Die Gartenlaube (1865)/Heft 3
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No. 3. | 1865. | |
Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.
Wöchentlich 1½ bis 2 Bogen.
Durch alle Buchhandlungen und Postämter vierteljährlich für 15 Ngr. zu beziehen.
Gegen Ende des Monats December in demselben Jahre erschien bei dem Dirigenten eines Justizamtes im nordwestlichen Deutschland ein Fremder, der sich als Polizeibeamter eines mitteldeutschen Staates auswies. Er überreichte dem Justizamtmann ein offenes Schreiben seines Ministeriums, worin sämmtliche Gerichts- und Polizeibehörden des In- und Auslandes ersucht werden, ihm in Ermittelung und Verfolgung eines schweren Verbrechers jede dienstsame rechtliche Hülfe zu leisten.
„Nicht wahr, in Ihrem Gerichtsbezirke liegt das dem Freiherrn von Bergen gehörende Gut Freienstein?“ begann der fremde Polizeirath.
„Eine Meile von hier.“
„In welchem Rufe steht die Familie des Besitzers?“
Der Justizamtmann hörte verwundert auf bei der Frage.
„Die freiherrliche Familie von Bergen zählt zu den ältesten und angesehensten Adelsgeschlechtern des Landes.“
„Sie ist auch reich?“
„Der Freiherr besitzt außer Freienstein, das eigentlich eine Herrschaft ist, noch mindestens ein halbes Dutzend der größten Güter in der Provinz.“
„Er hat einen Sohn?“
„Ja.“
„In welchem Alter?“
„Er wird zwei- oder dreiundzwanzig Jahre alt sein.“
„Hat er noch mehrere Kinder?“
„Nur eine Enkelin, das einzige Kind seiner früh verstorbenen Tochter. Auch der Vater starb früh. Die Waise lebt bei ihrem Großvater.“
„In welchem Alter steht der Freiherr, und was spricht man von ihm?“
„Er ist sehr alt; er muß im Anfange der achtziger Jahre sein; übrigens ist er als der stolzeste und strengste Aristokrat bekannt.“
„Sie kennen den Vornamen des Sohnes?“
„Nein.“
„Was spricht man von dessen Charakter?“
„Ich habe nichts darüber gehört. Ich entsinne mich blos, einmal vernommen zu haben, der junge Freiherr sei erst seit kurzer Zeit nach Hause zurückgekehrt, nachdem er mehrere Jahre auf Reisen zugebracht habe.“
„Der Sohn ist also gegenwärtig auf dem Gute?“
„Ich vermuthe; gewiß weiß ich es nicht.“
Der Polizeirath war mit seinen Fragen zu Ende. Er erzählte nun dem Gerichtsbeamten die vor etwa zwei Monaten stattgehabten Vorgänge in der Buchhauser Linde, die Resultatlosigkeit der angestellten Untersuchungen und Nachforschungen. Dann fuhr er fort: „So war der Stand der Sache bis vorgestern. Da ereignete sich Folgendes. In demselben vorstädischen Gasthofe jener Provinzstadt, in welchem die erste Spur des Verbrechers und seines Opfers aufgefunden war, in welchem Beide die Nacht vor dem Morde zugebracht hatten, kehrte am vorgestrigen Abend ein Fremder ein. An der Wirthstafel brachten andere Fremde das Gespräch auf den geheimnißvollen Mord. Der fremde Reisende, der noch nicht von ihm wußte, hörte mit Interesse zu.
‚Der Mörder hatte mit der Ermordeten in der Nacht vorher bei Ihnen logirt?‘ fragte einer der Gäste den Wirth.
Der Wirth bejahete.
‚Wie hatte er sich doch genannt?‘
‚Bormann aus Hamburg.‘
Der fremde Reisende stutzte. Aber er sagte nichts, er hörte weiter zu.
‚Der Mensch hatte viel Geld bei sich?‘ fragten die Gäste den Wirth.
Der Wirth bestätigte.
‚Und die Dame soll sehr schön gewesen sein?‘
‚Bildschön und blutjung.‘
Als das Gespräch zu Ende war, nahm der Reisende den Wirth auf die Seite. Er ließ sich noch einmal Alles erzählen, die Gestalt des Mörders und der Ermordeten beschreiben, den Namen Bormann wiederholen. Dann fuhr er noch in derselben Nacht mit dem Schnellzuge der Eisenbahn zur Residenz, kam dort gestern Morgen an, begab sich sofort zu dem Polizeiminister und theilte diesem Folgendes mit:
Er war ein Edelmann aus Curland, gegenwärtig auf der Rückkehr in die Heimath begriffen und war seit mehreren Jahren abwesend gewesen, theils in Italien, theils in der Schweiz und im südlichen Deutschland. Ende April und Anfang Mai dieses Jahres hatte er sich einige Wochen in Friedrichshafen am Bodensee aufgehalten, wo er, ein Freund von Naturschönheiten, oft kleine Ausflüge in die Nachbarschaft gemacht hatte. So war er auch in ein Dorf, Namens Schönthal, gekommen, in einer reizenden Schlucht unweit vom See gelegen. Der Weg von der Schlucht nach dem See hatte ihn an einem ebenso reizenden Landhause vorüber geführt. [34] An der Thür des Hauses sieht er einen jungen Mann, bei dessen Anblick er stutzt, der bei seinem Anblick verlegen wird.
Das veranlasst ihn, einen Arbeiter in der Nähe nach dem jungen Manne zu fragen, auf den er sich im Augenblick nicht besinnen kann.
,Herr Bormann aus Hamburg,’ sagt ihm der Arbeiter.
Nun besinnt er sich auf den jungen Mann. Er hat ihn im verflossenen Winter in Genf gesehen, als einen der ersten Roués, der leichtsinnigsten Spieler im Cercle des Etrangers. Aber der junge Mann hat dort einen andern Namen geführt. Er besinnt sich auch auf diesen Namen: Freiherr von Bergen. Es hatte geheißen, er sei ein sehr reicher Edelmann aus Westphalen oder vom Niederrhein. Der Reisende achtet nicht weiter darauf, denn ein junger Roué nimmt wohl oft einen fremden Namen an. Vierzehn Tage später kommt er nach Schaffhausen. Das Tagesgespräch ist dort die Entführung einer jungen Dame aus der Nähe von Friedrichshafen; man habe Entführer und Entführte bis Schaffhausen verfolgt, hier aber ihre Spur verloren. Er erkundigt sich näher. Die Entführte war die Tochter des Predigers in einem Dörfchen bei Friedrichshafen, der Entführer ein junger Fremder, der sich nahebei aufgehalten hatte. Man nennt ihm auch die Namen; das Dörfchen heißt Schönthal, der Pfarrer heißt Gerlach, der Fremde hat sich Bormann genannt. Er kümmert sich auch jetzt nicht weiter um die Sache. Sie ist einmal geschehen; die Entführte wird schon nächstens zum elterlichen Hause zurückkehren, in guter, in schlimmer Weise, je nachdem es fällt. Da hört er vorgestern den Mord, und er hält es nun für seine Pflicht, sofort an dem geeignetsten Orte Anzeige zu machen, damit die schleunigsten und energischsten Maßregeln zur Ermittelung und Verfolgung des Mörders getroffen werden können. So kam er gestern zur Residenz, zum Minister. „Der Minister traf sofort seine Anordnungen,“ fuhr der Polizeirath weiter fort. „Freiherr von Bergen! Der genealogische Kalender mußte Auskunft geben. Er gab sie. Er wies nur eine Familie dieses Namens nach. Sie wohnt auf dem Gute Freienstein; das Gut liegt im hiesigen Amtsbezirke. Von der Familie des alten Freiherrn lebt nur noch ein Sohn und eine Enkelin. Mit dieser Auskunft und den Mittheilungen des curländischen Edelmanns war weiter zu operiren.
„Der Minister ertheilte mir das offene Schreiben, das ich die Ehre hatte, Ihnen zu überreichen. Ich setzte mich dann sofort am gestrigen Vormittage auf die Eisenbahn. Ich fuhr zunächst zu der Buchhauser Linde und fand dort Alles, wie es erzählt war. Ich fuhr zu dem benachbarten Städtchen, dessen Gericht den Thatbestand des in der Linde verübten Mordes festgestellt hatte. Auch die Gerichtsacten bestätigten; ich nahm sie zu mir und fuhr dann zu der Linde zurück, nahm den Wirth und den Knecht mit mir, fuhr mit ihnen auf der Eisenbahn die Nacht durch und bin mit Beiden hier. Schon in der Residenz war nach Friedrichshafen telegraphirt, daß man von dort aus den Pfarrer Gerlach in Schönthal veranlassen solle, sofort mit dem nächsten von Friedrichshafen abgehenden Zuge hierher zu kommen. Er ist noch nicht eingetroffen. Ich habe mich erkundigt: der Zug, mit dem er kommen muß, langt erst gegen Abend hier an. Der curländische Edelmann konnte sich nicht länger aufhalten; eine unmittelbar auf das Verbrechen sich beziehende Auskunft war auch von ihm nicht zu geben. Der Lindenwirth und der Postillon werden den Verbrecher schon wiedererkennen. Der Pfarrer Gerlach wird ihn bestimmt recognosciren. Er wird auch die Todtenmaske seines Kindes kennen. Ich habe sie mir gleichfalls nebst den Acten von dem Gerichte mitgeben lassen.
„Und jetzt, Herr Justizamtmann,“ schloß der Polizeirath, „lege ich das Weitere lediglich in Ihre Hände. Sie allein sind hier die competente Behörde. Meine Mission ist erfüllt. Ich überliefere Ihnen die Acten, die Todtenmaske der Ermordeten und überweise Ihnen die beiden Zeugen, die ich mitgebracht habe. Ich werde Herrn Gerlach, sowie er eintrifft, an Sie verweisen. Aber eine große Bitte möchte ich doch noch aussprechen. Wollten Sie mir gestatten, Ihren Verhandlungen beiwohnen zu dürfen? Wenigstens der nächsten zur Feststellung der Identität des Mörders, Ihren ersten Angriffen. Es würde für meinen Minister eine Genugthuung, für mich von hohem Interesse sein.“
Der Polizeirath war ein gewandter Mann; er zeigte Entschlossenheit und Energie.
Der Justizamtmann fand kein Bedenken, seinen Wunsch zu erfüllen.
„Ich bitte Sie sogar,“ sagte er, „mich zu begleiten, um die nächsten Schritte, die zu thun sind, gemeinsam mit mir zu überlegen.“
Sie überlegten dann sofort und zogen einen Secretair des Gerichts hinzu, einen alten Beamten, der in dem Gerichtsbezirke näher bekannt war. Von dem Freienstein wußte er freilich nicht viel mehr, als auch schon dem Justizamtmann bekannt war. Er bestätigte den strengen, aristokratischen Stolz des alten Freiherrn, der namentlich seit dem Jahre 1848, seitdem die neueren Verfassungen in Deutschland die Gleichheit der Rechte aller Unterthanen, die nicht einmal mehr Unterthanen, sondern Staatsbürger heißen, proclamirt und der Adel seine Vorrechte verloren habe, von der Welt sich zurückziehe und völlig vereinsamt mit seiner Enkelin auf dem Freienstein lebe. Von dem Sohne des Freiherrn sodann hatte er noch gehört, daß derselbe seit seiner Rückkehr in das väterliche Schloß ein wildes, rohes Leben führe und deshalb sehr bald mit seinem Vater sich überworfen habe, einen besonderen Flügel des Schlosses bewohne und seinen Vater wenig oder gar nicht sehe. Beide kümmern sich nicht um einander; jeder lebe für sich.
Es war schon ziemlich später Nachmittag, als der Polizeirath seine Mittheilungen beendet hatte. Gleichwohl schien es geboten, noch an demselben Tage zum Freienstein hinauszufahren. Bei einem so schweren Verbrechen war die höchste Eile nöthig. Zudem konnte in dem kleinen Städtchen die Ankunft des Fremden, der die beiden fremden Landleute mitgebracht, der sich sofort zu dem Justizamtmann begeben, mit diesem länger als eine Stunde geheim conferirt hatte, auffällig werden und die Nachricht davon leicht noch am selben Abend nach Schloß Freienstein gelangen. Kam sie dann dort dem jungen Freiherrn zu Ohren und war er der Mörder, so vereitelte seine Flucht auf einmal Alles. War er fort, so konnte nicht einmal die Identität seiner Person festgestellt werden; und bei dem Reichthum seines Vaters konnte er sich im Auslande aufhalten, wo er wollte, sodaß Untersuchung und Strafe ihn nicht mehr erreichen konnten. So wurde beschlossen, auf der Stelle, ohne die Ankunft weiterer Zeugen abzuwarten, nach Freienstein hinauszufahren, und zwar in zwei Wagen; in dem einen der Justizamtmann, der Gerichtssecretair und der Polizeirath; in dem zweiten zwei Gerichtsdiener und der Lindenwirth und dessen Knecht. Den Pfarrer Gerlach aus Schönthal sollte ein Gerichtsbeamter an der Eisenbahn in Empfang nehmen, um dann mit ihm sofort nach Freienstein zu folgen.
Ueber das Verfahren auf dem Freienstein konnte erst an Ort und Stelle Beschluß gefaßt werden. Der Castellan des Schlosses war ein alter Bekannter des Secretairs, ein tüchtiger, zuverlässiger Mann. Zu ihm wollte man sich zuerst begeben; nach geeigneter Rücksprache mit ihm sollte das Weitere beschlossen werden, worüber vor der Hand noch nichts zu bestimmen war.
Es war eine weite Ebene, in der das Schloß Freienstein lag. Nur nach einer Seite wurde sie von einer Bergkette begrenzt; die Kuppen dieser Kette aber, hinter denen der Rhein sich hinzieht, waren nur in bläulicher Ferne sichtbar. Auf den drei anderen Seiten war die Ebene für den Blick unbegrenzt. Das Schloß lag in der Mitte des großen und weitläufigen Gutsareals, das dazu gehörte. Eine der vielen Chausseen, die sich durch die fruchtbare, reiche und belebte Gegend zogen, führte in einer Entfernung von etwa zehn Minuten an den Mauern des Schlosses vorbei.
Das Schloß schaute mit seiner Hauptfaçade nach der sich vorüberziehenden Chaussee, von welcher es die Vorbeifahrenden sammt allen seinen Nebengebäuden erblicken konnten. Es war ein neuer Bau, der schon von Weitem sich als ein eben so geschmackvoller, wie großartiger zeigte. Die Wirkung steigerte sich noch, wenn man näher kam und deutlicher das Einzelne unterschied. Der Blick heftete sich zuerst auf das Schloß selbst. Es war ein hohes und breites Gebäude, das allerdings in keinem reinen, ausschließlichen Style ausgebaut war. Halb in den edlen deutschen, halb in den hochstrebenden normannischen Formen und Verhältnissen errichtet, machte es mit seinen Säulen und Balconen, Erkern, Thürmen und Balustraden im ersten Augenblick einen wunderlichen, alsdann aber einen mehr und mehr befriedigenden und wohlthuenden Eindruck, den einer großartigen, fast [35] wunderbaren Harmonie. Die Gebäude, die zu beiden Seiten lagen, ein noch wohlerhaltenes Stück einer Burg aus dem Mittelaller, zurück im Garten ein Landhaus im Renaissancestyl, zwei kleinere Wohnhäuser für Verwalter und Wirlhschaftsbeamte, leicht und modern hingestellt, lange, niedrige Scheunen, Stallungen und Remisen, massiv und schwer hingebaut, wie alte Klosterremisen – sie alle bildeten eine in ihrer Zusammenstellung bizarre und doch zu dem eigenthümlichen Bau des Schlosses passende, fast dazu nothwendige Einfassung. Eine weite Strecke jenseits des Schlosses dehnten sich noch Ackerfelder, Weiden und Wiesen aus; dann zogen sich ungeheuere Waldungen an dem Saume des Horizonts entlang. So lag das Schloß Freienstein da, in dessen Mauern ein vornehmer Mörder aufgesucht werden sollte.
Die Beamten, denen die Aufgabe der Verfolgung des Verbrechers geworden war, langten am Schlosse an, als es schon dunkler Abend war; kaum konnten sie die an dem bewölkten Nachthimmel sich unbestimmt abzeichnenden Umrisse der Gebäude erkennen. Sie sahen nur hier und da einzelne erleuchtete Fenster, vor sich, zu beiden Seiten, unten, oben. In einem weiter zurückliegendem Hause waren zwei ganze Reihen von Fenstern hell, aber die Fenster lagen sehr unregelmäßig nebeneinander und übereinander. Von dort tönte auch der einzige Laut herüber, den man rundumher vor und an den Gebäuden vernahm. Es schienen mehrere durch einander redende oder rufende Menschenstimmen zu sein. Sicher konnte man es nicht unterscheiden. Die tiefe Stille, die überall anderswo in den vielen und großen Gebäuden herrschte, war fast eine unheimliche. Dazu die Finsterniß, welche nur durch die wenigen, hier und da bald mehr, bald minder erhellten Fenster unterbrochen wurde.
Der alte Gerichtssecretair war der Einzige, der im Schlosse bekannt war. Er war aber nur selten dagewesen, nur bei seinem Freunde, dem Castellan; er kannte nur dessen Wohnung, und nur dahin konnte er, zumal in der Dunkelheit, seine Begleiter führen. Das hatte überdies seine Schwierigkeiten. Der Castellan wohnte im Schlosse selbst, das mehrere Binnenhöfe hatte, in dessen erstem sich die Wohnung des Castellans befand. Um zu ihr zu gelangen, mußte man das Hauptportal des Schlosses und einen langen Thorweg passiren. Das Portal war in der Regel des Abends verschlossen; das ganze Schloß war dann wie eine Festung abgesperrt. Der Portier war ein alter, eigensinniger, grober Mann, der fremde Personen an dem schon späten Abend vielleicht gar nicht einließ. Das Alles wußte der Secretair und theilte es seinen Begleitern mit. Sie hielten Rath und fanden nur einen. War das Thor nicht verschlossen, so konnte der Gerichtsschreiber sie ohne Hindernis, zu der Wohnung des Castellans führen, mit dem sie ihr weiteres Verfahren zu überlegen hatten. War es verschlossen, so wollte der Secretair für sich allein um Einlaß zu einem Besuche bei seinem Freunde, dem Castellan, bitten und sodann mit diesem zu den Anderen in’s Freie zurückkehren.
Sie waren in der Nähe des Schlosses langsam gefahren und ließen fünfzig Schritte weit von demselben die Wagen halten. Der Secretair stieg aus und ging zu dem Portal. Die Andern blieben zurück. Das Portal war verschlossen. Der Beamte zog eine Glocke. Ein kleines Fenster neben dem großen Thore wurde geöffnet.
„Wer ist da?“ fragte eine verdrießliche Stimme hinaus.
„Gerichtssecretair Schwarz aus der Stadt.“
„Zu wem wollen Sie?“
„Zum Castellan.“
„Was wollen Sie bei ihm?“
„Ich bin ein Freund des Castellans. Sie müssen mich ja kennen, Herr Portier, denn ich war mehrmals hier. Ich habe mit dem Castellan zu sprechen, dringend zu sprechen.“
„Kommen Sie morgen wieder.“
„Aber ich bitte Sie, lieber Herr Portier.“
„Morgen, sage ich Ihnen. Der gnädige Herr will des Abends nicht gestört sein; er ist zudem unwohl, und Jeder, der in das Schloß kommt, muß ihm gemeldet werden.“
Der Secretair hatte noch einen Ausweg.
„Herr Portier, dann haben Sie die Bitte, dem Castellan zu sagen, daß ich hier bin und ihn zu mir herausbitten lasse.“
„Das könnte geschehen,“ brummte nach einigem Nachsinnen der Portier. Er verschloß das kleine Fenster.
Es dauerte fast zehn Minuten, bis der Portier zurückkam.
Er schloß das Thor auf.
„Sie können zu dem Herrn Castellan hereinkommen.“
Der Secretair trat in den Thorweg, und der Portier verschloß das Thor hinter ihm.
Im Innern des Schlosses war Alles hell erleuchtet, der Thorweg, die Corridore, die Höfe. Es contrastirte sonderbar gegen das Dunkel, in welchem das Gebäude von außen lag.
„Woher so spät und so dringend, Freund Schwarz?“ kam der Castellan dem Secretair entgegen.
„Ist der junge Freiherr zu Hause?“ fragte der Secretair.
Der Castellan verwunderte sich noch mehr.
„Was hättet Ihr mit dem?“
„Er ist zu Hause?“
„Ja, und in großer, lustiger Gesellschaft.“
„Freund Heider, ich kann mich auf Euch verlassen, daß kein Wort von dem, was ich Euch sagen werde, über Eure Lippen kommt, gegen keinen Menschen? Auch nicht gegen Eure Frau?“
„Potz Kukuk, Schwarz, Ihr thut ja verdammt gefährlich und geheimnißvoll.“
„Es handelt sich um einen schweren Mord.“
Der Castellan erblaßte.
„Und es geht den Freiherrn Waldemar an?“
„Gerade ihn.“
„Erzählt.“
„Zum Erzählen wäre jetzt keine Zeit. Aber wißt, daß das Gericht hier ist, und ein fremder Polizeibeamter, der sofort Zeugen mitgebracht hat. Sie sind Alle draußen vor dem Thore.“
Dem alten Castellan war der Schreck in alle Glieder gefahren.
„Und Ihr sucht den Mörder hier?“
„Den jungen Freiherrn.“
Der alte Mann zitterte heftig. „Und Ihr wollt ihn hier überfallen?“ fragte er den Secretair.
„Ihr habt das rechte Wort getroffen,“ sagte der Secretair. „Ein Mörder muß leider überfallen werden, wie ein wildes Thier, wenn man seiner habhaft werden will. Wir müssen ihn überfallen. Darum kommen wir in der Finsterniß des Abends und so still hierher, und ich allein bin in das Schloß zu Euch gegangen, um Eure Hülfe anzusprechen. Wir wußten nicht, ob der junge Herr zu Hause sei; das weiß ich jetzt. Wir wissen seine Wohnung in allen diesen Gebäuden nicht; Ihr sollt sie uns zeigen. Ihr sollt uns zugleich so zu ihm führen, daß er nicht vorher unsere Ankunft ahnt, daß er uns nicht entgehen kann.“
Der Castellan hatte sich gesammelt und einen Entschluß gefaßt.
„Freund Schwarz,“ sagte er, „aus dem Allem, was Ihr da von mir verlangt, wird gar nichts. Euer Polizeidiener oder Gerichtsbüttel bin ich nicht; aber wohl bin ich hier der Diener meines Herrn. Diesem wollt Ihr den Sohn als Mörder verhaften und wegschleppen, und ich soll Euch da behülflich sein, ich soll den Verräther gegen meinen Herrn machen, dem ich an vierzig Jahre treu und redlich gedient habe, der mir vertraut, als wenn ich sein Bruder wäre! Dem soll ich sein einziges Kind verrathen, auf das Schaffot schleppen helfen! Um auf meine alten Tage selbst mit Frau und Kindern aus dem Hause geworfen, von aller Welt als der Verräther meiner Herrschaft angespieen zu werden, um ein von den Thüren zurückgestoßener Bettler werden zu müssen! Daraus wird nichts, Freund Schwarz!“
„Aber was sollen wir denn machen?“ rief der Secretair.
„Das ist Euere Sache.“
„Ohne Euere Hülfe wird er uns entgehen.“
„Ja,“ sagte der Castellan, „und das soll und muß er.“
„Seid Ihr des Teufels, Heider?“
„Wie Ihr wollt. Aber gelte ich nicht als der Verräther und bin ich es nicht, wenn Ihr den jungen Herrn hier jetzt arretirt, nachdem Ihr mit mir gesprochen, heimlich gesprochen habt?“
„Was habt Ihr denn vor?“ sagte der Secretair.
„Ich gehe zu meinem Herrn und sage ihm, daß sein Sohn von Gericht und Polizei gesucht werde, und Ihr, Freund Schwarz, bleibt unterdeß mein Gefangener hier.“
Der Secretair stand mehr in Angst, als vorhin der Castellan.
„Ihr ruinirt mich, Heider.“
„Jeder ist sich selbst der nächste. Ich gehe. Wartet hier ruhig, bis ich zurückkomme. Macht keine Anstalt fort zu wollen. Der Portier ließe Euch nicht hinaus. Mein erster Gang ist zu ihm.“
[36] Der Castellan ging.
„Sagt ihm nur von dem Morde nichts!“ bat ihn der Secretair noch.
„Ich werde meine Sache schon machen.“
Der Secretair blieb in angstvoller Spannung zurück. Er hatte vollkommen nach Verabredung mit dem Justizamtmann und Polizeirath gehandelt. Aber jetzt stand die Beamtenehre gar für Drei auf dem Spiele, und um die Beamtenehre ist es ein eigen Ding.
Es dauerte lange bis zur Rückkehr des Castellans. Der alte Diener des alten Freiherrn trat mit einem so eigenthümlich verschlossenen und nachdenklichen Gesichte wieder ein.
„Nun?“ fragte der Secretair.
„Ich sagte ihm, daß Ihr und der Justizamtmann und ein fremder Polizeibeamter hier seiet, um mit dem Freiherrn Waldemar zu verhandeln; was es sei, wisse ich nicht. Er wurde zuerst unruhig. Dann saß er lange still vor sich hin, das Gesicht mit seiner Hand bedeckt. Als er wieder aufblickte, schien er wieder ruhig zu sein.
‚Lassen Sie den Justizamtmann zu mir kommen,‘ sagte er. ,Ihn allein.’ Weiter sagte er nichts, fragen durfte ich ihn nicht. Was weiter geschehen soll, müßt Ihr jetzt wissen.“
„Gehen wir zu den Anderen,“ sagte der Secretair.
Sie verließen zusammen die Wohnung des Castellans, das Schloß und kamen bei den Anderen an. Der Secretair theilte seine Unterredung mit dem Castellan, dieser die seinige mir dem alten Freiherrn mit. Der Justizamtmann war schnell entschlossen.
„Führen Sie mich zu dem Freiherrn.“ Auf dem Wege sagte er: „Nennen Sie mir die Bewohner des Schlosses.“
„Das Schloß selbst beiwohnen nur der Freiherr und seine Enkelin; außerdem ich mit meiner Familie und der größte Theil der Domestiken.“
„Wo wohnt der junge Freiherr?“
„In der alten Burg, wie sie genannt wird. Sie liegt rechts vom Schlosse, durch einen bedeckten Gang mit diesem verbunden. Als er von seinen Reisen zurückkehrte, wünschte er hier zu wohnen.“
„Wer bewohnt die übrigen Gebäude?“
„Die Wirthschaftsbeamten, die anderen Wirthschafts- und Gutsleute.“
„Erzählen Sie mir über das Leben der Familie, über die Verhältnisse der einzelnen Mitglieder zu einander.“
Der Castellan erzählte. Der alte Freiherr wohnte nur mit seiner Enkelin im Schlosse, der Sohn lebte für sich allein in der alten, restaurirten Ritterburg. Der alte Freiherr führte ein stilles, einsames, aber das regelmäßige und vornehme Leben aller Schlösser. Er war am Ende der siebenziger Jahre und schon seit längerer Zeit hinfällig, seit mehreren Wochen kränklich. So hatte er schon lange das Schloß nicht mehr verlassen; auch seine Zimmer nicht. Nur zur Mittagstafel begab er sich in den Speisesaal. Seine Enkelin lebte ebenso einsam in ihren Zimmern; sie hatte nur eine Gouvernante um sich, die zugleich ihre Gesellschafterin war. Die Gouvernante war eine alte Französin. Großvater und Enkelin sahen sich täglich zweimal. Einmal an der sehr vornehm hergerichteten Mittagstafel, das andere Mal Abends beim Thee, der im Wohnzimmer des Freiherrn genommen ward. Er und das Fräulein waren dabei allein; die Gouvernante kam nicht hin. War der Thee genommen, so wurde die Dienerschaft entfernt, und das Fräulein las dem alten Herrn vor, der bei Abend nicht mehr selbst lesen konnte.
Seinen Sohn sah der alte Freiherr einmal in der Woche. Am Sonntag Vormittag machte der junge Freiherr dem Vater seine Aufwartung, um sich nach seinem Befinden und nach seinen Befehlen zu erkundigen. Der Besuch dauerte zehn Minuten. Convenirte es Vater und Sohn, so war eine Einladung zur Mittagstafel und Annahme derselben die Folge des Sonntagsbesuches. Das Leben des Sohnes in der alten Burg war ein ebenso unregelmäßiges, wie das im Schlosse ein regelmäßiges war. Der junge Freiherr stand spät auf, frühstückte erst zu Mittag, ritt oder fuhr aus, kam früh oder spät, mit oder ohne Gesellschaft wieder, wie es beliebte. Manchmal kam er des Nachts gar nicht nach Hause; manchmal hatte er Gäste, mit denen er die ganze Nacht durch banketirte. Nicht selten war er mehrere Tage lang gar nicht da. Sein Vater ließ ihm völlig seinen freien Willen, bekümmerte sich nicht um ihn, fragte nicht nach ihm. Seine Gäste, seine Freunde waren meist junge Edelleute aus der Nachbarschaft, auch mancherlei andere Menschen; es sollten Spieler und Abenteurer darunter sein, die sich des Sommers in den Bädern umhertrieben. Erst vor zwei Monaten war der junge Freiherr von seinen mehrjährigen Reisen zurückgekehrt und gleich nachher hatte dieses Leben begonnen. Seine Nichte sah er nur, wenn er an jenen seltenen Sonntagen bei der Mittagstafel im Schlosse erschien. Die Beiden kümmerten sich außerdem gar nicht umeinander.
Der freudenvolle Vorabend ist es des heiligen Christtages. Wäre ich jetzt in Berlin oder Dresden und schaute auf die Straße, so erblickte ich das geschäftige Umherrennen der Leute, hin- und hereilende Carossen, den Glanz der Magazine. Selbst in unsern süddeutschen Hauptstädten, in Wien oder München, für deren öffentliches Leben das große Fest der Christenheit nicht jene Bedeutung hat, wie für unsere Brüder im Norden, würde sich eine bewegtere Stimmung, eine gesteigerte Bewegung sofort bemerkbar machen. Wenn ich dagegen den dichten Hauch von den Fensterchen wegwische, hinter denen ich unter dem gastlichen Dache der vielbekannten Scholastica augenblicklich hause, sehe ich einen beschneiten Zaun, eine schmale Straße und an diese fluthet der tiefblaue Achensee heran, tief in die Klüfte der norischen Alpen eingebettet. Sein Südende ist in Wolken verschwommen, wie die Spitzen und Rücken der Berge, deren ungeheure Felswände jäh in seine ungemessene Tiefe fallen. Dichte Nebelstreifen fließen von den weißen Höhen auf die dunkle Fluth, die in regelmäßigen Tactschlägen ihre niedrigen Wellen auf den Strand wirft, dessen zermahlene Kiesel sie von Schnee befreit hat.
Der Leser wird sich vielleicht wundern, wenn ich von Wellenschlag und dunkeln Wassern spreche, während spitze Eiszapfen von dem steinbedeckten Dach dort hängen, die meisten Bäche schon längst erstarrt sind und wohl auch draußen im Norden die Wintersonnenwende schon überall ihre krystallenen Decken ausgebreitet haben wird. Aber man erinnere sich, daß die berühmtesten Geologen, Leopold von Buch an der Spitze, die Tiefe der Fluth, die gegen mein Häuschen anschwillt, auf dreitausend Pariser Fuß anschlagen und daß es deshalb der Einwirkung einer mehrmonatlichen harten Kälte bedarf, um den Austausch der erkälteten oberen Schichten mit den vielen darunterliegenden wärmeren durch eine tief hinabgreifende Erstarrung endlich zu verhindern. Auch darf man die unzähligen Quellen nicht vergessen, die in den schwarzen Gründen aus dem Schooß der zerklüfteten Kalkalpen ihr Wasser ungesehen in den See einsprudeln lassen - auch diese helfen dem gewaltigen See gegen die eisigen Fesseln. So kommt es, daß von den großen und tiefen Seen des Hochlandes keiner vor Ende des Monates Januar oder dem Anfange des Februars dem Schlitten oder Schlittschuh einen sicheren Boden bietet, und auch dazu ist es fast immer nothwendig, daß langanhaltendes Schneegestöber vorher die Oberfläche des Sees in einen ungeheuern Brei von Eisnadeln verwandelt hat. Seien wir froh, daß dem noch nicht so ist; denn es ist nichts Schönes um einen zugefrorenen Alpensee, weil das Gemenge des hineingefrorenen Schnees vom Wasser fast nichts mehr erkennen läßt und so ein Wanderer, der vom Vorhandensein einer Seefläche nichts wüßte, auch gar nichts davon wahrnehmen, sondern das im Sommer so herrliche Becken für eine verschneite Schlucht, ein verwehtes Thal halten würde, ganz wie es Gustav Schwab in seinem Reiter vom Bodensee so grausig schön geschildert hat.
Treten wir, von dem dunkeln Blut des „Heurigen“, des
[37][38] neuen Weins, gestärkt, welchen der Fuhrmann erst gestern aus dem sonnigen Etschland mitgebracht hat, hinaus ins Freie, so wird uns, wenn wir Flachländer sind, vor Allem der am Wege liegende Schnee auffallen. Nicht als ob er etwa nicht weiß wäre, wie die Flocken, die auf die Dächer anderer Menschenkinder fallen, im Gegentheil, seine Farbe ist vielleicht noch blendender, als die der feuchteren Decke, welche auf den Niederungen lagert – aber er zeigt uns eine Bildung, wie man sie fast nur in den hohen Lagen der Alpen antrifft. Große, viereckige Tafeln, die vertical nach oben schauen, sind zu den zierlichsten Rosetten zusammenkrystallisirt; der ganze weiße Plan sieht aus, als ob er mit blinkendem Moos bedeckt wäre. Diese großen Krystallbildungen rühren von der geringen freien Feuchtigkeit her, die sich zwischen den Schneenadeln befindet; es ist dies eine Folge der trocknen scharfen Luft und der hohen Lage, welche der Verdunstung überaus förderlich sind. Man erinnere sich, daß unser See dreitausend und dreihundert Fuß über dem mittelländischen Meere lagert, eine Höhe, welche schon derjenigen der höchsten Gebirge in Mitteldeutschland nahe kommt. Ein seltsamer Anblick dieses blätterige Geschiebe! Zerstören wir die schönen Ornamente neugierig mit dem Stock, so dämmert uns aus den Brüchen ein fahler Lasurschein entgegen, der schwach an den tiefern Glanz des körnigen Eises mahnt, das oben in sicherer Mulde der auflösenden Strahlen des Hochsommers harrt.
Den Weg am öden Gestade, an das unablässig die Welle rollt, geht selten ein Mensch. Ein Jäger vielleicht in brauner Joppe mit Gewehr und Bergstock, die Pfeife mit dem übelriechenden österreichischen Soldatenknaster im Mund, oder ein Knecht, der einen mit Streu beladenen Schlitten zieht, sind die einzigen, denen wir begegnen. Hier und da liegt ein alter, halbverfaulter Stamm im Wasser, laichenden Fischen ein willkommener Zufluchtsort. Die Alpenrosenbüsche, die im Juli den felsigen Strand mit purpurnen Sträußen schmücken, ragen nur mit ihren Spitzen, oft vom weißen Berghasen benagt, aus der dichten Schneedecke. Die Legföhre, die hier bis an’s Wasser herabsteigt, wird aber von dieser nicht gedrückt; denn niedrig und leicht vom Winde bewegt schüttelt sie sich die frostige Last bald vom Leibe, daß es aussieht, als ob nur blinder Zufall einige spärliche Flocken über sie ausgestreut hätte.
Der immer höher angehäufte Schnee treibt uns wieder in unsere Behausung, zur viellieben Scholastica zurück. Wir nehmen um den viereckigen Kachelofen Platz, zünden uns eine „Havanna“ oder „Cuba“ zu vier Neukreuzer ö. W. an, fahren in der Probe des rothen Etschländers fort und betrachten uns, was in der Weihnachtsdämmerung vorgeht.
Das Land Tirol ist ein Juwel im Kranze unserer Germania, aber sein Volk ist arm an geselligen Freuden. Ich brauche hier nicht erst zu sagen, wer vor Allem den finstern, ich möchte sagen, ascetischen Geist in das Leben eines Völkchens gebracht hat, dem die karge Natur allerdings auch sonst wohl wenig Genüsse zu bieten vermöchte. So sieht man den Hausvater, der jetzt in andern Gegenden des Vaterlandes, selbst wenn er wenig besitzt, in freudvollen Sorgen für die Ueberraschung seiner Lieben thätig ist, hier schweigend im dumpfen Zimmer sitzen und große Rosinen von kleinen ausklauben, zur Bereitung des „Kletzenbrodes“, des einzigen Luxus, welchen er zur Feier des herrlichen Festes kennt. Denn der heilige Abend, zwar in allen katholischen Ländern ein Fasttag, ist doch hier von besonderer Strenge, und wenn man die gedrückten Gesichter der Mägde betrachtet, die im Lichte des ergrauenden Tages wie Maschinen an ihren Spinnrocken sitzen und ihr Rädchen schnurren lassen, möchte man sich eher in den Buß- und Bettag eines Arbeitshauses versetzt glauben, als in die unserm Andenken heilige Märchenzeit, aus welcher noch dem alten und verlassenen Manne die goldenen Bilder des Weihnachtsbaumes, seiner lächelnden, längst in der Erde ruhenden, lieben Eltern und ihrer gutgemeinten theuern Geschenke auftauchen, von dem Glanze der einzigen Glückszeit seines sinkenden Lebens, seiner Jugend, umstrahlt. Nur das strenge Fasten und die Mitternachtsmesse in der kalten Kirche machen die Weihnacht. Statt des liebelächelnden Christkinds, das unsichtbar sich anderswo in Deutschland in geschmückte Häuser niederläßt und Geschenke spendet, sieht das Tiroler Kind blos den goldbedeckten Priester am Altar und hört in der Finsterniß die Glocke, die sonst um diese Stunde der Nacht nur erschallt, wenn Fluthen und Lawinen Verderben und Tod drohen. Draußen „im Lande“, das heißt in den größeren Thälern Tirols, besonders im Innthal, wo durch Eisenbahnen und sonstigen Verkehr viel fremdartige Sitten in das alte Rhätien hereingeschleppt werden, sieht man wohl hier und da einen lichterglänzenden Christbaum; doch das ist immer nur noch vereinzelt und wird auch von gewisser Seite, der nicht diese Lichter allein zuwider sind, gar nicht gern gesehen.
Gehen wir lieber wieder hinaus aus dem Zimmer mit seiner bedrückenden Stille!
Schwarz, wie der Fluß der heidnischen Unterwelt, kommen die Wellen des Sees an die morsche Schiffhütte heran; es ist ein unheimliches, feindseliges Klucksen. Drüben auf der Kante des hohen Spieljoches liegt, wie auf jenem Berg des Märchens, ein funkelnder Rubin; es ist die röthliche Scheibe des Mars, die hinter dem scharfen Grate schwebt. Er zittert, wie zornig, in der frostklaren Luft, der grimme Gott. Es ist, als ob er heute in der heiligen Nacht wieder besondere Wuth verspürte, daß sein und seiner Genossen Reich von dem Unbekannten aus Judäa zerstört worden ist. Bei diesen heidnischen Erinnerungen fallen mir die „verbannten Götter“ unseres armen Heinrich Heine ein, von denen einer, der schöne Dionysos, hier an unserm See ein sonderbares Abenteuer unternimmt. Er kommt Nachts – sie mag so finster und undurchsichtig gewesen sein wie diese Frostnacht – zu einem jungen Fischer am Strande und entlehnt sich einen Kahn, den er in wenigen Stunden zurückzubringen verspricht. Der Fischer schlich sich dem Unbekannten nach und sah ihn so an einer wenig besuchten Uferstelle auf einen Triumphwagen steigen und mit Satyrn, Faunen und Bacchanten jene seltsame Orgie feiern, die uns Mythologiekundigen als Bacchuszug wohlbekannt ist. Der schlichte Sohn der Berge hielt die Erscheinung für höllisches Blendwerk und wollte sie, sein Gewissen zu erleichtern, dem Prior eines Franciscanerklosters mittheilen, der in der ganzen Umgegend den Ruf eines großen Geisterbanners genoß. Wie groß war aber sein Entsetzen, als dieser die Kapuze zurückschlug und er in ihm den nächtlichen Gast erkannte! Auch wurde sein Anliegen sehr ungnädig aufgenommen, indem ihn der Prior für einen betrunkenen Knecht erklärte, der nicht wisse, was er sage, und die Fuchtel verdiene. Darauf befahl er ihm, reinen Mund über das Vorgefallene zu halten.
Noch ein wenig von dem duftigen Rothwein Tirols, und es wäre auch für uns nicht unmöglich, seltsame Gestalten von den Wänden wiedergespiegelt zu sehen. Denn im Scheine einer der Fackeln, die, bereits zum Christnachtgange vorbereitet, da standen und von uns mit in die Nacht hinausgetragen worden sind, schneidet der Fels, an den der grasgrüne Eiszug eines Gießbaches angeklebt ist, mit seinen Ritzen, Spalten und Vertiefungen wunderliche Gesichter. Unten steht er auf unförmlichen Klumpfüßen, denn das klare Eis ist ihm mächtig und bauschig über die Sohle angeschwollen, die bereiften kahlen Sträucher hängen ihm wirr über den Kopf, und ein sonderbarer Geifer, halb Reif, halb Schnee, luftig schwebend wie die Fäden des alten Weibersommers, hängt an seinem krausen Bart, den Latschen.[1] Es ist, als ob er höhnisch zu den Klängen grinste, die eben aus unserm Häuschen herübertönen – denn, o Wunder, es muß eine Festlaune, eine Ahnung der Weihnacht unter die Spinnerinnen gekommen sein. So deutlich, wie es der Anprall des Sees an das ausgehöhlte Ufer zuläßt, höre ich ein im nördlichen Tirol weit bekanntes Lied durch die Dunkelheit tönen, in dessen halb feierliche, halb wehmüthige Melodie sich der weiche Resonanzklang der Cither mischt:
„Auf der Alma ragt a Haus
Still und öd in’s Thal hinaus;
Drin im Haus mit munterm Sinn
Wohnt eine schöne Sennerin.
Die Sennerin singt manch ein Lied,
Wenn durch das Thal der Nebel zieht,
Und da ertönt’s durch Luft und Wind:
Auf der Alma, auf der Alma giebt’s koa Sünd’.“
Dazu fletscht er spöttisch, der alte venwitterte Stein, denn es ist ein Sommerlied und er weiß es aus der Erfahrung von Jahrtausenden, wie weit die goldene Zeit noch fern absteht und wie viele Schneestürme noch den empörten See peitschen werden, ehe aus den Matten droben wieder laue Lüfte wehen und die grauen Zinken schneelos gegen den Himmel ragen.
Neugierig wenden wir uns zu unserm zeitweiligen Asyle [39] zurück, und beim Lichte der hochhängenden Steinöllampe gewahren wir eine der seltensten Erscheinungen Tirols, einen Citherspieler. Es ist ein armer Bursche aus dem Innthal, der im Sommer draußen in Baiern als Zimmermann gearbeitet hat und jetzt heimgeht, um sich durch seine Musik während der herannahenden Faschingszeit ein wenig Geld zu verdienen. Wohl werden noch allerlei Stücke gespielt, aber keine mehr zum Singen, zum Beispiel der Marsch vom alten Radetzky und ein paar alte Walzer von Strauß. Zwei tridentinische Hausirkrämer benutzen die fröhliche Stimmung zum Auslegen ihrer Waaren, Messer, Scheeren, Pfeifenköpfe und Taschentücher. Aber bei Burschen und Mädchen verfangen heute derartige Sachen nicht, denn ganz besonders der Sinn letzterer ist auf etwas Anderes gerichtet. Haben doch schon manche während des Gebetläutens Eierdotter in’s Wasser gegossen und sich aus den Figuren, welche die zerrinnende zähe Flüssigkeit zu bilden schien, Vorstellungen von den Schicksalen des kommenden Jahres gemacht. So bedeutet z. B. ein Thurm, daß man in die Stadt heirathen wird, geflammte Zacken einen Hausbrand, ein Kreuz gar den Tod. Wollen wir wünschen, daß sie schöne Dinge gesehen haben, denn um die hübschgewachsenen Mädchen wäre es jammerschade. Wie anmuthig haben sie ihre Köpfe, auf denen die Zöpfe nach Tirolersitte rund herum zusammengeflochten sind, zu den Spinnrocken geneigt, während das gemeinschaftlich gesungene Almenlied sie in der traurigen Stube erheiterte. Wenn sie sich dann vor der Christmette das Gesicht waschen, ohne sich wieder abzutrocknen, was sie gern thun, so hoffen wir, daß es ihnen in der Kirche der künftige Ehemann abtrocknet, denn sonst wird es, glauben sie, der Tod thun.
Endlich wird zur Christmesse aufgebrochen. Draußen hallen von der fernen, hochliegenden Kirche die Glocken durch die Finsterniß. Die Polizei, welche die Fackeln nicht liebt – es könnte durch Wehen der Funken der Schnee Feuer fangen – hat die Laternen doch nicht einzubürgern vermocht, und so geht es denn durch die rabenschwarze Nacht, in welche unsere Kienhölzer ovale Lücken reißen, auf dem knarrend fest gefrornen Boden vorwärts. Hier und dort eilen Funken von den Bergen herab; es sind die Fackeln, die von den Bauern hochliegender Höfe getragen werden. So mag einst der einsam lebende Germane zum gemeinsamen Opfer des Jul gewandelt sein; es war für ihn ein ebenso freudiges Fest, wie dem Christen die Weihnacht. Freute er sich doch der Wiederkehr der Sonne, die sich seinen verschneiten Wäldern näherte, um sie langsam und unter unendlichen Kämpfen mit dem Frost seiner harten Erde, aber doch endlich sicher aus dem erdrückenden Schlaf zu wecken.
Eine der hochstämmigen Dirnen, die jetzt eine mächtig brennende Fackel trug, war mir während des Abends besonders aufgefallen. Sie war im Gegensatze zu den übrigen schwarzhaarigen Mädchen goldblond und blauäugig. Auf meine neckischen Fragen, ob sie sich heute Abend auch bei dem Eidottergießen betheiligt habe, antwortete sie ausweichend, gab aber endlich aufrichtig zu, daß sie vor drei Tagen, in der Thomasnacht, in der Holzlege eine Anzahl Scheite auf’s Gerathewohl herausgenommen und in’s Zimmer getragen habe. Es war eine gerade Zahl, eine gute Vorbedeutung für’s Heirathen. Auch hatte sie schon mehrmals in den Backofen hineingehorcht und allerlei Versprechungen gehört. Um sich ganz zu vergewissern, habe sie sich, fügte sie hinzu, auch auf den Boden gelegt und den Schlappschuh mit dem Fuß über den Kopf hinaus geschleudert. Richtig zeigte die Spitze gegen die Thür und jetzt war für die Glückliche kein Zweifel mehr, daß sie im Lauf des nächsten Jahres vom Freier aus dem Hause geholt werden würde. Ein hübscher, aber noch unbärtiger Bursche, den ich vorher neben dem Citherspieler sitzen gesehen hatte, war der augenscheinliche Beweggrund aller dieser Exercitien.
So schritten wir plaudernd weiter. Von Zeit zu Zeit stieß sie ihre Fackel gegen den Schnee, um losgelöste glimmende Theilchen zu beseitigen, und ich blies mir hie und da in die Hände, um sie lebendig zu erhalten. Dumpf dröhnte die Ache aus der Schlucht herauf und mischte das Tosen der Wasser in die immer näher und stärker hergetragenen Orgelklänge der Kirche, aus deren hellerleuchteten Fenstern breite gelbe Lichtstreifen die gegenüberliegenden Felswände hinanklommen. Bald schauen die Kerzen, welche ihr Licht auf den Hochaltar werfen, durch die geöffnete Kirchenthür, und der davon erglänzende Schnee vor der Thür erscheint wie der lichte Antrittschemel zum Heiligthum. Die Fackel meiner Begleiterin ist niedergebrannt und der Stumpf fliegt Funken werfend auf die starre Decke. Mit einem Händedruck nehme ich Abschied, da die ländliche Sitte dem schönen Geschlecht die linke, dem sogenannten starken die rechte Seite der Betstühle anweist. Der Lehrer – beiläufig gesagt, der einzige Mensch im Achenthal, der seinen Kindern einen Weihnachtsbaum anzündet – dirigirt auf dem Chore die bescheidene Musik, welche dem rauhen Alpenthale die Geburt des Heilandes kündet. Die Einfachheit der Scene in der niedrigen Kirche, die aber von Lichtern taghell erleuchtet ist, gemahnt mich an jene Vision der Hirten, welche in der finstern Mitternacht die Glorie eines ungeahnten Himmels umfloß und deren Armuth die Gewißheit eines neuen seligen Bundes wurde. Das feierliche Amt ist bald zu Ende; vor dem gegenwärtigen Gott haben sich die Kniee dieser Mühseligen und Beladenen gebeugt, und nun gemahnen die ernst einfallenden Accorde der Orgel zur Heimkehr in die finstern kalten Thäler, aus denen erst eine neue Weihnacht die Andächtigen wieder zur Mitternachtstunde in das Haus des Herrn rufen wird.
Es ist etwas Sonderbares und Rührendes um diese Feier. Man denke sich in der öden, unsäglich langen Decembernacht, in welcher Wolken, Wasser und Eis im gemeinschaftlichen Lager über der kalten Erde schweben; in der Nacht, welche den Mond löscht und die Sterne verschlingt; in der stillen, stillen Einöde der Finsterniß, in der nichts lebt, als der Pulsschlag unserer Adern und die wilden Wasser draußen, die der Frost noch nicht gebändigt hat; in der dunkeln Nacht, die so still und taub ist, als ob sie nie enden würde; in der Nacht, welche die Qual des Leidenden und der Alp des Gesunden ist – in dieser Nacht, in Mitten dieser Nacht erklingen mit einem Schlage im vereisten Thal der Alpen, das von den Nebeln des Sees durchzogen wird, wie durch die wimmelnden Straßen der Großstadt, in welche Gas und Gold ihren Schimmer werfen, die ehernen Glocken, welche der Welt verkündigen, daß vor achtzehnhundert vierundsechszig Jahren in einem versteckten Winkel Palästinas ein armes Kind geboren wurde, dessen reine Lippen bald jenes einfache helle Evangelium der Liebe und Menschlichkeit predigen sollten, aus dem später Priesterherrschsucht und scholastische Sophisterei so engherzige, dunkle Dogmen zusammengedeutelt haben.
Nun sind wir, vom vobiscum dominus des Priesters entlassen, wieder vor der Thür. In der Dunkelheit, die uns um so schwärzer erscheint, je mehr uns drinnen das Licht geblendet, erkennen wir nicht sogleich unsere Bekannten und Begleiter wieder. Aber was ist das? Eine laue Luft schlägt uns entgegen und ein sonderbares Schwirren und Klingen geht über den Himmel und die Alpen, als wenn die Banden, welche die feste Erde halten, klirrend sich lösten. Das „wilde Gejaid“, Wuodans Gefolge, will die starre Luft durchjagen und das Knacken und Knarren auf den hohen Firsten rührt von den Hufen der Rosse her, welche über die eistragenden Gipfel dahineilen. Es sind Töne, als ob der See unten, der vorhin im Froste seine braunen Nebel nach oben gesendet, die Bergwand durchbrochen hätte und sich anschickte, die Aeonen lang in dem unergründlich tiefen, aber engen Gefängniß eingelegten Gewalten in die erzitternde Ebene hinab zu wühlen; auch von den Bergen berstet und kracht es herüber, als wähnten die Riesen, die drinnen wohnen, die Götterdämmerung sei gekommen, daß sie heraustoben könnten; die Ache unten heult, als wären ihre Wasser aufgestaut und müßte sie den Urkalk durchbohren, daß er darüber in zerwühlte Trümmer zusammenstürzt – aber nein, dies Alles ist es nicht. Der welsche Wind, der Scirocco, ist in’s Land gekommen, bindet das Gefesselte los und schlägt den Frost in die tiefsten Klüfte nieder, über die er warm und lebenerweckend als Sieger dahinjagt.
Wann aber wird der Morgen tagen, wo ein anderer Wind einbraust in das alte erstarrte Tirol, kein schwüler Wind von jenseits der Berge im Süden, nein der scharfe erfrischende, reinigende Wind vom Norden, welcher den Bann löst, der auf den in die Fesseln finstern Wahns geschlagenen, verdüsterten und verschüchterten Seelen haftet?
[40]
Von A. Goeschen.
Ich will gar nicht leugnen, daß mich, trotz meiner Sympathien für jede Art von Fortschritt, mancherlei Bedenken überkamen, als ich zum ersten Mal die Aufforderung erhielt, als Geschworener zu fungieren.
Unter den Errungenschaften, die uns in Preußen aus dem Jahre 1848 noch erhalten sind, zählt das Schwurgerichts-Verfahren unbedingt zu den werthvollsten. Zwar sind seiner Wirksamkeit die bedeutendsten und edelsten Aufgaben in den politischen und Preß-Processen entzogen, bleibt aber die Institution nur überall bestehen, so wird mit der Zeit auch das ihr wieder zufallen, was eine ängstliche Reaction ihr genommen. Weder durch die Lasten, die den Einzelnen aus der Ausübung dieser Staatsbürgerpflicht erwachsen, noch durch etwa auftauchende Mißstimmung über die und jene Entscheidung eines Schwurgerichtshofes dürfen wir uns die Freude an dieser so schönen und segensreichen Einrichtung trüben lassen. Opfer aller Art fordert nun einmal das neue Leben, das frischere Bewegen, welches in unseren Tagen in die Staatskörper gekommen, und es ist an Jedem, welchem Lebenskreise er immer angeboren mag, sich der hohen Aufgabe bewußt zu werden, daß nicht an das eigene liebe Ich, an das eigene Haus, das eigene Geschäft allein zu denken ist, nein, daß er, je nach Kraft und Gabe, dem Wohl der Gemeinde, des Staates den fälligen Tribut zu zahlen hat. Das läßt sich eben, wie Zeit und Verhältnisse sich geändert haben, nicht mehr mit dem einfachen Steuerzahlen abmachen; die Gemeinde, der Staat beanspruchen ihr Theil von unserer Fähigkeit, unserer Thätigkeit und damit den Beweis, daß wir reif und würdig sind der freieren Entwickelung und Gestaltung des staatlichen Lebens und seiner Vortheile.
Gerade in jüngster Zeit erst machten zwei Criminalprocesse gewaltig viel von sich reden und konnten auf’s Neue allerlei Scrupel bei Dem und Jenem wachrufen, ich meine den Proceß Müller in London und den schmutzigen Fall Gregy-Grote in Berlin. Nun, der eine hat eben wieder bewiesen, wie es auch in dem vielgepriesenen Musterstaate England an Mängeln und Bedenklichkeiten selbst bei lang eingebürgerten Dingen nicht fehlt, wobei wir immer an die volle Gerechtigkeit des Todesurtheiles glauben wollen, und was bei dem Wahrspruch gegen Grote, die Quinche und die Fischer etwa an Bedenken aufgetaucht, ist den Geschworenen durchaus nicht zur Last zu legen, sondern, wenn überhaupt haltbar, etwa der Vertheidigung, und daß den Geschworenen gewisse Schwierigkeiten der Fragestellung nicht deutlich genug vor Augen gestellt wurden. Vorkommnisse aber, wie die genannten, können und dürfen die großen Vortheile der Schwurgerichte, die rege Theilnahme der Bevölkerung für sie nicht berühren.
Es war im Monat Juli, als das Schwurgericht zusammentrat, bei dem ich mitwirken sollte. Der Juli pflegt in Berlin vorzugsweise unbehaglich zu sein und nicht eben Lust zu machen, sich durch Lösung ungewohnter Aufgaben noch besondere Beschwerden zu verursachen. Und gewiß hatte mein neues Amf der Beschwerden genug, dafür aber war ich nach Ablauf der vier Wochen um so viel reicher an merkwürdigen Erfahrungen und Beobachtungen, daß ich sie um keinen Preis aus meinem Leben hätte missen mögen. Manche jener Beobachtungen und Erfahrungen bietet wohl auch ein allgemeineres Interesse und rechtfertigt mich, wemn ich sie den Lesern der Gartenlaube mittheile, nicht um Criminalgeschichten zu schreiben, sondern um einen und den andern Blick in des Menschen Herz und Treiben zu öffnen, freilich zunächst nur nach dunklen, nächtlichen Seiten hin. – Der Tag unserer ersten Sitzung war sehr heiß, und neben den acht Personen, die auf der Anklagebank Platz zu nehmen hatten, gab es eine große Zahl Zeugen, unter ihnen auch Sachverständige zu vernehmen, was Alles denn eine Verhandlung von ungewöhnlicher Dauer verhieß. Wenn trotzdem kaum ein Wunsch um Dispens laut geworden; wenn selbst die Mehrzahl der Geschworenen, die sich freigeloost hatten, auf den Zuhörerbänken Platz nahmen, so war es, weil die Verbandlung einer cause célèbre galt. Um sie vor jeder Unterbrechung durch etwaiges Erkranken eines Geschworenen zu schützen, war sogar ein Ersatz-Geschworener an dem unglücklichen Trompetertischchen vor den geschlossenen Reihen der Zwölf zur Stelle, und ich will nicht verschweigen, daß er damit eine der traurigsten Rollen übernahm, zu der ein Mensch in derartiger öffentlicher Thätigkeit verdammt werden kann. Nachdem ein solcher Unglücklicher den Verhandlungen von A bis Z beigewohnt hat, bleibt er, wenn die Geschworenen sich zur Berathung zurückziehen, d. h. wenn ihr Hauptgeschäft beginnt, hübsch fein vor der Thür und wartet in stiller Ergebung, bis er nach ihrem Wiedereintritt in den Sitzungssaal, was, nebenbei gesagt, an jenem Tage lange genug währte, auch sein bescheiden Stühlchen auf’s Neue einzunehmen hat.
Um eine cause célèbre handelte es sich, wie ich sagte, und das theils wegen der schweren Einbrüche, die ihrer Zeit durch besondere Frechheit der Ausübung, durch die rasche Aufeinanderfolge die Aufmerksamkeit der ganzen Stadt auf sich gezogen hatten, theils wegen des Einen der drei Hauptangeklagten, mit dem ein paar Tage lang um der Art willen, wie er seinem verborgenen Wirkungskreise entrissen wurde, ganz Berlin sich beschäftigt hatte. Vor drei Jahren etwa hatte er sich ganz gegen die Bestimmung der Richter, ganz wider den Willen der Wärter, nur dem eigenen Drange nach Freiheit folgend, nächtlicher Weile aus dem Zuchthause entfernt und dann, während, wie der Vertheidiger emphatisch sagte, das Damoklesschwert in Gestalt des Steckbriefes über ihm schwebte, seine verbrecherische Laufbahn mit Geschick und Glück fortgesetzt. Zum größten Theil geschah das in Berlin, und nur wenn die Luft ihm dort zu heiß zu werden schien, zog er sich in angenehmere Gegenden zurück, wo er unbekannt, ungestört von dem wachsamen Auge der Residenzpolizei, seinem Hange nach nächtlicher Beschäftigung, wenn auch mit geringerem Erfolg, nachgehen konnte. Um solch störenden Geschäftsreisen zu entgeben, um der Hauptstadt seine Thätigkeit ganz und ausschließlich widmen zu können, hielt er es endlich für angemessen, die Verborgenheit, das Versteckenspiel aufzugeben und sich dicht vor den Thoren in einer der am meisten bevölkerten Vorstädte als „Gentleman“ einzumiethen. Er galt hier für einen edlen Menschenfreund, der sich der vielen Armen, die um ihn her wohnten, freundlich annahm und sich, so fremd er eigentlich war, der besten Nachrede rühmen konnte. Da wurde die Nachbarschaft an einem heitern Herbstmorgen durch die Wahrnehmung überrascht, daß sich eine größere Menge von Schutzleuten in etwas auffälliger Weise mit und in dem Hause zu thun machten, welches B., so wollen wir unsern Mann nennen, bewohnte, mehr aber noch in Erstaunen gesetzt, als nach längerer Zeit dieser selbst, offenbar nicht freiwillig, in Mitte der Polizisten der Stadt zuwanderte. Man hörte dann später, die Polizei habe B. in einem gut meublirten Zimmer, in eleganler Morgentracht bei wohlriechendem Mocca und vortrefflichem Cigarrenduft überrascht, der Vielerfahrene sich aber noch einmal ihren Händen zu entziehen verstanden. Man fand ihn endlich in einem scheinbar sehr sicheren Versteck, und da nun in seiner Gegenwart die genauere Durchsuchung der Zimmer vor sich ging, wurde B. besonders schmerzlich berührt, als die bösen Schutzleute eine überaus werthvolle Sammlung, auf die er großen Fleiß und viel Mühe verwandt hatte, in buntem Durcheinander in kleinen Säcken verschwinden ließen.
Die Sammlung bestand aus einer langen Reihe kunstvoller Dietriche und Schlüssel, auf das Sorgfältigste mit reinlichen Etiquetten versehen, welche Namen der Straße und Nummer der Häuser anzeigten, die des eifrigen Sammlers Thätigkeit in Anspruch genommen hatten oder noch nehmen sollten. Hätte B. diesem Steckenpferde nicht so besondere Aufmerksamkeit zugewendet, so wäre es vielleicht langsamer mit der Verurtheilung gegangen, die ihn nun bereits seit zwei Monaten wieder hinter Schloß und Riegel hielt. Was jetzt gegen ihn verhandelt werden sollte, konnte eine achtjährige Zuchthausstrafe, die über ihn verhängt war, nur in eine zwanzigjährige verwandeln, wie es denn auch geschah. B. stellte sich uns als ein hübscher junger Mann mit klugem, ich kann nicht etwa sagen verschmitztem, Ausdruck vor, von einer gewissen Feinheit des Benehmens, leichten, gefälligen Manieren, und als er vollends jede Auslassung über den Verbleib besonders werthvoller Sachen verweigerte, offenbar weil es sich um ein Verhältniß zartester Natur handelte, so geschah das in einer chevaleresken Weise, die lebhaft an die längst verklungenen Räuberromane aus der früher so bekannten Nordhäuser Niederlage von Fürst erinnerte.
Neben B. saßen als Theilnehmer an jenen schweren Einbrüchen [41] zwei gleichfalls schon wiederholt bestrafte Diebe A. und C. Auf jenen werde ich gleich wieder zurückkommen, dieser, eine stupide, rohe Natur, erregte irgend ein Interesse nicht. Der Hehlerei bezichtigt und somit Complicen der Hauptangeklagten waren zwei Männer und drei Frauen. Der Hehler E., ein gut aussehender, wohlgekleideter, noch junger Mann, der sich im Hause der Verhandlungen wohl mit Absicht dümmer gab, als er war, hatte sich bisher jedem Zusammenstoß mit der Polizei und dem Criminalgericht zu entziehen verstanden, obwohl er seit einer ganzen Reihe von Jahren einer der gefährlichsten Vertreter seines schmählichen Gewerbes gewesen. Er betrieb dasselbe mit seiner Ehefrau der Art en gros, daß Eines von ihnen jede Leipziger Messe besuchte, um die hier auf Lager gesammelten Waaren, fast ausnahmslos gestohlenes Gut, vortheilhaft und ohne Gefahr der Entdeckung an den Mann zu bringen, gleichzeitig aber mit dortigen Dieben in Verkehr zu treten und die neuerworbenen Güter wieder hierher zu senden. Es erscheint räthselhaft, wie dieses würdige Paar – die Frau war übrigens noch nicht zur Haft gebracht – Jahre lang in einem sehr frequenten Geschäftstheil der Stadt, der Rosenthaler Straße, im großartigsten Maßstabe die Hehlerei betreiben konnte, ohne die Blicke der Polizei auf sich zu ziehen, und das ist vielleicht nur aus der Offenheit zu erklären, mit der in dem dürftigen Kellerlocal das anscheinend ehrliche Verkaufsgeschäft betrieben wurde. Gerade der lebhafte Verkehr auf der Straße erleichterte dabei wohl den Verbrechern unbemerkt aus- und einzugehen. Zuletzt hatte das Geständniß eines Betheiligten diesen gemeingefährlichen Menschen zur Untersuchung gebracht, aus der er, obwohl noch unbestraft, zu mehrjähriger Zuchthausstrafe wanderte. Dem F., auch einem noch jungen, aber schon wiederholt bestraften Menschen, war das gewiß seltene Geschick zugefallen, neben seiner Mutter und einer Geliebten, die fast seine Mutter sein konnte, unter der nämlichen Anklage vor Gericht zu erscheinen.
Unter den verschiedenen Einbrüchen, die hier zur Sprache kamen, verdient der eine wohl näherer Erwähnung, und das um so mehr, als er gerade dem Angeklagten A. Gelegenheit bot, bei der Verhandlung in den Vordergrund zu treten und besonderes Interesse in Anspruch zu nehmen. Das Kleeblatt A., B., C. bedurfte zu besserer Uebung seiner nächtlichen Künste dringend verschiedene Geräthschaften und glaubte sie in erster Güte in einer Eisenhandlung finden zu können, deren Solidität A. aus den Zeiten ehrlicher Arbeit bekannt war. In dem offenen Geschäft war es leicht, genaue Kenntniß der Localität zu gewinnen und als richtigsten Angriffspunkt eine Thür zu wählen, die aus dem geräumigen Flur des Hauses in den Laden führte. Den Schlüssel zur Hausthür zu beschaffen, war dem genannten B. Kleinigkeit, aber auch der schwierigeren Aufgabe unterzog er sich, in Gemeinschaft mit C. am hellen Tage im Flur eines Hauses an der größten Verkehrsader Berlins die Schrauben an den Eisenstangen der erwähnten Thür zu lockern und so die Arbeit der Nacht abzukürzen. Der so vorbereitete Einbruch gelang, allein trotz allen Suchens fand man die gewünschten Geräthschaften nicht, und da auch der gelegentliche Griff in die Ladencasse nur einen geringen Erfolg gab, schien das Geschäft ein sehr klägliches, der Mühe wenig werthes sein zu sollen.
Da entdeckte A. hinter einer Gardine im zweiten Zimmer, dem Comptoir, einen eisernen Geldschrank, und kurz entschlossen gingen die drei verwegenen Menschen, ohne irgendwie auf eine solche Arbeit vorbereitet zu sein, daran, den mehr als sechs Centner schweren Schrank zu stehlen und so sich gründlich für die sonstigen Täuschungen zu entschädigen. Ohne viel Lärm brachten sie ihn von der Stellage durch zwei Zimmer bis auf den Flur, nun aber war guter Rath theuer, denn wie wollte man ihn durch die Stadt an einen sichern Ort bringen? Zur guten Stunde erinnert sich C., daß in einem Hofe am Alexanderplatz, wohl eine halbe Stunde vom Schauplatz der That, ein Handwagen stehe, und wußte denselben, obschon auch dazu wieder ein Einbruch nöthig war, noch vor Tagesanbruch herbeizuschaffen. Von zwei Menschen, denn der dritte mußte Wache stehen, wurde der schwere Schrank glücklich auf den Wagen gebracht und dann, der Morgen dämmerte bereits, nach dem Keller des Hehler E. gefahren und hier über schnell herbeigeholte Betten geräuschlos die Treppe herunter gewürfelt. Was könnten Menschen von solcher Entschlossenheit, Arbeitskraft und Ausdauer vor sich bringen, wenn sie den ruhigen Gang ehrlichen Geschäftes wandelten!
Um den Schrank seines Inhaltes berauben zu können, war es nöthig, eine kreisrunde Scheibe auszubohren, und als auch das dem kundigen A. geglückt, wurde das Möbel in eine Kiste verpackt und unter fingirter Adresse der niederschlesisch-märkischen Eisenbahn zum Transport nach X. Eisenbahn restante übergeben. Da Nachfrage nach der schweren Kiste nicht erfolgte, wurde diese endlich geöffnet und so der Anfang des Fadens gefunden, der schließlich zur Entdeckung der Verbrecher führte, die durch ihre frechen Einbrüche die Stadt Berlin vollständig alarmirt hatten.
Und nun zu A., in dem der schlaue, gewandte B. in jeder Richtung einen würdigen Kumpan für seine verbrecherische Thätigkeit gefunden hatte. Nicht allein, daß er große technische Geschicklichkeit besaß, daß er in den verschiedensten Hantirungen wohl Bescheid wußte, daß er von großer Körperkraft war und dabei in seinem äußeren Erscheinen eher einen soliden, biederen Eindruck machte, besaß er eine geistige Ausbildung, die weit über das gewöhnliche Maß des Arbeiterstandes hinausreichte. Er nahm Gelegenheit, uns in drei schwunghaften Reden, die nach Form und Inhalt wahrlich einer besseren Sache würdig gewesen wären, davon Probe zu geben. Die eine, mit viel Sarkasmus und einzelnen beißenden Witzworten gewürzt, galt einer technischen Frage und übte Kritik an dem Kunstschlosser, der als sachverständiger Zeuge vernommen wurde. A. leugnete die Mitthäterschaft an einem der Einbrüche, bei dem es sich gleichfalls um einen Geldschrank handelte und wo aus der Art einer vorliegenden Scheibe sich nach weitläufiger Auslassung des Zeugen ergeben sollte, daß dieselbe Hand mit demselben Instrument in diesem Falle hantirt habe, welche den Schrank in E.’s Keller eröffnete, und das war geständigermaßen die des A. gewesen.
Während dieser nun Schritt für Schritt des Zeugen Auseinandersetzung widerlegte, flüsterte mir mein Nachbar, zufällig auch ein Sachverständiger, ein über das andere Mal zu: „Der Mensch hat ganz Recht,“ und im weitern Verfolg der Zeugenaufnahmen ergab sich zu allem Ueberfluß noch, daß die ganze Frage durch ein Mißverständniß in die Untersuchungsacten gekommen und der eigentliche Zusammenhang ein ganz anderer war, als hier vorausgesetzt wurde. Erschreckend in Bezug auf die traurigen Folgen des Gefängnißlebens klang des A. Aeußerung, wie es eine ganz falsche Annahme sei, daß überall zu solchen scheinbar kunstgemäßen Arbeiten, wie sie im Diebeshandwerk vorkommen, Leute vom Fach gehörten; das lerne sich im Gefängniß durch gegenseitige Mittheilung schnell und leicht, und er sei gar nicht in Zweifel, daß z. B. der Mitangeklagte C., obschon seines Zeichens ein Tischler, Alles, was ihm als Schlosser bei den gemeinsamen Einbrüchen zugefallen, ebensogut hätte verrichten können.
A. blieb dabei stehen, an dem einen Einbruch nicht Theil genommen zu haben, und als der Vorsitzende Richter noch einige weitere Querfragen deshalb an ihn stellte, erbat er sich noch einmal das Wort, um uns daran zu erinnern, wie es ja ganz lächerlich von ihm sein würde, zu leugnen, wo er, wie wir, wüßte, daß das auf das Maß der Strafe gar keinen Einfluß habe. Er bleibe dabei, seine Unschuld zu behaupten, weil es Princip bei ihm sei, keine Schuld auf sich zu nehmen, an der er nicht betheiligt sei. Das Alles brachte er mit einem Nachdruck, einer Sicherheit vor, als stehe er auf irgend einer Rednerbühne und spräche zu einer seinen Worten lauschenden Versammlung. Es widersprach seiner Verbrecherehre, sich zu einer That zu bekennen, mit der er nichts zu schaffen gehabt!
Den größten Eindruck auf Geschworene, Richter und Zuhörer machte aber die erste Rede des A., mit der er den Geschworenen es an’s Herz legte, mildernde Umstände für ihn anzunehmen. Er betrat mit ihr ein Gebiet, auf dem es leicht ist, warme Theilnahme zu erregen, weil es ganz bestimmte, leider nicht wegzuleugnende Schäden unserer socialen Verhältnisse deutlich erkennen läßt. Als A. das zweite Mal der Haft entlassen war, hatte er seinen Versicherungen nach den festen Entschluß gefaßt, ein für allemal dem Verbrechen den Rücken zu kehren. Bei seiner Tüchtigkeit als Schlosser konnte es ihm ja nicht fehlen, durch ehrliche Arbeit sich den nöthigen Unterhalt zu verdienen. Seine guten Absichten wurden vereitelt durch, wie er sagte, die Polizei. „Indem sie mich unter ihre Controle nahm, indem sie mich jedem Brodherrn, bei dem ich Arbeit fand, als bestraften Dieb signalisirte und dies unter meinen Mitarbeitern nur zu schnell bekannt wurde, stand ich überall bald als Gemiedener, Geächteter, von dem Verkehr [42] mit den andern Ausgeschlossener da. Mißtrauen, Beschimpfung folgten mir, wo ich ging und stand. Die einzige Erholung, die es für mich gab, nach ermüdender Arbeit an schönen Sommerabenden mich in freier, frischer Luft vor den Thoren zu ergehen, brachte mich in neue Conflicte mit der Polizei, da ich bei gelegentlichen Visitationen ein paar Mal nicht schlag neun Uhr zu Hause angetroffen wurde. Hierdurch verlor ich zwei Mal die besten Dienste; andere zu suchen und zu finden, wurde mir mehr und mehr Lust und Möglichkeit genommen. Ja, meine Herren Geschworenen,“ so schloß A., „die trostlose Lage des Bestraften nach seiner Entlassung aus dem Gefängnisse, das Auge der Polizei, das ihm auf Schritt und Tritt folgt, ihre Organe, die den Makel, der ihm anhaftet, bei den verschiedensten Gelegenheiten offenkundig machen, sie schneiden ihm die Möglichkeit ehrlichen Erwerbes ab, benehmen ihm Muth und Kraft, die guten Vorsätze auszuführen, und treiben ihn endlich der Verzweiflung und so auf’s Neue dem Verbrechen in die Arme. Das ist mein Schicksal gewesen, wie es das Schicksal so Vieler vor mir war. Nehmen Sie, meine Herren Geschworenen, mit Rücksicht auf so trostlose Zustände, für mich, einen Unglücklichen, der die ganze Schwere seiner Verbrechen reuig erkennt, mildernde Umstände an.“
Wenn ich erwähne, daß der Vorsitzende des Gerichtshofes in seinem Resumé den mächtigen Eindruck betonte, den des A. Rede gemacht, die ich natürlich hier nur in kurzen allgemeinen Zügen wieder gab; wenn er dessen ganzes Benehmen und Auftreten als ein ungewöhnliches, auf der Anklagebank dieses Saales wohl kaum vorgekommenes bezeichnete und es natürlich fand, wenn die Geschworenen dadurch für ihn eingenommen wären, so wird man es begreiflich finden, daß es uns allen sehr schwer wurde, unbedingt das „Schuldig“ zu sprechen. Wir konnten nach Lage der Sache nicht anders, aber ich bedauerte von Herzen den Armen, der bei besserer Einsicht, bei gutem Willen durch die Macht der Verhältnisse, nicht durch Lust am Bösen, auf’s Neue zum Verbrecher geworden und nun einer zwölfjährigen Zuchthausstrafe entgegenging. Es sollte diese Stimmung indeß nicht lange anhalten: nur zu bald sollte ich erfahren, daß A. uns eine wohl überlegte Komödie vorgespielt hatte, daß wir mit unsern Bedenken und Gewissensscrupeln die Betrogenen eines Gauners gewesen waren, der vielleicht unter den acht Angeklagten der geriebenste. Als die Drei, A., B., C., in das sichere Arrestzimmer abgeführt waren, konnte ich mir einen Blick durch das Loch in der Thür desselben nicht versagen. Da sah ich sie denn in tollster Aussgelassenheit singen, springen, sich umarmend, lachend über den Gang der Verhandlungen und auch der Geschworenen Gutmüthigkeit nicht schonend. Bald, so hofften alle Drei, würde ihnen der Ausbruch gelingen und nur das bedauerten sie, daß sie nicht in dieselbe Anstalt gebracht werden würden. Dagegen rechneten sie fest darauf, sich nach gelungener Flucht bald wieder zu gemeinsamer Thätigkeit zusammenzufinden. Mich meiner Leichtgläubigkeit schämend ging ich von dannen.
Eine Scene von drastischer Wirkung brachte uns die Verhandlung einer jener betrüglichen Wechselreitereien, wie sie gegenwärtig so häufig Gegenstand gerichtlicher Untersuchung werden. Der Angeklagte war in diesem Falle ein sogenannter Winkel-Advocat und hatte in den verschiedensten unsauberen Geschäften die – um das Wort zu mißbrauchen – juristische Vermittelung übernommen. Es handelte sich nun um die Frage, in wie weit er hierbei auch seinen eigenen Vortheil wahrgenommen und somit die Früchte der Betrügerei mit den Uebrigen getheilt habe. Uebrigens ist es, um das nebenher zu erwähnen, unglaublich, wie viele solcher Pseudo-Advocaten, meistens ehemalige Schreiber bei Rechtsanwalten, in großen Städten sich umhertreiben und – Beschäftigung, oft in großartigsten, und lohnendstem Maße, finden. Unser Mann bot in seinem ganzen Erscheinen, der gekiffenen Physiognomie, den versteckt liegenden Augen, dem magern, schmiegsamen Körper mit langgestreckten Armen, die in schmale, wie abgeschriebene Finger ausliefen, an denen man nur den bekannten Federeindruck des mittleren wegen der Ruhe in der Haft vermißte, ein höchst charakteristisches Bild des Genus Schreiber und hätte sich sofort für die Illustration eines Boz’schen Romanes verwenden lassen. Der Proceß bot an sich nicht viel Bemerkenswerthes und gewann erst Leben, als der Vertheidiger des Winkelschreibers in folgender Art das Wort ergriff: „Ich bitte Sie, meine Herren Geschworenen, werfen Sie vor allen Dingen einen Blick auf meinen Clienten. Ist Ihnen je eine dümmere, nichtssagendere Physiognomie vorgekommen, als diese? Halten Sie es für möglich, daß sich an einen Menschen von so augenfälliger Einfalt, wenn es sich um die Ausführung irgend verwickelter, mißlicher, zweideutiger Geschäfte handelt, wirklich jemand um Hülfe wendet, und glauben Sie, daß er der Mann wäre, dieselben mit auch nur einigem Geschick zu führen? Ich gestehe Ihnen offen, ich kann nicht begreifen, daß er, wie doch aus den Acten hervorgebt, auch nur gewöhnliche Schreiberdienste bei einem Advocaten ordentlich verrichten konnte.“ – Daß meine Augen während der für den Angeklagten wenig schmeichelhaften Einleitung auf ihm ruhten, versteht sich von selbst, und da entging es mir denn nicht, wie er sich unter dieser Schilderung seines Ich’s, die so weit abwich von seinen eigenen Vorstellungen, von der eigenen Werthschätzung, förmlich wand und krümmte vor innerlichem Verdruß; wie er am liebsten laut Protest erboben hätte und doch wieder dankbar schweigen mußte im Hinblick auf den vielleicht guten Eindruck der Rede und die dann erfolgende Freisprechung. Später hörte ich, daß der gute Winkeladvocat – der übrigens, nach kurzer Zeit einer gleichen Schuld angeklagt, seinem Schicksal nicht entging – dem Defensor bittere Vorwürfe ob der Rede gemacht habe, die seinen geschäftlichen Ruf und somit seinen Erwerb arg hätte erschüttern können.
Von den übrigen Fällen, die während dieser Schwurgerichtsperiode zur Verhandlung und Aburtheilung kamen, erregte nur noch ein Meineidsproceß, an sich traurig genug, durch ein komisches Intermezzo Interesse, das nach dem gefällten Spruche den Zuhörerraum in ziemlich laute Heiterkeit versetzte. Die eigentliche Urheberin des Meineids, eine äußerst verschmitzte Berlinerin in höheren Jahren, die ihr unerfahrenes junges Dienstmädchen vom Lande zu dem genannten Verbrechen zu veranlassen gewußt hatte, war, der juristischen Auffassung nach, als „nicht schuldig“ erklärt, das arme Dienstmädchen dagegen verurtheilt worden; da wurde im Auditorium eine tiefe Stimme laut: „Herr Jott, wieder nich in’s Loch, und ich dachte’s doch diesmal ganz sicher!“ Es war die des zärtlichen Ehemanns, der fest darauf gerechnet hatte, auf zwei Jahre seine böse Sieben los zu sein.
Deutsches Industriebild.
„Es ist schwerer, daß ein Kameel durch ein Nadelöhr gehe, als daß ein Reicher in’s Himmelreich komme,“ heißt es schon in der Bibel, im neuen Testamente. Demnach hat es schon vor zwei Jahrtausenden Nadeln gegeben. Da aber schon Adam und Eva, nachdem sie in den verbotenen Apfel gebissen, es etwas kühl im Paradiese fanden und das Eva-Costüm zu leicht, so daß sie sich Kleider machten, sind wahrscheinlich auch schon die ersten Menschen die ersten Nadler geworden. Ich vermuthe, daß Eva, welcher jedenfalls die meiste Arbeit bei Anschaffung der ersten Kleider zufiel, auch die ersten Nadeln erfand. Ihre Nadel mag freilich weder eine englische, noch eine Aachener gewesen sein. In der That ist die Nähnadel, obgleich unstreitig eines der ersten und unentbehrlichsten Werkzeuge in Menschenhand, dennoch als vollkommener Fabrikationsartikel einer der neuesten. Bis vor etwa fünfzig Jahren wurden die Nähnadeln mühselig und theuer und verhältnißmäßig unvollkommen vom Handwerker, vom zunftmäßigen Nadler, gemacht. Erst seit jener Zeit bemächtigte sich allmählich das zauberhafte Rad der Maschine und die allmächtige Triebkraft des Dampfes dieses kleinen, glatten, spitzigen, einäugigen Erzengels aller Cultur.
Die Fortschrittsbahnen der Menschheit sind spärlich mit Rosen, sehr zahlreich mit zerbrochenen und zerschossenen Waffen und Menschengliedern, am dichtesten aber mit zerbrochenen Näh- und verbogenen oder kopflosen Stecknadeln bestreut. Je mehr von letzteren Helden fallen, desto steigender und rascher die Civilisation. Sie fallen meist blos als Opfer ihrer Dienste, obgleich auch viele von Busen und Aermeln der manchmal dicht damit besteckten [43] Frauen und Töchter im Hause verloren gehen; aber als Regel kann man annehmen, daß nicht sowohl die Consumtion der Seife, wie Pückler-Muskau sagte, als vielmehr der Verbrauch der Näh- und Stecknadeln (wie überhaupt der Metalle zu productiven, nicht militärischen, Werkzeugen) den Culturmesser oder, um ein neues Wort dafür zu riskiren, „Civilisationometer“ eines Volkes abgiebt. Leider schließen die Statistiker, wahrscheinlich aus Furcht vor den ungeheueren Zahlen, die sich mit den Nadeln selbst in’s Maßlose und Unendliche verlieren, den Nadelverbrauch von ihren Tabellen aus, so daß man bis jetzt kein Volk mit dieser meiner Culturelle messen kann.
Daß ein so unentbehrlicher und täglich gebrauchter Artikel, wie die Nähnadel, überall in civilisirten Ländern fabricirt wird, versteht sich von selbst. Die Haupterzeugungsorte sind aber England und Deutschland geworden und geblieben. Jede Frau weiß, daß die besten Nähnadeln aus Aachen oder aus Redditch in England kommen, nur daß die meisten noch sich beim Einkauf von dem Aberglauben bestimmen lassen, wirklich gute Nadeln könnten nur in einer englischen Etikette stecken. Dies ist einer von den vielen industriellen Irrthümern, durch welche sich Deutschland nicht nur selbst entwürdigt, sondern auch materiell um unendliche Summen Geldes selbst betrügt, insofern, nach Goethe, Niemand betrogen wird, sondern Jeder dies selbst besorgt, um mit diesen Opfern die Molochs der Unwissenheit oder des Vorurtheils zu mästen, Ungeheuer, die mehr kosten, als die Erziehung zweier Kinder in jeder Familie, wo sie eben herrschen.
Im Allgemeinen kann man nach dem Urtheil Sachverständiger annehmen, daß trotz der neueren Nadelfabriken in Frankreich, Oesterreich, Belgien, Rußland und in Deutschland zu Iserlohn, Altena, Schwabach, Nürnberg u. s. w. doch ziemlich neun Zehntel aller Nadeln aus den Fabriken Aachens und Englands bezogen werden. Der deutsche Irrthum liegt hier besonders in dem Wahne, daß englische Nadeln doch immer noch besser seien, als Aachener, während es längst eine ausgemachte Sache ist, daß Aachen gleich gute Nadeln zu viel niedrigeren Preisen liefert, als England, so daß es die Concurrenz des letzteren in fast allen Welttheilen viel weiter überwunden hat, als just im Vaterlande, wo einheimische Nadeln noch immer das Schicksal einheimischer Propheten haben.
Und wenn’s Nadeln allein wären! Das kostspielige Vorurtheil herrscht in Deutschland durch eine ganze Menge von Verbrauchs- und Luxusartikeln mit einer Macht und Hartnäckigkeit, daß einheimische Artikel entweder mit einer ausländischen, besonders englischen, Firma und Etikette versehen oder thatsächlich erst in’s Ausland geschickt werden, um sich, durch doppelte Fracht und Zoll und Veranschlagung des Vorurtheils doppelt vertheuert, als ausländische Waare importiren zu lassen. Letzteres geschieht seit längerer Zeit mit Aachener Nadeln, so daß man sie als englische mindestens doppelt so theuer bezahlt, wie dieselbe Nummer, dieselbe Qualität, genau die Zwillingsschwester, als Aachener. In England werden jetzt jährlich Hunderttausende von Groß Faber-Bleistifte (Groß = zwölf Dutzend) ohne irgend eine Signatur eingeführt, dort mit dem Zeichen einer englischen Firma gestempelt, und als englische in England für den drei- bis fünffachen Preis verkauft, weil man im national-eiteln England glaubt, englische Waare sei besser, als ausländische. Dieselben englisirten Faber-Bleistifte müssen aber auch dem deutschen Vorurtheil dienen und werden hier das Stück zu fünf Silbergroschen verkauft, während genau derselbe Bleistift als ehrlicher Faber überall für einen Silbergroschen zu haben ist.
Doch bleiben wir bei den Nadeln. Die Vorzüge der Aachener und anderen deutschen Nadeln beruhen auf ganz bestimmten Vervollkommnungen in der ziemlich umständlichen und verwickelten Fabrikation. So einfach die Nadel aussieht, muß sie doch durch eine Menge Processe und Fegfeuer hindurch, von denen wir kaum eine Vorstellung haben. Etwas davon wird uns bei Schilderung der neueren Vervollkommnungen klar werden. Die Nadeln sind ursprünglich Stückchen Draht (meist von Gußstahl). Dieser wird zuerst in schweren Ringen gewunden, dann gerade gerichtet und geschnitten. Letzteres geschah, wie jetzt noch in England, mit Richtkandeln, Richthaspeln und Handscheeren, also mit der Hand. Diese wird jetzt in Aachen (und in andern Fabriken Deutschlands) durch eine einfache, praktische Richt- und Schneidemaschine ersetzt und wohl fünffach übertroffen. Die Maschine arbeitet mehr als vier Handscheeren, zu denen vier Hände gehörten. Außerdem kann ein einziger Arbeiter gleichzeitig drei Schneide- und Richtmaschinen bedienen, die alle selbst arbeiten, und zwar mit mathematischer Genauigkeit, welche von der menschlichen Hand nicht erreicht wird.
Die geschnittenen Drahtstückchen (Schaften) werden im Feuer gerichtet, d. h. zu je Tausenden in je zwei Eisenringe gespannt, geglüht und unter schweren Gewichten so lange gerollt, bis sie durch gegenseitige Reibung und Pressung alle schnurgerade geworden sind.
Nun kommen die Schaften in die zweite deutsche Erfindung für diese Fabrikation, in die Schleifmaschine, die außer bedeutender Ersparung von Menschenarbeit noch den großen gesundheitlichen Vortheil hat, daß sie den furchtbaren Schleifstaub nur je einem Arbeiter in weit geringerer Gefahr etwas nahe bringt, wo früher vier Arbeiter mitten darin sitzen mussten. Ein einziger Mann beaufsichtigt jetzt drei bis vier Schleifmaschinen, die er also nicht immer dicht vor Augen und Nase zu haben braucht, während früher Menschenhände die Arbeit der Maschine verrichten mußten.
Aus dieser Maschine gehen aus beiden Seiten spitzgeschliffene Schaften hervor, jeder von doppelter Länge der künftigen Nadel. Diese Schaften werden nun in der Stampfmaschine geprägt. Dieselbe preßt ihnen Buchstaben, Firma, Zeichen, besonders aber die Furche oder Fohre ein, innerhalb welcher hernach das Auge oder Ohr (Oehr) eingestochen werden soll, und verdünnt zugleich den Punkt für diese Durchstechung, wodurch letztere Operation sehr erleichtert wird. Nun wird den blinden Nadeln vermittelst der Stechmaschine (von unten nach oben durchgetriebenen Stiften) der Staar gestochen. Sie haben damit Augen, aber noch uncultivirte, die noch einer sorgfältigen Feile und Abrundung bedürfen. Erst aber müssen die durch Prägen entstandenen Rauhheiten vermittelst der ebenfalls deutschen Erfindung der Feilmaschine beseitigt werden. Diese ist noch ziemlich neu und noch das Eigenthum weniger Fabriken. Sie thut mit mehreren hundert Nadeln auf einmal und rasch und leicht, was ohne sie Menschenhände langsam, zeitraubend und ungenauer besorgen. Die Maschine besteht wesentlich aus einer Zange und einem dampfgetriebenen Schleifsteine, über welchen die in die Zange gespannte große Menge Nadeln nur eben leicht hinstreicht, um sich von ihren Rauhheiten befreien zu lassen.
Bisher sind die so behandelten Schaften noch Doppelnadeln, an ihren stumpfen Seiten zusammenhängend, aber an der zu durchbrechenden Stelle beim Stampfen schon eingedünnt, so daß sie sich leicht mit der Hand jede in zwei gleiche Nadeln zerbrechen lassen. Die Rauhheiten des Bruches werden durch Handfeilen geglättet und gerundet. Jetzt gilt es, die noch weichen Stahlstückchen zu härten. Dies geschieht in einem Härtekasten über einem ruhigen Feuer, wo sie bis zu einem gewissen Grade geglüht und dann rasch in Oel oder Thran abgekühlt werden. Um sie nun auch elastisch zu machen (die wesentliche gute Eigenschaft), werden sie meist in Thran gesotten. Nach so vielen Fegfeuern der Stoffveredelung haben wir immer noch eine völlig unbrauchbare, rauhe, schmutzige Nadel, die noch einer gründlichen Wäsche und Politur bedarf. So wichtig und zeitraubend dies ist, muß sie doch diesen Läuterungsproceß nach dem Grundsatze: „eine Hand wäscht die andere“, wesentlich selbst collegialisch besorgen und zwar in sogenannten Scheuermaschinen. Man bindet zu diesem Zweck je mehrere hunderttausend Stück zusammen, schichtet sie zwischen kleinen Kieselsteinen, Schmirgel, Oel, Seife u. s. w. auf bankartigen Maschinen über und neben einander und rollt sie zwischen schweren Platten ununterbrochen in kurzen Bewegungen nach vor- und rückwärts. Dies dauert in der Regel mindestens acht Tage, indem man mit jedem Morgen die Bündel öffnet, die Nadelmassen in Seifenlauge von allem losgescheuerten Schmutz reinigt, sie wieder zu neuen Bündeln vereinigt und die Operationen mit immer feiner werdendem Putzmaterial wiederholt, bis sie glänzend und glatt aus dieser langen, gründlichen Wäsche hervorgehen. Die Nadeln sind dann endlich fertig. Gute und feine Sorten werden aber auch dann noch vielfach verfeinert und verbessert; namentlich wird auch der sogenannte Kopf auf einem zarten Schleifsteine abgeglättet, das Auge glatt ausgerundet und die ganze Politur auf ledernen, mit Polirstoff bestrichenen Spindeln vollendet, resp. gebläut. Noch bessere Sorten werden wohl auch um die Köpfe herum elektrisch vergoldet, oder durch leichtes Umglühen bronzirt, wobei die Grube unter dem Auge eine hübsche, tiefblaue Färbung annimmt.
Da nun aber jeder Handelsartikel, besonders für Damen, billiger Weise in ein lockendes Kaufgewand gekleidet werden muß, [44] ist schließlich noch die ziemlich mühselige Arbeit der Verpackung und Etikettirung nöthig. Gelenkige Finger nehmen blitzschnell je fünf Nadeln auf die Zählbreter, von wo sie in die „Briefe“ fallen, die mit bestimmten Mengen gefüllt nun ebenso gelenkig und flink gefaltet werden. Die Briefe bedürfen dann der Adresse und Etikette, deren oft drei auf einen einzigen Brief geklebt werden. Hierauf müssen die sorgfältig getrockneten Briefe in buntfarbige Umschläge verschönernd eingemantelt und noch einzeln und mit mehreren andern in größere Pakete gebunden werden, um sie endlich in alle Welt zu senden und in Millionen größeren und kleineren Läden überall in der Welt zu allen möglichen Preisen und Größen der nähenden, stickenden, flickenden, ausbessernden, schneidernden und Putz machenden Menschheit, auch dem Junggesellenthum, das sich selbst Knöpfe annähen will, bereit und feil zu halten.
Aus dieser ganz im Allgemeinen gehaltenen, nur die wesentlichsten Processe berührenden Veranschaulichung der Nadelfabrikation ersehen wir soviel, daß sie in Deutschland neuerdings durch Erfindung und Einführung von Maschinen ungemein vervollkommnet worden ist. Wo aber außer der Maschine die flinke, fleißige, geschickte Hand noch so viel helfen und vollenden muß, da hat Deutschland immer vermöge seiner ganzen Anlage und Erziehung einen Vorzug in allen industriellen Operationen. Wir bemerken hier, daß jede Nähnadel trotz der vielen Hülfsmaschinen doch immer noch sechszig bis siebzig Mal durch die veredelnde und vollendende Menschenhand gehen muß, ehe sie als fixe und fertige einfache Nähemaschine für ihre Bestimmung reif wird. Erwägen wir dazu die Thatsache, daß die Aachener Fabrikationsgegend allein, außer fabelhaften X-Unzähligkeiten von Stecknadeln, wöchentlich etwa vierzig Millionen größtentheils bessere Sorten von Nähnadeln liefert; daß jede Nähnadel durch eine Menge Maschinen und sechszig bis siebzig Mal durch die Hand des Arbeiters gehen muß, so wird man die Behauptung nicht für übertrieben halten, daß diese Fabrikation trotz ihrer Kleinigkeitskrämerei zu der großartigsten und deutschesten Industrie gerechnet werden muß.
Freilich ist sie auch eine der demüthigendsten für uns, weil man die meisten dieser Nadeln entweder als ehrliche deutsche oder auch unter ausländischer Verpackung vom Auslande verbraucht und die Deutschen sich immer noch von dem Aberglauben an die Vorzüge der englischen tyrannisiren und bestimmen lassen. Gegen festgewurzelte Irrthümer kämpfen zwar selbst Götter vergebens. Die Gartenlaube rechnet sich aber nicht zu jenen höheren Wesen über uns, sondern da sie sich menschlich mit Menschen des Vertrauens ihrer holden Leserinnen erfreuen darf, glaubt sie sich auch nicht zu täuschen, wenn sie hiermit die Hoffnung ausspricht, daß sie auf Grund dieses Artikels, dessen Material aus sachverständigem Munde stammt, viele Leserinnen, und die Männer dazu, zum Ankauf von deutschen Nadeln bestimmen werde.
Wir bemerken noch, daß in Berlin ein Großverkauf-Nadelgeschäft besteht, welches es sich zur Aufgabe gemacht hat, deutsches Fabrikat und deutsche Etiketten („Germania-Nadeln“ u. v. a.) zur Anerkennung zu bringen. Es kämpft dabei freilich noch außer mit dem allgemeinen Vorurtheil auch mit den sogenannten Zwischenhändlern, die vielfach mit deutschen Waaren unter ausländischer Etikette (nicht blos in Nadeln) betrügerische, aber sehr gewinnreiche Geschäfte machen. Sie nehmen die wohlfeilste und schlechteste Waare des Inlandes, die, mit einer bestechenden Firma des Auslandes beklebt, nun auch von dem deutschen Abnehmer gut und gern mit dem vier- bis fünffachen Preise bezahlt wird. Bietet der Zwischenhändler dagegen deutsche Waare mit der ehrlichen deutschen Marke, wobei auch Qualität und Werth genau bezeichnet sind, so muß er sich in der Regel mit der üblichen Provision begnügen. Damit sind ihm dann die Hände für gewinnreichen Betrug gebunden, freilich zum Vortheil des Publicums, dem dieser allein zukommt, weil weder Nadeln noch andere Industrieartikel unredlicher Bereicherung der Zwischenhändler wegen fabricirt werden, sondern um der ganzen kaufenden und verbrauchenden Menschheit willen. Man sorge für zollfreie englische Baumwollenstoffe, nähe sie aber mit Aachener und sonstigen deutschen Nadeln.
Mitten im nordischen Lavastrom.
Weit im Nordwesten Islands, fast unter dem sechsundsechzigsten Grade nördlicher Breite schlummert in wilder Umgebung, von Lavaströmen eingeengt und theilweise auch verschüttet, einer der merkwürdigsten Seen der Erde, der Mückensee (Myvatn) der Isländer.
Eine Reise nach Island ist jetzt, wo der Friede geschlossen ist und Deutschland wohl keine Flotten-Ansprüche an die entfernte Insel macht, die freilich der trefflichsten Häfen eine Menge bietet, ein Sommervergnügen. Dampfschiffe gehen regelmäßig von Kopenhagen ab und laufen, bevor sie Island erreichen, in Schottland, auf den Shetlands-Inseln und den Faröern an. Man kann sich die lange Seefahrt abkürzen, indem man auf der Eisenbahn bis nach Edinburg oder Leith rutscht und dort erst sich einschifft, um dann bei gutem Wetter etwa am vierten oder fünften Tage Reykjavik,[2] die Hauptstadt Islands, zu erreichen und von hier aus die nächsten Wunder, Thingvalla, das Thal der Volksversammlungen, die kochenden Sprudelquellen des Geyser und den Hekla mit den benachbarten vereisten Vulcanen auf flüchtigen Pferdchen zu besuchen.
Aber Reykjavik liegt im Südwesten der Insel, und wenn man den Mückensee mit seiner Umgebung und die nördlichen Handelsstädte (man nennt sie Städte!) Akureyri und Husavik besuchen will, gilt es ernstere Vorbereitungen. Vielleicht kann man ein Dampfschiff benutzen, denn eines geht, so viel wir wissen, alljährlich um die ganze Insel herum, alle Handelsstätten besuchend, aber es ist eine lange Fahrt, ein beständiges Eintauchen in tiefeingeschnittene Meerbusen, von hohen Felswänden und Lavaströmen eingeschlossen, zuweilen selbst ein Durchwinden durch Treibeis an der nordwestlichsten, Grönland zugewandten Spitze der Insel, oder ein mühsames Kämpfen gegen rasende Winde und sturmgepeitschte Wogen in dichten Nebeln.
Der Landweg bietet andere Freuden. Heute noch, wo ich ruhig hinter meinem Schreibtische sitze, kommt mir manchmal bei dem Rauschen der Arve vor meinem Fenster plötzlich die Erinnerung an unseren fröhlichen Ritt durch Wüsten und Moore, durch reißende Ströme und murmelnde Bäche, durch Nebel, Regen und Schneegestöber, durch Sonnengluth und Mückenschwärme, über endlose Ebenen, auf denen der Wind den Dampf der heißen Quellen vor sich hertrieb, als wären es Eisenbahnzüge, und über fürchterliche Schlackenströme, deren scharfe Splitter unter dem Hufe unserer braven Rößlein klangen, als seien es Glocken, die sich loslösten aus dem Grunde. Heute noch sehe ich uns, civilisirte Nomaden, absitzen nach langem und scharfem Ritte in einem Grasplatze, am Ufer eines Bächleins, unser Zelt aufschlagen, einen Feuerplatz improvisiren mit einigen Lavaplatten und Rasenstücken und bis in die Nacht hinein plaudern an dem Feuer unseres Bivouacs, die frisch gefangene Forelle und das auf dem Wege geschossene Schneehuhn mit heißem Grog hinabspülend – denn Grog, sagte einer meiner Freunde, Grog und Talg sind zwei gute Dinge auf Reisen!
Das ist die Poesie einer isländischen Ueberlandreise bei schönem Wetter. Wenn’s aber Tage lang regnet und hagelt, der Nebel so dicht ist, daß man kaum eine Hand vor den Augen sieht, oder rasende Wirbelwinde schwere Wolken um die dunklen Gipfel peitschen, das Zelt umreißen und die Pferde toll machen – und wenn das Tage lang dauert und man sich obenein auf ödem Lavastrome befindet, zu dessen Durchkreuzung ein scharfer Ritt, achtzehn Stunden im Sattel, bei günstigem Wetter gehört, wenn nirgends auf der unabsehbaren, von Schlacken und Spitzen starrenden Fläche auch nur eine Bodenfalte zum Schutz, nur ein Grashälmchen für das hungrige Roß, nur ein Wasserfädchen für den durstigen Reiter sich bietet – dann kann man die Schreckens-Poesie der isländischen Ueberlandreisen wohl übersatt bekommen, zumal wenn man daran denkt, daß es Juli oder August ist und die lieben Angehörigen zu Hause sagen: „Jetzt mag der Karl auch schön schwitzen auf seiner verwünschten Insel!“
[45][46] Der Landweg von Reykjavik zu dem Mückensee ist in der That ein schauerlicher, wo man „die Schrecken der vulcanischen Einöde in ihrer ganzen Wucht auf sich wirken lassen kann.“ (Man verzeihe mir diese Phrase, ich hörte ihr Urbild neulich von einem enthusiastischen Fußwanderer, Turnsetzling und Bewunderer des alten Jahn, der mir sagte, er sei an irgend einem Schweizer See zu Fuße hergegangen. „Warum fuhren Sie nicht lieber mit dem Dampfschiffe?“ fragte ich, „da hätten Sie beide Ufer gesehen.“ – „Daran habe ich in der That nicht gedacht,“ antwortete er mir und sann eine Weile nach, hierauf aber, den Kopf leise zurückwerfend: „wenn ich längs des Ufers gehe, kann ich die Schrecken der Felsen in ihrer ganzen Wucht auf mich wirken lassen!“ – „Der Himmel lasse Ihnen das Sturzbad wohl bekommen!“ antwortete ich und zeichnete, nach des seligen Mark Ausdruck, die Phrase mit diamantenem Griffel auf die Stahltafeln meines Gedächtnisses.)
Aber zurück zu unserem Mückensee. Anfangs wohl reitet man von Reykjavik aus durch angebautes Land, wenn man überhaupt eine Gegend so nennen kann, wo je in Entfernung von mehreren Stunden ein grüner Grasplatz mit einer Erdcasematte, von den Isländern Haus geheißen, sich findet, aber nach einem Tagesritte hat man auch das letzte Gehöfte erreicht. Und nun gilt es sich versehen mit Heu und Brennmaterial, mit Allem, was der Mensch während zwei oder drei langen Tagen brauchen kann, denn der letzte Hof, den man erreicht, ist schon für einen Menschen mit einer gewöhnlichen Nase und übrigen gesunden Sinnen geradezu unerträglich. Nun geht es über die Wüsten, von Geysir aus über den Sprengisandur, von Reykjavik über die Holtavördurheidi, und wer ganz ungerupft von Wind, Sturm und Hagel, ohne Verlust von Pferden und Gepäck in einem langen, doppelten Tagesritt sie durchkreuzen kann, darf von Glück erzählen! Meist ruht man in Akureyri, am Eismeere, einige Tage aus von den Strapazen oder geht auch von Lundarbrekka, einem Hauptkirchenort tiefer im Lande, gleich in östlicher Richtung an den Mückensee.
„Nie,“ sagen Preyer und Zirkel in ihrer trefflichen Reise durch Island, „nie hat die geographische Bezeichnung irgend einer Oertlichkeit besser das Wesen und die Eigenthümlichkeit derselben wiedergegeben als der Name Myvatn, Mückensee. In Grimstadir (einem Hofe am südlichen Ufer) mußte nothwendig angehalten werden, denn unsere Pferde waren fast wahnsinnig durch die Mücken; man kann sich in einem Kubikfuß Luft nicht mehr lebende Wesen denken, als hier sind; ihre Schwärme sind so dicht, daß man oft seinen nebenber reitenden Reisegefährten nicht zu erblicken vermag, daß man die Augen nicht öffnen, nicht athmen kann; kurz es ist eine der entsetzlichsten Plagen, welche nur mit der ägyptischen der Heuscknecken zu vergleichen ist. Wir suchten uns durch Schleier und starkes Tabakrauchen in Etwas davor zu schützen, doch das hilft sehr wenig. Dazu brannte die Sonne glühend auf unsere Häupter, der Sandstaub wirbelte um uns her, so daß es keiner sehr lebhaften Einbildungskraft bedurfte, um sich aus Island in die Wüste Sahara versetzt zu wähnen.“
Der Mückensee war früher bedeutend größer. Aber zwischen den Jahren 1724–30 hatten zwei im Nordosten gelegene Vulcane, Leirhnukur und Krafla, furchtbare Ausbrüche, welche ungeheure Lavaströme unter beständigem Erdbeben und Aschenregen ergossen. Die kohlschwarze, blasige Lava erreichte glühend den See, ergoß sich in denselben, kochte und trocknete das Wasser aus, tödtete alles Lebende umher und erst nach acht Monaten floß wieder Wasser in den See und wagten Menschen sich in die Nähe. Der Boden des Sees, die Ufer desselben bestehen aus riesigen Lavablöcken und Schollen, die in furchtbarer Unordnung aufgethürmt, übereinandergeschoben und zerklüftet sind; das Bett des Sees selbst ist so sehr ausgefüllt, daß es nirgends über dreißig Fuß tief ist; aus den mit fast dunkelschwarzem Wasser erfüllten Spalten kochen noch heiße Quellen hervor, eine Unzahl schwarze Inselklippen erhebt sich über den Spiegel, meist nackt und kahl, nur hier und da von Gras und Engelwurz bedeckt. Das Wasser des Sees ist lauwarm und friert nie; herrliche Forellen bevölkern es, prächtige Fische mit dunkelschwarzem Rücken, brennenden Seitenflecken, rothgelbem Bauche und orangefarbigem Fleische, die getrocknet und geräuchert nach allen Theilen Islands, selbst nach Kopenhagen als Leckerbissen versandt werden.
Die Zerstörung der Ufer war fürchterlich. Die Gehöfte, die dort standen, wurden unter Asche und glühender Lava begraben, Menschen und Vieh (dem Isländer vielleicht noch empfindlicher) gingen zu Grunde; erst nach Jahren wagten sich die Grundbesitzer wieder in der Nähe anzusiedeln, und ihre Ruhe wurde bis in die Neuzeit nicht gestört. Als sie aber nach den Schreckensscenen wieder zurückkehrten, fanden sie – fast ist es ein Wunder zu nennen! – das alte Kirchlein von Reykjahlid unzerstört. Es stand mitten auf einem etwas erhöhten Rasenplatze, von einer trockenen Erdmauer umgeben, in der Nähe des gleichnamigen Gehöftes. Letzteres wurde von Grund aus zerstört, aber an der Erhöhung und der Erdmauer theilte sich der feurige Strom; er schob seine Schollen und Schlacken auf die Mauer hinauf, erhöhte sie dadurch selbst haushoch, vereinigte sich unterhalb des Rasenplatzes und stürzte weiter hinab in den See. So steht denn nun das Kirchlein heute so, wie es den Lesern hier vorgeführt wird, mitten in der aus zackigen Lavaschollen aufgethürmten Ringmauer, die sich im Kreise herumzieht und die es nicht überschauen kann, denn an vielen Stellen erreicht diese Mauer die Höhe des Daches, ein sprechender Zeuge für die ewige Macht der Naturgesetze und durchaus kein Wunder! denn die Schwere war es, welche den andringenden Lavastrom zwang, sich vor der rundlichen Erhöhung und der breiten Erdmauer zu theilen und seitlich abzufließen, wie ein langsamer Wasserstrom, der um eine Insel sich herumzieht.
Des auf so überraschende Weise verschonten Kirchleins wegen wird aber ein Alterthumsforscher ebensowenig den Mückensee aufsuchen, wie ein Feinschmecker wegen der Forellen. Auch die Mücken werden keinen Touristen anlocken. Aber er birgt andere Naturwunder. Auf dem See selbst treiben unzählige Wasservögel ihr Spiel. Sie nisten an den Ufern, auf den Klippen, auf den Inseln und brüten so viele von ihren Jungen aus, wie die eiersuchenden Anwohner ihnen lassen, und im Winter selbst geben sich auf den stets offen bleibenden Gewässern die Vögel des höchsten Nordens Stelldichein. Tauchvögel aller Art, von dem kleinen Steißfuße der Polargegenden bis zu dem gewaltigen Eistaucher, der dem Schwane an Größe kaum nachsteht; Dutzende von Mövenarten, von der niedlichen Seeschwalbe, die sich heldenhaft um ihre Jungen wehrt, bis zur grimmigen Raubmöve, die selbst der gansgroßen Heringsmöve ihre Beute abjagt, sie im Fluge beim Fallen auffängt und verzehrt; Schwärme der seltensten Entenarten und Sägetaucher bedecken in unsäglichen Mengen den See, während Schneehühner, Regenpfeifer, Brachvögel an den Ufern wimmeln. Jede Art hält sich in Schwärmen für sich, und man kann Tage lang im Boote auf dem Mückensee umherkreuzen und wird stets wieder neue Gäste, neue Nester und bisher ungesehene Vogelarten finden.
Was der See selbst für den Vogelkenner, das ist seine Umgebung für den Geologen. In nicht großer Entfernung ist der größte Strom von vulcanischem Glas, sogenanntem Obsidian, den die Isländer treffender Weise wegen seiner glänzenden schwarzen Farbe Rabenstein (Hrafntinna) nennen. Centnerschwere Stücke kann man dort ohne Mühe sehen; sie fortzuschaffen, ist eine andere Aufgabe. Nur durch ein enges Thal von dieser Glaslava geschieden, breitet sich der vulcanische Rücken der Krafla aus, mit vielen seitlichen Kratern und einem wunderschönen, kreisrunden, grünen See, einem ehemaligen Krater, der noch im Jahre 1814 unter donnerndem Gebrülle eine dampfende Schlammsäule emporwarf, so furchtbar, daß die doch an solche Erscheinungen gewöhnten Isländer den Ort die „Hölle“ (Viti) nannten. Heute vergleichen die Reisenden den mit klarem Wasser gefüllten Schlund, der von senkrechten, wohl achtzig Fuß hohen Abstürzen umgeben ist, dem See von Nemi bei Rom, so friedlich liegt er da!
Näher dem See aber, am Fuße des zweihörnigen, durch eine tiefe Spalte zerrissenen Leirhnukur, kocht die vulcanische Hitze noch ungebrochen. Heißer Dampf bricht überall hervor; der Boden ist in einen zähen Thonschlamm verwandelt, den eine trügerische Kruste deckt. Sie bricht leicht ein, der Unvorsichtige sinkt mit den Füßen wenigstens in den kochend heißen, weichen Untergrund. Mitten auf diesem Boden erheben sich mehrere von wulstigen Rändern umgebene Kessel, die nach Preyer und Zirkel etwa fünfzehn Fuß im Durchmesser haben. „Die Wände,“ sagen die Reisenden, „sind fester Thon, der Kessel ist mit einem widrigen, graublauen bis blauschwarzen, flüssigen Schlamme bis zehn Fuß unter die Oberfläche angefüllt. Durch diese Schlammessen entweicht der Dampf mit furchtbarer[WS 1] Gewalt; die Flüssigkeit brodelt in dem Kessel wie im heftigsten Sieden begriffen; an den Seitenwänden des Kessels sind es meist kleine Blasen, welche zu einem Fuß Höhe anschwellen und dann im Zerplatzen den Schlamm nach allen Richtungen hinspritzen; [47] in der Mitte aber wird die ganze Schlammflüssigkeit durch den Dampf, welcher sich einen Ausgang sucht, oft bis zu fünfzehn Fuß Höhe gehoben und wie ein Springbrunnen steigt unter donnerartigem Getöse eine ganze Garbe davon in die Luft, um in langen Strahlen und faustdicken Tropfen wieder in das Becken zurückzufallen und, wie in der heftigsten Brandung starke Wellen schlagend, an den Wänden des Kessels emporzuzischen. Nach jeder solchen Schlammexplosion, welche in Zeiträumen von drei bis vier Secunden einander folgen, während an den Rändern des Kessels die Masse in fortwährendem Brodeln begriffen ist, wird eine große Menge Dampf ausgehaucht; die einzelnen Ausbrüche haben nicht gleiche Stärke, bald bleiben sie niedriger, bald brechen sie mit verdoppelter Wuth und lauterem Gebrüll hervor … Vergebliches Bemühen würde es sein, den Eindruck dieses feierlich ergreifenden Schauspiels zu schildern. Die ganze Erscheinung ist so merkwürdig, so großartig und eigenthümlich, daß wir staunend eine Zeit lang stumm dastanden vor diesem colossalen Naturspiel, das Tag und Nacht ununterbrochen fortdauert.“
Wer, wie meine Reisegefährten von Berna’s Nordfahrt und ich selbst, Anfang September erst in Island landet, darf es nicht wagen, zum Mückensee aufzubrechen. Die Rückkehr vor dem Winter würde ihm wahrscheinlich abgeschnitten. Gönnte mir aber das Glück, ein zweites Mal das ferne Thule besuchen zu können, so würde gewiß Reykjahlid am Mückensee mein erstes Ziel sein, wenn auch der für habsüchtig verschrieene Besitzer des Gehöftes seine Preise noch erhöhen sollte.
Blätter und Blüthen.
Die deutsche Schillerstiftung in Weimar. Die deutsche Schillerstiftung hat vor kurzer Zeit in Weimar ihre Generalversammlung gehalten und dort nicht allein gerade in den Hauptparagraphen ihre Satzungen oder Statuten vollständig geändert, sondern das Geänderte auch gleich zum Beschluß erhoben. Es sind darüber in der Presse die verschiedensten Stimmen laut geworden. Die in der Majorität gebliebenen Mitglieder jener Generalversammlung, die meistens über eigene Organe verfügten, haben die bisherige Verwaltung außerordentlich gelobt und die gefassten Beschlüsse als segensreich für die Stiftung hingestellt – von Anderen ist dagegen das Geschriebene auf das Bitterste angegriffen worden. Gestatten Sie einem Manne, der kein Mitglied der Zweigvereine ist, aber den wärmsten Antheil an der Sache selber nimmt, die Verhältnisse auch ziemlich genau kennt, ein Wort darüber, das ohne Gehässigkeit den gegenwärtigen, sehr zu beklagenden Stand dieser schönen Stiftung besprechen soll.
Es ist eine bekannte Thatsache, daß die erste Anregung zu der Schillerstiftung von Dresden kam und daß die Stiftung gegründet wurde, um für hülfsbedürftige, verdienstvolle Schriftsteller oder ihre Hinterlassenen einen Fond zu bilden. An vielen Orten entstanden Zweigvereine. Viele Schriftsteller – ich selber unter ihnen – hielten Vorlesungen zum Besten der Schillerstiftung, aber immer in diesem Sinn, denn Keiner von uns hatte damals noch eine Ahnung, daß je ein so bedeutendes Capital zusammenkommen könne. Der verstorbene Major Serre in Dresden that endlich für die Stiftung den Glückswurf, indem er die Schillerlotterie in’s Leben rief – aber auch seine Loose wurden dem Publicum nur zum Besten hülfsbedürftiger Schriftsteller und ihrer Hinterlassenen angeboten, und die deutsche Nation betheiligte sich, von diesem edlen und schönen Zweck angeregt, auf das freigebigste bei dem Kauf der Loose.
Der Erfolg war ein solcher, daß wir fast sagen können, wir sind wirklich im Stande, der größten Noth bedürftiger Talente abzuhelfen, und somit war der schöne Zweck vollständig erreicht. Da durchlief im Anfang vorigen Jahres das Gerücht die Presse, daß der Verwaltungsrath der Schillerstiftung gegen den Sinn und den nicht mißzuverstehenden Wortlaut der Satzungen sogenannte Ehrengaben an bemittelte Schriftsteller gegeben habe, während wirklich bedürftige und sogar solche, die sich um die Nationalliteratur verdient gemacht, leer ausgingen, ja abgewiesen wurden. Ich nenne hier Töpfer in Hamburg. Ich selber bewarb mich um eine Unterstützung für den humoristischen Schriftsteller und Maler Carl Reinhardt in Dresden, der, von Krankheit gelähmt, in die höchste Noth gerathen war – ich befürwortete dieselbe auf das Wärmste, wurde aber ebenfalls abgewiesen, wenn auch außerordentlich höflich.
Jetzt trat die Generalversammlung in Weimar zusammen, und man erwartete, daß der Verwaltungsrath eine scharfe Rüge über sein willkürliches Verfahren erhalten würde. Der Verwaltungsrath selber hatte sich auch in der That darauf gefaßt gemacht. Aber nichts dem Aehnliches geschah. Der Abgeordnete für Hamburg sah sich sogar im Stande, dem Verwaltungsrath ein Lob zu ertheilen, und der Vorsitzende, Dr. Franz Dingelstedt, ein tüchtiger und gewandter Redner, mit dem Nimbus eines kleinen, geselligen Hofes hinter sich, leitete mit einer solchen Meisterschaft die Verhandlungen, daß die Mitglieder der Generalversammlung (wenn auch mit geringer Majorität und einige Abgeordnete sogar – wie sich später herausstellte – gegen die ihnen gewordenen Instructionen ihrer Zweigstiftungen) für Alles stimmten, was der Verwaltungsrath in seinen kühnsten Hoffnungen für möglich gehalten hatte:
- 1) Oeffentlichkeit – wofür ihm die deutsche Nation nicht allein dankbar sein kann, sondern die sie auch berechtigt war zu fordern.
- 2) Verbleiben des Vororts in Weimar (gegen die Satzungen),
- 3) aber die Aenderung des Paragraphen, der eigentlich bis jetzt die tragende Stütze der ganzen Schillerstiftung gewesen und nun durch geschickte Einschiebung des kleinen, unansehnlichen Wortes „insbesondere“ völlig umgestoßen wurde, so daß der Verwaltungsrath dadurch die gewünschte Macht in die Hände bekam, mit den Geldern der Nationalstiftung zu thun, was er für passend hielt.
Der Paragraph der Satzungen lautete früher wie die nachstehende gewöhnlich gedruckte Schrift – das großgedruckte Wort „insbesondere“ ist jetzt eingefügt.
- „Die Schillerstiftung hat den Zweck, deutsche Schriftsteller und Schriftstellerinnen, welche für die Nationalliteratur (mit Ausschluß der strengen Fachwissenschaften) verdienstlich gewirkt, vorzugsweise solche, die sich dichterischer Formen bedient haben, dadurch zu ehren, daß sie ihnen oder ihren nächstangehörigen Hinterlassenen (insbesondere) in Fällen schwerer Lebenssorge Hülfe und Beistand darbietet.“
Herr Advocat Judeich in Dresden hat in Folge davon im dortigen literarischen Vereine auf das Ungesetzliche dieser Aenderung und auf die juristische Unverletzlichleit des Zweckes einer Stiftung hingedeutet – und er hat Recht. Die Gelder sind von der deutschen Nation zur Unterstützung hülfsbedürftiger Schriftsteller zusammengeschossen, wie dürfen wir Schriftsteller jetzt, nun wir das Geld einmal haben, sagen: „Ei, wir machen damit, was wir eben wollen!“
Aber die Sache hat auch noch eine andere Seite. Von dem Augenblicke an, wo die Verwaltung der Schillerstiftung die Gelder derselben nicht mehr ausschließlich, sondern nur insbesondere zu mildthätigen Zwecken verwendet, ist jeder weitere Zuschuß, also jede Vermehrung des vorhandenen Capitals, vollständig abgeschnitten, denn welche Stadt in Deutschland wäre jetzt noch im Stande, einen neuen Zweigverein zu gründen – welcher Schriftsteller hätte noch die Stirn, eine Vorlesung zum Besten der Schillerstiftung zu halten, wo Jeder auftreten könnte und sagen: „O, Du willst wohl auch für Dich selber eine Ehrengabe zusammenbetteln?“ Ist das Vermögen der Schillerstiftung so gewachsen, daß jede Noth verdienstlicher deutscher Schriftsteller gehoben oder gemildert werden kann (was aber nach den vorliegenden Thatsachen noch nicht der Fall zu sein scheint, während der Verwaltungsrath bis jetzt, trotz des dahin zielenden Antrags einer Zweigstiftung, die Liste der um Unterstützung eingekommenen und abgewiesenen Schriftsteller ebensowenig vorgelegt hat), so wäre ich selber der Letzte, der Schillerstiftung das Recht abzusprechen, einzelne Gaben als eine Auszeichnung auch solchen Männern zu geben, die sich, dem Wortlaut der Satzungen nach, um die Nationalliteratur verdient gemacht haben. Nie aber dürfte eine solche Auszeichnung allein von dem beschränkten Kreise des Verwaltungsrathes ausgehen, sondern es müßte einer Generalversammlung überlassen werden, darüber zu bestimmen. Sollen aber, da keine neuen Zweigstiftungen mehr entstehen können, wenn das Vermögen der Stiftung zu anderen als mildthätigen Zwecken verwandt wird, die wenigen jetzt bestehenden Zweigstiftungen die permanenten und einzigen Gesetzgeber der Schillerstiftung bleiben?
Mit all diesen Vorgängen schon vor der Sitzung der Generalversammlung bekannt, ging ich selber nach Weimar. Ich wußte, daß ich, als keiner Zweigstiftung angehörend, weder eine Stimme in der Versammlung haben, noch einen Antrag stellen konnte.
Mit Dr. Franz Dingelstedt hatte ich vorher persönlich darüber gesprochen und er mir selber gerathen, das, was ich vorschlagen wolle, schriftlich einzureichen, er werde dann schon dafür sorgen, daß es zur Kenntniß der Versammlung komme. Ich that das. Meine kurzgedrängte Schrift, worin ich das obige Bedenken hervorhob, außerdem die Gründung eines Reservefonds empfahl und dagegen protestirte, daß diese Generalversammlung die Satzungen, ja den Zweck der ganzen Stiftung umstoßen und dann auch ohne Weiteres in Ausführung bringen könnte, wurde jedoch nicht allein nicht vorgelesen, sondern Dr. Dingelstedt beseitigte das Schriftstück selber in der Versammlung mit den Worten:
„Auf Gerstäcker’s Vorschläge ist in keiner Weise einzugehen, weil sie das ganze Gebäude der Stiftung umwerfen.“
Das Papier kam zu den Acten (Papierkorb?). Der Brief, den ich danach officiell von der Schillerstiftung bekam, lautet:
„Ihre unterm 16. dieses Monats an die erste ordentliche Generalversammlung der Schillerstiftung gerichtete Zuschrift ist der hohen Versammlung mitgetheilt worden.
In Erwägung jedoch, daß die von Ihnen angeregten Punkte – Neubestimmungen der Satzungen – ohnehin auf der Tagesordnung standen und daß Anträge, die auf eine Erörterung und Beschlußfassung Anspruch machen, laut Geschäftsordnung nur von Zweigstiftungen eingebracht werden können, ging die hohe Versammlung zur Tagesordnung über.
Hierbei bemerke ich, daß die wichtigste Aenderung der Satzungen, jene die den ganzen Zweck der Stiftung umstößt, nicht erst an die Zweigstiftungen gegangen, sondern gleich in der Generalversammlung vorgeschlagen und zum Beschlusse erhoben ist. Eine andere Aenderung der Satzungen wurde in dieser Generalversammlung beantragt und durchgeführt – das Verbleiben der Schillerstiftung in dem Vorort Weimar. Wir dürfen aber nicht glauben, daß es sich hier nur um eine Verlängerung der Zeit handelt, welche die Stiftung an Weimar fesseln soll. Das thätigste Mitglied für dieses Resultat, der Abgeordnete für Hamburg, sagt darüber in den Hamb. Nachrichten:
„– Aber die Wegräumung der Verbindlichkeit zur periodischen Wanderschaft [48] war eine nothwendige, um den Vorort dauernd bei Weimar zu erhalten, das heißt in der Stadt, die außer den frischesten Spuren unserer Classiker und Schiller’s selbst zugleich die günstigsten politischen und geographischen Eigenschafte für den Mittelpunkt der Stiftung darbietet.“
Das ist wenigstens deutlich. Ich selber halte den Platz, wo sich der Vorort der Schillerstiftung befindet, für ziemlich gleichgültig – aber nicht gleichgültig ist die Leichtigkeit, mit welcher unbequeme Paragraphen der Satzungen beseitigt werden können, und mit denselben ist bereits schon so umgesprungen, daß von ihrer ersten Fassung fast Nichts geblieben. Während es schon ein Mißgriff war, als Bericht erstattenden Secretair einer Stiftung, die über allen Parteien stehen soll, einen Schriftsteller zu ernennen, der selbst als der Führer einer unserer größten literarischen Coterien bekannt ist, wurden auch die Satzungen zum ersten Mal da gebrochen, wo derselbe gegen den direct ausgesprochenen Sinn derselben lebenslänglich in seiner Stellung bestätigt ward.
Die Satzungen oder Statuen wurden zum zweiten Mal gebrochen, als der Verwaltungsrath unter dem Wortlaut: „als nationale Anerkennung“ heimliche sogenannte Ehrengaben an einzelne der Hülfe nicht bedürftige Schriftsteller von den ihm anvertrauten Geldern vertheilte. Auf der neulichen Generalversammlung gab man den alten Satzungen den Todesstoß, indem man sogar den ganzen eigentlichen Zweck der Stiftung über den Haufen warf. Das einzige Gute, was dort geschaffen wurde, ist die Oeffentlichkeit, und nur unbegreiflich, daß sie nicht gleich bei Gründung der Stiftung ihre Geltung erlangte.
Wenn die Schillerstiftung das bleibt, was sie sein soll, so ist jede Gabe, die sie verteilt, eine Ehrengabe für den, der sie empfängt, denn er empfängt sie von der Nation in Anerkennung seiner Verdienste. Daß er unverschuldet darben mußte, kann ihn nicht schänden. Schiller selber hat gedarbt und Unterstützung von einem Fürsten angenommen. Wer von uns würde sich schämen, wenn er wirklich in Noth geräth, eine Unterstützung von dem deutschen Volke anzunehmen? Ich wahrlich nicht, und wenn ich heute durch Krankheit oder Unglück arbeitsunfähig gemacht würde und meine Familie nicht mehr ernähren könnte, wäre ich stolz darauf von einem Fond unterstützt zu werden, den das deutsche Volk zu diesem Zweck gegründet hat.
Die Schillerstiftung in Weimar ist jetzt in die unangenehme Lage gerathen, daß sie ihre Beschlüsse nicht zur Ausführung bringen kann, da eine Zweigstiftung die sächsische Regierung ersucht hat, ihre Einwilligung nicht zu einer so willkürlichen und plötzlichen Aenderung der Statuten oder Satzungen zu geben. Es wäre eine sehr traurige Sache, wenn irgend eine Regierung überhaupt das Recht hätte, einen Einspruch in die innere Verwaltung einer wohlthätigen Stiftung zu thun, und ich weiß auch nicht, ob die sächsische Regierung je den Versuch dazu gemacht hätte, wenn es sich nicht hier in der That um einen Mißbrauch anvertrauter Gelder handelte.
Das Capital der Schillerstiftung gehört nicht dem Verwaltungsrath, um darüber zu verfügen, wie er es für nützlich hält, und es nur insbesondere den hülfsbedürftigen Schriftstellern zuzuwenden, sondern es ist ganz ausschließlich von den Gebern und der Nation nur für diese bestimmt und muß ihnen erhalten und gewahrt bleiben. Nur erst wenn der Nachweis geführt ist, daß alle bedürftigen Schriftsteller und Schriftstellerinnen nach Kräften bedacht sind – und der Beweis ist noch nicht geführt – können vielleicht die überflüssigen Gelder zu Ehrengaben verwandt werde. Aber selbst in dem Fall ist es noch vorher gerathen und nöthig, einen Reservefond zu gründen.
Die verschiedenen Punkte sind nun gründlich in den verschiedenen Zweigstiftungen durchberathen; möge jetzt einen neu Generalversammlung zusammentreten und einen endgültigen Beschluß fassen. Keine aber wird wagen dürfen den ganzen Zweck der Stiftung: „die Unterstützung hülfsbedürftiger Schriftsteller“, umzustoßen oder zu einer Nebensache herabzudrücken. Sie dürfen es nicht. Gelüstet es Einzelnen nach Ehrengaben, ei so laßt sie zusammentreten und einen neuen Verein gründen und Sammlungen dafür anstellen. Möglich auch, daß sie dann jenes komische Phantasiegebild einer Akademie erreichen, das schon ganz ernsthaft innerhalb der Schillerstiftung gespukt hat und jetzt nur bei Seite geschoben ist, weil man doch zu vielen Anstoß zu erregen fürchtete. Aber dieser Fond muß dem erhalten bleiben, dem er bestimmt war.
„Die Schillerstiftung hat den Zweck deutsche Schriftsteller und Schriftstellerinnen, welche für die Nationalliteratur verdienstlich gewirkt haben, dadurch zu ehren, daß sie ihnen oder ihren nächstangehörigen Hinterlassenen in Fällen schwerer Lebenssorge Hülfe und Beistand darbietet.“
Jede Wortklauberei, die diesen Sinn umstoßen will, muß von der deutschen Nation verdammt werden. Das Capital gehört hülfsbedürftigen deutschen Schriftsteller und ihren nächstangehörigen Hinterlassenen, und jeder Eingriff in deren Rechte ist – um das mildeste Wort zu gebrauchen – eine Ungerechtigkeit, die nicht geduldet werden darf.
Soeben kommt mir das Circular zu, welches der Verwaltungsrath in Weimar erlassen hat und worin er einfach droht, nicht allein die neuen Satzungen aufrecht zu erhalten, sondern auch seinen Verpflichtung – d.h. Auszahlen der Pensionsgelder – vollständig nachzukommen, also keinen Finger breit zu weichen, „und wenn er das Capital der Centralcasse angreifen, oder ganz und gar aufzehren sollte.“
Für das „Elend, welches demnach über die Pflegebefohlenen der Stiftung unfehlbar hereinbrechen würde,“ wälzt der Verwaltungsrath feierlich die Verantwortung von sich ab.
Aber das deutsche Volk wird all die Verantwortung eines solchen Elends zurück auf die Schultern des Verwaltungsrathes wälzen, wenn nicht bald eine neue Generalversammlung dieser bodenlosen Willkür ein Ende macht.
Disciplin und Pflichttreue. Das britische Kriegsschiff Orlando
kreuzte in der Bucht von Tunis, die bei aller Pracht mittäglicher Natur
ringsum als der Heerd tückischer Stürme und Windstöße berüchtigt und gefürchtet
ist. Heut aber, am 3. November (vorigen Jahres), war der Morgen
klar und schön, die lieblichen Küstenhügel mit den weißen Häusern
zwischen dem Grün erglänzten im vollen Zauber der südlichen Sonne, die
See lag spiegelglatt und tiefblau, – Alles lockte zu einem Ausflug an's
Land. Auf einen solchen hatte sich das lustige Völkchen von Seekadetten,
die auf dem Orlando den Dienst lernten, schon lange gefreut, und so machten
sich denn ihrer eine Anzahl zu einer kleinen Lust- und Jagdpartie bereit.
Der Urlaub ward vom Commandeur gern ertheilt und der erste
Schiffslieutenant, ein strenger Mann des Dienstes, beauftragt, die Expedition
zu leiten und die übermüthige junge Schaar in Zaum und Zügel
zu halten. Unter seinen Befehlen stach das Boot um acht Uhr früh nach
der Küste ab.
Ohne alles Abenteuer, glücklich und wohlbehalten kam man an’s Land, ließ sich unter einem Dattelpalmendickicht nieder, um von den mitgebrachten heimischen Leckerbissen ein fröhliches Frühstück abzuhalten, schoß dann ein paar arme Kaninchen und einige Seeraben und schickte sich halb drei Uhr Nachmittags zur Rückkehr nach dem Schiffe an.
Lustig tanzte das Boot über die sanften Wellen, lustig sangen die jungen Kehlen ein englisches Lieblingslied nach dem andern in die Bai hinaus, selbst der grimme Lieutenant thaute auf und theilte die Fröhlichkeit seiner Schutzbefohlenen, so gut ihm dies möglich wurde. Da erhob sich mit einem Male ein dumpfes Brausen in der Luft und jählings, ehe man sich noch besinnen konnte, was das hohle Getös bedeutete, kam er heran, der tollste Wirbelwind, den man sich denken kann, und im Nu war das Fahrzeug umgeworfen und seine Mannschaft über Bord gespült.
Merkwürdiger Weise konnten nur vier ihrer Mitglieder schwimmen, der Bootsmann, ein alter Matrose, ein Schiffsjunge und der jüngste von den Seecadetten, ein kleines Bürschchen von noch nicht siebzehn Jahren, Namens Kemble; allein es gelang doch Allen, sich fest an dem Rumpf ihres Bootes anzuhalten und so vor dem momentanen Untergange zu wahren. Minute um Minute verrann, der Sturm wuchs und wuchs, die Sturzwellen peitschten die Armen mit immer steigender Gewalt, das Schiffchen trieb immer weiter hinaus in die See, die Hände der Burschen wurden immer matter und konnten nur mit Aufgebot aller Kraft sich noch festklammern an den Wänden des Fahrzeugs. Der Bootsmann machte allerhand Rettungsvorschläge, deutete Dies und Jenes an, was man thun, was man wagen müßte, – umsonst, Niemand hörte auf ihn.
„So wollen wir wenigstens versuchen, das Boot in der gehörigen Direction zu erhalten,“ sagte der wettergebräunte Seemann. Man versuchte es, man stemmte sich mit höchster Anstrengung gegen das Boot, vergeblich; die Wogen rissen es bald hierhin, bald dorthin und überflutheten die mit dem Tode Ringenden immer von Neuem, so daß Niemand mehr wußte, wohin man Richtung halten sollte.
„Binden wir die Ruder zusammen,“ mahnte der Bootsmann weiter, „und wer schwimmen kann von uns, bugsire mit ihrer Hülfe die Anderen an's Land!“ Auch dazu konnte man sich nicht entschließen, auch dazu gab der Lieutenant keinen Befehl.
„So gehe ich allein,“ stieß der Bootsmann ärgerlich heraus und schwamm ab.
Der Lieutenant rief ihn zurück und befahl ihm, seinen Posten beim Boote nicht zu verlassen. „Wozu? Mein Bleiben kann Niemandem helfen. Herr Lieutenant, weiß Gott, es fällt mir schwer, meinem Vorgesetzten ungehorsam zu sein, zum ersten Male in meinem Leben, allein ich hoffe, die Umstände werden meine Insubordination entschuldigen.“
Dann wandte er sich an den kleinen Seecadetten, den kaum den Kinderjahren entwachsenen Kemble.
„Wollen Sie nicht mitkommen, Herr Kemble? Sie können ja schwimmen und sich retten. Und wenn’s alle wird mit Ihrer Kraft, dann bin ich noch da und werde Sie schon vollends auf’s Trockene bringen, kommen Sie, ’s ist keine Zeit zu verlieren.“
„Wir haben die Ordre, hier beim Boote zu bleiben,“ antwortete ernst der Jüngling, der, wie wir wissen, ein trefflicher Schwimmer war, „und jeder brave englische Seemann kommt unverbrüchlich den Befehlen seiner Oberen nach. Wir namentlich, die wir Officiere werden wollen, müssen mit gutem Beispiele vorangehen.“
„Wie sie wollen, Herr,“ erwiderte der Bootsmann kurz. „Nun, so folgt mir, Ihr Anderen, die Ihr schwimmen könnt; eilt, jetzt ist noch Rettung möglich."
Aber Keiner folgte, Alle blieben treu dem gegebenen Befehle, Alle, und doch war es für die Meisten die erste größere Seefahrt, die sie machten! War das nicht eine tapfere That, nicht auch ein Heldenthum, auszuharren im Angesicht des gewissen Unterganges, nur um die Pflicht, den Eid nicht zu verletzen? Und verdient nicht vor Allen der kleine Seecadett unsere Bewunderung, er, der noch nicht sechszehn Jahre alt, der noch ein Kind war und unverzagt den Andern mit seinem Beispiele voranging?
Der Bootsmann überließ sich dem Wasser. Es glückte ihm, die Küste zu erreichen, die Nacht aber, die er in den Wogen umhertrieb, muß furchtbar gewesen sein. Mit zerfetzten Kleidern, mit blutendem Gesicht und zerschundenen Händen ward er am andern Morgen, dem Wahnsinn nahe, am Ufer aufgefunden und nach dem Schiffe gebracht, wo er nach und nach die Kunde gab von der bejammernswerthen Katastrophe.
„So lange England noch pflichttreue Seemannen hat, wie es unsere Cameraden waren, so lange es noch Kembles giebt unter der britischen Jugend - so lange wird das Vaterland seine Nelsons haben, wenn der Augenblick kommt, wo es ihrer bedarf,“ schloß der Befehlshaber des Orlando den Trauergottesdienst, mit dem er auf dem Deck das Andenken der in den Wellen Begrabenen feierte, nachdem die üblichen Kanonensalven dröhnend über die wieder besänftigten Wogen gerollt waren zum Zeugniß des Unglücks und der Pflichttreue.
Anmerkungen (Wikisource)
- ↑ Vorlage: furchbarer