zu einem Verdict gekommen, dieser merkwürdige deutsch-englische Lebensversicherungs-Proceß, der nicht blos für die Geschichte der deutschen Rechtspflege, sondern für die Blätter unser neueren vaterländischen Geschichte überhaupt eine nicht gerade heitere Illustration liefert. Wurde doch durch diesen Rechtshandel und noch dazu vor den Schranken einer englischen Gerichtsstätte actenmäßig constatirt, daß in Deutschland die Geschicke eines Staates in den Händen eines Fürsten ruhen konnten, der von dem Antritte seiner Regierung bis zu seinem Tode total geistesschwach, der Sprache beraubt und halb erblindet war und für dessen Regierungshandlungen kein constitutioneller Minister die Verantwortung übernehmen konnte, weil eben das gothaische Land damals noch ein unconstitutionelles, absolut regiertes war. Daß Herzog Friedrich der Vierte von unschädlichen, gutmüthigen Instincten geleitet war – wer sieht dem edlen, lockigen Byronskopf der auf der Gothaer Schloßbibliothek ausgestellten, von Rathgeber gefertigten Marmorbüste des Herzogs überhaupt eine Spur physischer wie geistiger Verkümmerung an? – so wie der Umstand, daß seine geschäftleitenden Staatsbeamten gewissenhafte, umsichtige Männer waren, welche die Unzurechnungsfähigkeit ihres Gebieters nicht zum Nachtheile des Landes mißbrauchten, mag immerhin die Thatsache in milderem Lichte erscheinen lassen, das Widernatürliche derselben wird dadurch nicht aufgehoben.

Aber wir können diese Misère heute vergessen oder doch zu dem übrigen Unerquicklichen legen, dessen die vaterländische Geschichte an ähnlichen Thatsachen mehr als zu viel bietet, im Hinblick auf die glorreiche Nutzanwendung, welche der sein berechnende Kopf und der Unternehmungsmuth eines verdienten Mannes in Gotha, unterstützt von der patriotischen Beihülfe seiner Mitbürger, aus dem verunglückten Processe zu ziehen wußte. Der harte Schlag, der den Wohlstand gothaischer Geschäftshäuser tief erschütterte und einige derselben zum Falle brachte, gab, mit elektrischer Wirkung, den ersten Anstoß zur Schöpfung der deutschen Lebensversicherungsbank zu Gotha.

Es war der geniale Begründer der Feuerversicherungs-Bank zu Gotha, der Kaufmann E. W. Arnoldi, den der Verlust, welchen seine Mitbürger in diesem eben so kostspieligen wie nutzlosen Proceß erlitten, in seinem bereits 1827 entworfnen Plane bestärkte, die deutsche Nation von den englischen Lebensversicherungsinstituten zu emancipiren durch eine That nationaler Selbsthülfe.

Warum sollte deutsches Geld, deutsche Rechenkunst, deutsches Wissen von den Gesetzen des Lebens und Sterbens, vor Allem aber die Macht deutscher Vergesellschaftung nicht ausreichen in unserm Vaterlande, unter dem Schutze vaterländischen Rechtes, ein Institut ähnlich weittragenden und wohlthätigen Wirkens zu begründen? Und dieser Gedanke verwirklichte sich in rascher That.

Schon am 1. Januar 1829 wurde die Lebensversicherungs-Bank für Deutschland in Gotha eröffnet mit einem Stamme von 794 Theilnehmern und einer Versicherungssumme von 1,390,000 Thlrn. Am 1. November 1864 zählte das noch jugendlich zu nennende Institut – denn erst in vier Jahren wird es sein Schwabenalter erreichen – bereits 26,397 Personen zu seinen Theilnehmern mit einer Versicherungssumme von 45,604,00 Thalern. Der Bankfond betrug 12,450,000 Thaler! Facta loquuntur – Zahlen sprechen!

Dieses Institut, das erste in Deutschland der Zeit nach, das erste auf dem europäischen Continente der Bedeutung nach, ja in mehr als einer Beziehung, in welcher es die älteren englischen Lebensversicherungsanstalten überflügelt, das erste der Welt, verdient wohl in unserm Vaterlande besser gekannt zu sein, als eine flüchtige Vorstellung von dem Wesen desselben oder ein Blick in seine Statuten solches ermöglichen. Stellt sich doch in keiner andern volkswirthschaftlichen deutschen Schöpfung die Macht der Association in so imposanten Ziffern in so sichtbar wohlthätiger Einwirkung auf das Familienleben und indirect auf den nationalen Wohlstand dar! Und doch war diese Schöpfung durch den ebenso genialen wie kühnen Gedanken eines Mannes in’s Leben gerufen, lange bevor noch die rastlose Agitation Schulze-Delitzsch’s die Idee der auf Vergesellschaftung begründeten Selbsthülfe und deren Verwirklichung durch die Volksbanken eine landläufig populäre geworden ist. Ich darf darum hoffen, daß meine Leser mich gern aus einem Gange durch die verschiedenen Bureaus der Gothaer Lebensversicherungsbank begleiten werden, um das ebenso großartige wie interessante Getriebe dieses Institutes kennen zu lernen. Der Leser hat nicht zu befürchten, in den Schematismus eines trockenen Geschäftsganges hineinzugerathen. Denn nirgends wohl dürfte ein Griff in’s volle Menschenleben interessantere Erscheinungen zu Tage fördern, als gerade an dieser Stätte, wo der letzte Athemzug des Sterbenden capitalisirt und in harte klingende Münze umgesetzt wird.



[16]
Blätter und Blüthen.

Deutsche Waaren unter ausländischen Titeln. In den letzten dreißiger Jahren lebte zu München der Hof-Uhrmacher M. Allgemein geachtet, tüchtig in seinem Berufe, stand er auch bei dem Könige in hoher Gunst, da dieser ein Liebhaber schöner und künstlicher Uhren war. In der Werkstätte des Herrn M. mußte Alles auf das Sorgfältigste ausgeführt werden; darum fand er selten einen Gehülfen, der nach seinem Sinne arbeitete, und klagte oft, daß Fleiß und Geschicklichkeit seit seiner Jugend viel seltener geworden seien. Er hatte einen Jugendfreund in Würzburg, der, ebenfalls sehr tüchtig in seinem Fache, eine Uhrenfabrik betrieb. An diesen wandte er sich einst mit der Bitte, ihm womöglich einen geschickten Gehülfen zu senden. Eine günstige Antwort kam. Ein junger Mann, Ignaz F., hatte in des Freundes Geschäft gelernt und dann noch eine Zeit lang gearbeitet, wollte sich aber nun auch einmal in anderen Städten umsehen und war bereit, bei Herrn M. einzutreten, der sich indeß nicht an das etwas kurzangebundene Wesen des Empfohlenen stoßen sollte, da dieser ein „origineller Kauz“ sei. Nach einiger Zeit kam der neue Gehülfe.

Der Meister zeigte F. die Werkstätte, wo er arbeiten sollte. Von den hingelegten Werkzeugen schob der junge Mann viele bei Seite.

„Was machen Sie da?“ fragte M. erstaunt.

„Hab’s besser,“ war die Antwort, und damit zog er ein feines Etui hervor, welches alle nöthigen Instrumente trefflich gearbeitet enthielt. Das gefiel dem Meister wohl, und er reichte dem Ankömmling eine goldene Repetiruhr hin, an welcher er selbst sich vergebens bemüht hatte, den Schaden zu entdecken. Der neue Gehülfe betrachtete sie aufmerksam und mit dem Ausruf: „Ah, weiß schon!“ machte er sich an die Arbeit. Nach einer halben Stunde trat er zu Herrn M. mit der Frage: „Was weiter?“

„Was macht die Uhr?“ erwiderte dieser.

„Ist fertig,“ lautete die Erstaunen erregende Antwort.

„Was fehlte ihr denn eigentlich?“

„War nur ein Loch verbohrt.“

Zu des Meisters Freude hatte er endlich einen Arbeiter gefunden, der seine Sache auf’s Pünktlichste verstand; er konnte vollständig zufrieden sein, nur ärgerte ihn des Gehülfen kurzes „Weiß schon“, wenn er diesem etwas erklärte, was derselbe verstand, und es gab eigentlich nichts Anderes.

Nach einem halben Jahre nöthigten Familienverhältnisse Herrn M. zu einer Reise in seine alte Heimath, das südliche Tirol. Er übergab Ignaz F. sein ganzes Geschäft und führte ihn insbesondere den Tag vor der Abreise nach dem königlichen Schlosse, wo allwöchentlich die Uhren aufzuziehen waren. Nachdem er ihm die verschiedenen Uhren gezeigt, sagte er, in des Königs Schreibzimmer tretend: „Diese astronomische Uhr muß ich Ihrer besonderen Sorgfalt empfehlen, da das Werk sehr complicirt ist.“

„Weiß schon.“

„Die Königin ließ sie zu des Königs Geburtstag kürzlich von England kommen,“ fuhr der Meister fort.

„Weiß schon,“ wiederholte ruhig der Angeredete.

Mit einem ärgerlichen Blick sprach Herr M. weiter: „Sie müssen dieses Thürchen öffnen, um an das Uhrwerk zu kommen.“

Ignaz F. stand noch in der Mitte des Zimmers, und ohne näher zu treten, erwiderte er nur: „Weiß schon.“

Nun konnte der Meister seinen Zorn nicht länger bezwingen. „Was wissen Sie? Gar nichts! Glauben Sie, ich ließe mich foppen? Ich, der Hof-Uhrmacher Sr. Majestät, foppen von einem jungen Manne?“

Da trat dieser näher und sagte: „Wollen Sie gütigst einmal hinten auf das Knöpfchen drücken?“

„Da ist kein Knöpfchen!“ polterte Herr M.

„Doch! Sehen Sie?“ und damit drückte F. auf ein unscheinbares Knöpfchen und hielt dem Meister ein Messingplättchen hin, worauf stand:, „Ignaz F. Würzburg 18**.“

„Was hat das zu bedeuten?“ fragte erstaunt der Hof-Uhrmacher.

„Daß ich diese Uhr gemacht.“

„Sie?“ und sprachlos maß er seinen Begleiter von oben bis unten, schüttelte ungläubig seinen Kopf und sagte: „Wir ließen sie ja von England kommen!“

„Ganz recht; diese Uhr war mein Gesellenstück, und mein Meister verkaufte sie für siebenhundert Gulden an das Geschäft William L. in London. Sie haben vielleicht tausend Gulden dafür bezahlt!“

„Eintausend fünfhundert Gulden,“ erwiderte Herr M.

Für die Wahrheit dieser Geschichte verbürgt sich der Einsender. Und die Moral? Schon seit mehreren Jahrzehnten, aber in der letzten Zeit immer mehr, liefert der deutsche Gewerbfleiß Ausgezeichnetes, das den besten Leistungen des Auslandes gleichkommt, oft sie übertrifft. Eine Menge deutscher Industrieerzeugnisse, namentlich solche, welche musterhafte Arbeit und vollkommene Kenntniß der neuesten wissenschaftlich-technischen Errungenschaften verlangen, wandern höchst zahlreich in’s Ausland, wo sie vielleicht kaum so gut, jedenfalls nur zu höheren Preisen hergestellt werden können, und werden entweder dort als „Pariser“ oder „Londoner“ Arbeit verkauft oder kehren gar unter dem Titel von solchen und mit bedeutend erhöhten Preisen nach Deutschland zurück. Andere deutsche Waaren werden wenigstens französisch oder englisch getauft. Daß solche Fälschungen alltäglich geschehen, weiß nachgerade fast Jedermann. Wer soll also heutigen Tages noch durch jene Fälschungen getäuscht werden? Wäre es nicht endlich an der Zeit, daß jeder deutsche Gewerbsmann, wie es auch viele bereits thun, solche Selbsterniedrigung verschmähte, die nicht blos unwürdig, sondern auch nutzlos ist? Denn alle jene Waaren würden, mit deutscher Inschrift versehen und ohne den fremden Zwischenträger, dem deutschen Arbeiter mindestens eben so gut, oft sogar ansehnlich besser, bezahlt werden.


Aufruf. Durch den Consul für Preußen, Baiern, Sachsen und viele deutsche Staaten zu Cincinnati in Ohio, Nordamerika, Herrn C. F. Andree, ging uns das nachstehende Schreiben mit angelegentlicher Befürwortung zur Aufnahme in die Gartenlaube zu. Wir glauben dem guten Zweck des Einsenders nicht besser entsprechen zu können, als wenn wir die erwähnte Zuschrift auszugsweise abdrucken lassen, und bitten unserseits auf das Wärmste um recht liberale Berücksichtigung unserer armen verwundeten und kranken Landsleute jenseit des Oceans, die für Freiheit und Menschlichkeit ihr Leben in die Schanze schlugen, indem wir uns mit Vergnügen bereit erklären, uns der Weiterbeförderung eingehender Bücher und Geldunterstützungen zu unterziehen.

Leipzig, Januar 1865. Die Redaction.     

Washington, D. C., 21. October 1864.     
Die in Ihrem vielverbreiteten und einflußreichen Blatte sich ausprägende Tendenz, jedem echt deutschen gemeinnützigen Streben, in welchem Theile Europas oder der Welt es sich auch kund geben möge, alle mögliche Theilnahme und Förderung angedeihen zu lassen, – die besondere Aufmerksamkeit ferner, die Sie transatlantischen Zuständen durch Schilderungen in verschiedenartigster Form gewidmet haben, um das Band zwischen dem Mutterlande und den in die neue Welt hinausgewanderten oder hinausgewiesenen Söhnen und Töchtern mehr und mehr zu befestigen und zu unterhalten, – das läßt uns Unterzeichnete hoffen, daß Sie auch unserem Streben: der großen Zahl deutscher Landeskinder hülfreich beizustehen, welche, in dem gegenwärtigen blutigen Kampfe thätig Antheil nehmend, verwundet oder Hülfe bedürftig geworden sind, Ihre Billigung und Ihre Mithülfe nicht versagen werden. Die, wie gesagt, sehr große Zahl solcher verwundeten Deutschen, welche hierher, in Baltimore, New-York, Philadelphia und anderen nördlich vom Kriegsschauplatze gelegenen Städten eingebracht wurden und noch täglich eingebracht werden, von denen viele der englischen Sprache nicht nur nicht mächtig, sondern auch mit den hiesigen Einrichtungen wenig oder gar nicht vertraut und dadurch bei allen ihren Bedürfnissen ausschließlich auf den Beistand und die Vermittlung von Männern deutscher Abkunft angewiesen waren, haben die Errichtung deutscher Hülfs-Comités in verschiedenen Landestheilen und Staaten, in Ost, West und Nord, als unerläßlich erscheinen lassen, von denen wir hier, in der dem Kriegsschauplatze zunächst liegenden Gouvernement-Stadt, das Central-Organ bilden.

Bei den riesigen Dimensionen, die hier zu Lande Alles annimmt, stellen sich unserer Wirksamkeit, auch in der Angelegenheit, für welche wir Ihre Aufmerksamkeit zunächst in Anspruch nehmen wollen, selbst bei allseitiger Theilnahme, indeß überaus große Schwierigkeiten entgegen. Sobald der verwundete Mann mit den nothwendigsten Erfrischungen, Lebensbedürfnissen, Kleidungsstücken, Erleichterungen etc. versehen worden ist und zur Ruhe zu kommen beginnt, tritt bei ihm das Bedürfniß ein, die einsamen Stunden seines Krankenlagers, seines Kummers oder seiner Schmerzen durch zweckmäßige Lectüre bannen zu helfen.

Allerdings waren wir zu dem Ende bestrebt, durch Anwendung von Summen, die den anderweitigen Bedürfnissen entzogen werden mußten, eine nicht ganz unbedeutende Deutsche Bibliothek aufzustellen, die jedoch (alle unsere Ressourcen bestehen aus freiwilligen Beisteuern) weder quantitativ, noch qualitativ ausreicht, den Anforderungen zu genügen. Das Eine nicht, weil die hiesigen deutschen Bücherlager gerade in diesem Bereiche, der Unterhaltungslectüre, mit Nichts weniger als reichlicher Auswahl versehen sind, das Andere nicht, weil die dermalen bestehenden Cours-Differenzen die Preise der deutschen Bücher, trotz deren Billigkeit in Deutschland, hier zu einer beinahe unerschwinglichen Höhe hinauftreiben, so daß man auf deren Erwerb geradezu verzichten müßte. Z. B. Ihre viel und allgemein beliebte Gartenlaube, die bei ihrer vortrefflichen Tendenz und Ausstattung und bei ihrer ungewöhnlichen Billigkeit eine bisher unerhörte Verbreitung über die ganze Welt gefunden, kostet hier gegenwärtig zwei Doll. zwanzig Cents Gold oder vier Doll. vierundachtzig Cents per Jahr.

Unter diesen Verhältnissen nun sind wir auf den Gedanken verfallen, an Sie die ergebene Bitte zu richten: in einem engeren oder weiteren Kreise, privatim oder öffentlich, nach Ihrem besten Ermessen und wie Sie das für praktisch ausführbar erachten, Ihren Einfluß zu unseren Gunsten geltend zu machen und dahin zu wirken, daß uns von einzelnen oder mehreren Verlegern guter und passender Unterhaltungslectüre der nöthige Lesestoff in einzelnen Exemplaren zu dem angegebenen Zwecke wenigstens so lange gratis als Beitrag zukomme, bis sich die erwähnten Verhältnisse günstiger gestaltet haben. Wir sollten meinen, es bedingte dies Gesuch keine zu großen Opfer für Einzelne, während die Wirkung hier im Ganzen eine wirklich sehr wohlthuende werden könnte.

Wir wagen es diese Bitte an Sie zu Gunsten der vom Lande ihrer Väter so weit entfernten, verwundeten deutschen Söhne zu richten und bemerken: daß wir für den Fall einer günstigen Aufnahme unseres Anliegens unsern Präsidenten, den Schweizer General-Consul John Hitz, ersucht haben, den dortigen amerikanischen Consul zu veranlassen, derartige Beiträge von Ihnen für uns in Empfang zu nehmen und darüber zu quittiren. Die Sachen würden uns auf diesem Wege frei von Zoll und Spesen von Staatswegen zukommen.

Genehmigen Sie die Versicherung unserer besonderen Hochachtung.
Das Comité der deutschen Hülfsgesellschaft zur Unterstützung kranker und
verwundeter deutscher Soldaten.

John Hitz. Präsident.     



Kleiner Briefkasten.

V. in F … g. Die von uns im vorigen Jahre gesammelten Spenden für die deutschen Veteranen zusammen im Betrage von 146 Thalern 16 Neugr. sind, laut in unseren Händen befindlicher Quittung, bereits im October d. J. an das königl. preuß. Kriegsministerium abgesandt und von diesem, an bedürftige alte Soldaten zweckentsprechend vertheilt worden. In Sachsen hätte das Geld ja doch keine Verwendung finden können. Die Redaction.     



Verantw. Redact. F. Stolle u. A. Diezmann – Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.

  1. Die von Trenck gemachten Gräben sind hier gemeint.
  2. Dieser Fluchtversucht Trenck’s hatte am 31. August 1757 stattgefunden.
  3. Gerard de Nerval, ein talentvoller Dichter der neuromantischen Schule Frankreichs, hatte u. A. Goethe’s Faust übersetzt, in seiner Lorelei seine Reise nach Thüringen und an den Rhein beschrieben und ging Heine zur Hand, als dieser seine Schriften in’s Französische übersetzte. „Gerard de Nerval war eine träumerische Natur,“ sagt Alfred Meißner, „die es nicht verstand literarisch zu speculieren, was seine Landsleute so gut können.“ Geistig zerrüttet, ohne einen Sou in der Tasche, wurde er in einer kalten Februarnacht an einen Laternenpfahl erhängt gefunden.
    Die Redaction.
  4. „Willkommen, anmuthvolle Delphina, ein Sterbender begrüßt Dich!“
  5. Ich habe diese Notiz aus dem Munde eines angesehenen und glaubwürdigen Bürgers von Gotha, der sich noch lebhaft jener Zeit zu erinnern weiß.
    D. B.