Zum Inhalt springen

Die Gartenlaube (1865)/Heft 20

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Textdaten
<<< >>>
Autor: Verschiedene
Illustrator: {{{ILLUSTRATOR}}}
Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
aus: Vorlage:none
Herausgeber: Ernst Keil
Auflage: {{{AUFLAGE}}}
Entstehungsdatum: 1865
Erscheinungsdatum: 1865
Verlag: Ernst Keil
Drucker: {{{DRUCKER}}}
Erscheinungsort: Leipzig
Übersetzer: {{{ÜBERSETZER}}}
Originaltitel: {{{ORIGINALTITEL}}}
Originalsubtitel: {{{ORIGINALSUBTITEL}}}
Originalherkunft: {{{ORIGINALHERKUNFT}}}
Quelle: commons
Kurzbeschreibung: {{{KURZBESCHREIBUNG}}}
{{{SONSTIGES}}}
Eintrag in der GND: {{{GND}}}
Bild
Bearbeitungsstand
fertig
Fertig! Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle Korrektur gelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Um eine Seite zu bearbeiten, brauchst du nur auf die entsprechende [Seitenzahl] zu klicken. Weitere Informationen findest du hier: Hilfe
Indexseite

[305]

No. 20.   1865.
Die Gartenlaube.


Illustrirtes Familienblatt.Herausgeber Ernst Keil.


Wöchentlich 1½ bis 2 Bogen. 0Durch alle Buchhandlungen und Postämter vierteljährlich für 15 Ngr. zu beziehen.




Der Erbstreit.
Von Levin Schücking.
(Fortsetzung.)

Markholm fand, als Max nach kurzer Zeit von seiner Begleitung der jungen Dame zurückkehrte, diesen eigenthümlich einsylbig. Er war offenbar verstimmt. Der Onkel beobachtete dies Wesen anfangs nicht, über Tisch aber, wo Max gewöhnlich sehr gesprächig war, fiel es ihm auf.

„Sollte er wirklich ein wenig eifersüchtig sein?“ fragte er sich – es war ein Gedanke, der dem älteren Manne mit einem Zusatz von diabolischer Freude kam.

„Du bist so nachdenklich, Max,“ sagte er endlich: „habt Ihr Euch etwa gezankt?“

„Gezankt? Wer?“

„Nun, Du und Elisabeth!“

„O, nicht im Mindesten.“

„Ich möchte wissen,“ fuhr der Onkel nach einer Weile fort, „wo dieses Mädchen den großen Schatz von Bildung erworben hat, den sie offenbar besitzt … hier auf dem Lande,“ setzte er mit etwas spöttischem Ton hinzu, „in den engen Verhältnissen einer mit Kindern gesegneten Pfarrerfamilie … es ist merkwürdig!“

„Ja,“ versetzte Max mit einem eigenthümlichen Blick auf den Onkel, „… es ist merkwürdig!“

Es lag fast etwas Wegwerfendes in dem Tone, mit welchem Max das sagte.

„Du scheinst nicht sehr davon überzeugt zu sein.“

„O doch, o doch,“ entgegnete Max kühl.

Eine lange Pause trat ein, während deren Markholm seinen Neffen wieder von der Seite beobachtete.

„Sag mal, Onkel,“ fragte Max plötzlich sehr lebhaft – „wo hast Du sie eigentlich kennen gelernt?“

„Nun, das hab ich Dir ja gesagt – neulich, als ich im Wäldchen einen Morgenspaziergang machte.“

„Und stellte sie sich Dir da gleich als Elisabeth Kramer vor?“

„Ob sie sich mir so vorstellte – ich denke nicht, ich errieth jedoch bald, wer es sei, der da Deine Jagdgründe durchkreuze –“

„So!“ sagte der Neffe tonlos.

„Weshalb fragst Du?“

„O, ich meine nur!“

Der Neffe blieb bei seinem einsylbigen gedrückten Wesen, bis er endlich, nachdem das Mahl vorüber, seine Mütze nahm, um sich ein Obstdessert von den Bäumen im Garten zu pflücken, während Markholm seine gewöhnliche Siesta hielt.

In dem Augenblicke, wo er den Salon verlassen wollte und bereits den Drücker der Thür in der Hand hielt, sagte er, sich zum Onkel wendend und in einem Tone der Scherzhaftigkeit, welcher etwas auffallend Gezwungenes hatte:

„Hör’, Onkel, verlieb’ Dich nur nicht in Deine neue Bekannte.“

Hatte Max die Absicht, den Onkel zu erschrecken, so war sie ihm vollständig gelungen. Markholm warf einen ganz merkwürdigen Blick des äußersten Betroffenseins auf seinen Neffen, als er erwiderte: „Was sagst Du? Ich … mich verlieben …?“

„Nun ja … ich meine nur … es wäre ein sehr großes Unglück, wenn Du es thätest … Du hast,“ setzte Max mit heiterem Ton hinzu, „mir neulich so liebenswürdig einen Theil der Sorge für Deine Erziehung anvertraut, daß Du Dich nicht wundern mußt, wenn ich heute den Mentor spiele und Dir sage: Telemach, ich warne Dich!“

Bei den letzten Worten lachte Max wieder gezwungen auf, und dann überschritt er die Schwelle und war verschwunden.

Markholm stand wie eine Bildsäule, als er ihm schweigend nachblickte.

Erst lange, lange nachher bekam die Bildsäule Bewegung. Markholm schritt langsam in sein Cabinet, legte sich auf die Chaise longue, auf der er zu ruhen pflegte, und sagte mit einem tiefen Seufzer:

„Es ist offenbar, daß sie ihm erzählt hat, wie ich ihr den Hof gemacht; daß sie sich über mich moquirt, gespottet haben … und daß dieser vorwitzige Bursche doch für zweckmäßig gefunden, mir eine Verwarnung zu ertheilen! Wie tückisch schweigsam er vorher war! Der Kampf zwischen dem Neffen und dem thörichten Manne beginnt!“

„Aber er soll nicht beginnen,“ sagte er sich dann. „Gut, daß er sprach! es ist eine abermalige Mahnung und dies Mal soll sie nicht ungehört bleiben. Er hat Recht. Der Traum muß abgethan, die Chimäre aus dem Herzen gerissen werden. Was wäre im besten Falle aus der Sache geworden … ein unglückliches Verhältniß und eine schlechte Handlung von mir. Ich hätte meinen Neffen um seine Neigung, um sein Glück betrogen. Ich hätte mich für das, was ich an ihm gethan, bezahlt gemacht wie ein Wucherer. Was habe ich in meinem Leben Gutes zu thun Gelegenheit gehabt? Nichts … gar nichts. Ich habe meinen Liebhabereien, meinen Studien gelebt, ich bin ein geistiger Gourmand gewesen, wie sie mir vorwarf, und habe Bücher geschrieben! Habe ich mit diesen Büchern Gutes gestiftet? Ich zweifle daran! [306] Wenige lesen sie. Mein Geist ist nicht stark, nicht genial, nicht dämonisch genug, um Gebilde wahrer Kunst zu schaffen; er ist nicht reich und originell und tief genug, um das Reich der Gedanken wahrhaft zu mehren. Ein Romanschreiber leistet nur Gutes, wenn er ein Stück vom Teufel im Leibe hat – und das habe ich nicht! Ein weicher scheuer Mensch wie ich, wie kann der die von der Tarantel gestochene Gesellschaft von heute schildern! Ich bin zu träge, zu indolent, mich nur hineinzumischen, um sie zu studiren. Mir graust vor ihren Abgründen! Wer dieser Welt nützen soll, der muß die Blitze des Erhabenen unter sie schleudern, durch die Donner einer leidenschaftlichen Größe sie aus dem Taumel schrecken! Mein Feuer ist ein gemüthliches stilles Licht, aber Blitze sprühen nicht daraus, und daher sind meine Bücher nichts. Was ich je Gutes gethan, das ist, daß ich meinen Neffen zu einem Menschen erzogen, in dem die Keime des Guten ausgebildet sind, daß ich ihm eine Existenz schaffe, worin er der Menschheit nützen kann.

Und das soll ich ungethan machen, diese Existenz vernichten, indem ich um einer Thorheit wegen mit diesem Neffen in Kampf und Hader gerathe, den erbittertsten, den es zwischen zwei Männern geben kann, und mich obendrein lächerlich mache! Haben sie nicht schon gelacht über mich? … hat nicht diese Elisabeth jedes Wort, das ich ihr gesagt, Max hinterbracht? … o, solch ein Weib ist so herzlos, so gottlos, wenn ihre Eitelkeit einen Triumph feiern kann … und so thöricht! Ja, so herzlich thöricht, so thöricht, wie die ganze Welt, die sich begeistert und schwärmt für solch ein junges Liebespaar und die schöne Zeit der ersten Liebe! Ich muß darüber lachen, über all diese gerühmten heiligen, allmächtigen, himmlischen Gefühle. Im Herzen eines Baumes ist mehr himmlischen Triebes, als in diesen kindischen Menschen; es ist mehr Feuer unter der Rinde eines alten Eichbaumes! Die Liebe ist für sie eine Einbildung, weiter nichts. Um lieben zu können, muß man ein reifer Mensch, müssen die Stürme des Lebens durch unsere Brust gezogen sein, um uns weicher und tieffühlender, größer und stärker zu machen. Man muß erfahren haben, was eine Menschenseele ist, was sie in sich birgt, was eine der andern sein kann. Man muß mit tiefem Schmerz und langem Sehnen das Gefühl der Einsamkeit in sich getragen haben. Man muß das Leben haben um sich verarmen sehen, die Illusionen schwinden, die Hoffnungen untergehen, den Himmel nächtlich werden; und dann, dann muß man einen Stern erblicken, um an diesen Stern all sein Sinnen und Träumen, all sein Dichten und Trachten, seine ganze Seele zu hängen, um mit einer Leidenschaft nach ihm zu streben, die Tod und Verderben trotzt!

O, nur ein reifer Mann kann lieben!“

Markholm legte mit einem tiefen Seufzer den Kopf auf die Lehne des Ruhebettes zurück und dann bedeckte er sein Antlitz mit beiden Händen. Er blieb lange so; ein paar Tropfen rieselten langsam an den Händen nieder, die über seinen Augen lagen. Dann sprang er plötzlich auf, stampfte mit dem Fuß den Boden und murmelte zwischen den Zähnen:

„Genug! Fort damit. Ich will Allem unwiderruflich ein Ende machen. Ich will meine Schiffe hinter mir verbrennen, um meiner selbst sicher zu sein.“ –

Als Max vorher das Haus verlassen hatte, wanderte er in dem Garten auf und ab und dann schlug er, heiter und ohne alle Ahnung, welchen Sturm er in seinem Onkel hervorgerufen hatte, eine Opernmelodie trällernd, den Weg zwischen den Wiesen nach dem Wäldchen ein.

In der Mitte der Allee, welche durch dieses Gehölz führte, war zur Seite eine Rasenbank angebracht. Als Max in die Allee einbog, erblickte er ein weibliches Wesen auf der Bank, nach einigen Schritten erkannte er, daß es Elisabeth war.

Sie saß dem Anschein nach völlig versunken in eine alte Pergamenturkunde, die aufgerollt in ihrem Schooße lag.

Max trat ihr nahe und begrüßte sie mit einer tiefen Verbeugung.

„Sie hier, mein Fräulein?“ sagte er.

„Finden Sie, daß ich zu oft in Ihr Gebiet eindringe, Herr von Markholm?“ versetzte sie.

„O, ganz und gar nicht, und wenn mein Onkel wüßte …“

„Wenn er wüßte,“ fiel Elisabeth den Neffen mit ihrem großen Blicke anschauend ein, „was ich hier habe, so würde er mir freilich nicht zürnen, daß ich schon wieder komme, ihn zu stören.“

„Sie stören ihn gewiß nicht, ich bin ganz überzeugt, daß er Sie freudig bewillkommnet, auch ohne das alte Pergament da! Was ist es? es sieht mit seinen wurmzerfressenen Siegelkapseln respectabel genug aus. Es ist doch nicht gar die famose Lehnsurkunde …“

„Ich weiß es nicht,“ fiel Elisabeth ein. „Kommen Sie, setzen Sie sich zu mir und helfen Sie mir es lesen. Wenn ich doch nur mehr Latein könnte … und diese alte Schrift ist so schwer zu lesen!“

Max schien nicht zu wagen, der Einladung, sich neben Elisabeth zu setzen, Folge zu geben; aber er beugte sich über sie und sagte nach einer Weile:

Anno domini millesimo quingentesimo tertio, in profesto nativitatis … das bring’ ich heraus.“

„So klug bin ich auch!“ fiel Elisabeth lächelnd ein, „ich lese sogar noch ein wenig mehr und sehe, daß hier feudum oblatum in curia nostra apud turrim Sancti Petri steht … auch hat mein Vater, der freilich leider auch kein Latein versteht, mir gesagt, daß es vielleicht die richtige Urkunde sei und daß ich sie immerhin Herrn von Markholm zeigen solle, er werde am besten daraus klug werden …“

„Woher haben Sie das Document?“

„Der Rentmeister hat es mir gegeben, er hat es erst heute Morgen zwischen seinen alten Papieren gefunden.“

„Sollte man ein so wichtiges Blatt zwischen alten Papieren vergessen haben?“

„Warum sollte das nicht möglich sein?“

„Und Ihr Herr Vater selbst hat Sie aufgefordert, es meinem Onkel zu zeigen, der freilich vortrefflich mit dem alten Zeuge umzugehen versteht?“

„Eben deshalb!“ versetzte Elisabeth, ihn mit einem ihrer sprechenden Blicke ansehend. Sie brauchte die stolz und kühl gesprochenen Worte: „Mein Vater ist ein Ehrenmann!“ nicht hinzuzusetzen, sie lagen vollständig in diesem vorwurfsvollen Blick.

Trotzdem mochte Max die Sache für unwahrscheinlich halten und sein Urtheil über Elisabeth’s Vater mochte auch nicht so fest stehen, wie sie es aussprach. Er schüttelte den Kopf und erwiderte:

„Ich wünsche von Herzen, daß das Document das richtige sein möge; aber wenn es nicht der Fall wäre und also damit Alles geschlichtet, so möchte ich Sie um Eines bitten.“

„Und was ist das?“

„Daß Sie mich des Wortes entbinden, welches Sie mir an diesem Morgen abnahmen, als ich die Ehre hatte, Sie zu geleiten.“

Elisabeth sah lebhaft auf.

„Weshalb wollen Sie nicht in der kleinen Verschwörung mit mir bleiben? Ich habe Ihnen gesagt, wie sehr mir daran gelegen ist, jetzt, wo der Zufall mich mit Ihrem Onkel bekannt gemacht hat, ihn mit meinen Eltern zu versöhnen, den bittern Haß allmählich in Frieden und Versöhnung zu wenden. Sie selbst haben mir eingeräumt, daß ich dies nicht kann, wenn Ihr Onkel weiß, daß ich nicht Elisabeth Kramer, die Tochter des Pfarrers, bin, für die er mich hielt, sondern Elisabeth Morgenfeld, die Tochter des Mannes, den er am meisten auf Erden haßt.“

„Es ist wahr,“ versetzte Max, „und deshalb habe ich auch eingewilligt, gegen meinen Onkel zu schweigen, ihm seinen Irrthum nicht aufzuklären … aber es ist etwas, was mir die Sache bedenklich macht.“

„Und das ist?“ fragte Elisabeth, gespannt in seine Züge blickend.

Max erröthete leicht; er suchte offenbar nach Ausdrücken für das, was er sagen wollte.

„Es könnten,“ sagte er ein wenig stotternd, „Gefahren damit verbunden sein für meinen armen alten Onkel“ – dem zweiundzwanzigjährigen Max kam der Onkel natürlich wie ein Methusalem vor – „mit einem solchen Incognito-Verkehr zwischen Ihnen und ihm.“

„Gefahren?“

Elisabeth blickte groß und ernst in Maxens Züge bei diesem Wort, als ob sie allen Gefahren mit der ernstesten Seelenruhe in’s Auge sehen wolle.

[307] „Man weiß nicht,“ fuhr Max fort, verlegen unter diesem Blicke zu Boden schauend, „ob nicht die Friedensmuse, die zu ihm kommt, ihm mehr innern Kampf bringen könnte, als der Kriegszustand … mein Onkel ist trotz seiner anscheinenden Ruhe und Gleichgültigkeit doch – ein Poet, d. h. ein Mann, in dem große Leidenschaft schlummern muß …“

Elisabeth sah fortwährend Max an. Ihr Blick hatte etwas Kaltes, Forschendes … sie schien seine innersten Gedanken lesen zu wollen.

„Haben Sie mir noch weiter Etwas darüber zu sagen, Herr von Markholm?“ frug sie dann frostig.

„Hab’ ich Sie verletzt?“ fiel lebhaft Max ein … „verzeihen Sie mir, ich glaubte reden zu müssen, denn ich fand das Wesen meines Onkels seit einigen Tagen ein wenig verändert … und ich darf mich keines Betrugs gegen ihn schuldig machen – ich darf mich nicht dem Vorwurf von ihm aussetzen: wie konntest Du mich in einem solchen Irrthum lassen? … Sie sehen, mein Fräulein, daß ich mich heute Morgen in ein Versprechen einließ, welches ich nicht hätte geben dürfen. Aber Sie überrumpelten mich, ich hatte nicht nachgedacht …“

„Nun wohl,“ sagte Elisabeth mit einem Seufzer, „so muß ich meine Friedensversuche aufgeben. Wenn Ihr Onkel erfährt, daß ich Elisabeth Morgenfeld bin, so wirft er mich zur Thür hinaus.“

„Möglich! Doch glaube ich eher,“ erwiderte Max lächelnd, „Sie dürften es dreist darauf ankommen lassen!“

Der scherzhafte Ton, in welchem Max dies sprach, schien Elisabeth unangenehm zu berühren. Sie machte etwas wie eine verächtlich abwehrende Bewegung mit der Schulter.

„Lassen Sie noch heute die Dinge, wie sie sind,“ sagte sie dann. „Für morgen entbinde ich Sie Ihres Wortes.“

„Ich danke Ihnen.“

Elisabeth stand auf.

„Ich will ihm jetzt das Document bringen,“ sagte sie, indem sie ihren Weg fortsetzte.

„Ich bin sehr neugierig darauf, als was es sich herausstellt,“ versetzte Max, indem er an ihrer Seite dem Hause des Onkels zuschritt.

Elisabeth war schweigsam während des Weges. Es schienen allerlei Gedanken auf ihrer großen, gewölbten Stirn zu arbeiten. Die Gedanken eines Mädchens, dem man sagt, das Wesen eines Mannes sei verändert, seit er es gesehen … dem dies ein Neffe sagt, welcher der Erbe dieses Mannes, eines unverheiratheten Onkels ist!

So ruhig und klar auch das ganze Wesen Elisabeth’s war, so selbstbewußt und ohne Scheu sie einfach that, was sie für das Richtige hielt, aussprach, was sie dachte, und sich gab, wie sie war, trotz all ihrer Unbefangenheit fühlte sie doch jetzt eine eigenthümliche Scheu, als sie Markholm’s kleinem Hause näher kam. Sie fühlte eine Scheu, eine innere Unsicherheit über sich gekommen, daß sie gern zurückgekehrt wäre.

Aber es war nicht mehr möglich. Markholm, hatte die beiden jungen Leute durch den Garten heraufkommen sehen. Er stand am Fenster seines Arbeitszimmers.

So nahm sie ihren Muth zusammen und schritt die Steinstufen zur Glasthür des Salons hinan … Max folgte ihr und es war ihr angenehm, daß er ihr folgte.

„Sie werden mich überlästig finden, Herr von Markholm,“ sagte sie, als dieser aus seinem Arbeitszimmer in den Salon ihr entgegentrat – „aber …“

„Fräulein Elisabeth glaubt das famose Document ergattert zu haben!“ fiel Max ein.

Sie reichte ihm das Pergament, ihre Hand zitterte dabei ein wenig.

Max beobachtete, daß sein Onkel das Pergament mit einer auffallenden Gleichgültigkeit annahm, er legte es still auf den Tisch vor dem Sopha und rückte dann diesen Tisch ein wenig, um Elisabeth mehr Raum zu schaffen, sich auf dem Sopha niederzulassen.

„Setzen Sie sich, bitte!“ sagte er eintönig und nahm dann lässig das Document auf, an dem er zunächst die an kleinen Pergamentstreifen hängenden Siegel betrachtete.

„Gieb mir einen Stuhl, Max … woher haben Sie das Document?“

Seine Stimme hatte etwas eigenthümlich Gedämpftes, Lässiges. Elisabeth sagte sich, daß etwas Besonderes in ihm vorgegangen sein müsse. Max fixirte aufmerksam seine Züge.

„Mein Vater hatte es! Es ist unter alten Blättern gefunden,“ versetzte Elisabeth auf seine Frage, ohne weitere Erklärungen zu geben.

Markholm rollte das große altergebräunte Blatt auseinander und begann zu lesen.

Nach einer Weile sagte er: „Das ist eine Lehnsurkunde, die weit über das Alter derer, auf welche es in meinem Processe ankam, hinausgeht. Es ist eine Belehnung meines Vorfahren Friedrich Godebert von Markholm mit einem Burgmannshof zu Wessenbach. Es hat nur noch einen historischen Werth für die Familie und die Landesgeschichte.“

Elisabeth nahm die Urkunde mit einem Seufzer der Enttäuschung zurück, als er sie ihr über den Tisch hinreichte.

„Ich dacht’ es mir!“ sagte Max.

„Und ich,“ sagte Elisabeth schmerzlich lächelnd, „glaubte schon, eine wahre Vorsehung habe es mir in die Hände gespielt!“

„Man traut immer ein wenig zu viel auf die Vorsehung! Max, sei so gut, aus meiner Bibliothek die Abschrift der rechten Urkunde zu holen, ich will sie dem Fräulein zeigen.“

Max ging, um den Wunsch des Onkels zu erfüllen, während Elisabeth sagte: „Besitzen Sie denn eine Abschrift?“

„Eine Abschrift freilich!“

„Und reichte die nicht hin, um …“

„Eine bloße unbeglaubigte Abschrift? Wie sollte sie! So Etwas kann sich Jeder anfertigen.“

Als Max zurückkam, legte er einige Blätter vor ihm auf den Tisch, ein dünnes verbleichtes Heft, das seinem Aeußern nach etwa hundert Jahre alt sein mochte. Markholm schlug es auf, und indem er es vor Elisabeth hinlegte, zeigte er ihr eine Stelle darin.

„Sehen Sie, hier heißt es mit deutlichen Worten:

,Und so es sein sollte, daß einer des Stammes meines ältesten Sohnes Johann Godebert zu seinen Vätern heimbginge, ohne eine rechte ehelige männliche Descendenz, oder doch ohne Söhne, so zu Schild und Helm geboren, zu hinterlassen, so sollen diese ob- und vorbesagten Lehne übergehen und in dieselbigen succediren meines zweiten Sohnes Georg Andebrecht Stamm, nach derselbigen Linear-Erbfolge mit dem Rechte der Erstgeburt u. s. w.‘

„Wenn Sie wieder eine Urkunde finden, Fräulein,“ setzte Markholm lächelnd hinzu, „so sehen Sie zu, ob diese Worte darin stehen … dann allerdings könnten Sie mich damit sehr verpflichten.“

Elisabeth betrachtete das Heft, und las den Eingang und den Schluß. Dann sagte sie:

„Es ist also ganz und gar kein Zweifel, daß Ihnen die Markholm’schen Güter gehören?“

„Nein,“ fiel Markholm ein, „wenn nur das Original dieser Urkunde beizubringen wäre. Ich bin der Urenkel jenes zweiten Sohnes, und der Enkel des ältesten ist ohne männliche Descendenz vor drei Jahren gestorben.“

Max hatte sich während dieser Unterhaltung entfernt. Elisabeth stützte ihren Arm auf den Tisch und rieb sich wie in Gedanken versinkend leise die weiße Stirn.

„Und dennoch,“ hub Markholm nach einer kurzen Pause wieder an, sich in seinen Stuhl zurückwerfend und seine Arme über der Brust verschlingend, „mag etwas Providentielles dabei sein, wenn Ihnen gerade heute Etwas in die Hände fiel, das Sie veranlaßte, zu mir zu kommen; ich hatte eben beschlossen, eine Unterredung mit Ihnen zu suchen, und daß Sie derselben so entgegenkommen, muß ich mir als einen Wink deuten, daß dieser Entschluß ein guter war.“

Elisabeth sah auf und Markbolm an … ein Gepräge innerer Beunruhigung lagerte sich auf ihre Züge.

„Was wollten Sie mir sagen?“ sagte sie leise und sanft.

„Ich wollte Ihnen von meinem Neffen reden. Ich wollte Ihnen erzählen, wie ich ihn erzogen habe, und wie sehr er mir wie ein guter Sohn gewesen ist; wie sein Glück mir am Herzen liegt gleich dem eines Sohnes. Ich wollte Ihnen seine Eigenschaften [308] schildern, und Ihnen sagen, wie viele Bürgschaften er giebt, die Frau, die vertrauensvoll ihre Hand in die seine legt, glücklich zu machen.“

Markholm hielt eine Weile inne, während deren seine Brust sich hob, als wenn er nach Athem ränge. Seine Züge waren sehr bleich, seine Blicke von Elisabeth abgekehrt, sie irrten durch die offene Glasthür in’s Freie hinaus.

„Ich wollte Ihnen vieles sagen,“ fuhr er fort, „was, ich weiß nicht weshalb, mir jetzt … es wird meine Bewegung bei dem Gedanken an die ganze Zukunft Maxens sein … kurz, Sie sehen, ich bin nicht in der Verfassung, lange und geordnete Reden zu halten in diesem Augenblicke und wozu auch? Sie kennen Max, er ist so glücklich Ihre Neigung gefunden zu haben … und um zum Schlusse zu kommen: ich werbe um Ihre Hand für ihn … wenn ich nicht schon zu spät komme, wenn er selbst nicht schon darum geworben und Ihr Jawort erhalten hat. Dann lassen Sie mich Ihnen nur sagen, daß mich diese Verbindung sehr … sehr glücklich machen würde!“

Markholm waren die hellen Tropfen Schweißes auf die Stirn getreten bei dieser Rede. Er nahm sein Tuch, um sie abzuwischen, und sah dann mit einem scheuen Blick zu Elisabeth herüber.

Hatte Elisabeth ihn je mit großem fragendem Blicke angesehen, so that sie es jetzt. Aber zugleich lag etwas wie eine große, beinahe unwillige Enttäuschung auf ihren Zügen, sie sagte:

„Sie werben um meine Hand für Ihren Neffen? das ist überraschend für mich … und doch, ich kann es erklären. Aber ehe ich antworte, muß ich ein Mißverständniß aufhellen … verzeihen Sie mir, daß ich mir eine Täuschung habe gefallen lassen, welcher Sie sich in Beziehung auf mich hingaben … meine Gründe waren gute und ehrliche, und darum zürnen Sie mir nicht … ich bin nicht, wofür Sie mich halten … versprechen Sie mir, daß Sie mir nicht zürnen, daß Sie ruhig meine Gründe anhören wollen, weshalb ich Sie in dem Glauben ließ, ich sei die Tochter des Pfarrers … denn die bin ich nicht – ich bin Elisabeth von Morgenfeld!“

„Das weiß ich!“ versetzte Markholm ruhig.

„Das wissen Sie?!“

„Freilich! Glauben Sie, ich sei so naiv, eine Dame wie Sie lange für die Tochter eines Landpastors zu halten?“

„Aber mein Gott, weshalb …“

„Weshalb ich das nicht sagte? Wozu? Unser Verkehr war viel unbefangener so. Wir konnten den alten Hader zwischen mir und Ihren Eltern unberücksichtigt lassen. Es war nicht ganz recht von Max, daß er mich täuschen wollte, daß er, um seine häufigen Ausflüge zu Ihnen, um das unverkennbare Wesen des Verliebten zu erklären, mit dem ich ihn neckte, mir von dem Pfarrhause erzählte, von der Elisabeth des Pfarrers! Der arme Junge, er glaubte sicherlich, ich werde ihn aus Zorn erdrosseln, wenn er mir gestehe, daß er Elisabeth von Morgenfeld liebe! Aber mögen Sie immerhin Elisabeth von Morgenfeld heißen … Sie haben an der Eltern Schuld keinen Theil, ich achte und verehre Sie, welchen Namen Sie auch tragen mögen … das Glück, welches Sie meinem Neffen bringen werden, wird auch mein Glück sein … und indem Sie ihm Ihre Hand gewähren, vollziehen Sie einen großen Act der Sühne – Sie bringen die Stammgüter unserer Familie an den rechten Erben!“

Elisabeth schien vor Betroffenheit verstummt zu sein … dann sagte sie plötzlich sehr lebhaft:

„Aber mein Gott, Ihr Neffe liebt ja wirklich Elisabeth Kramer, meine Freundin, bei der ich ihn kennen lernte, wenigstens gestand sie mir, daß sie …“

„Thorheit … wie könnte er eine Andere lieben als Sie!“ sagte Markholm achselzuckend. „Glauben Sie mir, ich bin nicht blind für so Etwas!“

Elisabeth stand auf.

„Und welche Antwort geben Sie mir?“ fragte Markholin tonlos und leise.

„Keine, keine … ich kann Ihnen keine geben in diesem Augenblick,“ versetzte sie hastig, „ich bin zu betroffen von dem, was Sie mir gesagt haben … ich muß Zeit finden, mich zu fassen, mir selbst klar zu werden! … Leben Sie wohl … Sie sollen eine Antwort haben … bitte, begleiten Sie mich nicht, ich will allein sein!“

Mit diesen rasch hervorgesprudelten Worten eilte sie davon, ihre Urkunde vergessend, zur Salonthür hinaus und den breiten Gartenpfad hinunter.

„Wie konnte sie nur so seltsam überrascht von dieser Werbung sein?“ fragte sich Markholm verwundert.

Sie ging rasch, durch den Garten, durch die Wiesen, in die Allee im Wäldchen hinein. Auf der Rasenbank warf sie sich nieder. Hier holte sie tief Athem.

„Sollte er mich wirklich lieben?“ sagte sie sich endlich, nach langem Versunkensein in ihren Gedanken, „sprach die Eifersucht auf den Onkel aus ihm, als er vorhin sein Versprechen zurückforderte? wollte er mir dadurch unmöglich machen, Markholm wieder zu sehen? Und Markholm wirbt um ihn? .. er wirbt um ihn, um die Güter zurückzubekommen!!“

„Freilich,“ sagte sie nach einer Weile, „was liegt Schlechtes, Verkehrtes darin? Kann es ein besseres Arrangement geben? … wird nicht Jedermann sagen, es sei das Vernünftigste, was geschehen könne? ist es nicht meine Gewissenspflicht, die Werbung anzunehmen? … meine Eltern haben ja doch so unzweifelhaft Unrecht … er ist beraubt … schändlich beraubt … ich habe mich mit meinen eigenen Augen eben davon überzeugen können … es giebt für mich nur ein Handeln hier … mein Gewissen läßt nur eine Antwort zu …“

„Ich kann mir auch denken, daß meine Eltern über eine solche Art, den Zwist beizulegen, sehr erfreut sein würden, ja, sie würden es ein Glück, ein großes Glück nennen … sie müssen ja ohnehin fürchten, daß die richtige Urkunde eines Tages gefunden wird; welche Demüthigung, welches Unglück für sie! … welche Beruhigung würde es für sie sein, wenn ich sie für immer vor einem solchen Schicksale sicherte … ihren Herzen, ihren zweifelnden Gewissen alle Ruhe zurückgäbe … und gewiß, sie würden es als ein großes Glück betrachten!“

Elisabeth seufzte tief und schwer auf und blickte mit dem Ausdruck tiefer Verzweiflung starr die gelben Laubblätter an, welche der Herbst ihr zu Füßen geworfen.




Gute Freunde und getreue Nachbarn.

Ist über diese Gesellschaft noch Etwas zu sagen? Bedarf das gegenseitige Verhältniß ihrer Mitglieder irgend einer Erklärung?

Herzliche Theilnahme allein ist es nicht, die den Jagdhund zu der jungen Brut hinzieht. Es mag ihm wohl aus der Nase der Gedanke in den Kopf steigen, daß diese kleinen Dinger vielleicht nicht übel schmecken möchten – „allein nachher die Prügel!“ So denkt er, aus Erfahrung weise, hinzu, labt sich am Geruch und legt in’s demüthige Gesicht den Ausdruck seiner berühmten Treue.

Der Verdacht, daß er es doch nicht ehrlich meine mit seiner Herablassung, ist offenbar in das kleine Hähnchen gefahren, das vor dem Futternapf steht und über den Rand hinüber eifert. Dabei hebt der junge Ritter die ersten Kielchen seiner zukünftigen stolzen Schwungfedern zornig empor.

Ist es die Angst über die Schnüffelversuche des Hundes, oder die Besorgniß, daß die patzige Herausforderung des Kleinen die Langmuth des Großen erschöpfen könne, – jedenfalls richtet sich die augenfällige Erregtheit der Mutter Henne gegen das Hähnchen. Dieses aber stellt sich trotz solcher Mahnung so kampfbereit hin, wie ein Student auf der Mensur, so daß Mama sicherlich aufspringen würde, um es am Kragen zu schütteln, wenn sie nicht just für einen Theil ihrer Piephühnerchen als Grotte oder Laube und für einen andern als Berg dienen müßte, auf welchem diese ihre erste Aussicht genießen.

Ein wahres Meisterstück in diesem Bilde unseres genialen Düsseldorfers Beckmann ist die Hauptfigur der Gruppe, der aus einer unermeßlichen Höhe des Selbstgefühls auf Alles um sich her hinabschauende Dachshund Wachtel. Welche classische Ruhe, welche souveräne Verachtung, welche über alles Lob erhabene Würde sucht in ihm sich auszudrücken! Mit den vielgeschilderten unerforschlichen Augen eines zweiten December scheint er selbst längst Alles

[309]

Vor der Hundehütte.
Originalzeichnung von L. Beckmann.

erforscht zu haben und Nichts das Gleichgewicht seiner Seele stören zu können. Und ob eine Welt neben ihm versänke, es fragt sich, ob er dies nur des Zuckens mit den Ohren werth erachtete. Man kann kaum ahnen, was er wohl denkt, ja, es ist selbst nicht zu kühn, zu behaupten, daß er vielleicht gar nichts denkt, oder wenigstens mit dem Grafen Wartensleben der Ansicht huldigt, daß das Denken überhaupt eine unnütze Erfindung sei. – Das ist so die Natur der Exclusiven im Hunde- wie im Menschenleben.




Pariser Bilder und Geschichten.

Von Sigmund Kolisch.
Salon der Gräfin d’Agoult.[1]

Es sind nun fünfzehn Jahre her, daß ich Weimar, die letzte deutsche Zufluchtsstätte für den „Versprengten“, verließ, um in dem fremden Frankreich Sicherheit und Unterkunft zu suchen. O Erinnerung voll Trauer!

Nachdem ich in Leipzig von der Polizei verhaftet, dann mit einem Zwangspaß aus der Stadt gewiesen worden war, hatte ich mich nach Weimar begeben, weil meine Beziehungen zu Herrn Franz Lißt mir einen angenehmen Umgang und eine moralische Erleichterung meiner Existenz mitten unter unbekannten Leuten in Aussicht stellten. Dreiviertel Jahre verlebte ich in der kleinen Residenz mit zwölftausend Einwohnern, und wenn mir auch daselbst nicht viel des Erfreulichen widerfuhr, so hatte ich jedenfalls die lohnende Gelegenheit, die ausgesuchte Zartheit, die vollendete Bildung, mit einem Worte, die trefflichen Privateigenschaften des berühmten Musikers kennen zu lernen, dessen Wesen um so mehr anzieht und gewinnt, je unbefangener, je schmuckloser und ungefälschter es sich giebt.

Franz Lißt ist der Einzige von meinen früheren Verbindungen, welcher sich des Flüchtigen annahm, der sich ihm gefällig und hülfreich erwies. Wäre tief gefühlter Dank Lohn, der würdige [310] Mann wäre reichlich belohnt. Die lange Zeit hat wahrlich nicht um einen Grad die Wärme meiner Erkenntlichkeit herabgedrückt. Außer einigen schriftlichen Empfehlungen an hervorragende politische Persönlichkeiten, gab mir Lißt eine mündliche an die Gräfin d’Agoult mit nach Paris, welche in der literarischen Welt unter dem Namen Daniel Stern bekannt ist.

Die mündliche Bestellung, welche Lißt mir auftrug, lautete: „Sagen Sie der Gräfin, daß ich Sie ihr nicht empfehle, damit Sie um so besser bei ihr empfohlen seien.“ Verhältnisse aller Art hatten die früher eng Verbundenen auseinander gebracht, zerworfen. Ich verfuhr der Weisung gemäß und wurde von der Schriftstellerin mit französischer Liebenswürdigkeit aufgenommen. Die Gräfin d’Agoult gehört in die Reihe derjenigen Adeligen in Frankreich, welche die überkommenen Pergamente beim Lichte der neu aufgegangenen Sonne betrachteten und sie bedeutend wurmstichig befanden, die eben so offen als rasch und entschieden von dem mittelalterlichen Mysticismus zur modernen Prüfung und Klarheit übergingen. Sie hielt stets zu Lamennais und Lamartine, war denselben aber auf dem Wege zur demokratischen Ueberzeugung, eine Zeit lang wenigstens, zuvorgekommen. Sie übertrifft offenbar Beide an zersetzender Schärfe und Energie des Verstandes. Weder der Eine noch der Andere hat jemals mittelalterliche Anwandlungen los werden können, ihre umflorten Blicke haben nie aufgehört, Gespenster zu sehen, während vor den Augen der Frau all die Gebilde einer umnebelten Einbildung längst in Nichts zerronnen sind. Vielleicht verdankt sie die Gesundheit des Denkens der protestantischen Luft Deutschlands, in der sie geboren ist und in der sie noch immer zu athmen liebt. Sie sagt es selber, daß sie mit ihrer Bildung eher Deutschland als Frankreich angehört.

Die Gräfin d’Agoult erblickte das Licht der Welt zu Frankfurt am Main im Jahre 1805. Ihr Vater war der emigrirte Vicomte Flavigny, ihre Mutter die Tochter des Frankfurter Bankiers Bethmann. Herr v. Flavigny war in seiner Jugend Page der Königin Marie Antoinette gewesen und folglich dem königlichen Hause sehr nahe gestellt. Seine Tochter stand eben im Begriff, als Edeldame in das Gefolge der Dauphine (Herzogin von Angoulème) zu treten, als die Ordonnanzen des Grafen von Polignac die Bewegung von 1830 hervorriefen, welche den Thron der ältern Linie der Bourbonen in Frankreich wahrscheinlich für immer umwarf.

Erzogen wurde die Tochter des Herrn von Flavigny in der vielbekannten, von Jesuiten geleiteten Anstalt für Mädchen, sacré coeur genannt, welche noch heute viel adelige Töchter aufnimmt und ausbildet. Religiös wie politisch, durch Abkunft, Beispiel und Unterweisung, wurde das Urtheil der Dame in vielfache Fesseln geschlagen, doch dem Simson vergleichbar, hat es all die Bande zerrissen. Wie viel sie zu überwinden hatte und überwand, läßt sich an ihrem Bruder, dem Grafen Maurice Flavigny, ermessen, der in drei Kammern, der Deputirten- und Pairskammer unter der Juliregierung, und im gesetzgebenden Körper unter dem zweiten Kaiserreich, für reactionäre Maßregeln stimmte und sprach und der seit dem italienischen Kriege in der römischen Frage so weit zurückging, daß die kaiserliche Regierung seine Wahl in den gesetzgebenden Körper, die sie früher gefördert hatte, hintertrieb. Der Graf Maurice Flavigny war dem Bonapartismus zu reactionär; das sagt Alles.

Wie es herkömmlich ist, wurde Fräulein Flavigny ohne ihre Zustimmung, ohne auch nur befragt zu werden, dem Grafen d’Agoult vermählt, einem würdigen Manne übrigens, der aber um zwanzig Jahre älter war, als seine Gattin, und vielleicht außer Stande, den Träumen eines jungen Frauenkopfes, den Bedürfnissen eines zu Leben und Liebe aufblühenden Weiberherzens zu entsprechen. Außerdem waren die Gedankenströmungen des Momentes und die Mode in dem damaligen Frankreich dieser Art von ehelichen Verbindungen ungünstig. Der Frauenemancipationsschwindel hat sich aus dem nach Geltung ringenden St. Simonismus herausgearbeitet und, demselben voraneilend, die Geister erfaßt. Madame George Sand predigte mit großer Kühnheit durch das Beispiel, mit außerordentlichem Talent durch das Wort für die Unabhängigkeit des weiblichen Gefühls von der religiösen Vorschrift und von den gesellschaftlichen Bestimmungen. Der Freiheitskampf, welcher überhaupt an der Tagesordnung war, wurde sogar in das Haus versetzt und der Unterschied zwischen heiligen und unwürdigen Banden fing an zu verschwinden. Nach sechs Jahren peinlicher Vereinigung trennte sich Frau d’Agoult von ihrem Gatten, wie Mme. Georges Sand kurz zuvor von Herrn Dudevant, um nach ihrem Geschmack und ihrer Neigung zu leben.

Als ich sie im Jahre 1850 kennen lernte, da hatte sie bereits ein Stück vielbewegten Lebens hinter sich; aber die Spannkraft und der Eifer ihres Geistes waren ungeschwächt geblieben. Von der Wirkung einer erlittenen Niederlage war auch nicht eine Spur an ihr wahrzunehmen, und auch jetzt noch ist sie ohne Blasirtheit für alle großen und kleinen Vortheile des Daseins empfänglich, und ihr Wünschen und Wollen ist von jugendlicher Lebhaftigkeit. Herr von Lamartine war nach beiden Seiten hin im Wahren, als er ihr kürzlich schrieb, um ihr für einen geleisteten Dienst zu danken, daß er, der Abgelebte, Verzweifelnde, sie, die Ungebeugte, Unternehmende, die Zuversichtliche, durch seinen Besuch nicht stören, nicht verstimmen wolle.

Durch Abkunft, Bildung und Naturell, sogar durch die erhaltene Frische ihres Ehrgeizes, ist die Gräfin d’Agoult dazu gemacht, den Mittelpunkt eines einflußreichen Salons zu bilden. Sie ist eine Weltfrau im strengsten Sinn des Wortes, vertraut mit den Interessen, welche die bessere Gesellschaft bewegen und beherrschen; ihr Benehmen ist leicht und ungezwungen. Der Verkehr ist das Element, in dem sie ohne die leiseste Anstrengung, wie der Fisch und nicht wie irgend ein abgerichteter Schwimmer im Wasser, sich umhertummelt. Ihre äußere Erscheinung ist imposant und doch gefällig. Eine hohe, schlanke Gestalt, welche die Jahre mit ihren entstellenden Ueberladungen an Fett verschont haben, giebt ihr ein gebieterisches Aussehen, das ihre zuthuliche, bescheidene Art vortheilhaft hervorhebt. Der Kopf ist von plastischer Schönheit, ein geeigneter Vorwurf für den Bildhauer. Unter der bedeutenden, von den Haaren zierlich eingefaßten Stirn blicken die klugen Augen, die Eindrücke lebhaft widerspielend, die sie während der Unterhaltung empfängt. Man sieht, daß sie theilnehmend zuhört, wenn Jemand zu ihr spricht. Die Nase tritt mächtig und doch in gefälliger Biegung hervor. Das Kinn ist stark herausgearbeitet und vollendet den Ausdruck von Energie in den Zügen des Gesichts. Die Frau lächelt häufig, man sieht sie aber selten lachen.

Seitdem die Gräfin d’Agoult mit ihren Familienverhältnissen gebrochen, hat sie sich mit künstlerischen, schriftstellerischen, staatsmännischen Berühmtheiten umgeben. Ihre näheren Beziehungen zu Lißt, die einige Jahre gedauert haben, sind Niemandem ein Geheimniß. In den Jahren 1848 und 1849 waren die Herren von Lamartine und Lamennais jede Woche einmal bei ihr zu Tische, wo sie die wichtigen Tagesfragen besprachen und auseinandersetzten. Um jene Zeit hatten die beiden Freiheitskämpfer nichts als Bewunderung für einander, sie waren auf’s Innigste verbunden und tauschten bei jeder Gelegenheit Weltverbesserungs- und andere politische, sociale und religiöse Gedanken aus. Eines Tages las Lamennais Herrn v. Lamartine, damals Mitglied der provisorischen Regierung, und zwar bei der Gräfin d’Agoult, eine von ihm fertig ausgearbeitete Constitution vor, nach welcher Frankreich zu regieren und zu beglücken wäre. Mir sind die Staatseinrichtungen nicht bekannt, welche der Theologe in der Schrift vorgeschlagen; doch weiß ich, daß einer von den Zuhörern sich mit dem Worte: „Paroles d’un croyant“ (Worte eines Gläubigen[2]) über den Werth dieser Verfassung ein wenig wegwerfend ausgesprochen.

Schon durch ihre Beziehungen zur vornehmen Welt, durch den kecken Bruch mit ihren Verhältnissen, durch ein glückliches schriftstellerisches Auftreten in Girardin’s Presse mit den beiden Novellen „Hervé“ 1841 und „Valentia“ 1842, die ihr einen Vergleich mit Mme. Georges Sand eintrugen, und die Besprechung einer Kunstausstellung 1842 und 1843, durch ihre Verbindungen mit den bedeutendsten Persönlichkeiten gab Frau d’Agoult ihrem Namen weitgehend Klang und ihrem Salon vielfache Anziehungskraft. Die Februarrevolution, der sie sich ohne allen Rückhalt anschloß, sollte sie politisch emporheben; der regelmäßige Umgang mit den beiden obgedachten berühmten Männern in dem Augenblick, als die Ereignisse den Einen auf die höchste Höhe menschlicher Größe hoben, dem Anderen das viel bestrittene Ansehen eines Hohenpriesters der modernen Gottheiten verliehen, machte der ebenso begabten wie strebsamen Frau eine Stellung in der politischen Welt; die Meisterschaft, mit welcher die Gräfin d’Agoult die Geschichte [311] der Februarrevolution schrieb, die selbst ihre Gegner anzuerkennen nicht umhin konnten, wiesen der Schriftstellerin einen bestimmteren Platz an, als sie bis dahin eingenommen, und die demokratischen Grundsätze, zu welchen sie sich in dem Werke, deren erster Band 1850 erschien, bekannte, hoben, indem sie ihm die natürliche Richtung klar vorzeichneten, ihren politischen Einfluß. Der Salon der Gräfin erhielt einen vorherrschend politischen Charakter von ausgesprochener Färbung.

Selbst zum Widerstreben nach den verschiedensten Richtungen hin berufen, geneigt und veranlaßt; selbst in steter Auflehnung gegen überkommene Traditionen, gegen gesellschaftliche und religiöse Satzungen, gegen Vorschriften des Herkommens, fühlte sich die Gräfin besonders von Persönlichkeiten angezogen, welche durch ihr Widerstreben gegen befestigte Uebelstände sich hervorthaten. Unter den Emigrationen aller Länder, wie sie sich in Paris zusammenfinden, zählt sie Freunde. Bei meiner Ankunft in der französischen Hauptstadt fand ich im Salon der Gräfin eine Gesellschaft, welche größtentheils aus Magyaren bestand. Ladislaus Teleki, welcher nachmals von der sächsischen Regierung an Oesterreich ausgeliefert wurde und durch einen politischen Selbstmord tragisch endete, war der geistig Hervorragendste unter ihnen; er führte das große Wort. Die Gräfin interessirte sich sehr lebhaft für den Heldenmuth und nach dem Schiffbruch von Vilagos für das Unglück der Ungarn. Der Staatsstreich, indem er den Nerv des geistigen Lebens in Frankreich mit dem Schwerte zerhieb, machte den Herrlichkeiten der Salons ein Ende. Noch weniger als Napoleon der Erste konnte Napoleon der Dritte den eingeführten Austausch von Gedanken, selbst in dem engeren Umkreis des geselligen Verkehrs, dulden. Napoleon der Erste verjagte die Staël aus Frankreich, um den Versammlungen, welche in ihren Salons gehalten wurden, die Seele zu rauben und sie aufzuheben; Napoleon der Dritte ließ den Salon der Fürstin Lieven schließen, und diese Maßregel, verbunden mit dem Recht, das er sich zuerkannte, ohne jede gerichtliche Begründung der öffentlichen Sicherheit wegen zu deportiren, und mit dem zur höchsten Ausbildung gediehenen Spionirsystem, lähmte zur Genüge die Unterhaltung zwischen mehr als zwei Personen. Unter den Leichen des 2. December befanden sich übrigens viele sogenannte „Ueberzeugungen“.

Nach diesem Tag des Schreckens und der Trübsal wurde von den Franzosen das Bedürfniß kaum empfunden, sich gegen die Gewaltsamkeit auch nur mit dem Wort zu erheben. Man schwieg und spielte an der Börse. Die Gräfin d’Agoult blieb selbst nicht frei von der moralischen Erschütterung, die der Staatsstreich hervorgebracht. Sie fiel von ihrem Glauben nicht ab, sie bat jedoch ihren Glauben, sich ein wenig den Verhältnissen anzupassen. Sie ließ ihn die alten Gewänder ablegen und ihn nach der neuen ein wenig imperialistischen Mode ankleiden, in der Ueberzeugung, daß diese Umgestaltung vortheilhafter nicht allein für sie, sondern auch für ihren Glauben selbst sei. Sie schwärmte von nun an, sprach und schrieb für die nationale Befreiung der Völker, ganz wie Herr Guéroult in der „Opinion nationale“, und in ihrem Salon war man türkisch gegen Rußland, italienisch gegen Oesterreich, dann polnisch wieder gegen Rußland und so weiter. Für die italienische Sache zeigten sich die Gräfin und ihre Umgebung am lebhaftesten eingenommen. Sie kannte den Grafen Cavour und noch andere von den mehr oder weniger maßgebenden Patrioten jenseits der Alpen. Sie war viel in Italien gereist, sie kennt und liebt das tausendfach begünstigte Land. Sie erzählt sehr Interessantes über ihre Beziehungen zu angesehenen Italienern in der Vorrede zu ihrem vor einiger Zeit unter dem Titel „Turin und Florenz“ erschienenen Buche.

Jetzt sind die drei Hauptfiguren ihres Salons: Der Prinz Napoleon, Emil von Girardin und ihr Schwiegersohn Emil Ollivier. Die Gräfin war es, welche Herrn Ollivier mit dem Prinzen Napoleon zusammengebracht. Ob und wie viel sie Theil hat an der Schwenkung, die der bekannte Deputirte Ollivier dem Bonapartismus entgegengemacht, bin ich außer Stande anzugeben. Auch weiß ich nicht, ob es mit der viel verbreiteten Annahme seine Richtigkeit hat, daß in dem Salon der Gräfin d’Agoult ein Ministerportefeuille zur Welt kommen werde.




Die rheinischen Hurdy Gurdys in Amerika.
Noch ein Capitel vom deutschen Menschenhandel.

In Nr. 48 des Jahrgangs 1864 der Gartenlaube steht eine Erklärung der herzoglich nassauischen Polizeidirection, als Antwort auf einen in früheren Nummern der Gartenlaube unter dem Titel: „Deutscher Menschenhandel der Neuzeit“ abgedruckten Artikel.

Ohne auf den Inhalt dieser polizeilichen Erklärung näher einzugehen, erlaubt sich Unterzeichneter, der Redaction der auch in diesem entlegenen Erdenwinkel vielfach gelesenen Gartenlaube ebenfalls eine kleine Erklärung über bestehende sociale Verhältnisse, und zwar aus dem nordamerikanischen Unionsstaate Oregon, zur Benutzung zuzusenden. Die darin angeführten unwiderleglichen Thatsachen werden der Polizeidirection des Herzogthnms Nassau den Standpunkt eines Theils ihrer Landeskinder im Auslande hoffentlich sonnenklar machen – nicht nur, wie er „in einer seit Decennien hinter uns liegenden Vergangenheit gewesen“, sondern noch heutzutage, anno Domini 1865, factisch ist.

Um nun zunächst diese Facta etwas näher zu beleuchten, so muß ich wohl vor Allem erklären, was der Name Hurdy Gurdys eigentlich bedeutet. Jahr aus Jahr ein möchte ich dies Wort über den halben Erdball hinüberrufen, damit Deutschland zur vollen Erkenntniß dieses argen Brandmals am deutschen Namen gelange und die Stimme des Volkes wach werde, um die Missethäter, wer sie auch immer sein mögen, zur Verantwortung zu zwingen; denn nur so kann diesem Schandfleck am deutschen Namen gründlich abgeholfen werden. Ich will es Euch, deutsche Mütter, Euch, Töchter des großen, gebildeten Deutschlands, ganz leise in’s Ohr raunen – wenn auch die Scham ob der Entehrung des deutschen Namens Euch beim Anhören des ungern Gesagten die Wangen blutroth färbt, – ganz leise, damit die hochlöbliche Polizei es ja nicht höre und mir stracks verbiete, den Mund weiter zu öffnen und mehr davon zu reden: Hurdy Gurdys ist der verächtliche Name für deutsche Tanzmädchen in den zahlreichen Minenstädten von Californien, Nevada, Oregon, Idaho, Washington und British Columbia, die wie Waare von grundsatzlosen Menschenhändlern an den Meistbietenden verdingt werden, um den „biederen Goldgräbern“ das Herz und den Geldbeutel leichter zu machen; die jegliches Schamgefühl verlernt zu haben scheinen und doch mit der Tugend kokettiren und die Hauptursache der in besagten Minenstädten fast tagtäglich vorfallenden blutigen Schlägereien, Stech- und Schießaffairen sind, welche nicht selten Mord und Todtschlag im Gefolge haben, – deutsche Tanzmädchen „aus Nassau from the Rhine“, wie ich’s mit eigenen Augen, ohne Brille, in den hiesigen Hôtelregistern in eleganter Originalhandschrift mehrfach gelesen habe. Was sagen die Herren von der Nassauer Polizei dazu? Ist auch das unwahr?

Wenn nun allerdings das Herzogthum Nassau auch den Löwenantheil an der Ausfuhr von Hurdy Gurdys besitzt, so muß ich zur Beruhigung der dortigen Polizeibehörde doch noch erwähnen und der Wahrheit die Ehre geben, daß Darmstadt namentlich in letzten Jahren gleichfalls manche schmucke Hurdys geliefert hat – daß eine Darmstädter Hurdy-Gurdy-Gesellschaft z. B. gegenwärtig in Dalles in Oregon Gastrollen giebt – und der ganze an den Mittelrhein grenzende deutsche Kleinstaatencomplex mehr oder weniger Hurdy-Gurdy-Delegaten nach Amerika sendet. Weder der Ober- noch Unterrhein, weder Süd- noch Norddeutschland liefern Hurdy Gurdys, alle kommen diese vom Mittelrhein, dem gesegnetsten Theile, dem Paradiese Deutschlands.

Das Hauptquartier und Centraldepot sämmtlicher Hurdy Gurdys ist in St. Francisco, wohin gelegentlich durch gewissenlose Menschenhändler neue Recruten, direct „from the Rhine“ importirt weiden. Den jungen, lebenslustigen Dirnen am alten Vater Rhein werden von diesen Seelenverkäufern höchst verführerische Bilder von dem freien und ungebundenen Leben und den leicht zu erwerbenden Schätzen in den herrlichen Goldlanden am stillen Meer [312] vorgespiegelt, um sie zum Auswandern zu bewegen, und das Resultat der Unterhandlung ist, daß besagte Menschenhändler es übernehmen, die verführten Mädchen frei bis nach St. Francisco zu befördern, wogegen diese sich contractlich verpflichten, das ihnen vorgeschossene Reisegeld nach Ankunft an den goldenen Gestaden zurückzuzahlen, d. h. abzutanzen. Diese Contracte haben nun allerdings weder in Deutschland noch in Amerika gesetzliche Gültigkeit, werden aber trotzdem ohne Ausnahme von den in der Fremde ganz verlassen dastehenden Mädchen erfüllt.

Vom Hauptquartier in St. Francisco aus werden die Mädchen, welche je nach ihrer Schönheit verschiedene Preise haben, an die Hurdy-Gurdy-Salonbesitzer vermiethet und bleiben so lange an das Centraldepot gebunden, bis sie die ihnen vorgeschossenen Summen, welche sich durch Bekleidung, Beköstigung etc. fortwährend vermehren, abverdient, d. h. abgetanzt haben. Wenn sie endlich auf freien Füßen tanzen können, so reisen sie auch wohl in kleinen Tanzgeschwadern von je drei bis sechs tanzenden Mitgliedern unter dem Commando einer im Handwerk ergrauten älteren Hurdy – von den Goldgräbern mit dem Namen bell mare bezeichnet, d. h. Glockenstute, die einen Zug Pferde anführt – auf eigene Speculation durch’s Land. Zu dieser Classe gehören meistens die in Oregon und Idaho Gastrollen gebenden Hurdy Gurdys, welche sich vom Centraldepot in St. Franciseo emancipirt haben.

Ich habe blutjunge Hurdys gesehen, die kaum zwölf Sommer zählten, und andere in der Blüthe der Jungfrauenjahre, welche die Rosenzeit ihres Lebens buchstäblich vertanzen und späterhin, wenn die Blüthen verwelken und abfallen, auf den Stufen des Lasters schnell Hinuntersteigen in ein Land, von wo keine Rückkehr in ehrliche Gesellschaft mehr ist, falls es ihnen nicht gelingt, durch Extrakniffe so einen halbblinden Goldvogel noch bei Zeiten im Ehenetze einzufangen.

Die Bellmares und Salonbesitzer holen ab und zu frische Zufuhr von St. Francisco, wenn den Goldgräbern die veraltete Waare nicht mehr gefällt, wogegen das Hauptdepot in St. Francisco sich wieder von Deutschland aus ergänzt, und so pflanzt sich dieser schmachvolle Menschenhandel ungestört fort. In St. Francisco ist es den dort ansässigen zahlreichen Deutschen nach unsäglichen Schwierigkeiten endlich gelungen, ein Verbot gegen die Hurdy-Gurdy-Salons in der Stadt – nicht im Staate Californien – zu bewirken. Gleichzeitig wurde das Spielen mit Tambourins auf den Straßen, welches früher von den Mädchen bei Tage als Nebengeschäft betrieben ward, strenge untersagt und ein Verbot gegen die öffentlichen Spielhöllen im Staate Californien durchgesetzt. Die Folge davon ist gewesen, daß sich die Hurdys in St. Francisco in sogenannte „Pretty Waiter Girls“ – hübsche Kellnermädchen, wie sie sich öffentlich annonciren – verwandelt haben, was fast so schlimm ist als ihr früherer Beruf, oder daß die vom Gesetze grausam verfolgten Hurdys nach den angrenzenden Staaten ausgewandert sind, wo öffentliche Spielhöllen und Hurdy-Gurdy-Salons gesetzlich nicht untersagt sind.

Hier in Oregon bemüht man sich jetzt, dem Beispiele St. Francisco’s zu folgen, namentlich um den Goldgräbern die Gelegenheit zu nehmen, ihr schwer erworbenes Gold gleichsam zum Fenster hinauszuwerfen. Ein directes Verbot gegen die Hurdy-Gurdy-Salons ist jedoch bis jetzt noch nicht erlassen worden, was auch nach hiesigen Gesetzen, die gänzliche Gewerbefreiheit garantiren, nicht gut möglich ist.

Daß das Hurdy-Geschäft ein sehr einträgliches sein muß, ist schon aus der enormen Steuer ersichtlich, welche die Salonbesitzer, die sich natürlich durch die Mädchen wieder schadlos halten, ohne besondere Mühe zu zahlen im Stande sind. Wer jedoch die Extravaganz der hiesigen Minenbevölkerung kennt, den wird es sicherlich nicht wundern, daß das Hurdy-Geschäft eine Steuer von hundert Dollars und auch wohl die dreifache Summe im Monat so leicht aufzutreiben vermag, ohne Bankerott machen zu müssen.

Tausende von Bergleuten arbeiten jahraus, jahrein jede Woche sechs Tage lang vom frühen Morgen bis zum Abend in den Minen, um allnächtlich und namentlich am Sonntag ihr schwer erworbenes Gold in den Hurdy-Gurdy-Häusern wieder fortzuschleudern. Die Folge davon ist, daß, obwohl die meisten dieser Minenarbeiter verhältnißmäßig reich sein sollten, es doch zu einer großen Seltenheit gehört, einen unter ihnen zu finden, der sich eine nur einigermaßen ansehnliche Summe erübrigt; eben weil sie ihr Geld in den Hurdy-Gurdy-Salons so schnell verjubeln, wie sie es verdient haben.

In enger Verbindung mit den Hurdy-Gurdy-Salons sind Trinkstände, an denen die Tänzer ihre Schönen nach jedem Tanze mit einer Herzstärkung tractiren, zu einem viertel oder halben Dollar den Schluck, wovon das Mädchen die Hälfte und der Salonbesitzer die andere Hälfte bekommt. Von den Mädchen erhält also jede einen viertel oder halben Dollar für den Tanz, und außerdem machen sie es sich zur Regel, den in Glückseligkeit schwimmenden Goldgräbern Ringe, Schmucksachen und, wo’s geht, baares Geld abzukosen, so daß sich das Geschäft im Allgemeinen recht gut lohnt.

Dann sind öffentliche Spiellocale in nächster Nähe, wo mit falschen Würfeln und sonstigen scharfsinnigen Schwindeleien den vom Tanz und schlechten Getränken erhitzten Miners der Rest ihres Klein- und Großgelds in der Geschwindigkeit abgenommen wird.

Das Merkwürdigste bei dieser Hurdy-Gurdy-Wirthschaft ist, daß sämmtliche Hurdys „from the Rhine“ sind, und daß die leichtfertigen Schönen anderer Nationalitäten den Nassauerinnen und Hessinnen bei diesem profitablen Geschäftchen nicht in’s Handwerk greifen. Aber so ist es in der That; und die Töchter von Frankreich, von Irland, England, Spanien, Amerika, Mexico und andern Ländern treten bescheiden zur Seite und bedanken sich ganz gehorsam für diesen Ehrenposten.

Man trete einmal hinein in solch einen Hurdy-Gurdy-Salon und man wird zugeben, daß es dem Nationalstolze anderer Völker zur Ehre gereicht, den Deutschen in diesem Geschäfte den Rang nicht streitig zu machen! Halbangetrunkene, rohe Goldgräber, theilweise in Hemdärmeln und mit dem Hute auf dem Kopfe, mit geladenen Revolvern und langen Messern im Gürtel und die Hosen meist in die Stiefelschäfte gesteckt, zerren die Mädchen im Tanze umher und stoßen sich dieselben mitunter gegenseitig zu, trinken mit ihnen vergiftete Getränke, führen schmutzige Reden und erlauben sich alle möglichen handgreiflichen Freiheiten und Frechheiten, wofür sie ja zahlen – zahlen, mit blankem Golde! Goldene Schätze rollen so den Hurdys in den Schooß – selbstverständlich zum größten Theil zum Nutzen der Seelenverkäufer und Salonbesitzer.

Man wird an dieser ganzen Küste kaum eine Minenstadt – a mining camp – finden, in der es nicht eins oder zwei, oft drei bis vier solcher Hurdy-Gurdy-Häuser giebt – hier in Dalles gegenwärtig drei – was der Verfasser dieser wahrheitsgetreuen Schilderung nicht blos von Hörensagen weiß, sondern mit eigenen Augen gesehen hat, da er nicht nur in Oregon, sondern auch in Californien und Nevada ziemlich weit herumgekommen ist. Wie groß die Zahl solcher verwahrlosten Mädchen an dieser Küste ist, läßt sich schwer ermitteln; doch würden die nassauischen und hessischen Polizeibehörden höchst wahrscheinlich die Augen vor Erstaunen weit aufthun, wenn sie die nackte Wahrheit zu hören bekämen!

Die einzige Möglichkeit, dieser den deutschen Namen schändenden Hurdy-Gurdy-Wirthschaft zu steuern, ist, die neue Zufuhr von Mädchen aus Deutschland zu verhindern. Den Mädchen, die, leider Gottes, einmal hier sind, kann nicht geholfen werden. Man hat es wiederholt versucht, dieselben als Hausmädchen mit einem Monatslohn von dreißig bis vierzig Dollars zu engagiren; das wilde Leben ist ihnen aber so zur andern Natur geworden, daß sie alle derartige Anerbieten rundweg abgeschlagen haben.

Die Mitglieder eines Comites in St. Francisco, welches dieses zu bezwecken suchte, sind zum Dank für ihre menschenfreundlichen Bemühungen sogar wiederholt von den Seelenverkäufern nächtlicher Weile verfolgt, niedergeschlagen und gemißhandelt worden, so daß man zuletzt alle ferneren Schritte zum Wohl der Mädchen, als gänzlich nutzlos, eingestellt hat und die Menschenhändler ihre Schandwirthschaft nach wie vor ungestört treiben, mit der schon gedachten alleinigen Ausnahme, daß die Hurdy-Gurdy-Häuser in St. Franciseo selbst unterdrückt sind.

Da die Tanzmädchen jedoch sämmtlich in kurzer Frist durch Alter und das allnächtliche Schwärmen abgenutzt sein werden, so müßte die ganze Hurdy-Gurdy-Wirthschaft allmählich von selber aufhören, wenn nur der ferneren Zufuhr von Deutschland Schloß und Riegel vorgeschoben werden könnte. Und dieses ist es eben, worauf der Verfasser dieser ungeschminkten Enthüllungen die betreffenden [313] deutschen Regierungen und das deutsche Volk selber hinleiten möchte, daß sie nicht die Hände in den Schooß legen und über die Schlechtigkeit der Welt lamentiren, sondern zur That schreiten.

Hier im goldenen Oregon würde man einen solchen Seelenhändler, der von hier aus amerikanische Mädchen als Tanzwaare exportiren wollte, wegen beleidigter Nationalehre ganz einfach „lynchen“, theeren und federn, todtschießen, todtstechen, aufhängen, todtprügeln – je nachdem. Wenn diese bewährten Mittel nun allerdings für Deutschland nicht zu empfehlen sind, so giebt es doch wohl noch andere, um dergleichen Schurken unschädlich zu machen.

Genug aber von dieser Schmach des deutschen Namens, die jedem ehrlichen Deutschen, den sein Lebensloos auf diese Scholle fremder Erde geworfen, die Schamröthe in’s Gesicht treibt! Möge diese wahrheitsgetreue Darstellung von Thatsachen, die wahr bleiben, trotz aller ihnen widersprechenden „Erklärungen“, endlich den sie betreffenden deutschen Regierungen die Augen öffnen, damit sie energische Schritte thun, diesem Menschen- und Seelenhandel ein Ende zu machen; denn aufhören wird er und aufhören muß er, oder Deutschland wird die Achtung im Auslande, mit der es leider einmal nicht eben glänzend bestellt ist – Dank sei es der inneren Zerrissenheit und der ungenügenden nationalen Vertretung in fremden Ländern – mit der Zeit noch gänzlich verlieren.

Dalles im Staate Oregon, Ende Februar 1865.

Theodor Kirchhoff.




Ein Besuch beim Scheik von Lischana in der Wüste Sahara.

Auf der Oase Biscara war es, dem alten Präsidium der Römer, welches fünfzig römische Meilen von den Salinae Nubonenenses entfernt lag, der größten Palmenoase in der Wüste Sahara, wo über hundert und sechszigtausend Palmen stehen. Der französische Obercommandant des Kreises von Biscara, Escadronschef Forgemol, hatte mir in Folge eines Schreibens des Marschalls Mac Mahon, Generalgouverneurs von Algerien, Briefe an den Scheik von Lischana, Barek ben Lachmar, und an den Marabut Sidi Ali ben Amor, der in der alten berühmten Araberstadt Tolga wohnt, zwei zur Gruppe Siban gehörigen Palmenoasen, und außerdem die Begleitung von zwei Spahis zu meiner Sicherheit zugesagt. Um vier Uhr Morgens waren die Spahis mit den Pferden vor der Thür meiner Wohnung in Biscara. Mein Pferd trug heute einen glatten englischen Sattel aus dem Stalle des gefälligen Commandanten, da ich mich auf den hohen Arabersätteln, in denen man wie in einem Stuhle sitzt, nicht zurechtfinden konnte. Nach einer Viertelstunde trabten wir über den Platz, wo die Araberzelte stehen und die Kameele lagern, an den Palmenhainen entlang, in westlicher Richtung der großen Wüste zu. Das Thermometer stand bereits auf achtzehn Grad Réaumur, obschon die Sonne noch nicht aufgegangen war. Einer von den Spahis sprach fertig Französisch und sollte mir als Dolmetscher dienen. Beide waren mit Flinten und Säbel bewaffnet, da es in der Sahara seit einigen Tagen etwas unruhig aussah.

Nach einer halben Stunde lagen die Palmenwälder hinter uns. Rechts stiegen die letzten Ausläufer des Auresgebirges in der Form nackter Felsen und wüster Sandberge in die Höhe, links dehnte sich die große Wüste Sahara, das Sandmeer, in ihrer ganzen Größe und Majestät bis zum Horizont aus. Wenn der Blick des menschlichen Auges so weit reichen könnte, hätte ich bis nach Tombuktu und nach dem märchenhaften Sudan sehen müssen. Ein ungeheures Sandmeer von gelbröthlicher Färbung, an den Rändern, wo es den durchsichtig blauen afrikanischen Himmel zu berühren scheint, bläulich schimmernd, das alte Gätulien, das Land der Kameele und der Strauße, der Antilopen und Gazellen, in welches der Löwe von den Abhängen des Atlas noch heute bei Nacht hinabsteigt, um sich Beute zu holen! – Der Boden, über den wir abwechselnd in Trab und Galopp hinsprengten, um während der Morgenkühle eine so große Strecke wie möglich zurückzulegen, bestand aus Sand und Lehm, dann und wann mit Geröll bedeckt oder von großen salzhaltigen Steinen durchzogen, hier und da mit kurzem Gestrüpp bewachsen. Todtenstille ringsum, zuweilen von dem sonderbaren Schrei der Kameele unterbrochen, welche in dem Gestrüpp weideten und in der Ferne aussahen wie lebendig gewordene Hügel, welche sich bald hoben und bald niedersenkten. Der Spahi erzählte mir von Sidi Okban, der Palmenoase, auf welcher der älteste muselmännische Tempel in Afrika steht, den ich nach einigen Tagen besuchen wollte, von der Expedition nach Tuggurt, welche er mitgemacht hatte, von arabischen Hochzeiten und Beerdigungen, vom Koran und von Mahomet, während der Andere die eintönige arabische Melodie, welche Jeder kennt, der in Afrika gewesen ist und die man in jedem maurischen Kaffeehause zum Klange der Tambourins und der zweisaitigen Guitarre alle Tage von Neuem hört, vor sich hinsang. Dann stieg die Sonne am östlichen Himmel über die Palmenkronen Biscara’s in die Höhe und bedeckte das Sandmeer mit einem feurigen Glanze, welcher den Augen wehe that.

Der Boden wurde immer unebener. Sandberge wechselten mit Erdrissen, in denen man Häuser und Thürme hätte versenken können, und mit großen Strecken fliegenden Sandes. Dann kamen wir an das Ufer eines breiten Flusses. Es war der Wed-el-Kantara, der auf den Abhängen des Auresgebirges entspringt und durch die Felsenschlucht el Kantara, welche man den „Mund der Wüste“ nennt, in die Sahara fließt.

Wir durchritten ihn mit den Pferden. Ich hielt einige Minuten in der Mitte des Stromes, um die kühlere Luft einzuathmen, welche über dem Wasser schwebte. Scenerie, Boden und Höhenzüge blieben auf der andern Seite des Flusses ganz dieselben. Der Spahi erzählte mir, daß man so vier Monate reiten müsse, um nach Tombuktu zu kommen, und fragte mich, ob ich nicht auch nach Tombuktu reisen wolle; der Marabut von Tolga, dem ich am folgenden Tage einen Besuch abstatten würde, könne mir bis nach Tombuktu an alle Marabuts unterwegs Empfehlungen geben. Ich sagte ihm, ich wolle mir die Reise nach Tombuktu doch erst noch überlegen, und dachte an die schattigen Buchenwälder in Deutschland, wenn ich in der kühlen Morgenfrische unter ihren Laubkronen hinritt und Millionen Thautropfen auf dem Grase funkelten. Wie war solch ein Morgen duftig und frisch und erquickend, wie sangen die Vögel im Laube der prächtigen Bäume und wie stieg die Lerche jubelnd zum Himmel! Hier wehte mich ein heißer Odem an, wie der Odem aus einer Feueresse, hier sang kein Vogel sein Morgenlied, hier glänzte kein Thautropfen im Grase – nur brennender Sand, soweit das Auge blickte, nur wüste Steinmeere und hinabgeschurrte Bergabhänge in der Ferne. Nein, ich werde nie nach Tombuktu reisen, schon die Tuareks wohnen mir zu weit in diesem Meer von Sand.

Immer ging’s weiter, im Schritt, im Trab, im Galopp, wie der Boden es eben erlaubte. Araber im weißen, fliegenden Burnus, das weiße Tuch mit kameelhaarenen Stricken um den Kopf gewunden, begegneten uns, Kameele zogen vorüber, mit Datteln und Wolle beladen, Gerippe gefallener Esel bezeichneten den Wüstenpfad, wieder sangen die Spahis ihre traurige und eintönige Melodie; endlich, endlich, nach vierstündigem Ritte, sah ich am Horizont im Westen lange Reihen von Palmenkronen. Es ist doch nicht die Fata Morgana, die mich täuscht? Nein, es ist Wirklichkeit. Der Spahi streckte die rechte Hand nach Westen aus und sagte: „Lischana.“

Meine Augen brannten und meine Zunge lechzte. „Wie weit?“

„Anderthalb Stunde.“

Und wieder ging es vorwärts im Schritt, im Trab und im Galopp, wie es gerade gehen wollte. Und wieder flogen arabische Reiter an uns vorüber im flatternden weißen Burnus. Und immer röther glühte das Sandmeer, und immer heißer brannte die Sonne. Aber auch immer näher kam der grüne Palmenwald. Schon konnte ich die Tausende von Kronen auf den schlanken, hohen Stämmen unterscheiden. Endlich „Allah, dem Gnadenhort, sei Dank und Preis, die Wanderung ist vollbracht, das Ziel erreicht.“ Ich ließ mein Pferd im Schritt gehen. Da standen wir am Saume des Palmenwaldes. Ein zu beiden Seiten mit Mauern von ungebrannten Ziegeln eingefaßter enger Weg führte in den Palmenwald und in das Araberdorf Lischana, welches mitten im Palmenwalde liegt.

Einzeln ritten wir hintereinander. Ueber die Mauern blickte ich in die Palmengärten, in denen eine wunderbare Vegetation [314] herrschte. Dicht standen sie hintereinander, die hohen, schlanken Bäume, oft zu vier zusammen, als wären sie aus denselben Wurzeln in die Höhe gewachsen, mit den Kronen sich berührend, der Grund von Hunderten von Wasserrinnen durchzogen, dazwischen Aprikosenbäume mit ihrem hellgrünen Laube, von Cactus- und Aloehecken eingerahmt. Dann kamen wir in das Dorf. Wieder jene hohen, fensterlosen Mohrenhäuser mit den terrassenartigen Dächern, welche mit den Erkern und Vorsprüngen zusammenstoßen; wieder jene finstern, zuweilen durch gewölbte Bogen unterbrochenen Straßen, wie ich sie schon mehrmals in den arabischen Städten und Dörfern durchwandert hatte, manche Häuser mit Thürmchen und Zinnen. Alle Häuser mit ihren Pfeilern, Säulen und Erkern waren hier von ungebrannten Ziegeln aufgeführt und ohne jenen weißen Gypsanstrich, welchen die arabischen Häuser in den Städten tragen. Aber die dunkelgrünen Palmenkronen blickten hier über die Erker und Terrassen in die Straßen und nickten mit ihren Kronen. Endlich hielten wir vor einem großen, palastartigen Hause. Ein gewölbter, von Säulen getragener Gang, zwischen den Säulen Nischen mit Steinbänken, führte zu dem Hausthore. Auf den Bänken in den Nischen lagen weiße Gestalten, träumend oder im süßen Nichtsthun, wie das so arabische Sitte ist. „Hier wohnt der Scheik von Lischana,“ rief der Spahi und hielt mir den Steigbügel. Ich sprang vom Pferde.

Eine schmale Steintreppe führte in den obern Stock des Hauses. Das Haus hatte keinen innern Hof, wie die Maurenhäuser in den Städten. Durch eine Bogenthür traten wir in das Empfangszimmer des Scheiks. Es war ein weites, hohes und kühles Gemach, zwei runde Säulen trugen die Decke, deren Querbalken starke Palmenstäbe bildeten, während die Zwischenränme zwischen den Querbalken mit Palmenzweigen ausgefüllt waren. Die Wände hatten den in arabischen Häusern gewöhnlichen Gypsanstrich Palmenmatten bedeckten den Steinboden. Zwei mit bunten Teppichen belegte Divans füllten die Ecken des Saales aus, während in der dritten Ecke ein Kamin angebracht war. Als wir eintraten, erhob sich ein Mann von dem Divan und hieß uns willkommen. Der Spahi überreichte den Empfehlungsbrief des Commandanten von Biscara, der in arabischer Sprache geschrieben war. Der Araber nahm ihn und sagte mir, nachdem er ihn gelesen hatte, sein Bruder, der Scheik, sei augenblicklich nicht zu Hause, doch würde er ihn sofort von dem Besuche benachrichtigen und ihn holen lassen. Er hieß mich nochmals willkommen und lud mich ein, auf dem Divan auszuruhen. Dann erschienen zwei arabische Diener und brachten Datteln, Feigen, Mandeln und Milch zur Erfrischung, während der Spahi wieder vor das Haus gegangen war, um sich um die Pferde zu bekümmern.

Nach einigen Minuten trat ein hagerer, großgewachsener Araber mit scharfen Zügen und brennenden dunkeln Augen in das Gemach. Er redete mich in geläufigem Französisch an, sagte mir, daß er ein Verwandter des Scheiks sei und Hamond heiße. Der Commandant von Biscara habe ihn von meinem Besuche in Lischana benachrichtigt und ihn ersucht, mir während meiner Anwesenheit als Dolmetscher zu dienen. Dann erschien der Scheik. Er war ein Mann von hoher Gestalt, in der Mitte der vierziger Jahre, mit schönen, klugen Augen und schwarzem Bart. Er war in einen weißen Burnus von feiner Wolle gekleidet, unter dem er eine blaue Tunika trug. Ueber dem Burnus trug er um den Hals eine Schnur rother und schwarzer Korallen. Er hieß mich nochmals willkommen und sagte, daß das Mittagessen in einer halben Stunde bereit sein werde. Nach Tisch wolle er mir Lischana zeigen. Währenddem kam der Bruder des Scheik, der mich zuerst empfangen hatte, mit noch zwei andern Brüdern zurück, welche ebenfalls den fremden Gast sehen wollten. Der Scheik und Hamond blieben stehen, die Andern ließen sich mit gekreuzten Beinen auf die Palmenmatten nieder, welche den ganzen Boden des Saales bedeckten. Mit Hülfe des Dolmetschers Hamond unterhielt ich mich mit dem Scheik und seinen Verwandten darauf von den Sitten des Landes. Der Scheik hatte drei Frauen, auch seine Brüder hatten jeder mehrere Frauen, Hamond besaß nur eine Frau. „Es ist mehr als genug,“ fügte er lächelnd hinzu. Hamond hatte längere Zeit in Algier gelebt, dort die französische Sprache erlernt und viel Verkehr mit den Franzosen gehabt, trotzalledem hielt er die untergeordnete Stellung der Frau bei den Arabern für vollkommen gerechtfertigt. „Ich kann meine Frau tödten, wie eine Fliege,“ sagte er, „denn sie ist mein Eigenthum.“

„Und weshalb ist sie Dein Eigenthum?“

„Ich habe sie gekauft. Wir kaufen unsere Frauen von ihren Eltern. Man zahlt fünfhundert, eintausend, zweitausend, auch dreitausend Franken, wenn ein Mädchen jung, schön und arbeitsam ist. Du weißt, die Frau erwirbt bei uns für den Mann, während die Männer wenig oder gar nicht arbeiten.“

„Bei uns im Norden ist es umgekehrt,“ sagte ich lachend, „da kosten die Mädchen aus vornehmen Häusern, wenn man sich mit ihnen verheirathet, viel Geld, und der Mann muß Alles erwerben, was die Frau braucht. Deshalb lassen wir uns eine Mitgift geben.“

Unsere Unterhaltung wurde durch die Meldung unterbrochen, daß das Mittagessen aufgetragen sei. Es war ganz in arabischer Weise bereitet. Ich verzehrte es, auf dem Divan sitzend, auf einem europäischen Tische, der übrigens das einzige Möbel im Hause des Scheik war, welches mich an Europa erinnerte. Der Spahi bediente mich, der Scheik saß neben mir, sich durch Hamond oder durch den Spahi mit mir unterhaltend, ohne am Mittagessen Theil zu nehmen. Währenddem lagerten sich die Brüder und Vettern des Scheik mit gekreuzten Beinen auf den Palmenmatten; dazwischen stellte man Schüsseln. Sie aßen sämmtlich mit den Fingern, ohne Gabeln, Messer oder Löffel zu gebrauchen. Für mich waren kleine Holzlöffelchen herbeigeschafft worden. Zuerst erschien ein Fricassee von Lammfleisch, zu dem Kuchen aus Gerstenmehl gegeben wurden. Dann kam das bekannte arabische Gericht Kuskus, aus grobgemahlenem Weizenmehl bestehend. Der Kuskus war mit Butter und mit Lammfleisch gekocht. Der Scheik nahm die besten Stücke Lammfleisch aus der Schüssel und steckte sie mir mit der Hand in den Mund. Auf den Kuskus folgten Fleischklöße, dann Huhn und hierauf Hammelfleisch. Das Dessert bestand aus Granaten, Datteln und Feigen. Alle Speisen waren außerordentlich stark gewürzt, aber recht gut und schmackhaft zubereitet. Nach Tisch wurde Kaffee in kleinen Porcellanschalen gereicht.

Nachdem wir gespeist hatten, forderte der Scheik mich auf, mit ihm einen Spaziergang durch das Städtchen zu machen. Ich wollte noch an demselben Abend nach der Oase Tolga weiter, um den dortigen Marabut Sidi Ali ben Amor zu besuchen und bei ihm die Nacht zuzubringen, und befahl deshalb den Spahis, mich mit den Pferden am Ausgang des Städtchens auf dem Wege nach Tolga zu erwarten. Dann begann ich meinen Spaziergang mit dem Scheik, von Hamond und den Brüdern des Erstern begleitet. Die Anwesenheit der Fremden war unterdessen auf der Oase bekannt geworden. Hunderte von Neugierigen standen auf der Straße und begleiteten uns auf unserm Spaziergange. Das Städtchen hatte überall denselben Charakter, wie in den Straßen, welche ich durchritten hatte, um nach dem Hause des Scheik zu kommen. Die hohen Palmenkronen blickten allenthalben über die Mauern und Häuserterrassen in die Straßen. Die Datteln von Lischana gehören zu den besten Datteln, welche die Wüste Sahara hervorbringt. Vor der Pforte der Moschee ließ ich dem Scheik und unserem zahlreichen Gefolge, welches auf Hunderte von Personen angewachsen war, durch Hamond erklären, daß wir in Europa beim Betreten einer Kirche unsere Ehrfurcht durch Abnehmen des Hutes zu bezeigen gewohnt seien und ich deshalb auch heute den Sitten meines Landes folgen werde, um mir das Ausziehen der Stiefeln zu ersparen. Freundlich wurde von Allen eingewilligt, und während Alle die Schuhe auszogen, betrat ich mit dem Hute in der Hand den Tempel Mahomet’s. Als wir eingetreten waren, knieten alle Araber nieder, verbeugten sich dreimal gegen die Kaaba in der Richtung nach Mekka und berührten dreimal mit dem Haupte den Boden. Die Moschee war düster und bestand aus sechs Schiffen. Mehrere Säulencapitäle waren aus Römersteinen gebildet.

Der Scheik von Lischana begleitete mich mit seinen Brüdern und Hamond bis zur Grenzmark seines Ortes, nachdem er mich vorher nach den Ruinen der Oase Saatscha geführt hatte, welche bekanntlich im Jahre 1849 von den Franzosen nach einer wahrhaft heldenmüthigen Vertheidigung während dreiundfünfzig Tagen im Sturm mit ungeheueren Opfern genommen wurde. Er war ein verständiger, kluger und durchaus nicht franzosenfreundlich gesinnter Mann und sprach mit Stolz von der ruhmvollen Vertheidigung Saatscha’s, an der fast alle Bewohner Lischana’s Theil genommen hätten. Bei den ersten Palmen der Oase Farfar erwarteten mich die Spahis mit den Pferden. Der Scheik bat mich, [315] ihn, wenn ich aus Tolga nach Biscara zurückkehre, noch einmal zu besuchen. Daß auch ich mit Ruhm von der Vertheidigung Saatscha’s gesprochen und das Recht der Nationalität anerkannt hatte, schien mir sein Herz gewonnen zu haben. „Ich werde Dich besuchen, Scheik von Lischana,“ sagte ich, „aber gieb mir einen Beweis Deines Vertrauens, oder vielmehr Deiner aufgeklärten Denkungsart; denn Du bist ein kluger Mann. Zeige mir Deine Frauen.“

Die arabischen Frauen zeigen sich bekanntlich niemals einem Fremden. Sie gehen selten aus und verhüllen sich, wenn dies durchaus nothwendig ist, mit einem weißen Tuche dan Gesicht.

Der Scheik sah mich lächelnd an. „Du bist ein Europäer,“ sagte er, „und kommst niemals wieder nach Lischana. Von Dir habe ich nichts zu fürchten. Ich werde Dir meine Frauen bei Deiner Rückkehr zeigen.“

„Sei ruhig, Scheik Barek ben Lachmar,“ sagte ich, „von mir hast Du nichts zu fürchten. Ich liebe ein Mädchen im Norden, welches schön und klug und gut ist – und bei uns liebt man nur eine Frau.“

Dann bestieg ich mein Pferd und sprengte mit den Spahis in den Palmenwald von Farfar.

Nach zwei Tagen ritt ich zurück nach Lischana. Der Scheik kam mir mit Hamoud im Palmenwalde von Farfar entgegen. Es war ein heiterer, etwas kühlerer Morgen, als an dem Tage, wo ich von Biscara nach Lischana ritt. Ich schickte die Spahis mit den Pferden voraus und setzte mich mit dem Scheik und dem Dolmetscher unter eine hundertjährige Palme. Der Morgenwind flüsterte in den Kronen der prächtigen Bäume und ein Vogel sang in dem frischen Laube der Mandel- und Pfirsichgebüsche. Scheik Barek ben Lachmar erzählte mir von seiner Liebe zu seiner schönen achtzehnjährigen Cousine Halima, welche er seit Kurzem geheirathet hatte, nachdem er schon mit zwei Frauen vermählt war. Die erste hatte er aus Familienrücksichten geheirathet, die zweite hatte ihn durch ihre Schönheit bestochen. Geliebt hatte er sie nie. Mit der ersten hatte er eine sechszehnjährige Tochter, mit der zweiten einen Knaben von fünf Jahren. Zum ersten Male war die Liebe, als er seine schöne Cousine sah, welche in Constantine bei ihren Eltern erzogen war, in sein Herz eingezogen. Er kaufte sie für viertausend Franken von ihren Eltern. „Ich hätte meine Pferde, meinen Sohn, mein Haus, mein Leben für Halima gegeben,“ sagte er und seine Augen blickten glänzend in die Palmenkronen. „Ich will jetzt meine beiden ersten Frauen von mir sanft entfernen und nur mit Halima leben. Du hast neulich recht gesagt, Herr, das Menschenherz kann nur eine Frau lieben.“

Dann standen wir auf und gingen nach Lischana. Vor dem Hause des Scheiks standen viele Menschen. Sie sahen ängstlich und bestürzt aus. Vergebens fragten wir, ob im Hause Etwas vorgefallen sei. Niemand antwortete. Der Scheik stieg rasch die hohe Steintreppe hinauf, eiligen Schrittes folgte ich und Hamoud. Wn traten Alle zugleich in das Frauengemach, welches dem Saale, wo ich vor einigen Tagen arabisch gespeist hatte, gegenüber lag. Das Gemach war mit Rosenduft erfüllt, in der Mitte blickte der blaue afrikanische Himmel durch die Oeffnung hinein, durch welche man auf das terrassenförmige Dach des Hauses stieg. Die beiden Frauen des Scheik und seine Tochter stürzten uns mit entsetzten Gesichtern entgegen. „Wo ist Halima?“ rief der Scheik. Die Frauen zogen ihn nach dem hintern Ende des Gemaches. Dort lag Halima auf einem mit bunten türkischen Teppichen bedeckten Divan, in deren kunstvoller Bereitung die Sahara noch geschickter ist als Constantinopel. Ihre schönen Füße waren mit silbernen Spangen geschmückt, die Arme zierten über den feinen Handgelenken goldene, mit Perlen besetzte Armbänder. Das glänzend schwarze Haar war mit seidenen Bändern durchflochten und mit einem bunten, turbanartigen Tuche umwunden, welches reich mit Gold gestickt war. Den schönen Hals bedeckten kostbare Perlenschnuren mit Goldmünzen. Aber Halima’s dunkle Augen waren geschlossen, auf ihre hohe, freie Stirn hatte der Engel des Todes sein unverkennbares Stigma gedrückt. Der Scheik riß ihr den goldgestickten, seidenen Kaftan auf und legte seine Hand auf ihr Herz. Das Herz schlug nicht mehr. Halima war, während der Scheik mir nach dem Palmenwalde von Farfar entgegenging, an dem Stich eines der Scorpionen, welche sich auf den Oasen in der Sahara aufhalten und deren Biß sofort tödtlich ist, plötzlich gestorben. – Selbst erschüttert schied ich von meinem tiefgebeugten Gastfreunde und schweigend neben meinen schweigenden Gefährten ritt ich andern Morgens durch die Wüste heimwärts.

Gustav Rasch.




Aus Kaulbach’s Atelier.
Mit einer Holzphotographie.

„Ist die Frau Baronin zu Hause?“ fragte ich den dicken Portier im Hotel Leinfelder in München und stieg, als ich bejahende Antwort empfing, die Treppe zu Nr. 6 und 7, den von Friederike Goßmann mit ihrem Manne, dem Baron von Prokesch-Osten, bewohnten Zimmern hinauf.

Ich traf Besuch bei dem Ehepaare, ein langer Herr von vornehmem, liebenswürdigem Aeußern erhob sich um Abschied zu nehmen, just als ich eintrat. Es war der durch sein reizendes Talent in den weitesten Kreisen bekannte Dichter und Humorist Graf Pocci; trotz seines hohen Ranges, den er am bairischen Hofe bekleidet, einer der liebenswürdigsten und fröhlichsten Gesellschafter, der ohne Zweifel dem gefeierten Münchner Kindl (Friederike Goßmann ist bekanntlich von Geburt eine Münchnerin) auch seine Huldigung darbringen wollte.

Während mir Herr von Prokesch nun die Ergebnisse eines Besuches erzählte, den er gestern mit seiner Frau beim alten König Ludwig von Baiern im Wittelsbacher Palais gemacht hatte, Ergebnisse, die, äußerst amüsanter Art, zur Genüge darthun, welches Humors sich noch der greise König erfreut, die aber hier mitzutheilen leider zu weit führen würde, vollendete Frau von Prokesch ihre Toilette im Nebenzimmer und flocht fortwährend durch die geöffnete Thür in die Erzählung ihres Gemahls die ergötzlichsten Bemerkungen ein.

Endlich erschien sie zum Ausgehen bis auf das historisch gewordene Spazierstöckchen, das sie freilich mit eigenthümlicher Grazie zu führen wußte und das der kleinen eleganten Gestalt besonders gut stand, fertig in der Thür, und wir verließen das Hotel, um unsern Weg zu Kaulbach’s Atelier anzutreten.

Die berühmte Schauspielerin ist nämlich wie wenige zugleich eine äußerst geistvolle Frau, deren Interessen weiter reichen als die Coulissenwelt und die an allen hervorragenden Erscheinungen im Gebiete von Kunst, Literatur und Wissenschaft den lebhaftesten Antheil nimmt. So hatte sie am Abend vorher, als am traulichen Theetisch die Rede auf Kaulbach’s Zeichnungen der Goetheschen Frauenbilder kam, den Wunsch geäußert den großen Meister persönlich kennen zu lernen – ein Wunsch, dem ich sehr leicht die Erfüllung bringen konnte, da ich fast täglicher Gast im Kaulbach’schen Atelier, neulich von dem Meister selbst erst die Aeußerung vernommen hatte, daß, wenn er überhaupt das Theater besuchte, er gar gern die berühmte „Grille“ einmal wiedersehen würde.

Ich wußte also, er werde mir nicht zürnen, wenn ich ihm die liebenswürdige Grille mit sammt ihrem damals in München so vielbesprochenen Spazierstöckchen in natura in’s Atelier brächte. So ward denn unser Besuch, den wir dem Schöpfer der Frauenbilder machen wollten, schon auf den nächsten Morgen verabredet, und der freundliche Leser der Gartenlaube, der allerdings schon einmal im Kaulbach’schen Atelier war, wird um so mehr gebeten uns zu begleiten, als er damals nur das Kaulbach’sche Sommeratelier gesehen, das Winteratelier, der sogenannte Koloßsaal, in welchem wir den Meister besuchen wollen, aber auch des Neuen und Interessanten Vieles bietet. Der Koloßsaal ist im Erdgeschoß des großen Akademiegebäudes, ein riesiger Raum, der seinen Namen von der in demselben befindlichen in kolossalen Verhältnissen ausgeführten antiken Figur erhalten. Dieser große hohe Raum ist so recht geeignet für Kaulbach’s Wirken, das ja ebenfalls sich vorzugsweise in den größten Verhältnissen bewegt. Hier zumeist sind die Cartons der Wandgemälde entstanden, welche das Museum in

[316]

Kaulbach’s neuester Carton, Friedrich der Große.
Auf Holz photographirt.

[317] Berlin schmücken, jene riesigen Typen der Geschichte der Menschheit, die eben nur ein Kaulbach zu schaffen vermochte.

Als wir eintraten, sahen wir uns vergebens nach dem Meister um. Zugegen war er, denn das kräftige „Herein!“, das auf mein bescheidenes Pochen antwortete, war jedenfalls von ihm. Endlich bemerkte ich hoch oben in den Lüften zwei Beine, und noch ehe er gerufen: „Ich bin hier oben und werde gleich herunterkommen!“ sahen wir auf der Spitze einer hohen Doppelleiter den Meister balanciren und in dieser immerhin etwas schwierigen Position ganz ruhig seine Cigarre rauchen und an einem der an der Wand ausgespannten großen Cartons zeichnen.

„Wen bringen Sie mir denn da, lieber Freund?“ fragte er gemüthlich, von seinem hohen Sitz heruntersteigend.

Ich machte die Herrschaften mit einander bekannt, und bald hatte sich ein lebhaftes Gespräch zwischen ihnen entsponnen. Kaulbach ist als der liebenswürdigste Wirth bekannt, nicht allein in seinem reizenden Hause in der Gartenstraße, sondern auch namentlich in seinem Atelier. Jedermann hat zu gewissen Tageszeiten Zutritt, und so ergießt sich hauptsächlich in den Sommermonaten eine wahre Völkerwanderung von Fremden durch sein Atelier. Inmitten aller dieser fremden Leute arbeitet Kaulbach ruhig weiter, gewinnt immer noch Zeit mit den ihm Bekannten zu plaudern oder selbst Fremde, die ihn durch ihr Aeußeres interessiren, anzusprechen und kann dabei, namentlich Damen gegenüber, eine Galanterie entwickeln, die Alles entzückt.

So auch bei unserm Besuche. Es war mir ein eigenes Gefühl diese beiden Leute nebeneinander zu sehen. Der Künstler, dessen Name für alle Zeiten leuchtend dastehen wird in der Geschichte, dem es wie Wenigen vergönnt war, noch im frischesten Mannesalter stehend, im glücklichsten Schaffen begriffen, schon zu ernten, was er mühsam gesäet hatte, er, Kaulbach, der Vielgefeierte, hatte trotzalledem an äußern Erfolgen das nie genossen, was der kleinen Frau da vor ihm zu Theil geworden. Sie aber mochte doch recht gut fühlen, welche Bedeutung der Mann habe, der so liebenswürdig und freundlich mit ihr sprach, und schaute mit einer gewissen Scheu und Ehrfurcht zu ihm herauf, welche mir an der kleinen Grille, die sich schon so oft und so energisch für das „nil admirari“ ausgesprochen, ganz neu war.

Während die Beiden so beieinander standen, schoß mir eine lange Gedankenreihe durch den Kopf. Beide sind sie berühmt und gefeiert, und wenn auch ihr Wirken himmelweit verschieden, so treffen sie sich doch im Ausgangs- und Endpunkte. Schöpft nicht der Künstler die Kraft, mit der er den wunderbaren Fries z. B. geschaffen, in welchem die ganze Weltgeschichte als schalkhaft humoristisches Märchen durch reizende Kindergruppen versinnlicht wird, aus derselben Quelle, aus der Friederike Goßmann die Fähigkeit nimmt, die Tausende von Zuschauern, die sich stets in’s Theater drängen, wenn sie spielt, lachen und weinen zu machen? Können nicht ihre reizenden Gemälde, wie sie deren so viele geschaffen, so kurz und vergänglich auch leider ihre Wirkung ist, doch wenigstens in dieser verglichen werden mit den ewigen Schöpfungen des großen Meisters? Beide, der gereifte Maler und die junge, schöne, elegante Frau, sind sie Jünger des göttlichen Humors, ob sie auch seine Offenbarungen in verschiedenster Weise und auf verschiedensten Wegen wiedergeben.

„Den alten Fritz hier müssen Sie sich doch auch anschauen, ich glaube, Sie kennen ihn auch noch nicht,“ wandte sich Kaulbach, meine Träume unterbrechend, zu mir.

„Wann haben Sie denn einen Friedrich den Großen gemacht?“ fragte ich neugierig; „das hätte mir, der ich fast tagtäglich im Atelier war, unmöglich entgehen können.“

„Vorgestern Nachmittag, als Sie fortgingen, habe ich ihn angefangen, und just ehe Sie hereinkamen, hatte ich den letzten Strich daran gethan und ihn umgedreht,“ sagte der Meister lächelnd. „Jetzt helfen Sie mir wohl, ihn wieder an’s Licht zu bringen?“

Wir faßten Beide den großen Carton an und drehten ihn herum. Da saß der „alte Fritz“ in Lebensgröße.

Alle, wie wir da waren, brachen in ein lautes „Ah“ aus. Die Zeichnung, zu einer Reihe historischer Compositionen des Meisters gehörig, trotzdem sie nur mit schwarzer Kreide ausgeführt war, wirkte doch ungemein lebendig. Man meinte, der alte Herr müsse sich jeden Augenblick vom Throne erheben und den sieggewohnten Degen auf’s Neue ziehen.

„Wahrlich, so oft auch der alte Fritz abgebildet worden ist,“ bemerkte die Baronin, „so habe ich doch noch kein Bild von ihm gesehen, das so auf mich gewirkt hätte. Das wunderbare Auge macht, selbst von uns abgewendet, den Eindruck, als ob wir seinen Blick nicht ertragen könnten, wenn es uns anschaute. Wie packt die Faust den Degen. Man fühlt, daß die Faust und der Degen in Deutschland und Europa gefürchtet waren. Welche Kraft und welche Größe in dieser Ruhe!“

Freundlich lächelnd hörte der Künstler der schönen kleinen Frau zu, die sich an dem Bilde gar nicht sattsehen konnte.

„Und das haben Sie vorgestern erst angefangen, Herr Director?“

„Gewiß, vorgestern Nachmittag, als Sie vor dem Nero[3] sich so sehr vertieft hatten, machte ich die ersten Striche.“

Ich hatte freilich gesehen, daß er ein neues großes Papier vor sich hatte, als ich an jenem Nachmittag fortging. Ich mochte aber nicht fragen, was es für ein Bild werden solle, da ich schon längst gemerkt hatte, daß der Meister neugieriges Fragen nicht liebe, auch oft irgend eine Idee auf einen Carton hinwerfe und die weitere Ausführung einer späteren Zeit erst überlasse; gleichsam eine Notiz im Großen. Dieses Kraftstückchen, bei dem man immer bedenken muß, daß das Original lebensgroß ist, mag ein kleiner Beweis sein von der ungeheueren Arbeitskraft des Meisters, der allein wir die lange Reihe seiner unsterblichen Werke zu verdanken haben. Kaulbach wirft Sachen, an denen Andere Monate arbeiten würden, in Tagen auf’s Papier oder auf die Leinwand. Nun denke man sich diese riesige Arbeitskraft in nie ermüdendem, gleichmäßigem Schaffen ununterbrochen fortwirkend, dann wird es Einem erst klar, wie es möglich war, daß Kaulbach neben dem ungestörten Fortwirken an seinen großen Lebensaufgaben – den Wandgemälden des Berliner Museums – neben den zahlreichen größern Sachen, die theils beendigt, theils fortgesetzt, theils angefangen wurden, in den letzten Jahren noch die große Goethegalerie geschaffen hat!

„Wird denn der alte Fritz nicht photographirt, Herr Director?“ fragte Friederike Goßmann, „ich möchte gar zu gern eine Abbildung davon haben.“

„Heute noch will Albert den Carton holen lassen und ich werde Ihnen in diesen Tagen noch eine Photographie übersenden können, schöne Frau.“

„Ich weiß nicht, ich möchte den alten Fritz nicht photographirt haben,“ meinte ich, „ich möchte ihn lieber kräftig in Holz geschnitten sehen, so in der Art und Weise, wie die prachtvollen Menzel’schen Zeichnungen seiner Generale. Der alte Fritz ist, wie er da sitzt, ein Volksbild. Es ist ein Mann, der Allen theuer und werth ist im deutschen Vaterlande –“

„Na, von wegen dessen, da kommen Sie ’mal nach Oesterreich und fragen Sie da nach,“ brummte der Baron hinter mir –

„– und deshalb sollte ein so ausgezeichnetes Bild von ihm auch Allen zugänglich sein. Ein schöner Holzschnitt davon z. B. in der Gartenlaube, das wäre die richtige Art und Weise der Verbreitung nach meiner Meinung. Da würde das Bild Nationaleigenthum, da freuten sich Millionen daran, denn die Gartenlaube wandert wöchentlich in viele hunderttausend deutsche Häuser; in’s Museum nach Berlin kommen aber das Jahr über nur wenige Hunderte, und um Photographien zu kaufen, hat auch nicht Jeder das Geld.“

„Ihr Gedanke ist nicht schlecht,“ meinte Kaulbach sinnend, „nur habe ich mit den Holzschnitten noch immer Unglück gehabt. Ich habe nicht Zeit und nicht Lust, selbst auf Holz zu zeichnen, es muß also jemand anders meine Zeichnung übertragen, da geht schon ein Stück Originalität fort, dann kommt der Xylograph daran, der schneidet das, was etwa noch übrig geblieben, gründlich zusammen, und wenn das Ding schließlich fertig ist, so sieht es gottsjämmerlich aus und macht Einem Kummer und Mitleiden, aber keine Freude. Da lobe ich mir die Photographie, die giebt treu wieder, was ich gemacht habe. Das ist mein Autograph und bei jeder einzelnen, die ich von meinen Sachen sehe, bin ich fröhlich. Nur geht es zu langsam und ist noch viel zu theuer. Ja, wer ein Mittel wüßte, eine Photographie zu drucken wie einen Holzschnitt!“

„Ich glaube, das Mittel hat unser trefflicher Hofphotograph, Herr Albert, bereits gefunden. Er photographirt wenigstens jegliche [318] Zeichnung direct auf den Holzstock„ so daß die Uebertragung schon ein für allemal wegfällt. Wenn Ihr Friedrich z. B. jetzt auf dem Holz photographirt wäre, ein guter Schneider würde sich gewiß finden„ und dann könnte er in so vielen Exemplaren ge­druckt werden, wie man nur wollte.“

„Ja„ ja„“ meinte Kaulbach„ „das könnte schon gehen, es wäre ein großer Fortschritt für die zeichnenden Künste, wenn der photo­graphische Apparat seine Bilder auch auf dem Holzstock wiedergäbe, Und im Grunde, warum sollte es nicht gehen?“

„Es geht, es geht,“ drängte ich, „wenn Sie mir den Frie­drich überlassen, so bringe ich ihn in die Gartenlaube.“

„Jetzt schauen Sie nur diesen Stürmer und Dränger an, gnädige Frau,“ sagte Kaulbach lachend. „Meine Erlaubniß haben Sie; die Gartenlaube lese ich selbst gern und halte sie für mein Haus. Mir soll’s eine Freude sein, dem wackern Blatt etwas von mir zu geben, aber sehen Sie zu, wie Sie mit Bruckmann zurecht kommen.“

Bald darauf empfahlen wir uns. Ich brachte die Herrschaf­ten in ihr Hotel zurück.

„Vergessen Sie nicht den Herrn Director an meine Photographie zu erinnern, und bringen Sie den alten Fritz nur in die Garten­laube," rief mir die Grille beim Scheiden nach,

Schon damals dachte ich daran, auch den jungen Fritz, die liebenswürdige Friederike Goßmann„ mit dem alten zugleich in die Gartenlaube zu bringen; war sie doch die erfreuliche Veranlassung zu meiner Idee. Eben diese Idee ließ mich aber auch nicht mehr ruhen. Am selben Tage noch machte ich Herrn Bruckmann einen Besuch, um ihn, den Eigenthümer des Vervielfältigungsrechtes jeglicher Kaulbach’schen Zeichnung, um die Ueber­lassung des alten Fritz für die Gartenlaube zu bitten.

Bruckmann„ der Verleger der Kaulbach’schen Frauenbilder zu Goethe’s Werken, hat sich durch die geniale, vom glänzendsten Erfolge gekrönte Art und Weise, wie er eben dieses Werk in seinen verschiedenen Ausgaben in Scene setzte und dadurch im ganzen Kunsthandel revolutionirend einwirkte, die Zuneigung und das Interesse des Meisters derartig gewonnen, daß dieser sich ver­pflichtet hat, das Vervielfältigungsrecht seiner sämmtlichen Werke, die er in Zukunft noch machen würde, nur Bruckmann zu überlassen.

Obgleich nun die Veröffentlichung des Kaulbach’schen Friedrich in der Gartenlaube nicht gerade förderlich für den Absatz der photographischen Ausgaben sein dürfte und wohl mancher andere Kunsthändler mir die Bitte rundweg abgeschlagen hätte, so gab doch Herr Bruckmann in liebenswürdigster Zuvorkommenheit sofort seine Einwilligung.

Acht Tage später holte ich mir aus dem weltberühmten Albert’schen Atelier meinen Holzstock„ mit der in vollendetster Weise darauf ausgeführten Photographie (vielleicht einer der ersten Holzphotographien, die in Deutschland zum Zweck des Schnittes gemacht wurden), und heute sieht der geneigte Leser das fertige Bild und liest zugleich, wie es vom Akademiegebäude in München seinen Weg nach Leipzig in die Gartenlaube gefunden hat.

C. A. Dempwolff.




Dem Andenken eines großen Todten.

Wenn ein großes Leben erlischt„ so geht eine feierliche Stille durch die Welt, Plötzlich schweigen sie alle, die Leidenschaften„ welche durch die Thätigkeitsäußerungen dieses Lebens wachgerufen waren. Eine tiefe Trauer senkt sich in die Seelen der Menschen und wie Grabgeläut klingen dem Ohr die Stimmen, die dem Todten einen Nachruf in seine Gruft mitgeben. Eine solche Stille, eine solche Trauer hat die Botschaft, daß Abraham Lincoln unter Mörderhänden seinen edlen Geist ausgehaucht, über beide Hemisphären verbreitet. Nun er dahingegangen ist, erkennt man die Größe dieser Gestalt an der breiten Lücke, die ihr Verschwinden zurückläßt. Sein Tod hat uns den Maßstab gegeben, nach dem wir die Bedeutung seines Lebens schätzen. Selbst die, welche sich immer geweigert haben ihn anzuerkennen, fühlen und sagen jetzt, daß er mehr als der Lootse gewesen ist, der in wilder Brandung das Schiff fest und ruhig steuert, daß er der Leucht­thurm gewesen, zu dem ein ganzes Volk vier schwere Jahre lang aufgeblickt hat, um sich der Richtung zu versichern, in welcher der einzige Weg der Rettung lag.

Die Wandlung, die in dem öffentlichen Urtheil über Lincoln vor sich gegangen ist, reicht allein schon hin, seine Bedeutung zu beweisen. Schritt für Schritt hat er sich die Achtung der Welt erkämpfen müssen, aus einem Meer von Spott und Schmähung hat er sich mit Haupt und Schultern gehoben, um vor unsern Augen immer mehr zu wachsen und endlich in seiner vollen wahren Größe dazustehen. Als er vor vier Jahren gewählt wurde, wollte man ihn tödten durch das Wort, das Goethe den falschen Freund in Clavigo’s Ohr flüstern läßt, um ihn zum Schurken zu machen. „Er ist kein Cavalier!“ ging das Geflüster durch die südstaatliche und demokratische Presse Nordamerikas und schwoll, durch das Echo aller Organe der englischen Tories und Baumwollenbarone verstärkt, zu einem vollen Chor an. Man schilderte mit Behagen seine eckige, von schwerer Arbeit auseinandergereckte Gestalt, seine große, am Griff der Holzaxt und des Floßruders hart gewordene Hand; man malte seine ungelenken Bewegungen aus und stellte ihn als einen Bauer dar, der, von seinem bösen Stern in einen glänzenden Saal geführt, in hülfloser Verlegenheit nicht weiß, wie er auf dem glatten Parket gehen und wie er eines der vielen zier­lichen Geräthe rings um ihn her anfassen soll. Alle Anekdoten, die über ihn umliefen, waren mit einem Zusatz gewürzt, der ihn als roh und bärenhaft ungelenk erscheinen ließ. Wie man sich aber auch anstrengen mochte, dieses Bild in der Phantasie der Menschen unvergänglich zu machen, die falschen Farben, mit denen man ihn überpinselt hatte, schwanden doch dahin und seine wirk­lichen Züge traten hervor wie ein edles Frescobild, wenn der Kalk abgefallen ist, mit welchem rohe Hände die Wand beworfen haben. Gewiß, ein Cavalier ist Lincoln nicht gewesen. Nicht mit noblen Passionen hat er sich beschäftigt, nicht von den Blüthen am Baume der Künste wählerisch gepflückt, nein, ein Charakter und ein Staatsmann altrömischer Art war er, einer jener Dicta­toren, die so einfach und so groß waren, die man vom Pfluge wegrief, auf daß sie den Staat retteten, und deren Thaten mit ehernen Zügen in den Tafeln der Geschichte eingegraben bleiben, während die feinen Reden und Manieren der Stutzer von der Via sacra mit ihnen selbst verschollen und vergessen sind.

Ein gütiges Schicksal leitete Lincoln’s Jugend auf die rauhesten Wege. In den Riesenwäldern, auf den Riesenflüssen seines Vater­landes errang er sich für Geist und Körper die Stahlkraft, die ein tägliches Ringen um die Existenz in denen erzeugt, welche ein tapferes Herz in diesen Kampf mitbringen. Nie hat ihm sein bitterster Feind nachsagen können, daß er sich einen Augenblick auf einen der tausend Nebenpfade verloren habe, die zu einem mühe­loseren und unehrenhafteren Erwerb führen. Dem Regen und Sturm entgegen schritt er gerade aus. Eines Tages befand er sich vor der verschlossenen Thür der Wissenschaft und erbrach sie. Ein neues Ringen hob an und reichlich floß der Schweiß, den die Götter als Preis der Tugend gesetzt haben. Aber den muthigen Kämpfer belohnte der Sieg und nun verwerthete er für Andere, was er sich selbst so mühevoll errungen hatte. Abraham Lincoln wurde der geschickteste und redlichste Advocat von Illinois. Nie vertheidigte er eine schlechte Sache und oft erlebte er den Triumph, einen Unschuldigen zu retten, den mächtige Feinde mit einem Lügengewebe umstrickt hatten. Während er als junger Mann seine [319] Selbststudien machte, ließ ihn ein armer Landwirth Armstrong an seinem Tische mit essen und gewährte ihm einen Platz am wär­menden Kaminfeuer. Lincoln war schon Congreßmitglied und ein berühmter Advocat, als er hörte, daß der Sohn dieses alten arm gebliebenen Freundes des Mordes angeklagt sei. Auf der Stelle bot er sich als Vertheidiger an. Die Sache schien hoffnungslos zu sein, die bestimmtesten Zeugnisse lagen vor, die öffentliche Meinung war ganz gegen den Angeklagten. Der Tag der Ver­handlung kam; blaß, ein Bild der Hoffnungslosigkeit saß der An­geklagte da und bog sich unter der Wucht der Beweise, die jede neue Zeugenaussage auf ihn wälzte. Der Staatsanwalt hatte nur ganz kurz gesprochen, als Lincoln sich erhob. Seine klare Geschichtserzählung beseitigte die künstliche Verwirrung, die man zum Verderben des Schuldlosen hervorgerufen hatte. Noch eine Zeugenaussage lag lastend in der Wagschale des Schuldig, und diese warf Lincoln mit einem Schlage zu Boden. Der Zeuge hatte den Angeklagten im Mondlicht erkannt, und Lincoln bewies, daß der Mond zu der angegebenen Zeit noch nicht aufgegangen sei. „Wenn noch Gerechtigkeit ist,“ schloß er, „so wird die Sonne, ehe sie untergeht, den Angeklagten als freien Mann bescheinen.“ Und die Sonne stand noch am Himmel, da führte Lincoln den Freigesprochenen der weinenden Mutter zu.

Wie er selbst Stufe auf Stufe erstieg, so führte er auch die Sache, der er sich mit Leib und Seele gewidmet hatte, stufenweise aufwärts. Illinois war ein demokratischer Staat, Lincoln machte ihn zu einem republikanischen. Sobald er in seinem Wohnort Springfield festen Fuß gefaßt hatte, war für ihn der Punkt des Archimedes gefunden, von dem aus er das feste Gefüge der De­mokratie aus den Angeln hob. Er forderte Douglas, den „klei­nen Riesen des Westens“, zu einem Zweikampf auf der Redner­bühne heraus und besiegte den berühmten Obmann der Demokra­ten. In den Congreß gewählt, war er unter denen, welche das Verbot der Sclaverei in dem neuen Staate Texas forderten, der Unermüdlichsten einer. Je klarer das Streben der südlichen Ba­rone wurde, mit Hülfe ihrer Schildknappen im Norden die Scla­venstaaten in die Mehrheit zu bringen, um so eifriger arbeitete Lincoln ihnen entgegen. Um Illinois durch einen Republikaner im Senat vertreten zu lassen, entsagte Lincoln 1855 der eigenen Candidatur und bestimmte alle seine Freunde, den Republikaner Trumbull, dessen Anhang die gute Sache mit einer Stimmenzersplitterung bedrohte, zu wählen. Die Uebergriffe der Sclaven­halter begannen nun die Deutschen, die er stets geachtet und geliebt hatte, zur republikanischen Partei hinüberzuführen. Zu einem Feste in Chicago, dem er beizuwohnen verhindert war, schickte er folgenden Toast: „Unsere deutschen Mitbürger – stets der Frei­heit, der Union und der Verfassung treu, treu der Freiheit, nicht aus Selbstsucht„ sondern aus Princip, nicht der Freiheit für be­sondere Classen von Menschen, sondern für alle Menschen, treu der Union und der Verfassung als den besten Mitteln, jene Freiheit zu fördern – sie leben hoch!“

Nicht als ein Nothbehelf, zu dem man zu greifen gezwungen ist, nein, als einer der besten und edelsten Männer der Partei, wurde Lincoln 1860 von den Republikanern als Candidat für die Präsidentschaft aufgestellt. Kaum war seine Wahl erfolgt„ so beschleunigten die Sclavenhalter in richtiger Würdigung dieses Tod­feindes der Sclaverei ihre Vorbereitungen zum Abfall. An der Schwelle des Weißen Hauses empfing ihn der Bürgerkrieg und schwoll bald genug, von Zehntausenden von Leichen genährt, zu einem Ungeheuer an. Als Lincoln starb, waren dem riesigen Scheusal die Sehnen durchschnitten, Wir haben diesen großen Erfolg mit erlebt und oft gesagt, unter welchen fast unüberwindlichen Schwierigkeiten er erreicht worden ist. Aber unsere Blicke haben doch mehr auf den kämpfenden Heeren und Flotten geruht, als auf den Staatsmännern in Washington; das Getöse der Schlach­ten hat uns mehr beschäftigt, als die stille und wenig sichtbare Arbeit des Cabinets, und so werden wir uns wohl jetzt erst bewußt, daß der größere und schönere Antheil des Erfolgs auf die Seite Lincoln’s und seiner Gehülfen fällt. Denn seiner Geduld, Mäßigung und Milde ist es gelungen, den Bundesgenossen zu entwaffnen, ohne den der Süden seinen Aufstand nie begonnen hätte und mit dessen fortdauernder Unterstützung er alle Verluste und Niederlagen hätte ausgleichen können. Lincoln hat durch seine Politik die Demokratie des Nordens besiegt und gesprengt.

Die Ungeduld seiner eigenen Partei zu zügeln, wurde ihm vielleicht noch schwerer, als jener Sieg über seine Gegner. Die Republikaner betrachteten ihn als einen Bevollmächtigten, der einen übernommenen Auftrag rasch und vollständig auszuführen hat. Mehr als einmal suchte man ihn zu zwingen, aus seiner Zurückhaltung herauszutreten, indem man diesen oder jenen General be­stimmte, die Initiative in Abschaffung der Sclaverei zu ergreifen. Lincoln erklärte dann die voreilige Handlung für ungültig und fuhr fort, den rechten Tag und die rechte Stunde abzuwarten. Sah er den günstigen Augenblick gekommen, so handelte er, ohne daß er um eine Linie über die Grenze hinausging, die ihm von dem momentanen Stande der öffentlichen Meinung gezogen wurde. Um das große Ziel ganz sicher zu erreichen, wollte er von dem Volk Alles dahin mitnehmen, was sich überzeugen und gewinnen ließ. In wie hohem Grade er das erreicht hat, beweist die un­geheure Mehrheit, die bei der Präsidentenwahl des vorigen Spät­herbstes für ihn stimmte. Sein überlegener Geist hatte ihm jetzt Vertrauen, seine fleckenlose Rechtlichkeit Achtung, sein warmes Herz Liebe verschafft. Es war jetzt Jedem bekannt, daß dieser Mann, gegen den der Haß seine Pfeile in Wolken fliegen ließ, nicht Gleiches mit Gleichem vergalt und in denen, welche gegen die Union kämpften, nur verirrte Brüder sah. In den letzten Momenten seines Lebens beschäftigte er sich mit nichts so sehr, als mit Abwehr von Handlungen der Rache gegen den Süden, der sich zum Fall neigte. In denselben Berathungen im Angesicht von Petersburg, die den Plan der letzten Entscheidungsschlacht feststellten, schrieb er den Generalen die Bedingungen vor, welche sie dem Gegner gewähren sollten. Wir kennen sie aus Lee’s Ca­pitulation. Der Südländer, gleichviel ob General oder Soldat, der die Waffen niederlege, sollte in die Brüderschaft der Union zurückkehren, als ob nichts geschehen sei. Eben hatte er auf den von Blut rauchenden Schlachtfeldern die Palme des Friedens ge­pflanzt, als die Kugel des Mörders ihn traf. Wie beneidens­werth ist ein Leben, das mit einem solchen Act der Feindesliebe geschlossen hat!

Die Rede, die Lincoln am 12. April in Washington gehalten hat, ist als sein politisches Testament zu betrachten. Sie zieht in großen Zügen die Linien der Politik, die er dem Süden gegen­über beobachten wollte. Alle Kräfte müßten aufgeboten werden, um die praktischen Beziehungen zwischen den abgefallenen Staaten und der Union wieder herzustellen. Man möge sich nie einmischen, wenn man zu gewahren glaube, daß einer jener Staaten sich der neuen Ordnung der Dinge nicht ganz füge. Was sei in Louisiana geschehen? Man habe ihn getadelt, daß er die Verfassung jenes Staates nicht beseitigt, den Farbigen nicht das Wahlrecht bewilligt habe. Allerdings würde es ihm lieber sein„ wenn es dort statt zwölftausend Wähler fünfzigtausend gäbe. „Aber diese zwölftausend Männer des ehemaligen Sclavenstaates haben der Union gehuldigt, eine freie Verfassung angenommen, Schwarzen und Weißen die gleichen Wohlthaten der öffentlichen Schulen ge­schenkt und dem Gesetzgeber die Vollmacht ertheilt, den Farbigen das Wahlrecht zu ertheilen. Wenn die neue Verfassung Louisia­na’s im Verhältniß zu dem, was sie sein sollte, das wäre, was das Ei ist im Verhältniß zum Huhn, kommen wir dann schneller zum Huhn, wenn wir das Ei zerbrechen, oder wenn wir es aus­brüten?“

Nur ein paar Tage verflossen, nachdem Lincoln diese Politik der Selbstconstituirung des Südens empfohlen hatte, und er war als „Tyrann“ ermordet. Sein Werk aber war gethan, zerbrochen waren die Ketten von vier Millionen Sclaven und wieder flatterte das Banner der Union über Charleston und Richmond. In den dankbaren Herzen der Schwarzen wird „Vater Abe“ fortleben für alle Zeiten, die Bürger der Union werden ihn gleich Washington und Jefferson verehren und die Geschichte wird ihn den wenigen Staatsmännern zuzählen, die rein und makellos ihre Bahn gegangen sind und vielleicht in einem Uebermaß von Güte gefehlt, aber nie eines Mißbrauchs der Gewalt sich schuldig gemacht haben.



[320]
Blätter und Blüthen.

Noch einmal das technische Räthsel. Noch immer gehen der Redaction aus allen Gegenden des deutschen Vaterlandes und selbst aus dem Auslande kleinere und größere Aufsätze mit Lösungen des in Nr. 42 des vorigen Jahrganges der Gartenlaube gebrachten technischen Räthsels zu. Unsere Absicht war einzig und allein, das hübsche Problem zur allgemeinem Kenntniß zu bringen, ohne daß wir uns dadurch, daß wir dessen Lösung in weitem Kreisen, anregten, Hoffnung machten, den Gegenstand vollständig zum Abschluß zu führen. Der größte Theil des uns zugegangenen Materials rührt von Laien her, der bei weitem kleinere von Fachmännern, denen gegenüber wir keineswegs gewillt sind, als kompetente Richter aufzutreten. Gleichwohl glauben wir die Bemerkung nicht unterdrücken zu dürfen, daß wir auch diese von Fachmännern herrührenden Lösungsversuche als ungenügend erachten. Selbst ein namhafter Physiker hat uns einer Zuschrift gewürdigt, in welcher die Lösung aus Grund der Behauptung versucht wird, das; wohl festes Eisen, auf flüssiges Eisen gelegt, schwimme, aber nicht wieder an die Oberfläche komme, wenn es untergetaucht werde – eine Behauptung, von deren Gegentheil man sich augenblicklich durch den Versuch überzeugen kann. Ueberhaupt scheint uns die Frage noch so zu liegen, daß vor allen Dingen Thatsachen zu sammeln und Versuche anzustellen sind, und daraus wollte eigentlich unsere ursprüngliche Notiz hauptsächlich hinwirken. Von Thatsachen und Versuchen ist aber im Allgemeinen in dem ganzen Haufen von Material, welches sich angesammelt hat, wenig die Rede. Einer Mittheilung wollen wir noch Erwähnung thun, welche, wenn sie sich bewahrheitet, der Sache eine neue Wendung zu geben scheint. Ein Eisenbesitzer schreibt uns nämlich Folgendes: „Blei ist bekanntlich etwa ein halb Mal specifisch schwerer, als Eisen; wie geht es daher zu, daß Blei auf flüssigem Eisen schwimmt, ähnlich, wie Oel auf Wasser? Ich habe heute ein Pfund Blei in eine Kelle voll flüssigen Eisens, circa einhundert Pfund enthaltend, geworfen und gefunden, das, sich diese Erscheinung vollständig bestätigt. Auch habe ich ferner mit einem Schöpflöffel die obere Lage des flüssigen Eisens mit dem darauf schwimmenden Blei abgeschöpft und übersende Ihnen diese Kruste zur eigenen Anschauung.“

Wir haben keine Gelegenheit gehabt, diesen Versuch zu wiederholen; die eingesandte Eisenkruste mit den eingestreuten Bleikügelchen ist aber in unserm Besitz. Im Widerspruch hiermit aber stehen in einem andern von einem Ingenieur verfaßten Schreiben die Worte: „Blei sinkt in Eisen unter allen Umständen augenblicklich unter; es schwimmt aber Kupfer auf Eisen.“ (Das specifische Gewicht des Kupfers verhält sich zu dem des Eisens ungefähr wie 11 zu 9.) Bestätigt sich nur eine dieser beiden Mittheilungen, so ergiebt sich daraus, daß die fragliche Erscheinung eine Wirkung von viel gewaltigeren Kräften ist, als wir bisher vorauszusetzen Ursache hatten. Wir weisen deswegen nochmals darauf hin, daß immer wieder

neue Versuche angestellt werden mögen, welche im Stande sind, ein Licht auf die dunkle Naturerscheinung zu werfen.
R. H.




Schützer und Schützling. In den letzten dreißiger Jahren besuchte ein tüchtiger piemontesischer Artilleriecapitän aus einer militärischen Studienreise auch Mailand und erwarb sich hier die besondere Gunst des daselbst commandirenden österreichischen Generals Walmoden.

Als der Capitän, im Begriffe abzureisen, nach genommenem Abschiede, aus dem Hotel des Generals trat, begegnete ihm ein österreichischer Artilleriehauptmann seiner Bekanntschaft. Derselbe war zu wiederholten Malen Zeuge gewesen, mit welcher Auszeichnung Walmoden den jungen piemontesischen Officier behandelt hatte, und als er hörte, daß dieser nunmehr wieder abreisen werde, äußerte er sein Bedauern darüber lebbafter, als dies sonst wohl bei der Trennung von Bekannten geschieht.

„Recht schlimm für mich,“ sprach er niedergeschlagen, „daß Sie schon fort wollen, Herr Camerad! Ich hätte Sie so gern noch um einen Freundschaftsdienst gebeten. Der Alte da oben, ich weiß es, hält ganz besondere Stücke aus Sie, vielleicht hätten Sie darum ein gutes Wort bei ihm für mich einlegen können, daß er mir doch endlich einmal das Majorspatent ausfertigen läßt, welches er mir – weiß Gott warum – seit langer Zeit vorenthält.“

Der Piemonteser besann sich einen Augenblick und stieg dann rasch die Treppe des Hotels wieder hinauf. Nach wenigen Minuten kam er lachend zu dem unten wartenden Oesterreicher.

„Da, Herr Camerad,“ rief er, „haben Sir was Ihnen gebührt,“ indem er dem erstaunten und glücklichen Oesterreicher die ersehnte Avancementsurkunde überreichte. „Nun aber muß ich eilen, daß ich in den Wagen komme. Gott befohlen, Herr Major!“

Der Piemonteser war der gegenwärtige italienische Ministerpräsident La Marmora und sein Schützling – der derzeitige Höchstcommandirende in Venetien, General Benedek.




Wieder eine neue Industrie. In verschiedenen Zeitungen war und ist noch die Anzeige zu lesen, daß man sich gegen Einsendung eines Thalers an „das Bureau der Unterrichtsbriefe für fremde Sprachen in Frankfurt a. M.“ in den Besitz eines Geheimnisses bringen könne, das Jedermann auf leichte Weise und ohne große Mühe zu seinem Lebensunterhalte zu verhelfen im Stande sei. Einer der Abonnenten unserer Zeitschrift hat nun versucht, sich dies werthvolle Geheimniß enthüllen zu lassen, hat darum seinen Thaler nach Frankfurt a. M. geschickt, – und was bat man ihm dafür offenbart? - ein langes autographirtes Schreiben des genannten Unterrichtsbureaus ist ihm geworden – es liegt uns vor – das ihm Anfertigung von - Briefcouverts empfiehlt, da, bei dem täglich steigenden Bedarfe diesen Artikeln, sich durch Fabrikation desselben ein ansehnlicher Gewinn werde realisiren lassen!

Weil nun jedenfalls Niemandem mit Enthüllung diesen Geheimnisses gedient sein wird, so wollen wir hierdurch alle nach einem „Lebensunterhalte“ strebenden Leser unseres Blattes vor nutzloser Verausgabung eines Thalers bewahren.




Ein Dank aus Südamerika. Grundsätzlich haben wir uns bisher aller und jeder Empfehlung von Bock’s „Buch vom gesunden und kranken Menschen“ im redactionellen Theile unseres Blattes enthalten und wollen auch beute nicht von diesem Grundsätze abweichen, können uns aber nicht versagen, im Nachstehenden einen Brief abzudrucken, welchen kürzlich unser verehrter Mitarbeiter Herr Professor Bock aus einer Gegend empfangen hat, in der sonst deutsche Literatur wohl kann, sehr verbreitet sein dürfte.

Sicher wird dieses Schreiben durch seinen Inhalt sowol als durch seine Beigaben auch den Lesern unseren Blattes von Interesse sein.

„Osoino, Provinz Valdivia in Süd-Chile, am 16. Sept. 1864.
Hochgeehrtester Herr Professor!

Obgleich ich nicht die Ehre habe, persönlich von Ihnen gekannt zu sein, so glaube ich doch auf Ihre Entschuldigung rechnen zu dürfen, indem ich diese Zeilen an Sie richte, welche allein das aufrichtigste Gefühl der Hochachtung und Dankbarkeit mir in die Feder giebt.

Ihnen, Herr Professor, verdanke ich nicht allein meine Gesundheit, sondern auch die Ruhe den Gemüthes, welche mich in den Stand setzt, mit unbefangenem Blicke die kurze Lebensstrecke zu übersehen, die meinem vorgerückten Alter noch zugemessen ist.

Nachdem ich von dem hiesigen Arzte Jahre lang auf eine Leberkrankheit behandelt worden war, ohne eine Besserung meines Zustandes eintreten zu sehen, führte ein glücklicher Zufall mir Ihre Schrift „Vom gesunden und kranken Menschen“ in die Hände, welche mir bald Arzt und Apotheke ersetzte. Die ruhige, überzeugende Klarheit Ihrer Darstellung befreite mich von einer Last eingebildeter Sorgen wegen des trostlosen Verlaufs meiner Krankheit und erfüllte mich mit Lebenslust, indem sie mich anregte mit ungetrübtem Herzen über die wahre Beschaffenheit meines Leidens und seiner Behandlung mich zu belehren, wobei die gleichzeitige Anwendung der einfachen Hausmittel, welche ich in verschiedenen Heften der „Gartenlaube“ zerstreut fand, mein körperliches Wohlbefinden in jeder Beziehung beförderte.

Durch eigne Erfahrung von der wohlthuenden Wirkung und der Zweckmäßigkeit Ihres ärztlichen Rathes fest überzeugt, habe ich mich bemüht, das obengenannte Buch unter den Mitgliedern meiner Familie und auch in weitern Kreisen zu verbreiten, während Ihr Bild in meinem Zimmer den Gegenstand der Verehrung bildet, welche Ihrer Person darzubringen mir nicht verstattet ist.

Indem ich mir erlaube, als ein Zeichen dieser Gesinnung die beifolgenden Kleinigkeiten Ihnen zu übersenden, welche nur durch Ihre freundliche Annahme einen Werth erhalten, zeichne ich mit aufrichtigster Hochachtung

Ihr ergebenster
Justo H. G … c.“

Diese „Kleinigkeiten“, die seit dem August des vorigen Jahres unterwegs gewesen waren, bestehen in einem Löwenfelle - zwei Otterfellen – einer großen wollenen Decke, chilenische Weberei. Sie steckt in einem Binsensacke, wie sie die Indianerinnen als Tragkörbe auf dem Rücken tragen, indem sie die Schnur vor der Stirn anlegen - einem Mate-Gefäß, bestehend aus einem Calabazo auf Silbergestell nebst silberner Bombilla; hierzu ein Päckchen Paraguaythee - goldenen, silbernen und kupfernen Geldstücken, wie sie früher und jetzt in Chile in Gebrauch; acht goldenen – davon einige im Werthe von fünfzig Thalern – zehn silbernen und vier kupfernen - verschiedenen irdenen Töpfchen – einigen Rebhuhneiern - einem Bündel Fidibus aus Alerzeholz – einem kleinen Calabazo mit gemahlenem Gewürz - Holzknorren, krankhaften Auswüchsen von Aepfelbäumen; einer Cigarrenspitze daraus – einem Glas mit Marmelade von Murta-Beeren – Caque, Waffe der Pehuenches (zwei Kugeln an einem Strick).




Wilhelm Bauer’s Taucherwerk und Küstenbrander. Ueber beide Erfindungen und ihre Schicksale sind wir seit einiger Zeit unsern Lesern die Mittheilungen schuldig geblieben; es geschah dies, weil der Stand der letzteren Erfindung lange in Ungewißheit schwebte, so daß jede Agitation für sie gelähmt war. Die Zeitungen haben nun bereits die Aenderung angezeigt, die in jüngster Zeit mit ihr vorgegangen ist, und somit hält auch uns nichts mehr auf, über das, was für beide Unternehmungen durch die Comités und die Gartenlaube gewirkt worden ist, in der nächsten Nummer einen Vorbericht zu geben und in der darauffolgenden mit der Quittung der für den Küstenbrander bis jetzt eingegangenen Beiträge zu beginnen. Die Summe, welche die Nation für das Taucherwerk vermittelst der Gartenlaube aufbrachte, betrug in runder Zahl

zwölftausend dreihundert und dreißig Thaler;

möge nun, der nationalen Wichtigkeit des Küstenbranders entsprechend, auch die Sammlung für diesen ausfallen!



Zur Beachtung. Uns vorliegende drängende Beiträge machten es uns unmöglich in der gegenwärtigen Nummer eine Fortsetzung der Schmid’schen Erzählung „der bairische Hiesel“ zu geben; in der nächsten Nummer dagegen wird ein weiterer Abschnitt der genannten Erzählung erscheinen, die dann ununterbrochen zu Ende geführt werden soll.

Die Redaction.

  1. Vielleicht vor allen andern Größen der heutigen französischen Literatur verdient die Gräfin Marie d’Agoult, unter ihrem Schriftstellernamen Daniel Stern in weitesten Kreisen bekannt geworden, einen Platz in der Gartenlaube, weil sie durch ihre Geburt mindestens zur Hälfte Deutschland angehört und mit größerer Sachkenntniß und Unparteilichkeit, als wir sie in dieser Beziehung sonst unsern überrheinischen Nachbarn vindiciren können, deutsche Verhältnisse und Persönlichkeiten mehrfach zum Gegenstande ihrer journalistischen Veröffentlichungen gemacht hat. Auch ihre mehrjährigen Beziehungen zu Franz Lißt geben ihr einen Anspruch auf unser besonderes Interesse.
    D. Red.
  2. Dies ist bekanntlich der Titel eines berühmten Buches von Lamennais.
  3. Ein prachtvoller Carton Kaulbach’s in der Entstehung begriffen, von dem wir später vielleicht erzählen werden.