Die Gartenlaube (1865)/Heft 45

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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Keil
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Entstehungsdatum: 1865
Erscheinungsdatum: 1865
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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No. 45. 1865.
Die Gartenlaube.
Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.

Wöchentlich 11/2 bis 2 Bogen. Durch alle Buchhandlungen und Postämter vierteljährlich für 15 Ngr. zu beziehen.


Der Dorfcaplan.
Erzählung aus Oberbaiern nach einer wahren Begebenheit.
Von Herman Schmid.

Es ist lange her, wohl in die sechzig Jahre.

Die erste Frische eines thauigen Augustmorgens lag auf dem weiten Thale, in dessen Mitte der Innstrom aus den Tirolerbergen lustig blitzend heranbrauste; drüben am andern Ufer stieg aus dem buschigen Vorland das Wildkaiser-Gebirge mit seinen vielzerklüfteten, kahlen und wettergrauen Felsschrofen wie eine trotzige Grenzmauer empor, während herüben anmuthiges Bergland, abwechselnd mit grünen Matten, gelben Saatfeldern und dunklen Waldstreifen, sich immer höher und höher hinanzog, bis, dem Nachbar gegenüber beinahe ebenbürtig, der Wendelstein sein ruhiges Haupt so fest und klar in die wolkenlose sonnenschimmernde Morgenbläue hinauftrug, als wär’ es das eines Wächters, der mit dem ersten Strahle auf seinem Posten ist, das schöne Gelände zu überschauen, das sich ihm vertrauend an die Felsenbrust geschmiegt.

So früh es war, regte es sich doch schon allenthalben im Dorfe und in den Gesang der Schwarzamsel, die aus dem Laubdach eines Geheges von Apfelbäumen hervorpfiff, mischte sich der Klang fröhlicher Menschenstimmen; lachende oder singende Töne, die in den Kehlen wach zu werden schienen, wie in den Zweigen die Vögel. Die Thüren der Häuser öffneten sich schon; dort trat der Bauer heraus und blickte mit wohlgefälligem Lächeln und Nicken nach dem Prachtwetter, das sich zum Feste gemacht hatte und wohl auch auf ein paar Tage länger für den Kornschnitt auszudauern versprach; hier huschte eine Dirne im luftigen Morgenanzug nach dem Stalle, damit die Arbeit sicher gethan sei, wann das Zeichen der Feier ertöne, und daneben stürmte jubelnd ein Paar kräftiger Knaben zum rauschenden Röhrenbrunnen, um Kopf und Brust in der bergfrischen Quelle zu baden.

In der Mitte des Dorfs, wo die Pfarrkirche ihr verwittertes Gemäuer aus den Gräbern und Kreuzen des kleinen Friedhofs erhob, war es am lautesten und der Gesang von zwei Mädchenstimmen schwebte heiter und spielend durch das Gras und über die wenigen Blumen auf den ländlichen Hügeln; die Töne waren wie Schmetterlinge, welche ihren kurzen Erdentag vergaukelten, unbekümmert um Tod und Ewigkeit, unbekümmert um den Boden, dem die Blume entsprossen, mit der sie spielen.

Der Gesang kam von einem stattlichen, steingemauerten Gebäude her, das sich mit städtischbreiten und vornehmen Fenstern längs der Kirchhofwand hinzog und an das sich in einiger Entfernung der mächtige Getreidstadel mit seinem altersbraunen Gebälke, in rechtem Winkel wie zum Schutze vorspringend, anschloß.

Das breite Stadelthor mit der Dreschtenne stand weit offen und auf dem festgeschlagenen Lehmboden war eine Schnitzelbank zum Sitze der Sängerinnen bereitgestellt.

Die eine derselben saß auf der Bank; das Haupt leicht vorgeneigt, die Hände im Schooße gefaltet, sang sie mit lauter frisch tönender Stimme vor sich hin und ließ die andere gewähren, welche, mit tieferer Stimme und leiser in den Gesang einfallend, vollauf damit beschäftigt war, das reiche nußbraune Haar der Cameradin in gleiche Zöpfe abzutheilen, sie mit schmalen rothen Bandstreifen zu durchflechten und zuletzt obenauf ein stattliches Krönlein von Silberzindel mit schwankenden bunten Glassteinen zu befestigen.

Die Sitzende war jung und hübsch; ihr Anzug, wenn auch noch unvollendet, bestand aus dem rothen Rock mit den weißen bauschigen Aermeln und der durchscheinenden Florschürze, wie damals noch die Mädchen als Bräute und bei andern feierlichen Gelegenheiten, als Kränzeljungfern bei Hochzeiten oder als Prangerinnen am Frohnleichnamsfeste, zu tragen pflegten. Es war eine schlanke, frische Mädchengestalt mit wohlgeformtem, freundlichem Angesicht, an dem außer einem Paar besonders rosiger Lippen auf den ersten Blick nicht viel des Besonderen zu gewahren war; aber die Stimme klang weich und lieblich, und wenn die braunen Augen sich von dem Florband emporhoben, mit dem die Hände tändelten, so war es, als sei das gar nicht mehr das vorige Antlitz, es glänzte so eigen darin und so wunderbar, wie wenn einem Wandrer, der tagelang durch Bergesöden und finstere Tannenwaldung dahingeschritten, da er um eine Ecke biegt, plötzlich aus der Tiefe, von Buchenlaub eingerahmt, ein dunkler verschollener Bergsee entgegenglänzt.

Das ihr dienende Mädchen war älter und mochte wohl nie erlebt haben, daß viele Bewerber um ihrer Schönheit willen sich den Rang abgelaufen; aber der Ausdruck in ihren Zügen war gutmüthig und sie schien es nicht schwer zu tragen, daß des Lebens reichere Hälfte abgeblüht hinter ihr lag.

Die Mädchen sangen:

Zwei schneeweiße Täuberln
      Flieg’n über mei’ Haus
Und der Bue, der mir b’schaffen is,
      Bleibt mir nit aus!

Und den Bub’n, der mir b’schaffen is,
      Den kennet i’ gern
Und es wird’s do’ koa’ Blinder
      Koa Buckleter wer’n!

[706] Eben hatten die Mädchen den Jodler begonnen, der nie fehlend sich den Gesängen des Landvolks anschließt, als der Wechselgesang ihrer wohllautenden Stimmen durch eine dritte unterbrochen ward, welche auf diese Benennung keinerlei Anspruch machen durfte. Neben der Scheune hatte das letzte Fenster des steinernen Gebäudes sich geöffnet und ein ältliches städtisch gekleidetes Frauenzimmer lehnte sich heraus.

„Wollt Ihr wohl schweigen mit Eurem einfältigen Gesang!“ rief sie zankend. „Schickt sich das in aller Frühe? In der Nähe des Friedhofs und der Kirche?“

„Warum soll sich’s nit schicken, Fräulein Amelie?“ erwiderte die Jüngere und wandte den Kopf mit schelmischem Lachen nach der Zürnenden. „Die Todten im Freithof schlafen gar gut, die macht’s nit irr, wenn man ihnen eins vorsingt, das ihnen vielleicht einmal selber Freud’ gemacht hat, und wann’s was Unrechts wär’, neben der Kirch’ zu singen, thät’s unser lieber Herrgott gewiß nit leiden, daß sich die Grasmuck’ dort gerad’ mitten über’s Portal setzt und drauf los singt, als wenn die ganze Kirch’ wegen ihr da wär’ … Ist ja noch kein Gottesdienst in der Kirch’ …“

„Du bist eine Raisonnirerin, Fränz,“ entgegnete das Fräulein, „ich kenne Dich schon, und wenn Du nicht still bist, werde ich’s Seiner Hochwürden, dem Herrn Pfarrer, sagen! Hast Du nichts Gescheideres zu thun? Giebt’s keine Arbeit mehr im Haus? Schickt sich das für eine Bauerndirn’, daß sie sich putzt wie ein Pfau und stundenlang frisiren läßt?“

Ueber die Züge des Mädchens flog ein leichtes Roth, halb der Erregung, halb der Beschämung. „Die Arbeit ist längst geschehn,“ sagte sie dann, „ich bin schon vor Tag hinaus in den Anger und hab’ Grünfutter hereingeholt für die Kühe; was es sonst giebt, das will da die Kathrin’ für mich verrichten … und das bissel Putzen darf mir die Fräul’n nit übelnehmen, sie weiß ja, daß ich eine von den Kanzeljungfern sein muß, heut bei der Priminz …“

Das Fräulein warf das Fenster zu und rief noch einige Worte … „Jawohl,“ klang es, „möcht’ auch wissen, wie Du dazu kommst …“ mehr war nicht zu verstehen.

Das Mädchen erröthete noch tiefer, senkte den Blick unbeweglich in den Schooß und schwieg. Die Genossin dagegen fuhr desto emsiger in ihrem Geschäfte fort. „Laß’ Dich nit anfechten, Franzi,“ sagte sie dann, als ihr die Stille unbehaglich ward, „die Fräul’n red’t gar viel, wenn der Tag lang ist; sie müßt’ keine Pfarrerköchin sein, wenn sie nit zanken that’! Derentwegen wirst Du doch die Schönste sein von alle Jungfern … Das aber kann ich selber nit laugnen, Franzi, daß ich auch für mein Leben gern wissen möcht’, wie Du zu der Ehr’ kommen bist. Der Moosrainer Isidor … will ich sagen, der hochwürdig Herr Priminziant ist der reichste Bauernsohn im Dorf und zu den Kranzeljungfern werden sonst immer nur die reichsten und fürnehmsten genommen.“

„Ich weiß wohl, Kathrin,“ sagte Franzi, „ich bin nur eine arme Bauerndirn’, aber wie ich dazu ’kommen bin, das kann ich Dir schon sagen … Du weißt es halt nit, daß ich nit da im Dorf daheim bin; ich weiß selber nit recht, wo ich mei’ Heimath hab’ … ich bin als ein klein’s Kind zu München drinn’ vor eine Kirchenthür hingelegt worden, die Stadt hat mich haben müssen und hat mich auf’s Land ’geb’n in die Kost. Da hat mich die Moosrainerin g’sehn und weil sie kein Kind gehabt hat und der Isidor bald fortgesollt hat in die Studi, hats’ mich in’s Haus genommen und aufgezogen wie ihr eigenes Kind …“

„Was Du mir nit sagst!“ rief Kathrin und hielt vor Verwunderung im Haarflechten inne. „Wie bist aber nachher als Dirn’ in den Pfarrhof ’kommen? Da wär’ ich doch lieber auf dem Moosrainerhof. als bei dem städtischen Zankeisen … Verzeih’ mir’s Gott, wenn’s eine Sünd’ ist, aber die Fräulen ist einmal zu bös!“

„Ja, ja, sie ist wohl scharf und hitzig,“ erwiderte Franzi mit begütigendem Lächeln, „aber ein gutes Herz hat sie doch und wie sie mit ihrem Herrn Vetter hierher ’kommen ist auf die Pfarr und hat mich g’sehn, da hat s’ gleich ein besonderes Wohlgefallen an mir gehabt und hat nit geruht, bis die Moosrainerin Ja gesagt und mich ihr überlassen hat. Und so ist’s kommen; ich bin mit dem Isidor schier aufgewachsen wie ein Geschwister, und wie er jetzt ein geistlicher Herr worden ist, hat’s die Bäurin und der Bauer nit anders gethan, als daß ich als Kranzeljungfer dabei sein sollt … und der Isidor hat’s auch selber verlangt!“

„Um so größer ist die Ehr’,“ sagte Kathrin und nahm das Brautkränzel, um es in den nun völlig geflochtenen Haaren zu befestigen.

„Freilich wohl,“ erwiderte Franzi und lächelte still beglückt vor sich hin, „was mich aber am meisten dabei freut, ist, daß der Isidor noch an mich gedenkt hat. Er ist wohl alleweil gut mit mir gewesen und freundlich, es ist lang her, viele Jahr, daß ich ihn nimmer g’sehn hab’, er ist ja alleweil fortgewesen, ich kann mir schier gar nit einbilden, wie er jetzt aussehn muß … aber daß er das gute Herz noch hat, wie damals, das weiß ich wohl, sonst hätt’ er mich nit zur Kranzeljungfer verlangt …“

Kathrin nestelte an dem Krönlein herum; Franzi hielt einen Augenblick inne, dann aber lachte sie lustig und glockenhell auf, wie man wohl zu thun pflegt im Vergnügen über einen plötzlichen heitern Gedanken.

„Was lachst?“

„Mein’, es sind nur Dummheiten,“ sagte Franzi, etwas zögernd. „Wie Einem so was nur einfallen kann! Hab’ ihn jetzt eben leibhaftig vor mir gesehn, den rothbackigen Buben mit dem braunen Krauskopf, wie er mit seinem kleinen Wägerl, das er sich selber geschnitzt hat, auf dem Rasenplatz im Moosrainerhof herumfuhr und nicht nachgab, bis ich mich hineingesetzt hab’ und hab’ mich von ihm herumkutschiren lassen… Dabei hatt’ er ein Kränzel gemacht aus Haselblättern, die hatt’ er mit den Stielen aneinandergesteckt und setzt’ mir das Kränzel auf und sagte, so wollt’ er mich herumfahren, wenn ich erst einmal seine Bäurin sei …“

„Das ist freilich anders ’kommen,“ entgegnete Kathrin, „ein Kränzel hast wohl auch gekriegt von ihm, aber das rechte nit! Wer weiß, vielleicht wär’s gescheidter gewesen, er wär ein Bauer ’worden und hätt’ Dich geheirat’t frisch vom Fleck weg…“

„Aber, Kathrin!“ rief Franzi und wandte sich mit einer Geberde des Schreckens und einem Blick des Vorwurfs nach ihr um. „Wie kannst so was nur denken, geschweig’ sagen … das ist ja frevelhaft!“

„Was soll dabei Frevelhaftes sein?“ entgegnete die Andere trocken. „Seinem Vater, dem alten Moosrainer, wär’s gewiß nit zuwider g’wesen, wenn’s so ’gangen wär’ … ich hab’ davon läuten hören, daß es ihm schwer genug fallt, daß sein einziger Sohn ein Geistlicher worden ist und daß der schöne schwere Hof, wenn er einmal die Augen zumacht, verkauft wird und in fremde Händ’ kommen soll… Meinetwegen aber, mir kann’s recht sein, ich werd’ doch nit Moosrainerbäurin und die Kranzeljungfer ist fertig und den möcht’ ich sehen, der was an ihr auszusetzen hätt’!“

Die Geschmückte erhob sich und blickte befriedigt in die Spiegelscherbe, welche die bäurische Zofe ihr reichte und sie dabei an den Schultern herumdrehte, um sie von allen Seiten zu beschauen. „Es thut’s wohl,“ sagte sie lächelnd, „und ist auch Zeit, daß ich mich auf den Weg mach’! Behüt’ Dich Gott, Kathrin,“ fuhr sie fort, indem sie der Genossin beide Hände hinstreckte, „ich dank’ Dir schön für Deine Müh’ und laß Dich’s halt nit gar zu stark verdrießen, daß Du daheim bleiben mußt … ich bring’ Dir schon was Rechtes mit vom Bescheidessen …“

„Ja, ja,“ sagte die Magd lachend, „es ist nit das erstemal und wird nit das letztemal sein, daß ich daheim hock … sorg’ nur, daß Du selber recht vergnügt bist und mir nachher viel erzählen kannst. Sie wandte sich dem Hause zu, an der Schwelle aber blieb sie stehen und blickte der Forteilenden nach, bis sie hinter der Mauerecke verschwunden war. „Ein gutes Leut, die Franzi!“ sagte sie vor sich hin. „Was wohl aus ihr werden wird? … So viel ist auf jeden Fall gewiß, eine schönere und richtigere Bäurin hätt’s nit geben können für den Moosrainerhof.“

Das Mädchen schritt indessen fort, durch das schmale Kirchhofgäßchen auf den Dorfplatz und wollte sich der Schmiede zuwenden, die gegenüberlag, als sie mit einmal mit leichtem Aufschrei zurücktrat, denn das Hasel- und Hollundergebüsch am Wege rauschte auseinander und ein starker, stämmiger Bursche verstellte ihr den Weg. Der damals noch übliche braune Leibrock mit dem rothen Leibel und schwarzen Ledergürtel ließ ihm nicht minder gut, als die weiten Lederhosen, die blauen Strümpfe und der niedrige, breitkrämpige und breit bebänderte Hut. Aus der ganzen Erscheinung sprach wohlgeübte Kraft, nicht ohne einen Zug wilden und trotzigen Bewußtseins derselben.

„Was erschrickst’ an mir?“ sagte er in barschem und doch im Anschaun unwillkürlich etwas gemildertem Tone. „Fürchtest, [707] daß ich Dir an Deiner Schönheit was ruinire, zu der so lang’ ’braucht hast … Ich steh’ schon eine Glockenstund’ da und wart’ …“

„Wer hat Dir’s geschafft?“ erwiderte das Mädchen spitz. „Was geht Dich meine Schönheit an? Ich frag’ Dich auch nit, wie lang’ Du ’braucht hast, bis Du Dir den Ruß von Deiner Schmieden aus den Augen gewaschen hast!“

„Scheust Dich wohl vor’m Ruß?“ sagte er lachend. „Hast es nicht nöthig; der Ruß ist gesund und macht eine feine, g’schmeidige Haut … wirst es schon erfahren, wenn Du einmal in der Schmieden stehst …“

„Weißt’ das so gewiß?“ fragte sie etwas unsicher entgegen.

„Ich will’s wissen!“ brauste er auf, „und in dem Augenblick will ich’s wissen und drum hab’ ich Dir den Weg abgepaßt, damit Du mir Red’ und Antwort stehst … Willst’ mein Weib werden, Franzi? Sag’ Ja – und in vier Wochen gehst Du wieder mit dem Kranzel …“

Das Mädchen erröthete. „Ich muß wohl jetzt glauben, daß es Dir ernst ist, Vigili … Dein Antrag ist für mich eine große Ehr’ und Du bist auch ein ordentlicher Mensch, ein herzensguter Mensch, aber auch wild und jähzornig, daß Du Dich selber nimmer kennst …“

„Das ist nit wahr! Das hat Dir Jemand eingeblasen, der mir feind ist! Nenn’ mir den schlechten Kerl, ich brech’ ihm das Genick …“

„Was braucht’s das?“ sagte sie und maß ihn ruhig mit den klugen und doch so feurigen Augen. „Bist nicht schon wieder in der Höh’ wegen ein paar Worten? Kannst Du’s leugnen, daß Du dem Gesellen den Hammer an den Kopf geworfen hast, daß er viele Tag’ hat liegen müssen? Die Leut’ sagen gar,“ fuhr sie näher tretend und leiser fort, „Du hättest im Zorn Deine Hand aufgehoben gegen Deine eigene Mutter, Vigili, gegen Deine eigene Mutter … Was hätt’ da Dein Weib zu erwarten, ein Weib, das Dir nichts in’s Haus gebracht hätt’ obendrein …?“

„Es ist Alles wahr,“ sagte der Schmied finster, „und doch ist es wieder nicht wahr … wenn Du nur wolltest, Du würdest sehen, daß ich die gute Stund’ selber bin … Verflucht!“ fuhr er, sich unterbrechend, auf, „da kommen die Andern … ich komm’ wieder nicht zu End’ mit Dir … versprich mir wenigstens, daß Du mich heut noch anhören, daß Du den Ersten mit Niemand Anderm tanzen willst, als mit mir …“

„Ich muß wohl,“ erwiderte sie mit etwas gezwungenem Lächeln, „sonst gehst’ mir doch nit aus dem Weg.“

Grüßend kam ihnen die Schmiedin im höchsten Feiertagsstaat sammt den drei andern Kranzlerinnen entgegen.

Inzwischen war es auch auf dem Moosrainer Hofe, dem Mittelpunkte der heutigen Festlichkeit, schon laut und lebendig geworden. Die Thür des Hauses, die Fensterrahmen und die Geländer der in jedem Stockwerk das Haus umziehenden Galerien waren mit Gewinden aus Eichen- oder Buchenlaub bekränzt und einige Schritte weiter, am Eingange des Gehöftes, waren noch einige Knechte eifrigst beschäftigt, die dort errichtete Triumphpforte aus grünem Tannenreisig mit Streifen von Goldpapier zu umflechten und mit den schönsten Blumen zu bestecken, die nebenan in dem kleinen Hausgärtchen an verspäteten Nelken oder verfrühten Astern zu haben waren. In dem spitzen Giebel der Pforte prangten aus ähnlichem Geflecht die Ziffern der Jahreszahl, die Anfangsbuchstaben des Namens und in der Mitte dazwischen ein goldener Kelch, zum Wahrzeihen, daß dem Hause Heil widerfahren sei und ein Sprößling desselben als neugeweihter Priester heute sein erstes Meßopfer darbringen werde.

Im Hofe fanden sich allmählich immer mehr Festgenossen und Neugierige ein; drinnen aber im Hause, in der großen Wohnstube, warteten die Eltern des Primizianten auf den Beginn der für sie doppelt wichtigen Feierlichkeit und Niemand wagte, sie in der stillen Sammlung dieser vorbereitenden Augenblicke zu stören.

Der Vater, eine hagere Gestalt mit scharf geschnittenem, ernstem Gesicht wandelte in abgemessenen Schritten die sonntagsstille, sonnenbeschienene Stube hin und wieder. Nur manchmal, wie in tiefen Gedanken, fuhr er sich mit der hohlen Hand über die klugen grauen Augen und die mächtige Vogelnase oder über den kahl gewordenen Scheitel, als wollte er dessen einstigen Lockenreichthum glätten, von dem fast nichts übrig geblieben war, als vorn gegen die Stirn ein schneeweißer Schopf, dessen Kräuslung erkennen ließ, daß unter ihnen die Gedanken nicht minder kraus und eigen durcheinander gingen.

Die Mutter, eine behäbige, wohlbeleibte Frau mit weichen, aber verschwommenen und gealterten Zügen, mit weißem Haar, das unter der festtäglichen, schwarzen Schaube hervorleuchtete, saß am breiten Ecktisch, den Rosenkranz in den Händen und das Gebetbuch mit den mächtig großen Buchstaben vor sich aufgeschlagen; auch sie schien aber, wenn sie betete, in ein mehr innerliches Gebet versunken, denn die Blätter des Buches regten sich nicht und die Korallen des Rosenkranzes lagen regungslos in ihrem Schooß.

Nichts war in der Stube zu hören, als der Schlag der großen Schwarzwälder Uhr, oder das Summen einer Fliege an den sonnenhellen Fensterscheiben, oder das Athmen des großen Haushundes, der, für heute seines Wächteramtes enthoben, sich’s unter der Ofenbank bequem gemacht hatte.

Die Uhr hob jetzt rasselnd zum Stundenschlage aus; da klappte die Bäuerin das Gebetbuch zu und erhob sich. „Es ist bald Zeit, Alter,“ sagte sie, „schau’ nur, was für eine Menge Leute schon da draußen versammelt ist … was meinst Du, sollen wir’s dem Herrn nicht sagen, daß er sich bereit machen soll?“

„Hast schon wieder Angst, daß er sich verspätet?“ rief mit gutmüthigem Spotte der Bauer. „Wirst halt auch Deiner Lebtag nimmer anders! Am Hochzeitstag vor vierzig Jahren hast Du so getrieben und pressirt, daß wir zu früh in die Kirch’ ’kommen sind und haben warten müssen, bis der Meßner mit dem Schlüsselbund gerennt ’kommen … Doch ich will Dir nachgeben, wir wollen alle Zwei miteinander hinaufgehen und sagen, daß es an der Zeit ist – aber ich mein’, ich hör’ was draußen vor der Thür … Schau, schau, dasmal bist’ doch zu spät ’kommen …“

„Blos durch Deine Schuld!“ rief schmollend die Alte, während schon die Stubenthür sich öffnete und der Erwartete eintrat. Es bedurfte nicht viel, um in ihm den Sohn des Hauses zu erkennen; als solchen verrieth ihn trotz des langen, schwarzen Rockes, den er trug, der kräftige, dem Vater ähnelnde Gesichtsschnitt und das krause, dunkle Haar, um den Mund aber schwebte etwas von dem weichen Wesen der Mutter und die blauen Augen waren vollends von ihr. Der junge Priester war eine freundliche Erscheinung; auf seiner breiten Stirn schien ernstes Denken zu hausen, aus dem Blick leuchtete Milde, um die Lippen spielte die Gabe wohlwollender Ueberredung.

„Guten Morgen, Hochwürden Herr Sohn,“ rief mit tiefem Knix die Mutter, indem sie nach seiner Rechten haschte, einen ehrerbietigen Kuß darauf zu drücken; der Sohn hatte Mühe, ihr zu wehren.

„Ich sag’ nit so,“ sagte der Moosrainer, „aber ihr Weiberleut’ müßt halt Alles übertreiben. Für mich bist Du mein Sohn, wie vor und eh’, und wann Du Bischof wärst … ich wär’ doch Dein Vater, und wenn mir was nit recht wär’ an Dir, ich nehmet’ mir kein Blatt für’s Maul und thät Dir’s sagen, frisch von der Leber weg! … Also, guten Morgen, Isidor – guten Morgen zu Deinem Ehrentag!“

„Recht so, Vater,“ erwiderte der Sohn, indem er die Hand des Vaters ergriff und schüttelte, „und so soll es immer zwischen uns bleiben – mögt Ihr immer mein Vater bleiben, wie es für mich keinen schöneren Augenblick giebt, Euch zu danken, daß Ihr es mir bis zu dieser Stunde gewesen … nur durch Eure Güte und Liebe habe ich das Ziel erreicht, nach dem ich so sehnlich strebte …“

„Red’ nit davon, Isidor,“ rief Moosrainer, „ich hab’ nit mehr gethan, als meine Schuldigkeit …“

„Auch die Liebe ist Schuldigkeit,“ sagte der Sohn mit innigem Händedruck und aufleuchtenden Augen, „und doch wird sie zum größten Verdienst dem, der sie übt! Glaubt nicht, Vater, daß ich nicht wüßte, was es Euch gekostet hat, mir die Laufbahn nicht zu wehren, für die ich mich berufen glaube … Ihr habt mir zu Liebe einen Lieblingswunsch aufgegeben …“

„Nun ja … freuen kann’s Einen nicht, wenn man ein’ solchen Hof hat und ein einzigs Kind und muß ihn in fremde Hände kommen lassen … aber in die Ewigkeit kann ich den Hof ja doch nit mitnehmen, und Du hast es ernstlich so gewollt und des Menschen Willen ist sein Himmelreich! Also hab’ ich wohl der Gescheidtere sein und hab’ denken müssen, der nachgiebt, ist auch ein Mann!“

„Und glaubet mir, Vater – es ist besser so. Der Drang [708] nach Erkenntniß war einmal in mir … ich hätte zum Bauer nicht getaugt und wär’ ein unglücklicher Mensch geworden …“

„Gott soll mich bewahren …“ rief ernst der Bauer, „jetzt ist es nur an Dir, ich hab’ nichts zu verantworten und will heut in Deiner ersten Meß recht von Herzens Grund beten, daß Du’s auch rechtschaffen durchführst, wie Du angefangen hast … daß Du nit etwa in der Gruben an mich denkst und sagst: hätt’ ich mein’ altem Vater gefolgt!“

„Ohne Sorge, Vater,“ rief der Sohn feurig, „meine ganze Seele gehört meinem Berufe – nie kann ein Augenblick der Reue mich anwandeln …“

„Wär’ auch wohl zu spät dazu,“ murmelte der Alte vor sich hin und strich sich den krausen, widerspänstigen Haarschopf; der Sohn überhörte es, denn die Mutter, die während des Gesprächs der Männer hinausgeeilt war, kam hastig wieder und meldete, wie schon der ganze Hof voll Menschen und wie eben auch noch die Kainzenhoferin angefahren gekommen sei mit ihrem Mann und mit all’ ihren Kindern.

„Da kannst Du gleich zeigen, daß es Dich nit reut,“ sagte der Alte lachend, indeß der Sohn sich anschickte, vor’s Haus zu treten. „Die Kainzenhoferin, das ist die Lies, die Bas’, die ich Dir ausgesucht gehabt hätt’, wenn Du Moosrainer Bauer ’worden wärst … weil bei Dir nichts herausgeschaut hat, hat sie sich um ein’ Andern umg’schaut und hat den Hans geheirath’ droben von der Kreuzalm – wirst Dich wohl noch besinnen auf ihn, seid ja miteinander in die Schul’ gegangen …“

„Ja, so ist’s,“ fuhr die Mutter redselig fort. „und sie hat’s auch ganz gut getroffen mit dem Hans und ist eine Staatsbäurin …“

„Braucht keine Sorge zu haben um meinetwillen,“ sagte der Priester mit mildem Lächeln, „ich gönne die Liese dem Hans, aber es freut mich in tiefstem Gemüth, daß Ihr so munter seid, Vater … Gott erhalt’ Euch den frohen Sinn!“

„Amen, Isidor … das ist ein gutes Wort!“

Der Moosrainer brauchte auch wirklich keine Sorge zu haben; mit heitrem, wohlgefälligem Blick überschaute der junge Priester die zahlreiche und festliche Versammlung, aber er blieb ruhig, auch als er vor der eben angekommenen Bauernfamilie stand, die zunächst am Eingang wartete und ein Bild darbot, wohl geeignet, Auge und Herz zu locken und zu halten.

Die Bäurin hatte auch ihr jüngstes Kind im Wickelkissen mitgebracht; es hatte während des Fahrens geschlafen, war dann aufgewacht und eben wieder zur Ruhe gesungen. Die junge Mutter, eine stattliche Frau mit angenehmen Zügen, hielt das Kleine auf dem Schooß; die beiden ältern Geschwister, ein Knabe und ein Mädchen, standen daneben und schauten das Kind mit neugierig vergnügtem Lächeln an. Der Bauer, eine kräftig gedrungene Gestalt, stand hinter der sitzenden Mutter, leicht über ihre Schulter vorgebeugt, sah in die auf ihn gerichteten Augen des Kindes hernieder und nickte ihm zu, und das erste Lächeln umspielte verklärend die kleinen Lippen.

„Siehst Du, sie kennt Dich schon, Vater! Sie lacht Dich an!“ rief die Mutter.

„Sie lacht! Sie lacht!“ jubelten die Geschwister und klatschten in die Hände.

Die Mutter aber hob das glückliche Auge auf und blickte in das über ihr hangende des Vaters und „Sie lacht ganz wie Du, Hans,“ sagte sie leise und verstummte, weil ihr die Thränen vorstürzten.

Der alte Moosrainer stand gelassen daneben, aber auch in seinen Augen begann es zu schimmern.

Isidor’s Antlitz blieb unverändert; keine Regung zeigte sich darin, als das Wohlwollen des Menschenfreundes, der es zur Aufgabe seines Lebens gemacht, sich selbst vergessend ganz aufzugehen in der Thätigkeit für Andere. Durchdrungen und gehoben von dem gläubigen Gefühl der neuen Würde, trat er in den Kreis, der sich nun bildete. Männer und Jünglinge, Mädchen und Kinder sanken andächtig in die Kniee, damit er ihnen die Hand auflege und sie segne, denn es ist ein frommer Glaube, daß der Segen eines Priesters, der eben erst die Weihen empfangen, von besonderer Kraft sei und Etwas davon auf den Empfänger übertrage.

Die junge Mutter war die Erste, die sich herandrängte; über die Knieenden hin reichte sie das Wickelkind – der erste, der kräftigste Segen sollte dem schuldlosen Liebling werden. Mit stillem Vergnügen gewahrte und gewährte Isidor die mütterliche List und begann seinen Rundgang. Da waren fast lauter bekannte, wohlvertraute Köpfe und Gesichter, Greise, die Männer gewesen waren zu seiner Knabenzeit, junge Männer, die mit ihm unter den Büschen des Dorfes gespielt hatten und mit ihm nach der Schule, und wenn sie glücklich vorüber war, nach Wald und Wiese gewandert waren. Auch manches inzwischen erblühte Mädchengesicht war ihm bekannt, und als die Reihe an die mittlerweile herangekommenen Kranzjungfern kam, erinnerte er sich gar wohl an das freundliche Rundgesicht der Krämers-Babett, die ihm manche Tüte mit Leckereien zugesteckt hatte, und an die schmalen beiden Bäckerstöchter, die einander glichen schier wie ein paar Tropfen Wasser, und ihm immer besonders freundlich gewesen – es war seine Jugend, die ganze frohe Geschichte seines Dorflebens, die an ihm wie in Bildern vorüberzog.

Als die Letzte kniete Franzi in Andacht versunken, mit gefalteten Händen – sie erkühnte sich nicht zu dem Jugendgespielen empor zu blicken … diesem selber war die Erscheinung fremd – es mochte wohl irgend eine entfernte Verwandte sein, die von der Mutter eingeladen worden, die Zahl voll zu machen. Als er aber die Hände erhob und mit leichter Berührung auf den Kranz auf ihrem Haupte legte, da bebte sie innerlich zusammen, und wie die wohlbekannte Stimme den Segenspruch begann, da war es ihr unmöglich an sich zu halten – eine unwiderstehliche Gewalt zwang sie, die Augen aufzuschlagen … Der Priester stockte unmerklich, kaum eines Athemzuges Dauer, während dessen die Blicke Beider wie verwundert, fragend und grüßend in einander haften blieben …

(Fortsetzung folgt.)




Deutschland auf dem Meere.

Träumt nicht von Deutschland auf dem Meere,
Von Kampf mit Sturm und Wogenbrand,
Bevor Ihr Deutschlands Macht und Ehre
Gefestigt nicht auf festem Land;
Gezaubert wird von keinem Gotte
Aus Wellenschaum die Wellenbraut,
In Mühen wird die deutsche Flotte
Auf deutschem Boden nur gebaut!

Ein immergrünes Sinnbild werde
Die Tanne uns, der Zukunft Mast,
Hochstrebend hat tief in der Erde
Die zähe Wurzel sie gefaßt.
Von unten nur ringt durch nach oben,
Was ew’ge Dauer in sich trägt;
Das Werk allein kann sich erproben,
Das tief im Volke Wurzel schlägt!

Sei, deutsches Volk, von Muth durchdrungen,
Der deutschen Schiffe Zimmermann,
Und wenn dem Beil das Werk gelungen,
Dann fass’ auch selbst das Steuer an;
Am Ruder darf kein Arm sich brüsten,
Der bis zur Knechtschaft sich vergißt,
Der freiheitsfeindlichen Gelüsten
Ein willenloses Werkzeug ist!

Der deutschen Freiheit heil’ges Zeichen,
Hoch über niedrigem Verrath,
Bis an die Sterne wird es reichen
Und zeugen für die deutsche That;
In diesem Zeichen muß sie siegen,
Des Himmels Mächte sind ihm hold,
Voran der deutschen Flotte fliegen
Soll stets das deutsche Schwarzrothgold!

Auf denn, aus Noth und Schmach zu retten
Das deutsche Volk und Vaterland!
Dann fallen auch des Ankers Ketten
Und jubelnd stoßen wir vom Strand.
Nach vorwärts kann der Kiel nur zeigen,
Wenn deutscher Wind die Segel bläht,
Und Deutschland wird zu Schiffe steigen
In seiner vollen Majestät!

Albert Traeger.
[709]

Germania auf dem Meere.
Nach einem Originalgemälde von Lorenz Clasen.

[710]
Die blaue Tiefe.[1]
Von Karl Vogt.
III.
Der Schlangenstern. – Die Wurzelfüßer. – Der Medusenstern. – Die Naturforschercommission auf Spitzbergen. – Der „Thon“ des Telegraphenplateaus. – Wärme und organisches Leben in der blauen Tiefe. – Reichstes Leben in der Tiefe der Polarzone. – Die Grenze zwischen Thier und Pflanze. – Frühere größere Meerestiefe. – Die Augenkoralle und Feilenmuschel in den „Seewäldern“.

Hält man das gewonnene Resultat fest, daß ein aus einer Tiefe von mehr als eintausend Faden gefischtes Tau einem nicht minder reiches Leben zur Grundlage diente, als irgend ein nahe an der Oberfläche gelegener Punkt, so wundert man sich dann nicht mehr über einige andere Funde. Wallich, wenn ich nicht irre, ein in England naturalisirter Deutscher, machte die Reise des Bulldog zur Legung des englisch-amerikanischen Telegraphentaus mit, wobei er fleißig sondirte. Mitten im atlantischen Ocean hingen sich in 1260 Faden (7560 Fuß) Tiefe mehrere Exemplare eines Schlangensternes an die Leine. Ich gebe hier dem Leser, der diese seltsamen Wesen, welche zu den Stachelhäutern gehören, vielleicht nicht kennt, die Abbildung eines solchen Schlangensternen (Fig. 3) von unten. Man sieht in der Mitte des glatten, runden, kleinen Körpers den Mund in Gestalt eines fünfstrahligen Sternes zwischen dessen Strahlen hellere Flecken liegen.

Fig. 3. Schwarzer Schlangenstern.

Fünf lange, nach allen Richtungen biegsame, meist in seltsamen Windungen sich krümmende Arme, die reichlich mit vier Doppelreihen von Stacheln besetzt sind, gehen von der kleinen Scheibe aus. Wallich begnügte sich nicht damit, zu constatiren, daß diese Schlangensterne, welche nur kriechen, nicht schwimmen können, in solchen Tiefen hausen. Wenn sie dort leben, müssen sie fressen; was sie gefressen haben, müssen sie im Magen haben, und da sie keine Zähne besitzen, müssen die gefressenen Substanzen noch ziemlich unversehrt sein. Wallich untersuchte also den Mageninhalt seiner Schlangensterne mit dem Mikroskope. Nun wird uns das Leben dort unten schon anschaulicher. Auf dem Grunde bis zu 3000 Faden (18000 Fuß) hat Wallich mikroskopisch kleine Kalkschälchen gefunden, die aus mehreren zusammengehäuften, nach und nach wachsenden Kugeln bestehen – Schälchen, welche das System unter dem Namen Globigerina kennt und die zu den sonderbaren Wurzelfüßern (Fig. 4) gehören, deren Körper nur aus einem Schleimklümpchen zu bestehen scheint, das nach allen Seiten

Fig. 4. Globigerina.
Sehr stark vergrößert.

wurzelartige Fortsätze aussendet, mittelst welcher es sich bewegt und ernährt. Schälchen dieser Globigerinen finden sich in Menge in dem Magen unseres Schlangensternes, viele davon enthalten noch den lebendigen Körperinhalt. Der Schlangenstern lebte also auf Kosten einer mikroskopischen Thierwelt, welche dort unten ihr Wesen treibt. Auch dies ist kaum wunderbar; der Schlangenstern steht zwar zu seiner Beute etwa in demselben Verhältniß, wie der Walfisch zu den zolllangen nackten Weichthieren und kleinen Krebsen, die er tonnenweise verschlingt, aber Walfisch und Schlangenstern nähren sich doch hinlänglich.

Der Schlangenstern ist ein hoch organisirtes Thier. Er hat einen Vetter, den Medusenstern (Fig. 5), der mit seinen vielfach verzweigten Armen im Wasser schwimmen kann, aber doch meistens an dem Boden rankt. Zieht man ihn aus dem Wasser, so rollt er seine Arme und Ranken so gegen den Mund hin ein, wie es unsere Abbildung zeigt, die ihn vom Rücken aus darstellt.

Fig. 5. Medusenstern.
Von der Rückseite.

Man findet diese Medusensterne stets nur in gewisser Tiefe – sie nähren sich wie die Schlangensterne – es kann uns deshalb kaum wundern, wenn wir hören, daß Capitän Roß bei seiner Entdeckungsfahrt im südlichen Eismeere einen lebenden Medusenstern aus 800 Faden (4800 Fuß) Tiefe hervorzog, der sich an die Sondirleine geklammert hatte.

In demselben Jahre, wo ich das Glück hatte, mit Dr. Berna eine Fahrt um die Nordsee machen zu können, weilte auf Spitzbergen eine große, von Schweden ausgerüstete Expedition, unter welcher der unternehmende Dr. Torrell und sein Gefährte Dr. Malmgrén die vorragendsten Mitglieder waren. Diese Expedition hat mit seltener Ausdauer alle nur irgend erdenklichen Mittel in Bewegung gesetzt, um die Natur der nördlichsten Insel und Küste Europas nach allen Richtungen hin zu durchforschen. Es ist ihren unermüdlichen Anstrengungen gelungen aus 1400 Faden (8400 Fuß) Tiefe eine Menge von Thieren heraufzuholen, die heute im Reichsmuseum von Stockholm ausgestellt sind. Dabei befinden sich, nach Keferstein’s Bericht, mehrere kleine Krustenthiere, eine Schnecke, eine Kalkkoralle, eine Seewalze oder Seegurke, ein kleiner Herzigel, fünf Arten von Ringelwürmern, ein Meerschwamm und mikroskopische Thierchen und Pflanzen, Wurzelfüßer und Bacillarien oder Diatomeen – also eine förmliche Repräsentation aller niederen Thierclassen, die im Meere ihr Wesen treiben.

Fig. 6. Cylichna.

Die kleine Schnecke (Cylichna), von welcher wir hier die größte bekannte Art abbilden (Fig. 6), gehört in die Nähe der Blasenschnecken (Bulla) und zu den wesentlich nordischen Formen, die in südlichen Meeren kaum repräsentirt sind.

Als man zum ersten Male mit der Brooke’schen Maschine Proben des Meeresgrundes bis zu 10,000 Fuß Tiefe von dem sogenannten Telegraphenplateau heraufholte, welches sich zwischen Cap Clear in Irland und Cap Race in Neufundland untermeerisch erstreckt, wurden Proben des „Thones“, wofür die Officiere den Grund ansahen, an Professor Ehrenberg in Berlin und Professor Bailey in West-Point geschickt, um ihn mikroskopisch zu untersuchen. [711] Beide erkannten darin mehrere Arten von Wurzelfüßern, mehrere Arten von s. g. Polycystinen, mehrere Arten von Bacillarien oder Diatomeen, welche Ehrenberg in seinem großen Infusorienwerke noch für Thiere ansieht, während sie jetzt allgemein, und wohl mit vollem Rechte, für Pflanzen gehalten werden. Aber einer der beiden Beobachter schien eher zu der Meinung hinzuneigen, daß diese Thiere sämmtlich todt und ihre Kalk- und Kieselschalen nur von den Meeresströmungen, namentlich dem Golfstrome, auf das Telegraphenplateau geführt und dort abgesetzt worden seien. Vielleicht war es die Ueberzeugung von der Unmöglichkeit organischen Lebens in solcher Tiefe, die damals noch herrschende Ansicht war, vielleicht die Art und Weise der Aufbewahrung, welche zu diesem Ausspruch leitete, der durch die neueren Untersuchungen Torrell’s, Malmgrén’s, Wallich’s brieflich widerlegt wird. Nicht nur möglich ist organisches Leben dort unten, sondern es findet sich auch in den zwei einander bedingenden Reichen, im Thier- und Pflanzenreiche, repräsentirt und das Thierreich zeigt, wenn auch gerade nicht viele Formen, so doch die wesentlichsten Typen, welche sich überhaupt im Meere finden – Krustenthiere, Krebschen als Repräsentanten der Gliederthiere – Ringelwürmer – Schnecken, Muscheln und Moosthiere als Vertreter der Weichthiere oder Mollusken; Seewalzen, Seeigel, Schlangen- und Medusensterne als Darsteller des Typus der Stachelhäuter; Kalk- und Rindenkorallen als Verkünder der beiden Richtungen, die in den Polypen vertreten sind, und endlich Wurzelfüßer und Schwämme als untersten Anfang thierischen Lebens.

Das organische Leben breitet sich also vollwichtig in der blauen Tiefe über den Meeresgrund aus, und seine wichtigsten Träger sind mikroskopische Pflanzen und Thierchen, die in ungeheueren Massen den Grund bedecken. Das ist aber ein wichtiger Unterschied von dem Leben in freier Luft und von der Verbreitung der Organismen in die Höhen hinauf. Auf den vereisten, schneebedeckten Kuppen der höchsten Berge erstirbt alles organische Leben, weil es dort die nöthige Wärme nicht findet, die zu seiner Entfaltung nöthig ist; in der blauen Tiefe herrscht noch immer, selbst in den höchsten Polarzonen, ein Grad von Wärme, der eine üppige Entfaltung des organischen Lebens gestattet. Ja es scheint, als ob gerade in den Polarzonen der Höhengrad des thierischen Lebens nicht, wie in den gemäßigten und heißen Zonen, an der Oberfläche und deren unmittelbarer Nähe sich finde, sondern im Gegentheile in die blaue Tiefe sich zurückziehe, wo es größere und stetigere Wärme findet, als an der Oberfläche. Wenigstens sind die Schleppnetz-Fischereien in größeren Tiefen und die Sondirungen in blauer Tiefe stets weit ergiebiger in den nördlichen Breiten gewesen, als in den wärmeren Meeren.

Dann aber scheint es mir von besonderer Wichtigkeit, daß Pflanzen- und Thierleben gleichmäßig in der blauen Tiefe entwickelt ist. Die Wurzelfüßer (Fig. 7) sind an vielen Stellen, wie auf dem Telegraphenplateau, in so ungeheuren Mengen angehäuft, daß sie

Fig. 7. Formen von Wurzelfüßerschalen aus großer Tiefe.

über diese weite Strecke eine bedeutende Schicht bilden. Millionen dieser niedlichen Schälchen, zu welchen die erwähnten Globigerinen gehören und von denen wir noch einige Arten abbilden, um den Reichthum ihrer Formen zu zeigen, sind nöthig, um einen Kubikzoll fester Masse zu bilden – die Mengen, deren es zur Herstellung solcher Schichten von zehn und mehr Fuß Mächtigkeit bedarf, lassen sich in Zahlen nicht mehr ausdrücken. Aber diese Wurzelfüßer, welche mit ihrer geschmeidigen, aus einfacher, körniger Schleimsubstanz sich entwickelnden Fortsätzen sich langsam fortbewegen, umspinnen oder umgießen damit auch gleichsam ihre Nahrung, deren lösliche Theile in den Körnerstrom der Fortsätze aufgenommen und so dem Körper zugeführt werden. Sie fressen sich so zwar auch untereinander auf – die Großen fressen die Kleinen, wie dies überall in der Welt Sitte ist – aber ein solcher einfacher Kreislauf des thierischen Stoffes ist nicht wohl denkbar – es gehört die Thätigkeit der Pflanze dazu, um aus den unorganischen Stoffen die ersten organischen Verbindungen zu entwickeln.

Fig. 8. Formen von Diatomeen aus großer Tiefe.

Dafür sorgen die Bacillarien oder Diatomeen (Fig. 8), mikroskopische Organismen mit organischem Inhalte und harter Kieselschale, die auf der Grenze beider Reiche zwischen Pflanze und Thier inne zu stehen scheinen, aber doch in allen ihren Lebensbedingungen, in ihrer Bewegungslosigkeit, ihrer Entstehung innerhalb zellenartiger Schläuche, ihrer Vermehrung durch freiwillige Theilung sich den Pflanzen anreihen. Mit den Wurzelfüßern zusammen und fast in gleicher Menge, wie diese, wenigstens an einigen Stellen aufgehäuft, bilden diese Bacillarien eben so ungeheure Anhäufungen wie die Wurzelfüßer selbst oder nehmen in gewisser Proportion Theil daran.

Ein wichtiges Moment für die Erdbildung liegt in dieser einfachen Thatsache. Die beiden mineralischen Stoffe, welche den größten Antheil an der Bildung der festen Erdmasse nehmen, sind einestheils der kohlensaure Kalk, anderntheils die Kieselerde. Beide fehlen kaum in irgend einem Gestein; beide bilden für sich allein große Gebirge und weite Länderstrecken. Die Thiere, welche alle, mit geringen Ausnahmen unter den Schwämmen, sich Gerüste und Schalen aus kohlensaurem Kalke bauen, sind in geologischer Hinsicht Filtrirmaschinen, bestimmt, diesen Kalk aus dem Meerwasser abzusondern – den mikroskopischen Pflänzchen ist im Gegentheile die Aufgabe zugefallen, die Kieselerde aus dem Wasser abzuscheiden. Beide Stoffe sind in so geringer Quantität in dem Meerwasser vorhanden, daß sie erst bei sehr bedeutender Abdampfung und Verdichtung sich niederschlagen würden; Kalkschichten und Kieselschichten würden sich bei einer gewissen Austrocknung eines Meeresbeckens erst kurz vor der Salzkruste bilden, welche zuletzt sich absetzte, wenn die chemischen Eigenschaften der mineralischen Processe allein in Frage kämen. Die organische Thätigkeit tritt hier aber vermittelnd ein und bewirkt, daß Kalk und Kiesel unaufhörlich eben so gut an den Küsten, wie in der größten Tiefe abgeschieden und so beständig neue Schichten aus der vom Lande herkommenden Zufuhr fester Stoffe gebildet werden. In Beziehung auf diese Stoffe selbst aber scheint die Thätigkeit der beiden Reiche in der blauen Tiefe streng getrennt – das Thier zieht den kohlensauren Kalk, die Pflanze den Kiesel an.

Fig. 9. Ausgehöhlte Feilenmuschel.

Es giebt, wie wir gesehen haben, Thiere, welche fast alle Tiefenzonen des Meeres bewohnen – die Deckel-Kammmuschel ist davon ein sprechender Zeuge. Es giebt aber auch viele Thiere, welche nur gewisse Tiefenzonen bewohnen, so gut, wie das Kameel nicht auf hohen Bergen und das Rennthier nicht in der heißen Ebene fortkommen kann. Schalen aus solcher Tiefe, die man in höheren Regionen findet, geben davon Zeugniß, daß das Meer früher an dem Orte eine weit größere Tiefe besessen, daß es entweder seinen Stand verändert, oder das Land sich erhoben habe. Die oben erwähnte Augenkoralle findet sich an den norwegischen Küsten vom Hardangerfjord an nördlich, um Grönland und Island, aber immer nur in blauer Tiefe von wenigstens 200–300 Faden (12–1800 Fuß). Die [712] Gründe, wo sie sich anheftet, sind den Fischern unter dem Namen „Seewälder“ als treffliche Fischbänke wohlbekannt. Mit ihr in Gesellschaft finden sich eine Menge anderer Thiere, besonders aber eine prachtvolle, blendend weiße, große Feilenmuschel (Fig. 9), die erst durch die Schleppnetze der nordischen Naturforscher entdeckt wurde und von der ich hier die Abbildung der innern Seite einer Schale in halber Größe gebe. Die äußere Seite der dünnen Muschel ist mit feinen Längsstreifen geziert – die innere Ansicht zeigt das einfache Schloß und den Eindruck des einfachen Muskels, durch den die Schale geschlossen wird. Niemals haben sich beide Gesellen in seichterem Wasser gefunden, wenigstens nicht lebend. Aber im Fjord von Christiania giebt es Stellen, wo todte Augenkorallen in wenig Faden Tiefe noch auf dem Meeresboden wurzeln und todte Feilenmuscheln dazwischen herumliegen. Hier waren also einst tausend Fuß Tiefe mehr – Land und Meer hatten eine andere Gestalt!

Hier muß ich enden, obgleich noch so Vieles zu sagen wäre. Aber es genügt, gezeigt zu haben, daß die blaue Tiefe noch Manches birgt, von dem wir nur sagenhafte oder höchst unvollständige Kenntniß haben; daß dort unten ein nicht minder lebhaftes Schaffen und Treiben wirkt, als in anderen, zugänglicheren Regionen des Meeres; daß viele Fragen, welche die Wissenschaften von der Erde und vom Leben an uns stellen, dort noch ihre Antwort finden können und werden, und daß wir die Hoffnung nicht aufgeben dürfen, Antworten auf diese Fragen zu erhalten, sobald wir die Methoden vervollkommnen, die zu Resultaten führen können.




Eine Tochter Nürnbergs.
Der Flintensteinhandel. – Die „Märmel“ oder „Märbel“, – Die Märmelmühlen. – Die „Neustädter Reiterle“. – Die Papiermachéfabrikation. – Die Guttaperchaköpfe. – Die Terralithfiguren. – Die Täuflinge und die Papa- und Mamastimmen. – Die Holzschnitzerei. – Die Weißmacherarbeilen. – Geigen, Schnurren, Nußknacker, Drehorgeln. – Bewegliche Puppen und mechanische Spielwaaren. – Der Mustersaal. – Die „Herrgottle“. – Der Umsatz des Sonneberger Geschäfts. – Adolf Fleischmann. – Gefäße aus Terracotta in antiken Formen. – Helden- und Götterfiguren aus Terralith. – Siderolithwaaren in japanestscher Manier.

Ja, von einer Tochter der alten Reichsstadt wollen wir heute erzählen, von einer Tochter, die schon in früher Jugend alle schönen Tugenden der edlen Mutter sich zum Vorbilde nahm, um als reichgeschmückte Braut sich dem Thüringer Walde zu vermählen und als köstliches Juwel dieses reizenden Gebirges zu prangen.

Schon im Mittelalter wandte sich der umsichtige Blick des Nürnberger Kaufmannes nach den ihm zunächst gelegenen Theilen des südöstlichen Thüringer Waldes, wo der Reichthum an Holz willkommene Ausbeute an Pech und Kienruß verhieß und zahlreiche Wetzsteinlager dem Nürnberger Handel willkommene Artikel zuführten. In Folge dessen begann in Sonneberg, dem Mittelpunkt der jetzigen sogenannten Sonneberger Spielwaaren-Industrie, der im Meininger Oberlande am Fuße des Thüringer Waldes gelegen und seit einigen Jahren durch eine Zweigbahn mit der nur vier Stunden entfernten Nachbarstadt Coburg verbunden ist, schon vor Jahrhunderten eine rege Geschäfts- und Gewerbthätigkeit aufzublühen. Bereits in der Zeit von 1710–1740 besaßen viele Sonneberger Kaufleute Etablissements im fernen Auslande, in Stockholm und St. Petersburg, in Kopenhagen und Christiania, in Lübeck und London, ja in Moskau, Archangel und Astrachan.

In dieser ersten wichtigen Periode der Sonneberger Gewerbthätigkeit, während welcher dreißig Jahre Sonneberg neben seinem Vertrieb auch im fast ausschließlichen Besitze des Flintensteinhandels für die Heere Europa’s war, schien noch ein neues schönes Gestirn über der Sonneberger Industrie aufzugehen. Die Berchtesgadner Emigranten nämlich, durch ihre kunstfertigen Schnitzereien in Holz, Knochen und Elfenbein schon damals in hohem Ansehen, baten um Aufnahme in den Sonneberger Industriebezirk, und die Sonneberger Kaufleute suchten ihre Ansiedelung nicht nur aus religiösen, sondern auch aus mercantilen Interessen auf alle mögliche Weise zu betreiben. Allein der neue Hoffnungsstern für die weitere Hebung der Sonneberger Industrie sollte gar bald verbleichen vor einer dunklen Wolke, welche über dem grünen Regierungstische der Residenz Coburg aufstieg, zu welchem kleinen Gebiete Sonneberg bis zum Jahre 1735 gehörte, wie überhaupt Sonnebergs Blüthe sehr zu kränkeln anfing. Erst Herzog Georg von Sachsen-Meiningen, jener wahrhaft praktische und für das Wohl seines Landes unermüdlich besorgte Fürst, suchte durch die Ertheilung eines besonders Privilegiums, des sogenannten Sonneberger Privilegiums, im Jahre 1789 die Sonneberger Industrie wieder zu heben.

Während die Berchtesgadener Schnitzerei für das Meininger Oberland damals verloren ging, wurde doch durch Salzburger Emigranten vom Untersberg der Sonneberger Industrie ein neuer Handelsartikel zugeführt, welcher, an sich klein und unscheinbar, trotzdem von Interesse wurde und später zu hoher Wichtigkeit für den Sonneberger Verkehr gedieh. Es sind dies die in der Kinderwelt aller Zonen so beliebten Märmel oder Märbel, deren Namen in den verschiedenen Gegenden Deutschlands bekanntlich sehr verschieden sind.[2] Kinder und erwachsene Personen geben den zu den Märmeln geeigneten Kalksteinen durch Schlagen eine solche Form, daß dieselben in den von Bächen getriebenen sogenannten Märmelmühlen, deren sich bei Sonneberg und in dessen weiterer Umgebung vierundzwanzig finden, in kurzer Zeit in Kugelgestalt verwandelt werden können. Man nimmt an, daß jährlich wenigstens dreißig Millionen Märmelkugeln fabricirt werden, welche theils in ihrer rohen Gestalt, theils farbig und polirt nach allen Theilen der Erde versendet werden. In neuerer und neuester Zeit hat dieser Artikel zu der Fabrikation schöner Kiesel- und Jaspiskugeln und ebenso zu der Herstellung prachtvoller Porzellanmärmel und äußerst kunstvoller Glasmärmel geführt.

Außer zum Theil freilich noch sehr roh geschnitzten Holzspielwaaren der verschiedensten Art und den eben genannten Märmeln verfertigte man schon im vorigen Jahrhunderte auch Figuren aus einer plastischen Masse, die unter dem Namen „Teig“ bis auf den heutigen Tag bekannt ist und aus einer Mischung von Schwarzmehl und Leim besteht. Dieser Teig wird jetzt noch bei der Fabrikation eines der ältesten ordinären Artikel, der sogenannten „Neustädter Reiterle“, angewendet, indem die Bossirer die Glieder der Figur, deren Körper der Schnitzer aus Holz darstellt, aus freier Hand aus dieser Masse verfertigen. Die Bossirer bildeten bis vor wenigen Jahren, wo die Segnungen der Gewerbefreiheit in’s Land gezogen kamen, eine besondere Zunft, deren Mitgliederzahl durch eine Verordnung in gewisser Weise eine bestimmte Höhe nicht überschreiten durfte. Auch die sogenannten Maler, welche den von den Bossirern und Schnitzern gefertigten Artikeln ein buntes Colorit geben, waren in früherer Zeit zünftig.

Das große Verdienst, die Papiermachéfabrikation vor etwa fünfundvierzig Jahren von Paris nach Sonneberg übergeführt zu haben, gebührt dem vor einigen Jahren verstorbenen wackeren Friedrich Müller aus Sonneberg, dem Gründer der Firma Fr. Müller und Straßburger daselbst. Die Papiermasse besteht aus einer Verbindung von Papierfaser, einem auf den Massemühlen fein gemahlenen Sande oder der sogenannten Drückmasse und aus schwarzem Mehle, wozu als Bindemittel noch Leim beigegeben wird. „Modelleure“ fertigen aus Thon die betreffenden Modelle an, welche hierauf in Schwefel abgegossen werden. Die „Former“ drücken alsdann die Papiermasse in die geölten „Formen“ ein. Weil die Papiermachéspielwaaren vor den Bossirerwaaren den großen Vortheil boten, daß sie hohl waren, so konnten in den [713] Figuren allerlei mechanische Vorrichtungen angebracht werden, mittels deren die Figuren gewisse Bewegungen erzeugten und selbst Laute von sich gaben. Daher kam es, daß die Papiermachéfabrikation in der Umgegend von Sonneberg, z. B. in Neustadt a. H., in Rodach bei Coburg, in Hildburghausen, in Gräfenthal auf dem Thüringer Walde etc., gar bald Nachahmung fand, wobei Puppenköpfe in den verschiedensten Größen lange Zeit hindurch den gangbarsten Artikel bildeten.

Viel später, im Jahre 1849, brachte ein Zeichenlehrer und Fabrikant Namens Bandorf einen Artikel in den Handel, welcher großes Aufsehen erregte. Er hatte jene aus Leim und Syrup bestehende gallertartig-elastische Masse, aus welcher die Buchdrucker ihre Walzen gießen, mit Blei- oder Kremserweiß versetzt, ihr damit das Gallertartige genommen und dieselbe zur Herstellung von Caricaturenköpfen, Thieren, wie Eidechsen, Schlangen, Fröschen und dergleichen, verwendet. Man konnte aus einem aus dieser Masse – der sogenannten Guttapercha – hergestellten Kopfe durch Ziehen und Drücken jede Fratze machen, was natürlich bei Jung und Alt viel Heiterkeit hervorrief. Bald kam diese Masse in die Hände mehrerer Fabrikanten, und es wurde in kurzer Zeit ein großer Umsatz mit der fraglichen Waare erzielt. Leider überlebte indeß dieser Artikel kaum einen Sommer. In der Wärme fing die Masse an klebrig zu werden, ja sie löste sich bei höherer Temperatur bis zum völligen Schmelzen auf. Als nun gar an mehrere Kaufleute ganze Kisten mit solchen völlig zerflossenen elastischen Köpfen aus Südamerika und Mexico zurückkamen, da war den Guttaperchaartikeln das Todesurtheil gesprochen, und es wurde seit jener Zeit nie wieder ein Stück der fraglichen Art verfertigt.

Seit vielen Jahren werden bekanntlich in Spanien und durch Spanier auch in Mexico feinere, buntgemalte Figuren in gebranntem Thone hergestellt, welche den Vortheil gewähren, daß sich an den den Formen entnommenen Abdrücken leicht „nachschärfen“ oder nachhelfen läßt, was bei der Papiermachéfabrikation nicht der Fall ist. Diese sogenannten Terralithwaaren werden seit 1847 ebenfalls in Sonneberg fabricirt und sind seit einer Reihe von Jahren eine gesuchte Waare. Anfangs fertigte man hauptsächlich sogenannte Theaterfiguren, d. h. Costümfiguren der hervorragenden Rollen beliebter Theaterstücke an. Die erste Anregung zur Verfertigung von Terralithwaaren hat ebenfalls der schon genannte Zeichen- und Modellirlehrer Bandorf gegeben, unter dessen Einfluß sich überhaupt die Plastik der Sonneberger Spielwaaren wesentlich veredelte. Unter seinen Schülern nehmen Chr. Döbrich in Sonneberg und Ernst Dorn in Neustadt a. H. eine hervorragende Stelle ein; während der erstere die berühmten Pariser gebrannten Thoncaricaturen vortrefflich nachahmt und dieselben rohfarbig oder bunt zum fünften Theil des Preises der in Paris gefertigten höchst geistreichen Originale herstellt, gehen aus dem Etablissement von Ernst Dorn in Neustadt a. H. überaus schöne Terralith-Statuetten berühmter Männer hervor.

Die Figuren mit beweglichen Gliedern, wie z. B. die von Sonneberg aus in ungeheueren Massen über die ganze Erde verbreiteten Täuflinge, sind zuerst aus China nach Europa gekommen. Paris liefert für Sonneberg häufig Muster von mechanischen Spielwaaren; doch fehlt es auch in Sonneberg nicht an erfinderischen Köpfen. So ist beispielsweise die Bewegung der Augen in den mit Papa- und Mamastimmen versehenen Figuren Sonneberger Ursprungs. Diese Papa- und Mamastimmen hat Christoph Motschmann nach Sonneberg gebracht, und der Mechaniker Hensold nach Pariser Mustern zuerst nachgeahmt. Gegenwärtig werden die sogenannten Papa- und Mamastimmen, sowie diejenigen der Schafe, Ziegen, Haushähne, Kakadus, Hunde, Ochsen, Pferde etc. auf den umliegenden Dörfern so täuschend naturgetreu und zugleich so billig hergestellt, daß solche Stimmen jetzt sogar von den ursprünglichen Pariser Erfindern und Fabrikanten von Sonneberg bezogen werden. –

Die Holzschnitzerei des Meininger Oberlandes beschäftigt gegenwärtig gegen eintausendeinhundert Familien, welche, je nachdem sie große, sehr schönes astfreies und gut spaltbares Holz bedingende, oder kleinere Artikel fertigen, als Groß- und Kleinschnitzer unterschieden werden. Der Gesammtbetrag des jährlich von den Schnitzern verarbeiteten Holzes betrug in den zwanziger Jahren vier- bis fünfhundert Klaftern, während gegenwärtig mehr als fünftausend Klaftern jährlich erforderlich sind. Rohe für die Verpackung bestimmte Gegenstände und Behältnisse, wie Faßdauben, Packfässer und Packlisten, Schachteln, große in Sätzen, d. h. viele ineinander gesteckt, ferner mittlere oder sogenannte Nachtlichterschachteln, dann kleine, zur Aufnahme von Schwefelhölzern, Pillen, Wichse, Zuckerbäckerwaaren und dergleichen Dingen bestimmt – das Alles sind Gegenstände der Sonneberger Industrie. Ein großer Theil dieser Dinge wird in Sonneberg selbst verbraucht, doch wird nicht wenig davon auch nach anderen Industriebezirken versandt. Zu den Schachteln und Trommel-Läufen, welche man mit Hülfe eines Hobels äußerst schnell herstellt, muß das Holz im grünem Zustande verarbeitet werden. Auch die verschiedene, Kasten, wie Porcellan-, Griffel-, Farben-, Glasmärmel- und Schmierkästen, ferner die Bandbretchen, sowie runde und ovale Bandrollen, ferner die nach Köln gehenden Eau de Cologne-Kästchen sind hier mit zu erwähnen. Die Buchenspähne, 18“ lang und 1’ breit, wovon der Bund zu fünfzig Stück drei Kreuzer kostet, werden ebenfalls unter Anwendung eines dazu geeigneten Hobels in ungemein kurzer Zeit gewonnen, indeß sind bei dieser Manipulalion stets zwei Arbeiter erforderlich. Diese Spähne wandern zu verschiedener Verwendung in Essigfabriken, Spiegelfabriken und in Bierbrauereien, breitere auch in Schusterboutiquen und dienen hauptsächlich in Sonneberg gleichfalls zur Verpackung.

Eine weitere Abtheilung der Sonneberger Schnitzerartikel bilden die sogenannten Weißmacherarbeilen, d. h. Theile von Gegenständen, welche von anderen Fabrikanten unter Anwendung von Papiermaché, Leim, Farben und dergl. ihre Vollendung erhalten. Hier sind zu nennen: Bretchen in allen Größen, welche mit der sogenannten Spaltklinge hergestellt werden, ferner Kästchen zu Untergestellen, Pferde, Reiter, fahrend und auf Bogen stehend, Cabriolets, Ställe, Thierrümpfe und Beine, Arme und Hände zu Täuflingen, Rädchen, Bälge, Gliederpuppen und dergleichen. Endlich liefern die Kleinschnitzer auch eine lange Reihe von Artikeln, die als reine Spielwaaren sofort in den Handel kommen. Zu den seit alter Zeit gefertigten Gegenständen, die unter diese Rubrik fallen, zählen wir die kleinen Koffer (das Dutzend von zwölf Kreuzern an), die kleinen Lädchen (das Dutzend von drei und einem halben Kreuzer an), die Geigen (das Stück von vier Kreuzern an) die Schnurren (das Dutzend von vier Kreuzern an), und manch andere noch. Von den gedrechselten Gegenständen primitivster Art nennen wir die Pfeifen, Flöten (das Dutzend von drei Kreuzern an), Posthörnchen und Trompeten (das Dutzend von vier Kreuzern an), die Nußknacker, Puppenmöbel und Puppenstuben, Trommelschlägel, Kegelspiele und dergleichen. Die Drechsler liefern vielerlei Thiere und Figuren, welche auf klingenden Kästchen stehen. In Gruppen zusammengestellt oder in besondere Ordnungen gebracht geben diese Gegenstände viele neue Artikel; hierher gehören z. B die Caroussels. Selbstverständlich sind alle diese Dinge mit verschiedenen Farben bemalt.

Auch Orgeln werden in Sonneberg construirt; die kleineren welche fünf bis sechs Choräle oder beliebte Volksmelodien spielen dienen zum „Anlernen“ der Gimpel oder Dompfaffen, während größere Drehwerke vorzugsweise über Hamburg nach verschiedenen Colonien exportirt werden.

Die Zahl derjenigen Artikel, welche aus Holz in Verbindung mit Papiermaché gefertigt werden, ist überaus groß, namentlich giebt es außerordentlich viele meist angekleidete mechanische Spielwaaren; ebenso finden wir alle möglichen Thiere, welche beweglich sind, Stimmen haben und mit natürlichen Fellen überzogen sind. Sehr reichhaltig sind auch die Lager von Papiermachéfiguren für den Nipptisch. Wir sehen hier Figuren und Caricaturen von einem Zoll bis zu drei Fuß Höhe mit beweglichen Köpfen, mit beweglichen Augen und beweglichem Munde in Tausenden von Varietäten.

Was überhaupt in Sonneberg und zwanzig zum Theil starkbevölkerten Orten der Umgegend von etwa eintausend Arbeitern gefertigt wird, das zeigt uns der Mustersaal eines jeden größeren Sonneberger Handelshauses. Hier erblicken wir je ein Exemplar von zehn- bis zwölftausend verschiedenen Artikeln, die im vollsten Sinne des Wortes eine immerwährende Weltausstellung repräsentiren. Menschen aller Racen, aller Zonen, aller Zeiten stehen hier vor uns. Alle Stände sind vertreten vom Savoyardenbüblein bis zum Kaiser. Hier wohnt ein Friede, wie er sonst nirgends auf der Erde wieder gefunden wird: ruhig stehen nebeneinander der Deutsche und der Däne, der Pole und der Russe, der Unionist und der Conföderirte Amerikas. An der Seite eines Brahminen hüllt [714] sich ein bärtiger Jude in seinen weiten Kastan; neben einem Franciscaner schreitet gemessen ein Derwisch einher. Um den grünen Tisch sitzen die Gesandten der englischen Conferenz, während eine andere Gruppe ebenfalls in naturgetreuen Figuren die letzte Fürstenversammlung zu Frankfurt a. M. darstellt. Dabei sind alle Zeitalter repräsentirt; wir gewahren moderne Trachten neben Gestalten aus dem Alterthume, dem Mittelalter und der Renaissance. Alle Männer der Gegenwart, welche in Staat und Kirche, in Kunst und Wissenschaft, in Politik und Literatur unser besonderes Interesse in Anspruch nehmen, begegnen uns hier wieder. Neben allerlei niedlichen musikalischen Instrumenten, Flöten, Geigen, Pfeifen, Trompeten und Pauken etc. gewahren wir ein reich ausgestattetes Arsenal von Flinten, Säbeln, Pistolen, Trommeln und Kanonen. Keine Menagerie, ja kein zoologischer Garten ist reichhaltiger, als die Sammlung von Thieren, welche uns der Mustersaal zeigt. Jeder pomologische Verein würde stolz sein auf die Ausstellung der hier ausgelegten Sorten von dem verschiedenartigsten Obst, von Weintrauben, Beeren, Kirschen in Glas, Porcellan und Papiermaché. Niemals hat einem Jockeyclub eine größere Auswahl von Pferden aller Racen zu Gebote gestanden, als hier vorhanden sind, ebenso würde ein Theaterregisseur wegen der zu beschaffenden Requisiten hier niemals in Verlegenheit kommen. Tausende von neckischen Geistern umhüpfen uns in Gestalt von Humoresken und Caricaturen. Vom ellenlangen Hampelmann und der tragikomischen Figur unseres Flotten-Fischers bis zu dem Herrn Doctor Eisele ließe sich eine lange, lange Reihe von äußerst schalkhaften und possirlichen Gegenständen dieses Genres nennen. Kurz, die Stecken- und Wiegenpferde der kleinen wie der großen Kinderwelt aller civilisirten und uncivilisirten Nationen sind hier zur Schau ausgestellt. Noch mehr Interesse gewinnt aber der Mustersaal für uns, sobald wir von dem uns begleitenden Kaufmanne einige Andeutungen darüber hören, nach welchen Ländern der eine und der andere Artikel seinen hauptsächlichen Absatz findet. Hier ist uns Gelegenheit geboten, die Eigenthümlichkeiten und namentlich die verschiedenen Geschmacksrichtungen der einzelnen Völker gründlich zu studiren.

Außer den im Sonneberger Bezirk selbst gefertigten Spielwaaren sehen wir hier zugleich den größten Theil aller übrigen in Deutschland und selbst im Auslande, wie z. B. in Paris, fabricirten Spielwaaren, da Sonneberg große Quantitäten dieser Artikel von allen Seiten bezieht und wieder ausführt. Aus dem sächsischen Erzgebirge und namentlich aus Seiffen bei Marienberg kommen ganz ordinäre kleinere Holzspielwaaren in Schachteln, Noahkästen, Pfennigpfeifen und dergl., während aus der Umgegend von Lichtenfels in Oberfranken eine Menge niedlicher Korbspielwaaren bezogen werden. Auch Böhmen und Schlesien führen nach Sonneberg verschiedene Artikel aus. In Westphalen sind es besonders die Städte Solingen und Lünen, welche für Sonneberg viele Artikel, z. B. metallene Kindersäbel, Kindermesser und -Gabeln und dergl. liefern. Die bekannten Berchtesgadner Schnitzereien sind in Sonneberg natürlich auch vertreten. Katholische Heiligenbilder und Crucifixe sendet Tirol, wo Gröden unter andern Artikeln auch eine Gattung von Crucifixen, jene erst neulich in der Gartenlaube erwähnten „Herrgottle“, aus Holz schnitzt, welche zwei bis drei Zoll lang sind und kaum neun bis zehn Kreuzer das Dutzend kosten. Selbstverständlich sind diese „Herrgottle“ außerordentlich roh gearbeitet. Dagegen bekommt man um wenige Kreuzer mehr „Herrgottle mit Muschculatur“, d. h. mit einigen Andeutungen eines Rippenkastens und einiger Hauptmuskelformen. Feinere, nicht aus Holz oder Papiermaché gefertigte Spielwaaren, die zunächst zur Belehrung und zu geistiger Unterhaltung dienen, kauft Sonneberg in Paris, Cassel, Stuttgart, Berlin und Nürnberg. Besonders mit dem letztern hat Sonneberg als eine gute Tochter viele Beziehungen unterhalten. Während Nürnberg selbst sehr viele Artikel von Sonneberg bezieht, sendet es den Sonneberger Kaufleuten vorzugsweise Blech-, Zinn- und Messingwaaren, wie Klingeln, Säbel, Küchengeräthe, ferner Baukästen, Cubus-, Geduld-, Metamorphosen- und Tivolispiele, Lottos, Kanonen, Gewehre, Harmonicas, Blechtrompeten, zinnerne und bleierne Ringe, Kinderuhren, Eisenbahnen, Hornwaaren, z. B. Hornschlangen, Kaleidoskope, Buchdruckerpressen für Kinder, magnetische Spielwaren, Guckkästen, Roulettespiele, Cartonagen, Bilder und Spiegel in Rahmen und dergleichen.

„Hoher Sinn liegt oft in kind’schem Spiel!“ Dies Wort wird durch die Sonneberger Spielwaarenindustrie von einer Seite aus illustrirt, an welche man gewöhnlich wohl nicht denkt. Sonneberg ergiebt mit seinen Erzeugnissen nämlich einen jährlichen Umsatz von anderthalb Millionen Gulden. In neuerer Zeit, wo unsere besten Künstler bestrebt sind, durch wahrhaft gute Bilderbücher die unheilvollen Struwwelpetriaden zu verdrängen, ist man auch in Sonneberg thätig, mehr und mehr feinere Spielwaaren herzustellen, wobei Geschmack, Eleganz und Naturtreue die leitenden Ideen sind. Zudem ist es ein besonderes Verdienst der Sonneberger Spielwaaren-Industrie, nicht nur plastisch schön geformte Spielwaaren zu produciren, sondern dieselben auch zu äußerst billigen Preisen zu liefern. Darum haben auch die Sonneberger Artikel überall in den gebildeteren Familien willkommene Aufnahme gefunden. Der Gedanke, daß ein gut geformtes Spielzeug in gewissem Sinn das Alphabet der Kunst genannt werden kann, gewinnt von Tag zu Tag mehr Terrain. In dieser Hinsicht können die Verdienste des Kaufmanns Adolf Fleischmann um die Sonneberger Industrie nicht hoch genug angeschlagen werden. Seit 1858 ist auch eine Zeichen- und Modellirschule in Sonneberg in’s Leben gerufen worden, welche wesentlich zur Heranbildung tüchtiger und künstlerisch schaffender Arbeiter beiträgt. Vom Staate unterstützt ist außerdem in jüngster Zeit unter der Leitung des aus Imst in Tirol hierher berufenen Holzbildhauers Klotz eine Schule für Kunst-Holzschnitzerei errichtet worden, in welcher auch eine Anzahl von Zöglingen aus dem Schnitzerdistricte Sonnebergs unentgeltlich Unterricht erhalten.

Kaum möchte heute das Sonneberger Geschäft an Umfang demjenigen Nürnbergs viel nachgeben. Gegenwärtig verschickt Sonneberg noch einmal so viel Waaren in die Welt, wie in den vierziger Jahren. Mehrere Chefs der großen Sonneberger Handelshäuser haben Jahre lang in New-York oder in London, in Brüssel oder in Paris gearbeitet und im Auslande große Reisen gemacht. Die Hauptabnehmer der Sonneberger Artikel sind die deutschen Zollvereinsstaaten, Frankreich, Holland, England, Rußland und Nord- und Südamerika. Da Jahr aus Jahr ein viele Grossisten aus den entferntesten Ländern nach Sonneberg kommen, so hat man hier im Interesse dieser Fremden seit einigen Jahren eine permanente Musterausstellung von auswärtigen, in das Sonneberger Fach einschlagenden Industrieerzeugnissen in’s Leben gerufen, wodurch zu gleicher Zeit dem Sonneberger Geschäfte neue Handelsartikel zugeführt werden.

Wenn durch die genannten Anstalten der Sonneberger Industrie Gelegenheit geboten ist, sich immer weiter und weiter zu entfalten und mehr und mehr der Kunst zu nähern, so hat die letztere selbst seit einigen Jahren ihren Einzug in Sonneberg gehalten durch das in seiner Art in ganz Deutschland einzig dastehende industrielle Etablissement von A. Schmidt. Was hier unser ganz besonderes Interesse in Anspruch nimmt, ist die Herstellung von antiken Gefäßen, welche den mit Patina überzogenen Bronce-Originalen auf das Täuschendste ähnlich sehen. Bekanntlich ist die blaugrüne oder chromgrüne Farbennüance der antiken Patina selbst auf wirklicher Bronce nur mittels eines französischen Geheimmittels herzustellen. Dem in Rede stehenden Etablissement ist es aber gelungen, nach antiken Originalen oder Originalabgüssen Gefäße aus Terracotta – gebranntem, naturfarbigem, rothem, gelbem und gelb-rothbraunem Thon – herzustellen, deren Patina von der antiken nicht zu unterscheiden ist. Die Producte der berühmten Kerameutik der Alten sind gegenwärtig wieder ein Lieblingsgegenstand zur Decoration der Salons, der Zimmer und Vorsäle geworden und haben deshalb seit geraumer Zeit in Neapel und einigen Fabriken Englands Nachahmung gefunden. Wir sehen in dem A. Schmidt’schen Etablissement die in dem großen Gerhard’schen Vasenwerke zusammengebrachten antiken Gefäße in einer Vollendung erstehen, daß wir uns unwillkürlich nach Pompeji und Herculanum versetzt glauben. Als höchst anschauliche Illustration zu den in alten Epopöen geschilderten Gesäßen ist jeder höheren Lehranstalt eine übersichtliche Gruppe derartiger Gesäße nicht genug zu empfehlen.

Nicht weniger sind wir überrascht beim Anblick der in Terralith ausgeführten Helden- und Götterfiguren des trojanischen Krieges nach der Ilias des Homer. Der Raum gestattet uns leider nicht, diese neun Zoll hohen Figuren, welche ebensowohl in bunter Ausführung, als auch in brauner, schwarz decorirter Terracotta zu sehen sind, hier ausführlich zu besprechen. Wir können [715] jedoch das A. Schmidt’sche Etablissement nicht verlassen, zugleich den nach japanischer Weise vergoldeten, broncirten und auch gemalten Siderolithwaaren der verschiedensten Art unsere Bewunderung zu zollen. Aus Terralith werden hier äußerst feine Figuren, Portraits, Gebrauchsgegenstände etc. hergestellt, deren Farben, was früher bekanntlich nicht der Fall war, unverwüstlich sind und deren Versilberung und Vergoldung polirfähig ist. Alcarazzas, Kühlgefäße, Weinkühler, Butterkühler u. dergl. Gegenstände, aus porösem weichen Thone fabricirt und mit doppelter Wandung versehen, gehen gleichfalls aus dieser Anstalt hervor.

Es ist eine Freude, zu gewahren, wie hier alle Kräfte harmonisch ineinander greifen. Die Früchte solcher Arbeit sind denn auch sichtbar. Sonneberg ist in den letzten zwanzig Jahren von dreitausend auf fünftausend Einwohner gestiegen, der Wohlstand wächst mit jedem Jahr, die Stadt selbst sieht sich genöthigt, aus der Enge des Waldthales immer weiter nach der Ebene hinabzusteigen, wo auch die Gasanstalt ihre Stelle erhielt und eine Reihe von großstädtischen Gebäuden den Blick auf sich zieht. Ueberhaupt gewährt die Stadt, die hoffentlich, wie bereits mit Coburg, bald auch mit Gera durch einen Schienenweg verbunden sein wird, vom Bahnhofe aus und namentlich zur Sommerzeit in der grünen Umrahmung der nahen Berge einen überaus malerischen Anblick. Weit oben über dem alten Stadttheile erhebt sich an der Stelle einer längst verfallenen Burg ein hoher Thurmbau, als ein Lueg in’s Land die Thalebene weit beherrschend, welcher den Rittern der Gegenwart, den Industriellen, als Vergnügungslocal dient. Da hat man denn Gelegenheit, sich zu überzeugen, daß bei aller Intelligenz und Gewandtheit dem Sonneberger seine alte thüringische Gemüthlichkeit nicht abhanden gekommen ist. Rechts aber auf einer mäßigen Anhöhe prangt die schöne neue Stadtkirche, nach des unlängst verstorbenen Heideloff’s Zeichnung eine Nachbildung der St. Lorenzkirche in Nürnberg, ebenfalls zum Zeugniß dafür, daß Sonneberg auch in Zukunft mit Stolz genannt werden wird – eine Tochter Nürnbergs.
August Topf.




Ein kirchliches Charakterbild.

Die große, freisinnige, religiöse Bewegung in Baden, welche seit fast zehn Jahren dort neben einem politischen Fortschritt vor sich geht, hallt aus den süddeutschen Blättern zu uns herüber. Aus diesem religiösen Kampfe klingt jedoch der Name Schenkel am meisten an unser Ohr. Ueber diesen Namen spricht die religiöse Reaction ihr Anathema und der Fortschritt schreibt ihn auf seine Fahne, und da die religiöse Bewegung mit dem Namen Schenkel verflochten ist und aus der deutschen Presse nachklingt, so wird den Lesern der Gartenlaube ein Charakterbild dieses Mannes wohl nicht unwillkommen sein.

Schenkel, der Professor der Theologie zu Heidelberg, der badische Kirchenrath, der Seminar-Director und erste Universitäts-Prediger, dessen Verdienst es ist, daß die Annahme des Concordats mit Rom abgewiesen wurde, der die freisinnigste Kirchenverfassung für Baden entworfen und der, dem badenschen politischen Umschwung gegenüber, auch einen freieren Spielraum in dem Kirchenwesen des Badener Landes heraufbeschworen hat, ist ein echtes Charakterbild der modernen evangelischen Freiheit oder der freisinnigen Vermittelung. Und als er vor Kurzem, neben Strauß und Renan, mit seiner Schrift: „Das Charakterbild Jesu“, aufgetreten, die schon in wenigen Monaten in dritter Auflage erschienen ist; als bei dieser Gelegenheit eine mächtige klerikale Parteiversammlung sich zu einem Ketzergerichte aufgeworfen und die Behörden zu Gewaltschritten aufgefordert – da hat sich die langjährige, freisinnige Vermittelungsrolle Schenkel’s als segensreich, die Reactionspartei der Kirche als ohnmächtig erwiesen.

Seit fünfundzwanzig Jahren ist Schenkel bestrebt, für die evangelische Freiheit auf praktischem Wege zu kämpfen, um durch das System der Vermittelung, in gleicher Entfernung von dem Traditionsglauben und der Orthodoxie wie von der rücksichtslosen, die Masse erschreckenden Negation, einen Einfluß auf den Gang der kirchlichen Reform zu behalten. Dieser Weg allein, wie er auch durch die beiden extremen Parteien ein dornenvoller wurde, hat den Fortschritt der badischen Kirche bewirkt. Wenn wir auf Preußen schauen, wo man von oben herab die starre Orthodoxie in Kirche und Schule, den religiösen Rückschritt und die evangelische Unfreiheit dem Volke durch Regulative und Maßregeln einzuimpfen sucht, die nur vom politischen Absolutismus übertroffen werden; wenn wir auf Hannover sehen, wo die zähe Strenggläubigkeit der Regierung fort und fort die constitutionellen Rechte und die religiöse Freiheit des Volkes bedroht: so müssen wir auf Baden mit Genugthuung hinblicken, wo durch Schenkel die kirchliche Bewegung begann und die Regierung auf der Seite des Fortschritts steht.

Und der Kampf und der Widerstand von Seiten der Verblendeten des Volkes, sowohl gegen die fortschreitende Regierung, als gegen Schenkel, ist nicht ausgeblieben. Ein großer orthodoxer Theil der Geistlichkeit und des ihr vertrauenden Volkes widersteht fanatisch dem Fortschritte und sucht in jeder Weise der Regierung Hindernisse in den Weg zu legen. Für das freisinnige Schulgesetz, welches den katholischen Klerus in Aufruhr gebracht, hat die Regierung nur mühsam die Mehrheit der Stände gewonnen, um es zu veröffentlichen. Und gegen Schenkel und gegen sein Buch, „das Charakterbild Jesu“, erhob die Schaar der Finsterlinge einen Schrei der Verdammung. Nach einer fanatischen Agitation unterzeichneten einhundert und siebenzehn Geistliche einen Protest, worin sie Schenkel für unfähig erklärten, ein theologisches Lehramt zu bekleiden, die oberste Kirchenbehörde darin aufforderten, ihn aus seiner Stellung als Seminardirector, als Professor und als Kirchenrath zu entfernen. Nur die hinter ihm stehende freisinnige Regierung und oberste Kirchenbehörde waren im Stande, durch Herbeiführung einer Conferenz zu Durlach und durch eine Entscheidung des obersten Kirchenraths, ihn dem Märtyrerthum zu entziehen. Daß die Regierung und oberste Kirchenbehörde auf freisinniger Bahn wandeln; daß letztere entschieden hat, „das Vertrauen der Gemeinde zum Christenthum könne nur geschwächt werden durch jeden Versuch, dasselbe der freien Forschung zu entziehen“, ist Schenkel’s Werk. Das Princip der Lehrfreiheit, wenn auch in einem kleinen Theile der protestantischen Kirche, bleibt unter allen Umständen ein Sieg, und diesen Sieg erfocht Schenkel.

Die Bedeutung der Schenkel’schen Wirksamkeit, die der Urheber dieses Charakterbildes hier gezeichnet, ist aber nicht blos eine Phrase, sondern eine von allen Parteien anerkannte. Die traditionsgläubige, orthodoxe Geistlichkeit mit ihrem Anhange möchte ihn dieser Wirksamkeit wegen aus seiner Stellung stoßen. Der freisinnigen extremen Partei geht er in seinem Wirken nicht weit genug und gern möchten sie ihn bis zur Isolirung drängen; die Berliner Hoftheologen mit ihrem Kreuzzug, Hengstenberg an der Spitze, sehen in ihm den Antichrist. Nur die freisinnige Regierung weiß ihn als aufgeklärten badischen Landestheologen zu schätzen, der bei aller Schonung für das kirchliche Bewußtsein der Gemeinde die Reaction zu brechen versteht. Diese Anerkennung zollt ihm auch der Herzog Ernst von Coburg, indem er Schenkel bei Gelegenheit seiner neuesten Schrift, „die protestantische Freiheit im Kampfe mit der kirchlichen Reaction“, gratulirte, daß er „sowohl der verdammungssüchtigen Orthodoxie, wie auch dem wohlfeilen Spott der Fanatiker des Unglaubens“ entgegen getreten.

In einem andern Lichte muß uns aber Schenkel’s Charakterbild erscheinen, wenn wir ihn als theologischen Schriftsteller betrachten. Als Schriftsteller ist Schenkel, wie sein Gegner Strauß mit Recht sagt, wirklich nur ein Halber. Obgleich er von Strauß die Anregung empfangen, auf demselben freien Standpunkt steht und vor der Orthodoxie in gleicher Verdammniß ist, hat er dennoch, um seine kirchliche und akademische Stellung nicht zu verlieren und einen Freibrief für seine praktische Wirksamkeit zu haben, sein Vorbild in dem Aufsatze „das Christenthum und die Humanitäts-Religion“ verleugnet und im Kampfe gegen den kirchlichen Wahn und den religiösen Aberglauben nicht die ungetheilte Wahrheit gesagt. Und kann man auch nicht mit Strauß, bei dessen Verstandeseinsamkeit und Isolirung, darin einstimmen, daß Schenkel’s Charakterbild Jesu ein verschwommenes, vermittelndes und also charakterloses Buch sei, so können doch seine besten Freunde vom schriftstellerischen Standpunkte aus diesem Buche keine Entschiedenheit [716] und keinen Charakter zuschreiben. Ueber die biblischen Wunder bei dem „Christus des Glaubens“ stimmt er im Princip mit Strauß überein, wenn er sagt: „Jede einzelne Wundererzählung der evangelischen Geschichte verfalle dem unerbittlichen Gerichte der Kritik; in jedem einzelnen Falle habe nicht der Glaube, sondern der auf’s Strengste prüfende Verstand zu entscheiden.“ Bald jedoch sucht er den Wundergeschichten durch täuschende Umschreibungen eine geschichtliche Grundlage zu geben oder sie zu Thatsachen abzuglätten, um nicht als Ketzer verschrieen zu werden, oder endlich sie in einer rednerischen Figur verschwimmen zu machen. Eine solche nichtssagende Redefigur ist z. B. der schönklingende Satz: „Die Gottheit ist mir das Wunder der Wunder; Gott ist mir der Geist der Geister; wunderbar ist mir das Leben des Geistes schon in dem ersten Stammeln des Kindes, wie vielmehr in den Heldengestalten geistiger Kraft und sittlichen Muthes, in den heiligen Vorkämpfern auf dem mit Schweiß und Blut getränkten Wege der Erlösung der Menschheit von Sünde, Knechtschaft und Qual.“ Darin ist aber der biblische Wunderglaube in der Schwebe gehalten. In der allgemeinen kirchlichen Darstellung des „Versöhnungstodes Jesu, des Gottmenschen, als Bild und Bürgschaft der Begnadigung und Seligkeit und als Erlöser“, theilt Schenkel ganz die Meinung von Strauß, daß diese Vorstellung eine unwissenschaftliche und daher unberechtigte sei, weil aus der unphilosophischen Idee von einem sühnenden, blutigen Opfer hervorgegangen. Er sieht vollständig ein, daß dieser Begriff aus dem A. T. herübergekommen ist. Und doch umschreibt er sodann diese kirchliche Ansicht zu Gunsten des gläubigen Volkes, indem er sagt: „Jesus habe die Menschheit von den Irrthümern des Heidenthums und Judenthums befreit, von der dumpfen Gewalt der Sünde, von den verderblichen Mächten der Sinnlichkeit und Selbstsucht losgemacht und ihr das ewige Wesen der Gottheit, die heilige Liebe, durch das höchste Opfer, welches die Geschichte aufweist, geoffenbart“. Als Schriftsteller, welcher die Wahrheit rücksichtslos ausspricht, hätte er aber die Unwürdigkeit der Vorstellung des Sühnopfers und das Willkürliche von einem zürnenden Gott darlegen müssen.

Daniel Schenkel.


Und mußte er nicht den Einwurf der Nüchternen – die im Glaubensgefühl Lebenden kommen hier nicht in Betracht – gewärtigen: Welches sind die heidnischen und jüdischen Irrthümer, und ist die Menschheit davon erlöst? Ist wirklich die Gesellschaft von der Gewalt der Sünde, der Sinnlichkeit und der Selbstsucht befreit? Schenkel sagt ausdrücklich im Vorwort zu seinem „Charakterbild Jesu“, daß seine Untersuchungen nur geschichtlicher Natur und nicht aus dem kirchlichen Dogma geschöpft seien, daß seine Zeichnung des Charakterbildes nur von der erweisbaren Seite ausgegangen sei, und doch hat er in der Sucht, das Historische mit dem Kirchenglauben zu vermitteln, die alten theologischen Formeln nicht verschmäht, das Wunderhafte und Uebermenschliche, womit Sage und Dichtung das Geschichtliche durchflochten, seiner Schilderung des Heilands beigegeben und dadurch das Natürliche und Menschliche geschädigt. Das Wunder der Auferstehung, der Wiederauflebung des Gekreuzigten, sowie die Annahme eines Scheintodes hat Schenkel mit Recht entschieden abgewiesen und den erzählten Vorgang in den Evangelien als rein psychologischen im Innern der Jünger angesehen. Und neben diesem Freimuth, der bekanntlich einen Sturm der orthodoxen Partei erregt hat, behauptet dann Schenkel die „persönliche Verklärung des Gekreuzigten nach seinem Tode in einem höheren realen Dasein und die geistvermittelte Einwirkung der verklärten Persönlichkeit auf die Jüngergemeinde“, oder „die reale Manifestation seiner aus dem Tode lebendig und verklärt hervorgegangenen Persönlichkeit Jesu“, gleichsam um durch diese phantastischen Redensarten den erregten Sturm zu beschwichtigen.

Von solchen und ähnlichen Gegensätzen ist Schenkel’s „Charakterbild Jesu“ voll. In seinem historischen Gewissen übt er zwar eine strenge rücksichtslose Kritik, aber um den allgemeinen Kirchenglauben des Volks zufrieden zu stellen, verbrämt er die Kritik mit hochklingenden, weihevollen Phrasen. Das ist die schriftstellerische Vermittelung, die sich durch alle Arbeiten Schenkel’s zieht. Aber diese verschafft ihm das Vertrauen der Regierung und der Bessern der Gemeinde, durch diese hat er seinen Einfluß auf die freisinnige kirchliche Entwickelung Badens bewirkt, und um dieser hochwichtigen Wirksamkeit willen stehen erleuchtete Männer, wie Bluntschli u. A., zu ihm. Die praktische und reale Wirksamkeit, der Einfluß nach oben und unten ist das vorzüglich Berechtigte in Schenkel’s Thätigkeit, ist Grundzug seines eigenen Charakterbildes und war das Strebeziel in seinem Leben. Er ist sich so sehr dieses einzigen Zieles bewußt und dieses ist so ganz mit seinem Denken verwachsen, daß er mit Bedauern auf die Himmelsstürmer hinabsieht, welche in schrankenloser Consequenz sich alles Einflusses begeben, in schroffer Aussprache ihrer Gedanken die Welt von sich stoßen und von den religiösen Fortschritten sich fern halten. In diesem Sinne ruft Schenkel seinem Gegner Strauß mit Bedauern zu, daß er „in seiner Verstandes-Einsamkeit allen Einfluß auf den Gang der Ereignisse verliere“, ohne zu bedenken, daß es Märtyrer giebt, die sich für die erkannte Wahrheit opfern und der Nachwelt die Wirkung ihrer Gedanken überlassen.

Eine kurze Skizze von Schenkel’s vielbewegtem Leben wird uns den Zug seines Strebens erklären. Geboren den 21. December 1813 in einem Dorfe des Cantons Zürich, wo sein Vater Landgeistlicher war, kam er erst 1828 in eine Schule zu Basel, wo er nächst classischen Studien auch die deutsche Literatur studirte, an Herder, Lessing und Goethe sich heranbildete. Erst der Baseler [717] Krieg von 1831 riß den achtzehnjährigen Jüngling aus seinen stillen Studien und führte ihn auf drei Jahr in das Baseler Jägerbataillon, um als Zunftbürger in Schaffhausen, der schon sein Vater gewesen, gegen die Uebergriffe der Landgemeinden Partei zu nehmen. Nach Schweizer Art wurde er früh schon auf das Praktische hingeleitet. Als er 1833 ein Berufsfach wählen mußte, da wählte er durch den Einfluß des freisinnigen de Wette die Theologie, und die liberal-rationalistische Richtung de Wette’s blieb der theologische Grundzug Schenkel’s. In Göttingen wurde er nicht nur in derselben theologischen Richtung durch Lücke und Gieseler bestärkt, sondern auch zur Erforschung der älteren Kirchengeschichte und des Urchristenthums angeregt. Von 1838 bis 1841 wirkte er als Privatdocent in Basel, als Lehrer am dortigen Gymnasium und als Redacteur der Baseler Zeitung im politisch und kirchlich liberalen Sinne und durch die Kämpfe mit der katholisirenden Partei in Schaffhausen kam er als erster Prediger und Kirchenrath an das Münster daselbst. Hier mußte er als Vorsteher des Schulwesens, Ephorus des Gymnasiums und als Kirchenhaupt nur auf praktische Wirksamkeit bedacht sein; ein freisinniges Schulgesetz und die Oberleitung einer radical gesinnten Gemeinde bildeten die nächste Thätigkeit, und die Kirchen-Reformen, wie die Abschaffung des Eides auf die helvetische Confession, die Errichtung einer demokratischen Kirchenbehörde, folgten nach. Das erste große dreibändige Werk Schenkel’s: „Wesen des Protestantismus (1847)“ verschaffte ihm 1850 einen Ruf als Professor nach Basel, im Jahre 1851 nach Heidelberg, wo er sich noch befindet und in freisinniger Weise wirkt. Die Versuche Bethmann-Hollweg’s, des Mannes der Schulregulative, Schenkel für Bonn zu gewinnen, scheiterten; er glaubte in Heidelberg besser am Platze zu sein, wo er durch seine vermittelnde Richtung die noch damals herrschende kirchliche Reaction zu besiegen hoffte. Und dieser Sieg ist ihm gelungen. Nach vier Jahren des Kampfes mit den kirchlichen Versammlungen (1851 bis 1855) ist es ihm von 1855 bis 1865 gelungen, eine freisinnige Strömung innerhalb der badischen Kirche herbeizuführen, das Concordat zu beseitigen, die Lehrfreiheit herzustellen, das Christenthum der aufgeklärten Anschauung näher zu bringen und auf Regierung und Regierte einen wohlthätigen Einfluß zu üben.




Aus den Erinnerungen eines Gefängnißinspectors.
3. Der Trost einer armen Wittwe.

In den Gefängnissen macht sich zu Zeiten eine Anhäufung gewisser Arten von Verbrechern bemerkbar. Namentlich ist das der Fall bei Meineidigen, bei Verbrechern gegen die Sittlichkeit, bei Kindesmörderinnen und bei Fälschern. Es ist gar nicht selten, daß diese Verbrechen längere Zeit hindurch nur ganz vereinzelt dastehen und daß dann urplötzlich aus den verschiedensten Classen der Gesellschaft sich eine Menge von jener Vergehen Angeschuldigten zusammenfinden und gleichzeitig das Gefängniß bevölkern. Ob dies reiner Zufall ist, oder ob dies durch irgend eine gleichartige geistige Einwirkung verursacht wird, das mag hier, wo nur erzählt werden soll, dahingestellt bleiben.

Vor einiger Zeit waren die Fälscher in dem Gefängnisse, das ich zu beaufsichtigen hatte, eine wahre Seltenheit. Da, mit einem Male, kamen an einem Tage vier und im Laufe derselben Woche noch sechs Fälscher zur Haft. Die Zahl steigerte sich in einem Zeitraume von noch nicht ganz drei Wochen auf siebzehn. Dann hörte die Zunahme wieder auf.

Bei dieser Gruppe Fälscher war die gleichartige Verübung des Verbrechens oder, was wohl bezeichnender ist, die Benutzung desselben Mittels zur Ausführung der That auffällig: es waren in der überwiegenden Mehrzahl sogenannte Wechselfälscher. Charakteristisch zeigten sich indeß nur zwei Persönlichkeiten, ein Kaufmann und ein gewöhnlicher Handwerker. Beide standen auf verschiedener Bildungsstufe und hatten in verschiedenen Gesellschaftskreisen sich bewegt. Der Eine hatte im Ueberflusse und alle Tage scheinbar als reicher Mann herrlich und in Freuden gelebt, der Andere im Schweiße seines Angesichts sein Brod gegessen; und dennoch hatten Beide dasselbe Mittel gewählt, um widerrechtlich Vortheile zu erwerben und sich zu bereichern.

Der Kaufmann Voigtsberg – von dem ich zuerst erzählen will – war nicht gerade ein schöner Mann, denn dazu fehlte die Uebereinstimmung der Körperformen, aber er verband mit einem passabeln Aeußern eine geschmeidige Gelenkigkeit in seinen Bewegungen und eine äußerst biegsame, einschmeichelnde Sprache, so daß er immer als eine angenehme Erscheinung gelten konnte.

Ich hatte noch keinen Gefangenen beherbergt, der mit so heiterm Sinn die Schwelle des Gefängnisses überschritten hatte; ich behaupte nicht zuviel, wenn ich sage: er tanzte lächelnd und singend darüber hinweg.

Als er sich in dem kleinen Raume umgesehen und außer Tisch und Bank nichts von Geräthschaften wahrgenommen hatte, hörte er zwar auf mit Singen, aber er lachte so laut und so anhaltend, daß es mir ganz unheimlich wurde. Ich dachte mir, daß der Ort, wo wir uns befanden, unter allen Umständen so entsetzlich sein müsse, daß wenigstens bei dem ersten Betreten ein Ergriffensein gar nicht unterdrückt werden könne, und vermochte nicht herauszufinden, weshalb Voigtsberg hiervon eine Ausnahme machte. Dieser ließ mir auch nicht viel Zeit Betrachtungen anzustellen, er trat, immer noch lachend, dicht an mich heran, und lachend fragte er:

„Herr Inspector, ist das Alles, was Sie mir bieten?“

„Nein!“ erwiderte ich kurz.

„Und was habe ich,“ fragte er weiter, „von Ihrer Güte noch zu erwarten?“

„Einen Strohsack mit Decke,“ versetzte ich ernst.

„Sonst nichts?“

„Zunächst nichts mehr.“

„Das ist allerdings wenig,“ entgegnete hierauf Voigtsberg, „indeß für einen genügsamen Menschen, wie ich bin, immerhin genug, um selbst einige Tage lang damit auszukommen.“

„Aber auch auf länger?“ fragte ich unwillkürlich.

„Ich denke, daß ich das nicht nöthig haben werde,“ versetzte er leichthin. „Mein Hiersein ist lediglich Folge eines Mißverständnisses, das sich jedenfalls bald aufklären wird. Dann –“

Er vollendete nicht, wendete sich vielmehr von mir ab und schritt in der Zelle auf und nieder. Ich hörte nicht mehr lachen und singen, Voigtsberg war mit einem Male still und auch ernst geworden.

Das überraschte mich nicht; die Lustigkeit konnte auf eine lange Dauer nicht vorhalten, sie mußte dem Ernste Platz machen. Die Umwandlung war mir nur ein wenig zu schnell und eigentlich ohne zureichende Veranlassung eingetreten; meine Frage, auf die er ja auch hätte vorbereitet sein müssen, konnte unmöglich tief eingewurzelte Gewohnheiten so urplötzlich beseitigen, nicht so im Umsehen den Frohsinn bannen, den finstern Ernst heraufbeschwören und so den Charakter des Mannes ändern.

Sollte er es auf eine Täuschung abgesehen haben?

Mit diesen Gedanken trat ich aus dem Gefängnisse heraus, schloß die Thür ab, hing das große, schwere Vorlegeschloß mit Geräusch in die eiserne Krampe und entfernte mich mit festen, starken Schritten.

Jede Gefängnißthür hat eine mit einer Klappe geschlossene kleine Oeffnung, welche dazu dient, das Thun und Treiben des Gefangenen belauschen zu können. Die Klappe kann nur von außen weggeschoben werden, und wenn das mit Vorsicht ausgeführt wird, so wird innerhalb der Zelle davon gar nichts wahrgenommen.

Ich wollte wissen, wie Voigtsberg sich nach meiner Entfernung benehmen werde, und kehrte daher leisen Trittes zur Thür zurück, schob die Klappe unhörbar fort und sah nun durch die kleine Oeffnung in das Gefängniß hinein.

Voigtsberg saß auf der Bank, die Arme ruhten ausgestreckt auf dem Tische, der Kopf war tief auf die Brust herabgesunken; in das Gesicht konnte ich nicht blicken. Er rührte sich nicht. Ich hatte ein Bild der tiefsten Niedergeschlagenheit, der größten Muthlosigkeit vor mir. Dies überzeugte mich, daß der Frohsinn erheuchelt [718] gewesen war, daß derselbe den Deckmantel für eine gewiß nicht geringe Schuld hatte abgeben müssen. Ich wartete wohl zehn Minuten auf eine Veränderung in der Stellung des Mannes, auf ein Zeichen von Leben; aber er verblieb unverändert in seinem dumpfen Hinbrüten.

Ich hatte genug gesehen, die Klappe fiel unhörbar zu.

Dieser Gefangene machte mir einige Tag lang viel zu thun. Seine Verhaftung war ganz unerwartet ausgeführt worden und hatte großes Aufsehen gemacht, es wurde in allen Häusern davon gesprochen.

Schon am folgenden Tage fanden sich eine Menge Leute bei mir ein und verlangten mit Voigtsberg zu sprechen. Sie behaupteten sämmtlich, ihm Geld geliehen zu haben, und nannten nicht selten erhebliche Summen. Später kamen auch Landleute in derselben Absicht zu mir; auch sie wollten Darlehen zurückfordern. Es versteht sich von selbst, daß sich die Leute vergeblich bemüht hatten und ihre Absicht nicht erreichten.

Aus diesen Besuchen und den mir dabei gemachten Mittheilungen ging aber hervor, daß Voigtsberg keineswegs der reiche Mann war, für den er im Orte gehalten wurde, daß er ungeheuer viel Schulden und gewiß zum großen Theil mit fremden Geldern gewirthschaftet hatte. Ich wunderte mich, wie ihm von so verschiedenen Seiten das Geld hatte zugeschleppt, wie ihm dasselbe, ohne irgend welche Sicherstellung, förmlich hatte aufgedrungen werden können. Als ich einen Landmann, der nach und nach über viertausend Thaler geliehen haben wollte, darnach fragte, erwiderte dieser geheimnißvoll: „I, das will ich Ihnen im Vertrauen sagen. Wenn wir Bauern unser Geld in die Sparcasse tragen, so erfährt der Landrath, wie viel wir alle Jahre erübrigen und zurücklegen; der steckt die Nase überall hin, auch in die Bücher der Sparcasse. Und die Folge davon ist? Merken Sie nichts? Na, im nächsten Jahre tritt, wie zufällig, eine Steuer-Erhöhung ein. Und wenn dann reclamirt wird, so hilft das nichts, denn in dem Contobuche der Sparcasse steht es Schwarz auf Weiß, daß Hans oder Kunz so und so viel erspart hat. Bei Voigtsberg hatten wir so Etwas nicht zu befürchten, der ist verschwiegen. Außerdem zahlt er auch vier Procent Zinsen, während die Sparcasse nur drei und ein Drittel Procent giebt.“ –

Voigtsberg sprach niemals über seine Vermögensverhältnisse; er erwähnte auch niemals seiner Frau und seiner Kinder, er that ganz so, als stehe er allein, als habe er da draußen, außerhalb der Gefängnißmauern, keinen Menschen, der Theil an ihm nähme. Ueber seine Führung konnte ich nicht klagen. Den Beamten gegenüber war er anspruchslos und fügsam, nie mürrisch, stets freundlich und heiter und immer aufgelegt, irgend eine humoristische Erzählung aus seinen Erlebnissen zum Besten zu geben. Ganz anders war aber sein Verhalten, wenn er sich unbeobachtet wähnte.

Ich bin oft an seine Zelle herangeschlichen und habe durch die Thüröffnung sein Thun und Treiben unbemerkt belauscht – obschon ich eigentlich diese Spionirlöcher und dies ganze Spionirsystem auf das Tiefste verabscheue. Es gewährte mir unwiderstehliches Interesse, mit eigenen Augen zu sehen, wie ein Mann, der eben erst gescherzt und gelacht, der in der launigsten und unschuldigsten Weise mich unterhalten hatte, wenige Augenblicke später dem größten Trübsinn anheimgefallen war und entweder regungslos auf der Bank saß oder gegen die Wand sich gelehnt hatte und in dieser Stellung Stunden lang verbleiben konnte.

Allein auch umgekehrt habe ich Wahrnehmungen gemacht. Wenn Voigtsberg für nichts weiter Sinn zu haben schien, als für seinen Schmerz, oder auch, wie ich wenigstens annehmen zu müssen glaubte, für seine Schuld, und ich dann so eilfertig, als ich dies nur zu thun vermochte, die Gefängnißthür öffnete, so trat mir derselbe wiederum freundlich, beweglich und gesprächig entgegen; nur einige Male war er nicht im Stande, eine Befangenheit zu unterdrücken, welche die Freiheit seines Auftretens beeinflußte. Die Haft hatte bereits über zwei Monate gedauert, das Mißverständniß sich noch immer nicht aufgeklärt; im Gegentheil, es war Anklage erhoben und Voigtsberg wegen Wechselfälschung definitiv in Anklagestand versetzt worden.

Die Verhandlung vor den Geschworenen war eine der interessantesten, der ich beigewohnt habe. In dem Wechsel, welcher durch Voigtsberg gefälscht sein sollte, war bis auf die Unterschnft jedes Wort lesbar, mit fester Hand und schwarzer Tinte geschrieben. An der Stelle, wo die Unterschrift gestanden haben sollte, waren dagegen nur einige Striche von einer schwachen, dunkeln Färbung ohne allen Zusammenhang erkennbar. Man konnte diese Striche nicht einmal als Theile eines Buchstabens ansehen und mußte sie für Schmutzflecken halten, die zufällig entstanden, aber nicht wieder zu beseitigen waren. Die Staatsanwaltschaft behauptete nun, daß die Unterschrift absichtlich mit Tinte, welche nach und nach verflüchtigt und verblichen, geschrieben und auf diese Weise gefälscht sei. Zum Beweise dieser Behauptung sollte die Unterschrift durch einen Chemiker vor den Geschworenen wieder hergestellt und die Echtheit sodann durch Schreibverständige dargethan werden.

Es war eine eigenthümliche Fälschung und eine ebensolche Beweisführung, das Ergebniß der Untersuchung daher sehr zweifelhaft, und dies erhielt bei Betheiligten und Unbeteiligten eine Spannung, welche sich in Worten gar nicht wiedergeben läßt.

Voigtsberg zeigte sich, wie er im Gefängniß gewesen war, sobald ich oder ein anderer Beamter ihm gegenübergestanden hatte. Frei von jeder Gemüthsbewegung, gab er auf die ihm vorgelegten Fragen lächelnd Antwort; es war keine Unruhe an ihm bemerkbar, und ich sage nicht zu viel, wenn ich behaupte, daß er allein ruhig zu sein schien, während die Hunderte von Menschen, welche der Verhandlung beiwohnten, nicht im Stande waren, eine mit Sorge und Furcht gemischte Neugierde zu unterdrücken. Ich konnte von vielen Gesichtern ablesen, daß an der Schuld des Angeklagten gezweifelt, oder doch, daß tief im Innern gewünscht wurde, der Beweis möge mißglücken, die Schuld nicht dargethan werden und der Angeklagte frei ausgehen, der Gesellschaft und seiner Familie wiedergegeben werden. Bei vielen Anwesenden mochten dies allerdings selbstsüchtige Wünsche sein, denn ich bemerkte darunter viele Gläubiger des Angeklagten, welche in der Erfüllung dieses Wunsches gewiß die einzige Möglichkeit sahen, ihr Geld wieder zu erhalten.

Die Hauptzeugin, eine schon bejahrte Dame, die Wittwe eines Beamten, erzählte, daß sie auf Anrathen eines guten Freundes ihr erspartes und erdarbtes Vermögen, bestehend in eintausend fünfhundert Thalern, aus der Sparcasse entnommen und, um mehr Zinsen zu erhalten, an Voigtsberg geliehen; daß dieser den Schein – so nannte sie den Wechsel – eigenhändig unterschrieben und daß sie die Unterschrift noch in ihrer Wohnung gesehen habe. Als sie kurze Zeit darauf den Schein ihrem guten Freunde habe vorzeigen wollen, sei von der Unterschrift nichts mehr zu sehen gewesen. Sie versicherte hoch und theuer, daß der vorliegende Wechsel derselbe sei, welchen Voigtsberg unterschrieben habe.

Diese Aussage fand nur eine entfernte Unterstützung in dem Zeugnisse des „guten Freundes“ und einer andern Dame, welche Beide bekundeten, daß die Wittwe ihnen mitgetheilt habe, sie wolle dem Angeklagten Geld leihen. Die Sache lag so, daß eine Freisprechung zu erwarten war, wenn die Unterschrift nicht hergestellt werden konnte. Der chemische Sachverständige trat vor; ihm zur Seite befanden sich die Schreibverständigen.

Während der Erstere die nothwendigen Vorbereitungen traf, nahm Voigtsberg, der bis dahin aufrecht gestanden hatte, auf der Verbrecherbank Platz. Er mußte müde geworden sein, er stützte den Kopf durch Auflegen auf die rechte Hand. Auf das, was der Sachverständige vornahin, hatte er gar keine Aufmerksamkeit, nicht ein einziges Mal wandte er den Kopf nach der Stelle hin, wo dieser sich beschäftigte. Ich hatte ebenfalls nicht darauf geachtet, vielmehr unausgesetzt nur Voigtsberg im Auge behalten, weil dieser allein mich interessirte. Da, wie durch eine Feder emporgeschnellt, sprang Voigtsberg von seinem Sitze in die Höhe, die Hände griffen nach der Lehne der Bank und klammerten sich hier krampfhaft fest, der Kopf beugte sich in der Richtung, in welcher die Sachverständigen thätig waren, weit vor, so daß ich fürchtete, der Oberkörper müsse das Uebergewicht erhalten und ein Niederstürzen herbeiführen; das Auge hatte sich ganz ungewöhnlich vergrößert und war stier geworden, und in dem Gesicht drückte sich eine Angst des Herzens und der Seele aus, welche unwillkürlich Entsetzen einflößte. Dieser Zustand war durch mehrstimmige Ausrufungen veranlaßt.

Der chemische Sachverständige hatte die Unterschrift hergestellt; das allmähliche Klarwerden der Schriftzüge und endlich das vollständige Gelingen seines Unternehmens hatten jene Ueberraschung und Freude ausdrückenden Rufe laut werden lassen.

[719] Voigtsberg war jedenfalls nicht theilnahmlos gewesen; er hatte auch hier täuschen wollen, der Entwickelung aber mit größter Spannung entgegengesehen und das Mißlingen gewiß mit Zuversicht erwartet. Die Rufe, welche von ihm gehört sein mußten und in ihrer Bedeutung nicht mißverstanden werden konnten, rissen ihm die Larve von dem Gesicht und stellten ihn in seiner Natürlichkeit dar. Sein Muth war gebrochen, Widerstand nicht mehr zu erwarten. Als ihm der Wechsel und insbesondere die vollständig lesbare Namensunterschrift vorgewiesen wurde, da weinte er wie ein Kind und unter Schluchzen legte er ein umfassendes Geständniß ab.

Die Strafe wurde hoch bemessen und auf sechs Jahre Zuchthaus und eine namhafte Geldbuße festgesetzt. –

Am Tage darauf kam ich zu einer ungewöhnlichen Stunde auf den Corridor, auf welchem sich die Zelle des Voigtsberg befand. Zu meiner größten Verwunderung bemerkte ich, daß eine Dame durch die Thüröffnung in diese Zelle hineinsah. Ihre Aufmerksamkeit war durch das, was sie sah, gefesselt; sie bemerkte nicht einmal meine Annäherung, obgleich diese nicht eben leise erfolgte. Erst als ich sie hastig und ungestüm von der Thür wegschob, wendete sie sich erschrocken mir zu. Ich hatte die Wittwe vor mir. Auf meine Frage: was sie hier suche? erwiderte sie nur: „Das ist schrecklich! Hier müßten Alle hergeführt werden, die Böses thun wollen; sie würden die schon ausgestreckte Hand zurückziehen, niederfallen auf ihre Kniee, die Hände falten und beten: ‚Führe Du, lieber Gott, mich nicht in Versuchung, sondern erlöse mich von allem Uebel.‘ Wissen Sie, lieber Herr, ich habe mein ganzes Vermögen verloren, ich bin durch den Mann da drinnen ganz arm geworden und muß nun auf meine alten Tage Entbehrungen ertragen und Noth leiden; allein ich nehme von hier den Trost mit hinweg, daß ich ein ruhiges Gewissen habe und daß über mich keine solchen Leiden kommen können, wie sie der Mann da drinnen tragen muß.“

Die Frau konnte nicht weiter sprechen. Ein Unterbeamter trat zu uns und bekannte, daß er durch vieles Bitten sich habe bewegen lassen, die Frau hierher zu führen, welche Voigtsberg nur einmal im Gefängnisse habe sehen wollen. Es war dies eine Dienstwidrigkeit, die strenge Ahndung verdient hätte, diesmal aber nur mit einem Verweise gerügt wurde. Denn ich mußte der Wittwe Recht geben, daß es Viele abhalten müßte, Böses zu thun, wenn ihnen Gelegenheit gegeben würde, die bewohnten Gefängnisse in Augenschein zu nehmen.




Blätter und Blüthen.


Ein Zug aus Lamartine’s Leben. Wie oft schon hat man diese Frage gehört und wie oft mußte man als Antwort darauf die Vermuthung hinnehmen, daß der einst so reiche Dichter, der von allen Gütern der Erde umgebene Schriftsteller und Redner, der Ex-Minister sein Vermögen in thörichter Verschwendung verschleudert habe, daß er ein unpraktischer Mensch sei, der nicht mit Gelde umzugehen gewußt, und dergleichen Redensarten mehr. Aber Diejenigen, welchen es vergönnt ist, den seltenen Mann genauer zu kennen, wissen die Sache besser, sie können uns tausend Beispiele erzählen über die Art, wie er seine Reichthümer angelegt, und wir wollen auf’s Gerathewohl eines aus diesen tausend Beispielen herausgreifen und mittheilen.

Vor einer Reihe von Jahren lebte zu Macon bei Parin ein Portraitmaler, Namens Simon Renard, der ein sehr armseliges Dasein führte, nicht gerade, weil er ein verkanntes Genie war, sondern weil ihm eben jegliches Talent und Genie fehlten, er besaß vom Künstler nichts als die Eitelkeit! Trotz seines großen Selbstvertrauens und trotz seiner Werke, ja wahrscheinlich gerade wegen seiner Werke, wurde sein ödes Atelier nie von Auftraggebern belästigt, so daß es ihm zugleich als Wohnung dienen konnte; das ganze Meublement bestand aus einem wackligen Schemel und einem Strohsack.

Wenn ich nur erst bekannt wäre! war der ewige Refrain unseres Malers, den er in allen Tonarten täglich wiederholte. Ach, er war es nur zu sehr und sein Ruf war selbst bis in die Loge des Portiers und die Mansarde des Arbeiters gedrungen, selbst die Köchinnen, denen damals noch nicht das Objectiv der Photographen zu Gebote stand, mochten ihm nichts zu thun geben. Mit jedem Tage wurde Simon Renard ärmer und trübseliger und declamirte heftiger gegen die Käuflichkeit und Bestechlichkeit unserer Zeit, die Ungerechtigkeit der Menschen, die Grausamkeit des Schicksals.

So ereignet es sich auch eines Morgens, daß der arme Renard mit sehr hungrigem Magen erwachte und sich vergebens nach irgend Etwas umsah, was er hätte können zu Brod machen. So eifrig er auch suchte, er fand nichts, absolut nichts. Da ergriff ihn der Humor der Verzweiflung, er nahm ein Stück Kohle und zeichnete sich die Ingredienzen zu einem herrlichen Frühstück an die Wand, wie es nur sein ausgehungerter Magen ersehnen mochte: ein kaltes, gebratenes Huhn, eine Gänseleberpastete, einige Zuspeisen, verschiedenartiges Dessert, eine langhalsige Bordeauxweinflasche und eine Tasse Mokka. Dann löschte er Alles wieder mit dem Aermel weg und sagte: „Nehmen Sie das Couvert des Herrn wieder fort!“

So frühstückte Simon Renard, denn etwas Anderes hatte er nicht; darauf stieß er einen tiefen Seufzer aus und zerbrach sich den Kopf, wie er wenigstens zu einem etwas wesentlicheren Mittagsbrod kommen solle. Dabei öffnete er das Fensterchen seiner Mansarde, schaute bald gen Himmel, bald auf die Straße, aber es wollte sich kein Mittel zu einem Mittagessen zeigen. Auf einmal hörte er das Rollen eines Wagens, der in vollem Trabe in die Straße einbog; es war eine hübsche Kalesche mit zwei kräftigen Pferden. Bei diesem Anblick erhitzte sich die Galle unseres Malers und er dachte: „Was, es giebt Leute, die Wagen und Pferde besitzen, Pferde, die gehörig gefrühstückt haben, während ich …“ Sein Gedanke endigte in einem kräftigen Fluch, den er auf das Haupt der unglücklichen Pferde schleuderte, die eben unten auf der Straße anhielten. Ein zweispänniger Wagen in dieser Straße, vor diesem Hause, das war ein Ereigniß für das gesammt Viertel! Ein Herr, der wie eine Art Haushofmeister aussah, stieg aus, betrachtete sich das Haus genau und trat ein. Dies setzte Simon Renard so in Erstaunen, daß er darüber beinahe seinen leeren Magen vergaß.

„Aha!“ sagte er, „das ist wahrscheinlich der Geschäftsführer des Hausbesitzers, der wegen der Miethe kommt. Das wird eine schöne Geschichte werden!“

Aber siehe da, es muß doch wohl etwas Anderes sein, denn er hört das Geräusch von Schritten, die bis zu seiner vierten Etage heraufsteigen; jetzt klopft es gar an die Thür.

„Ich muß wohl träumen,“ denkt er, „denn ich habe keinerlei Bekanntschaften weder unter Wagen noch Pferden oder gar Intendanten. Ich mache nicht auf, es ist jedenfalln der Abgesandte den Hausbesitzers.“

Es klopft abermals.

„Herein!“

Der fremde Herr mit dem Haushofmeister-Aussehen tritt ein. „Komme ich hier recht zu Herrn Simon Renard?“

„Ja, ich bin es, aber Sie finden mich eben in Verlegenheit. Sie müssen entschuldigen, mich so zu treffen … Mein Bankier …“

Der Fremde lächelte und verbeugte sich. „Können Sie über Ihre Zeit gebieten?“

„Vollkommen … das heißt, eine Dame, eine Marquise, erwartet mich heute zur ersten Sitzung.“

Der Fremde lächelte mit derselben höflichen Ungläubigkeit; der Bankier und die Marquise schienen ihm zu derselben Familie zu gehören.

„Kann die Frau Marquise nicht warten?“

„Nun, ich hoffe es … sie ist so gut.“

„Dann nehme ich Sie mit.“

„Wohin?“

„Nach Schloß Milly, zu Herrn von Lamartine.“

„Was soll ich dort?“

„Sie werden zum Frühstück erwartet, falls Sie nicht bereits gefrühstückt haben.“

„Das habe ich allerdings, oder eigentlich auch nicht … Sei es aber, wie es wolle, für Herrn von Lamartine habe ich zweimal Appetit.“

Wahrscheinlich wollte er sagen, daß er Appetit für Zwei haben werde. Beim Herabsteigen seiner vielen Treppen dachte er: „Das grenzt mir an’s Wunderbare. Wenn ich träume, möchte ich erst beim Dessert aufwachen.“

Die Pferde eilen im Galopp davon und bald war man in Schloß Milly bei dem reichbesetzten Frühstückstisch. Herr von Lamartine machte dem armen Simon mit aller ihm eigenthümlichen Liebenswürdigkeit die Honneurs, und dieser zerbrach sich während des eifrigen Bemühens, seinen leeren Magen anzufüllen, den Kopf, den Grund dieses Empfanges und des ganzen Abenteuers zu errathen. Beim Dessert sagt endlich der große Dichter zu dem kleinen Maler: „Mein Herr, ich habe von Ihnen und Ihrem Talent gehört.“

Simon verbeugte sich.

„Und habe Sie bitten lassen, hierher zu kommen, um die Portraits meiner Frau, meiner Tochter und das meinige zu malen. Es wird sich nur darum handeln, Bilder zu copiren, welche in meinem Salon hängen, denn unsere Zeit würde uns kaum erlauben, Ihnen zu sitzen. Sagt Ihnen dies zu?“

Simon bedankte sich bescheidentlich und nahm natürlich mit Freuden das Anerbieten an. Als er sich noch desselben Tages darüber machte, seine Farben vorzubereiten, sagte er voll Stolz zu sich selbst: „Endlich werde ich mir also einen Namen machen! Aber wo hat er von mir sprechen gehört? Gewiß nicht bei der Ausstellung, wo man alle meine Gemälde unerbittlich zurückgewiesen. Was schadet’s aber, thun wir unser Bestes!“ Die Arbeit dauerte einige Wochen, während welcher Zeit Simon Renard mit der äußersten Zuvorkommenheit behandelt wurde. Als er fertig war, schickte er sich mit vielem Bedauern an, das Schloß zu verlassen; Lamartine begleitete ihn selbst in dem bekannten Zweispänner bis nach Macon vor die Thür seiner Wohnung und sagte dort mit seiner gewohnten Höflichkeit: „Ich danke Ihnen sehr für Ihre Gefälligkeit, Sie werden mir stets sehr willkommen sein, wenn Sie mich besuchen wollen.“ Hiermit schüttelte er dem unverstandenen Genie herzlich die Hand, das bei aller Künstlereitelkeit doch empfand, welche Ehre ihm widerfuhr. Dabei ereignete es sich, daß ihm eine Geldrolle in der Hand blieb; bevor er seinen Dank stammeln konnte, war der Wagen verschwunden.

Simon wog die Rolle in der Hand und meinte: „Das ist ein würdiger, lieber Mann, wahrscheinlich finde ich hier noch Etwas, daß ich nicht [720] so bald wieder zu hungern brauche; wieviel kann es sein? … Hundert Franken etwa?“

Er brach die Rolle auf, sie enthielt fünfundzwanzig Doppellouisd’or! Simon weinte fast vor Freude.

Lamartine hatte mit seinem seltenen Zartgefühl zugleich die Eigenliebe des Künstlers schonen und den Menschen aus dem Elende reißen wollen. Simon kam dadurch auch zur Erkenntniß; er eröffnete ein Geschäft als Zimmer- und Firmenmaler, verheirathete sich und lebt in bescheidenen, aber angenehmen Verhältnissen. Es hat ihm seitdem nie wieder an einem Frühstücke gefehlt.




Weihnachten in Amerika. In New-York, wo vermöge eines fortwährenden Zuzuges frischer Einwanderung aus Deutschland, der hier immer verhältnißmäßig größer war, als fast an allen andern Orten des Unionsgebietes, deutsches Wesen immer mehr einzudringen beginnt, sah man noch vor fünfzehn Jahren zur Weihnachtszeit nur auf einer einzigen Stelle am Broadway wenige Tannenbäumchen für das Christfest zum Verkauf ausgestellt. Es war dies vor der Dreieinigkeitskirche, die[WS 1] die Wallstreet westwärts abschließt und wo ersichtlich auf einzelne deutsche Kaufleute speculirt wurde, von denen ausnahmsweise an der altheimathlichen Sitte des Christbescheerens festgehalten wurde. Jetzt spielt durch die ganze Riesenstadt der Weihnachtsbaum einen, man darf sagen ansehnlichen Handelsartikel und ist an vielen Verkaufsstellen zum Theil massenhaft ausgestellt neben grünen Laubkränzen und Sternen, die zur fröhlichen Ausschmückung von Gemächern dienen. Am Feste selbst flimmert und flackert es fast in den meisten Häusern, selbst in vielen Wohnungen der Angloamerikaner, von angezündeten Christbäumen, welche mit Naschwerk und Geschenken zur Freude von Jung und Alt behangen sind. Vorher wimmelt es namentlich in den deutschen Zeitungen von Anzeigen, die auf das Christfest Bezug haben. Es ist wirklich nicht zu viel gesagt, wenn behauptet wird: die Deutschen haben tüchtig angefangen, Nordamerika für das Weihnachtsfest zu erobern und demgemäß zu germanisiren.

Dringen wir etwas tiefer in diese Erscheinung, so gewinnt dieselbe sehr an Bedeutung; denn auf diesem Wege wird offenbar die harte Rinde durchbrochen, welche sich durch das Puritanerthum der Angloamerikaner um deren Gemüther gebildet hat und eine Scheidewand zwischen ihnen und dem deutschen Bevölkerungselement herstellte. Die civilisirende Sitte des gegenseitig beglückenden Schenkens zur Freudenerzeugung öffnet Herzen und Gemüther, eine duftende Blume in die rauhere Jahreszeit flechtend. Den Deutschen gebührt hierbei der Ruhm, durch ihr Beispiel zuerst den Kindern der Angloamerikaner das Verlangen nach einem Christbaum eingeflößt zu haben, dem sodann die zärtlichen Mütter folgten, worauf den nur auf Geschäfte und Geldgewinn denkenden Gatten und Vätern nichts übrig blieb, als sich dem Walten dieser einflußreichen Willensäußerungen zu fügen. Allmählich haben sich Letztere an eine gemüthlichere Manier des beseligenden Gebens und Schenkens gewöhnt, während sie sonst nichts als jene flüchtige Freude am Nehmen und Empfangen kannten. Darin liegt zweifelsohne ein bedeutender Fortschritt auf der Civilisationsbahn und es ist Aussicht vorhanden, daß nach und nach eine Bresche in dem Bollwerk der hartgesottenen, ungezügelten Selbstsucht durch Liebesbeweise geschossen werden wird, wodurch das Gesellschaftsleben in Nordamerika seine Unerquicklichkeit verlieren muß, über die Jedermann klagt, oder die doch Jeder fühlt, ohne sich genauere Rechenschaft darüber zu geben.

Von den Deutschen New-Yorks und seiner Umgebung wird die Weihnachtsfeier mit zubehörigem Christbaum nicht blos auf den Familienkreis beschränkt, sondern noch auf weitern socialen Verkehr ausgedehnt. Sie veranstalten vielfach häusliche Feier am „heiligen Abend“ und ziehen dazu ihre intimeren Freunde herbei, versammeln sich aber am folgenden eigentlichen Christtag in Localen, wo sie sonst zu geselligen Zwecken zusammenkommen, um unter Gesang, Tanz oder andern Belustigungen den Winterabschnitt des Jahren zu feiern. Ein stattlich aufgeputzter Christbaum von möglichst kolossalem Umfange bildet dann gewissermaßen den Mittelpunkt des Vergnügens, welches den Angloamerikanern völlig unbekannt war. Diese hielten sich nur an den Sanct Niklas, unsern deutschen Knecht Ruprecht, welchem aber kein freundliches Christkind folgte.

Mehrfach werden auch gegenwärtig von Schulanstalten Christbescherungen veranstaltet, die den Weg in Kinderasyle und dergleichen fanden, nachdem vorher zu dem Zwecke freiwillige Gaben eingesammelt wurden. Mit einem Worte: es trägt die deutsche Sitte in erwähnter Richtung ihre beglückenden Folgen allmählich in eine Bevölkerung, deren bisherige Freudenarmuth sprüchwörtlich bei denen geworden war, die mit der erquicklicheren europäischen, namentlich der deutschen Bildungsatmosphäre Bekanntschaft gemacht hatten. Stehen die Lehrer dabei noch immer nicht im erwünschten Ansehen, genießen sie keine gebührende Achtung, kommt ihnen, freilich schon seltener als früher, der Schimpfname „Dutch“ (Tölpel) von den Schülern roh entgegen: so kann sie der thatsächliche gute Erfolg ihren beispielgebenden Einflüssen schon darüber trösten. Weiß man doch deutscher Seits, daß der gegen uns dargelegte Fremdenhaß eigentlich hauptsächlich aus dem Gefühl der ideellen Ueberlegenheit des deutschen Elements über das englische entspringt. Verständige Lehrer können Schülerungezogenheiten niemals ernstlich erzürnen.




Tausend Kerzen, oder: wie Ulmann Reclame zu machen versteht! Von Director Ulmann, welcher gegenwärtig als höherer Bärenführer Carlotta Patti, Jaell, Vieuxtemps und andere Virtuosen „herumführt“, erzählt der Claviervirtuose Henri Hertz eine sehr ergötzliche Geschichte. Er reiste vor einiger Zeit unter Ulmann’s Leitung in Amerika, hatte in einer Stadt bereits zwei Concerte gegeben und machte die Bemerkung, daß sein Talent doch nicht mehr so recht ziehen wollte, denn es wurden sehr wenig Billets verkauft. Da zeigte ihm Ulmann triumphirend an, er habe das rechte Mittel gefunden, die Theilnahme des Publicums auf’s Neue zu beleben.

Hertz ging durch die Stadt und sah an allen Straßenecken die Anzeige von seinem nächsten Concert auf ungeheuren Zetteln, welche in kolossalen Lettern die Ueberschrift trugen:
Tausend Kerzen!

Es war nämlich in der Anzeige gesagt, daß der Concertsaal mit tausend Kerzen beleuchtet sein werde. Diese Art, die Leute anzulocken, erschien ihm ebenso lächerlich, als unwirksam, aber er irrte sich; die tausend Kerzen erregten die Neugierde der Amerikaner in solchem Grade, daß im Laufe des Tages alle Plätze verkauft waren. Trotz dieses Resultats wollte Hertz, daß die tausend Kerzen von den Anzeigezetteln verschwinden sollten, allein Ulmann verweigerte dies entschieden, indem er erklärte, Hertz verstände gar nichts von Geschäften.

Freilich mußte sich dieser selbst gestehen, daß Ulmann’s tausend Kerzen mehr Erfolg hatten, als sein russisches Rondo, das er vor einem ganz zerstreuten Publicum spielte. Er war darüber ärgerlich, Ulmann zählte jedoch die Einnahme und war stolz auf seine Idee. Als Hertz sein erstes Stück zu Ende gespielt hatte, erhob sich einer der Zuhörer und rief ihm mit lauter Stimme zu: „Aber, mein Herr, es sind doch nicht tausend!“

Der Virtuos hatte ganz die Kerzen vergessen und fragte: „Tausend? Was denn?“

„Nun, tausend Kerzen! Deswegen bin ich ja nur gekommen!“

„Und wie viel sind en denn?“

„Es fehlen gerade acht Stück.“

Dieser feine Kenner nicht der Musik, sondern der Kerzen, hatte die Geduld besessen, sie alle zu zählen und verlangte nun die acht fehlenden, da er sich nicht betrügen lassen wollte.

„Gut, mein lieber Herr,“ sagte Hertz ganz ernsthaft, „ich schulde Ihnen also acht Kerzen und werde sie zu Ihrer Disposition stellen.“




„Prinz Eugen, der edle Ritter.“ In Wiener Kreisen circulirt seit der Enthüllung des Eugen-Monumentes folgendes Epigramm:

Prinz Eugen, der edle Ritter,
Sicher Oestreichs kühnster Aar;
Schmeckt daran nur Eines bitter,
Daß er ein – Franzose war!




Germania auf dem Meere. Die meisten unserer Leser werden das patriotischer Gesinnung entstammende schöne Bild kennen, mit dem uns Lorenz Clasen, der talentvolle deutsche Historienmaler, schon vor Jahren beschenkte und welches als „Germania auf der Wacht am Rheine“ sehr bald ein Lieblingsbild des deutschen Publicums geworden ist. Als ein Gegenstück dazu hat der Künstler unlängst seine „Germania auf dem Meere“ gegeben, welche ebenfalls auf mehreren deutschen Kunstausstellungen große und verdiente Anerkennung gefunden hat. Auch von diesem Gemälde ist von E. Kühnel bei J. G. Fritzsche in Leipzig eine lithographische Nachbildung erschienen, die als ein durchaus gelungenes Werk des deutschen Steindrucks auf das Wärmste empfohlen zu werden verdient und von deren künstlerisch schöner Auffassung wie trefflicher technischer Ausführung die erste Illustration unserer heutigen Nummer zeugt, welche nach dieser Lithographie gezeichnet worden ist. Der Gegenstand des Bildes bedarf keiner Erklärung; es stellt die Germania dar, wie sie mit dem wallenden Banner des deutschen Reichs das Schiff „Vaterland“ kühn und kräftig durch Sturm und Wogen zum glücklichen Ziele führt. – Wann wird es Wahrheit werden, was hier die Phantasie des Künstlers geschaffen hat?



Dr. Otto Ule,
Populäre Naturlehre
(Physik)
oder die
Lehre von den Bewegungen in der Natur und von den Naturkräften im Dienste der Menschen.
Für Jedermann faßlich dargestellt.
Mit zahlreichen Holzschnitten.
In 6–8 Lieferungen à 7½ Ngr.

Das obige Werk, aus der Feder des in den weitesten Kreisen bekannten Redacteurs der unter dem Titel „Die Natur“ erscheinenden Zeitschrift, wird von allen Freunden der Naturwissenschaft sehr willkommen geheißen werden, da der Verfasser die gesammten Lehren der Physik in anziehender und verständlicher Form darstellt und vorzugsweise dem alltäglichen Leben seine Aufmerksamkeit zuwendet, wo er die Gegenstände zu finden weiß, an denen die großen Wahrheiten der Physik zu entwickeln sind. Die Einsicht der bis jetzt erschienenen drei Lieferungen wird das Publicum von dem praktischen Nutzen dieses Werkes überzeugen.

Die Verlagshandlung von Ernst Keil in Leipzig.

Verantwortlicher Redacteur Ernst Keil in Leipzig. – Verlag von Ernst Keil. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.

  1. S. Nr. 36 u. 39.
  2. In Salzburg kennt man für dieses Spielzeug nur die Namen Schusser oder Kucheln, in München heißen die Märmel „Antetscher“, in Augsburg „Glucker“, in Berlin „Murmel“, in Coblenz „Marbel“, in den Hansestädten spielt man mit „Marels“, in Düsseldorf mit „Klickern“, in Thüringen ist der Name „Klitscher“, im Voigtlande die Bezeichnung „Schnellkaulen“ üblich; die Holsteiner kennen die Märmel unter dem Namen „Nipser“, die Meininger loben sich ihre „Guterlei“, in anderen Gegenden wiederum sind die Namen „Schiffer“, „Ripperche“, und noch viele andere gebräuchlich.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. ergänzt, Vorlage ohne Relativpronomen.