ADB:Schenkel, Daniel
[83] nach dem 1828 erfolgten Tode seines Vaters nach Basel und hier erstmalig auch in eine Schule, wo er, bereits ziemlich bewandert in deutscher, lateinischer, griechischer und hebräischer Litteratur, nachträglich noch Grammatik lernte. Zuvor war er meist sein eigener Lehrer gewesen und hatte das auf dem Wege des Selbstunterrichts Erlernte sofort wieder drei jüngeren Geschwistern mitzutheilen gehabt. Während des Baseler Kriegs von 1831 gehörte er einem militärischen Corps von Studenten an, während er im übrigen seine Gymnasialstudien fortsetzte. Dabei war es seine Absicht, sich der Rechtsgelehrsamkeit zu widmen, und der ungewöhnlich schlagfertige, eindringliche und erfindungsreiche Redner, den man später in ihm bewunderte, hat es noch manchmal hören müssen, es sei an ihm in der That ein Rechtsanwalt und Parlamentsredner ersten Ranges verloren gegangen. Was ihn schließlich doch zur Theologie bestimmte, war außer dem Wunsche der Mutter zumeist der Einfluß de Wette’s, der ihn in einem Brief an Fries vom 6. August 1839 als „einen Schüler, der für Hunderte gilt“, bezeichnet. De Wette’s Bild war stets in Schenkel’s Studierzimmer zu sehen, de Wette’s Lob jederzeit aus seinem Munde zu hören; die subjective Form der Begründung religiöser Wahrheiten einerseits, die maßvolle, aber unerschrockene Geltendmachung des kritischen Princips gegenüber dem Schriftbuchstaben andererseits kennzeichneten den treuen Schüler zeitlebens. Nachdem S. schon 1835 in den „Theologischen Studien und Kritiken“ als Schriftsteller aufgetreten war, bestand er in Schaffhausen seine Prüfung, war ein halbes Jahr lang als Stadtvicar thätig, bezog dann die Universität Göttingen, wo er von Lücke und Gieseler eine Richtung auf Erforschung der älteren Kirchengeschichte und des Urchristenthums empfing. Nach Basel zurückgekehrt habilitirte er sich mit der Dissertatio critico-historica de ecclesia Corinthia primaeva factionibus turbata und mit einer Antrittsvorlesung „Ueber das ursprüngliche Verhältniß der Kirche zum Kanon“ (12. November 1838), an deren Schlusse er eine bessere Zukunft für die Theologie weissagte. „Es wird Keinen gereuen, an ihrer Herbeiführung mitgearbeitet zu haben.“ Mit seiner Thätigkeit als Privatdocent verband er nicht blos eine Lehrwirksamkeit am Gymnasium, sondern auch die Redaction der, den kirchlichen und politischen Radicalismus eindämmenden, „Basler Zeitung“. Ein rühriger und wirkungskräftiger Journalist ist er sein Leben lang geblieben, und auf diesem Gebiet hatte er auch die ersten Kämpfe und Siege zu verzeichnen. Der an der Spitze der Geistlichkeit von Schaffhausen stehende Hurter bereitete damals seinen Uebertritt in das katholische Lager vor, erhob aber gleichwol gegen die „Basler Zeitung“, welche ihn des Kryptokatholicismus zieh, eine Anklage auf Verleumdung. Der Proceß erregte ungeheueres Aufsehen, ging für den Kläger verloren und hatte 1841 nicht blos seinen Sturz, sondern auch Schenkel’s Berufung in der Eigenschaft eines ersten Predigers am Münster und Kirchenrathsmitgliedes in Schaffhausen zur Folge. An diese Episode seines Lebens erinnert seine Schrift über „Die confessionellen Zerwürfnisse in Schaffhausen“ (1844). Bald darauf stellte ihn das Vertrauen seiner Mitbürger auch an die Spitze des Schulwesens; er wurde Vicepräsident des Schulrathes, Ephorus des Gymnasiums und des Collegium humanitatis. Er war bei Berathung eines neuen, freisinnigen Anschauungen huldigenden, Schulgesetzes thätig und erlangte mit der Zeit als Vicepräsident des Stadtrathes und Mitglied des großen Rathes des Kantons politischen Einfluß. Als 1846 das eidgenössische Sängerfest in Schaffhausen tagte, wurde er zum Präsidenten desselben erwählt. Dies Alles trotzdem, daß er im Staatswesen eine wesentlich conservative Richtung befolgte. Als Theologe dagegen hat er gleich bei seiner Berufung den üblichen Eid auf die helvetische Confession verweigert und damit Anlaß zu einer milderen Fassung der Verpflichtungsformel gegeben. Auch organisirte [84] er die evangelische Einwohnerschaft Schaffhausens, indem er drei Gemeinden herstellte und Urwahlen einrichtete, aus welchen ein, bisher in Schaffhausen noch nicht dagewesenes, Presbyterium hervorging. Als S. aber dieselbe Aenderung, welche in der Stadt eingeleitet war, auch im Kanton durchführen und die ganze Kirchenverfassung nach den Forderungen des Gemeindeprincips, welches von nun an sein Verfassungsideal blieb, umgestalten wollte, fand dieser sein Vorschlag zwar im Kirchenrath und in der Synode Beifall und Annahme, im großen Rath aber scheiterte er gegenüber den vereinigten aristokratischen und radicalen Parteien.
Schenkel: Daniel S., protestantischer Theologe, geboren am 21. December 1813 zu Dögerlin im Kanton Zürich als Sohn eines Landgeistlichen, kamDabei übte S., der mittlerweile mit Marie v. Waldkirch aus Schaffhausen eine glückliche Ehe geschlossen hatte, nicht bloß in umfassendem Maße Seelsorge, sondern auch als Prediger einen bereits über die Grenzen des Kantons hinausreichenden Einfluß. Schon in Basel waren 1839 und 1840 einzelne seiner Predigten gedruckt worden; in Schaffhausen erschienen jetzt eine erste Sammlung 1843–44, eine zweite 1849, eine neue Folge 1850–51. Aber auch wissenschaftlich thätig zu sein, war dem von praktischen Arbeiten so sehr in Anspruch Genommenen keineswegs unmöglich. Unter dem Titel „Die Wissenschaft und die Kirche“ war schon 1839 in Basel ein Beitrag „zur Verständigung über die Strauß’sche Angelegenheit“ erschienen. In Schaffhausen trat er dem Optimismus, womit Gervinus 1846 das Auftreten der Deutsch-Katholiken begrüßt hatte, in der, im gleichen Jahre zweimal erschienenen, Schrift „Die protestantische Geistlichkeit und die Deutsch-Katholiken“ gegenüber, wozu die Broschüre „Der Standpunkt des positiven Christenthums und sein Gegensatz“ einen Anhang bildete. Daran schloß sich 1847 noch an „Die religiösen Zeitkämpfe in ihrem Zusammenhange mit dem Wesen der Religion und der religiösen Gesammtentwickelung des Protestantismus“. Das Jahr zuvor hatte aber auch bereits den Anfang seines gelehrtesten und umfassendsten Werkes hervortreten sehen über „Das Wesen des Protestantismus“ (1846–51, 3 Bde.). In solcher Breite und Ausführlichkeit, mit so reichlichen Quellenbelegen versehen war der geistige Gehalt des Reformationszeitalters bisher noch nicht dargestellt worden. Neu war daran namentlich dies, daß nicht bloß die Kundgebungen der Reformatoren und ihrer anerkannten Gesinnungsgenossen selbst, sondern auch die Ansichten und Strebungen solcher Männer, welche damals in zweiter Linie gestanden haben und von Seiten des kirchlichen Protestantismus als Ketzer betrachtet worden sind, das ihrige zur Vollendung des großen Gemäldes beitragen mußten. Den wesentlichen Gehalt dieses, eigentlich erst mit der Schlußabhandlung über „Das Princip des Protestantismus“ (1852) abgeschlossenen, Werkes hat der Verfasser später (1862) in einer zweiten, einbändigen Auflage in bedeutend verkürzter Gestalt und unter theilweise veränderten Gesichtspunkten noch einmal ans Licht treten lassen. Alles zielt hier darauf ab, den Protestantismus, welchen die Engherzigkeit seiner theologischen Vertreter oft nur als ein von dem katholischen verschiedenes Lehrsystem zu fassen vermochte, vielmehr als eine eigenthümliche religiöse Weltanschauung, zugleich aber auch als ein fruchtbares sittliches Princip, insonderheit als eine gesellschaftliche und gemeindebildende, ja als eine weltgeschichtliche Macht auch in Bezug auf das staatliche Leben der Völker darzustellen, zugleich aber zu zeigen, wie weit der kirchliche Protestantismus in Bezug auf Ausbildung sowol der Lehre als der Verfassung hinter seiner umfassend und ideal gedachten Aufgabe zurückgeblieben ist.
Mit dem Erscheinen dieses Werkes war Schenkel’s Ruf in der theologischen Welt gesichert, wie sofort mehrere an ihn ergangene Berufungen bewiesen. Eine Einladung nach Halle schlug er aus. War doch 1849 der theure Lehrer in Basel gestorben und S. hatte sein Andenken in der Schrift „De Wette und [85] die Bedeutung seiner Theologie für unsere Zeit“ gefeiert. Jetzt bestieg er auch seinen Katheder mit einer Antrittsvorlesung über „Die Idee der Persönlichkeit“ (6. Mai 1850). Aber schon im nächsten Jahre wurde er an die dauernde Stätte seiner Wirksamkeit, als Professor der Theologie und Seminardirector nach Heidelberg berufen, aus welcher Stellung ihn auch eine 1859 an ihn herantretende Gelegenheit, nach Bonn überzusiedeln, nicht mehr wegzulocken vermochte.
Die Heidelberger theologische Facultät zu Anfang der fünfziger Jahre diente den restaurativen Tendenzen jener Zeit in anständigen, gemessenen und achtbaren Formen. Die von Ullmann und Umbreit herausgegebenen „Theologischen Studien und Kritiken“ bildeten ihr Organ und ihre Fahne, und neben dem Erstgenannten bestimmte Hundeshagen, der Verfasser des „deutschen Protestantismus“, ihre kirchenpolitische Stellung. S., dem sowohl bei Ullmann als bei Hundeshagen die gegen Gervinus geübte Polemik zu Gute gekommen war, trat in diesen Kreis, im guten Glauben, auch innerlich ihm anzugehören. Nicht bloß gab er mit den Genannten und im Gegensatze zum fünften Facultätsmitglied, dem liberalen Dittenberger, 1852 bei Gelegenheit der Abschaffung des demokratischen Regiments in Bremen auf Veranlassung des dortigen Bürgermeisters Smidt ein Gutachten gegen den radicalen Bremer Prediger Dulon ab, welcher sodann abgesetzt wurde, sondern vertheidigte dasselbe auch in der Schrift über „Die Schutzpflicht des Staats gegen die evangelische Kirche“. Wie Hundeshagen, hielt auch er Vorträge im Dienst der inneren Mission und veröffentlichte dieselben 1854 unter dem Titel: „Das Wesen des evangelischen Glaubens“. Wir finden ihn 1852 und 1854 als Festprediger auf den allgemeinen Versammlungen des Gustav-Adolf-Vereins in Wiesbaden und Braunschweig, 1854 als Redner bei den Verhandlungen des Kirchentags in Frankfurt und, während er die späteren Kirchentage nicht mehr besuchte, noch 1857 als Vortragenden auf der Versammlung der Evangelischen Allianz in Berlin.
Die Restauration innerhalb des Katholicismus, die hervortretenden Ansprüche des Episcopats, die Machtentfaltung des Jesuitenordens waren dazu berufen, dem restaurationslustigen Zug innerhalb des Protestantismus Einhalt zu gebieten. Schenkel’s Entwickelungsgang ist in dieser Beziehung typisch. Als Reformirter war er auf diesem Punkte reizbarer, als seine unirten Collegen und er fand einen mächtigen Verbündeten an den altreformirten Trieben und Gewohnheiten des Volkes in der Pfalz. Als 1851 eine Jesuitenmission ihren Einzug in Heidelberg hielt, fühlte sich S. als Universitätsprediger verpflichtet, gegen sie aufzutreten. Ullmann war der Meinung, er hätte solches füglich den Stadtpfarrern überlassen dürfen. Im gleichen Jahre trat S. der katholischen Propaganda mit der populären Streitschrift „Fels oder Sand“ entgegen, welcher, nachdem ihr der Freiburger Alban Stolz die Broschüre „Perle oder Glas“ entgegengesetzt hatte, 1852 eine zweite Streitschrift unter dem Titel „Gesetzeskirche und Glaubenskirche“ folgte. In derselben Richtung gehen die Jahresschlußbetrachtung für 1852 „Was ist Wahrheit?“ und die „Gespräche über Protestantismus und Katholicismus“ 1852–54, zu welchen die vielgelesenen, besonders in aristokratischen Kreisen wirksamen, „Neuen Gespräche aus der Gegenwart“ von General v. Radowitz Veranlassung und Reiz geboten hatten. Doch hat sich S. wol mit Recht später gerade in dieser Form der Darstellung nicht wieder versucht. Seine Stärke lag auf einer ganz anderen Seite. Er kehrte zur Publicistik zurück, indem er 1852 mit dem Darmstädter Palmer die Redaction der „Allgemeinen Kirchenzeitung“ übernahm, welche nun seit dem, auch separat erschienenen, Eröffnungsaufsatz über „Die kirchlichen Zustände der Gegenwart“ Jahr aus Jahr ein eine Menge von größeren und kleineren Kundgebungen aus seiner [86] unermüdlichen Feder brachte und die Arena für eine ganze Reihe theils glücklich, theils unglücklich verlaufender Feldzüge bildete. Zu letzteren hat er selbst später ohne Zweifel die Fehde mit dem damaligen Privatdocenten der Philosophie Kuno Fischer gerechnet, welche, nachdem diesem 1853 die Erlaubniß, Vorlesungen zu halten, entzogen worden war, 1854 in der „Allgemeinen Kirchenzeitung“ und in der „Abfertigung“ betitelten, gegen Fischer’s Anklage auf intellectuelle Urheberschaft gerichteten, Broschüre ausgefochten wurde. Zwei Jahre darauf steht S. als Prorector an der Spitze der Universität. Die von ihm im Sommer 1856 wegen allerhand Ausschreitungen verfügte Suspension der Corps verursachte eine Aufregung, wie rein akademische Angelegenheiten eine solche seit dem acht Jahre zuvor stattgehabten Auszug der Studentenschaft nicht mehr hervorzurufen vermocht hatten. Hörte man doch vorübergehend in der Musenstadt sogar den Schritt des Militärs. Schenkels eigentliche Domaine aber war und wurde seither immer mehr die ecclesia militans. Ließen kleinere und größere Schriften wie „Die gute Sache der evangelischen Kirche“ (1853), die Predigtsammlung, welche unter dem Titel „Evangelische Zeugnisse von Christo“ das Johannesevangelium behandelte (1853–54), „Der Unionsberuf des evangelischen Protestantismus, aus der principiellen Einheit, der confessionellen Sonderung und der unionsgeschichtlichen Entwickelung desselben nachgewiesen“ (1855), „Die Reformatoren und die Reformation im Zusammenhange mit den, der evangelischen Kirche durch die Reformation gestellten, Aufgaben geschichtlich beleuchtet“ (1856), noch immer den Mann der kirchlichen Mitte erkennen, so bereitete sich jetzt unter dem Eindruck des vollständigen Sieges der Orthodoxie auf der badischen Generalsynode von 1855 einerseits, andererseits unter dem Einflusse des Ritters von Bunsen, welcher gerade damals nach Heidelberg übersiedelte und mit den „Zeichen der Zeit“ (1855–57) das erste weithin vernehmliche Haltsignal in der rückläufigen Bewegung jener Tage gab, eine umfassendere Frontveränderung zunächst in der kirchenpolitischen Stellung Schenkel’s vor, während seine „Christliche Dogmatik, vom Standpunkte des Gewissens aus dargestellt“ (1858–59, 2 Bde.) dem Inhalte nach noch ganz den Zusammenhang mit der bisherigen theologischen Entwickelung wahrt und nur der Methode nach Neues bringt, sofern die Entscheidung über dogmatische Fragepunkte vor dem Richterstuhle des Gewissens gesucht wird. Ungleich Epoche machender steht jedenfalls im Leben des Verfassers selbst seine 1856 erschienene Streitschrift „Für Bunsen wider Stahl“ da, eine äußerst schneidige Waffe und ein würdiges Seitenstück zu den „Zeichen der Zeit“. Gleichfalls gegen Stahl kehrt sich die Schrift „Union, Confession und evangelisches Christenthum“ (1859), während ein anderer Abdruck aus der Kirchenzeitung, betitelt „Die Amtsentlassung des Professors Dr. Baumgarten in Rostock“ (1858) seine Spitze gegen Kliefoth wendet.
Bald trat an die Stelle dieses entfernten Angriffsobjectes ein näheres, das Kirchenregiment, beziehungsweise die Regierung des eigenen Landes. Die Motive der Conflicte, in welche er hier gerieth, sind fast ebenso sehr persönlichen wie sachlichen Ursprungs gewesen; wenigstens wären sie ohne Hinzutritt jenes Elementes niemals so bitter und aufreibend geworden. S. hatte in den Reihen besonders der jüngeren Geistlichkeit Badens manche Feinde gefunden. Die Art des persönlichen Regiments, wie er es im theologischen Seminar handhabte, hob sich allerdings von den, zuvor von Rothe und von Dittenberger geübten, milderen Formen höchst charakteristisch ab und rief eine nicht immer nur „getreue Opposition“ hervor. Zumal der streng pietistisch gesinnte Nachwuchs ging ziemlich unmittelbar aus dem Seminar in dasjenige Lager über, welchem 1855 der Sieg zufallen sollte. Die liturgischen Aenderungen, welche die damalige Synode, auf der S. krankheitshalber nicht erschienen war, an den einfachen [87] Gottesdienstordnungen der badischen Kirche vornahm, gingen dem Seminardirector ebenso wider Sinn und Geschmack, wie sie andererseits vom Oberkirchenrath in Karlsruhe betrieben worden waren. Als nun gleichzeitig mit der Einführung der neuen Agende 1858 die Gemeinden auch der freien Wahl ihrer Kirchengemeinderäthe beraubt wurden, brach der Streit aus, in welchem S. gleich von vornherein an der Spitze der Angriffscolonnen erschien. Die rücksichtslose Energie, womit er und Andere damals in der „Allgemeinen Kirchenzeitung“ gegen Oberkirchenrath und Synodalmehrheit vorgingen, hatte freilich zur Folge, daß ihm 1859 die Mitredaction von Darmstadt aus gekündigt wurde. Aber im selben Jahre kam in Baden die Concordatsangelegenheit auf die Tagesordnung. Angesichts der Concessionen an die klerikalen Ansprüche bemächtigte sich eine nicht geringe Aufregung der protestantischen Bevölkerung, und man war keineswegs in der Lage, allzu vertrauensvoll eine etwa von dem Kirchenregiment ausgehende Mobilmachung der protestantischen Kräfte erwarten zu können. Damals riefen Häusser, Karl Zittel, Pagenstecher, Welcker, Otto Schellenberg, und mit ihnen auch der bisher als ihr Gegner behandelte S. die neuen Durlacher Conferenzen ins Leben, deren durchschlagendem Eindruck es hauptsächlich zuzuschreiben war, wenn schon 1860 das Concordat sammt Ministerium und Kirchenregiment gestürzt und auf der Generalsynode von 1861 unter hervorragender Mitwirkung Schenkel’s eine neue Kirchenverfassung nach den Forderungen des Gemeindeprincips geschaffen wurde. In diesen Zusammenhang gehören seine Schriften „Die Erneuerung der deutschen evangelischen Kirche nach den Grundsätzen der Reformation“ (1860) und „Die kirchliche Frage und ihre protestantische Lösung, im Zusammenhange mit den nationalen Bestrebungen und mit besonderer Beziehung auf die neuesten Schriften v. Döllinger’s und v. Ketteler’s“ (1862), während der Vortrag über „J. H. Pestalozzi und dessen Bedeutung für seine und unsere Zeit“ (1863) das nicht erloschene Interesse für Schul- und Erziehungswesen bekundete. S. konnte auf einen, zumeist unter seiner Führerschaft erfochtenen, vollständigen Sieg zurücksehen, als die von ihm geleitete Anstalt der Predigerbildung 1863 ihr 25jähriges Bestehen feierte. Eine von ihm damals verfaßte Denkschrift trägt den Titel „Die Bildung der evangelischen Theologen für den praktischen Kirchendienst“. Der Höhepunkt seiner theologischen und kirchenpolitischen Thätigkeit war erreicht, er war zur Zeit der einflußreichste Mann der badischen Kirche, die ihm ihren Uebergang aus der rückläufigen in die fortschrittliche Bahn verdankte.
Was hier erreicht war, sollte nunmehr auch für die übrigen Landeskirchen des protestantischen Deutschlands fruchtbar gemacht werden. Dies war der Grundgedanke eines Vortrages, welchen S. auf der Durlacher Conferenz vom 3. August 1863 hielt. Auf Grund einiger von ihm entworfener Thesen vereinigte man sich zur Gründung und Einberufung eines deutschen Protestantentags, welcher sich auf einer, schon am 30. September zu Frankfurt abgehaltenen, größeren Versammlung zum „Deutschen Protestantenverein“ erweiterte. Besonders in den 10 Jahren, da der geschäftsführende Ausschuß desselben in Heidelberg seinen Sitz hatte, übte S. einen hervorragenden, wenngleich nicht immer entscheidenden Einfluß auf die Vereinsangelegenheiten. Vor allem stellte er in den Dienst des Vereins sein neues Organ, die „Allgemeine kirchliche Zeitschrift“, die von 1862 bis 1872 erschienen ist und fast in jedem ihrer 130 Hefte Beiträge von seiner Hand zur Beleuchtung kirchlicher und theologischer Zeitfragen gebracht hat. Im Rückblick darauf und auf Anderes, was noch zu erwähnen, wird man auf jedem Standpunkte anerkennen müssen, daß S. mit ganzer Kraft 20 Jahre lang verfochten hat, was er ins Dasein rufen half: auf dem Gebiet der kirchlichen Lehre das Recht des Gewissens, auf dem Gebiet des kirchlichen [88] Lebens das Recht der Gemeinde. Wenn eine Tragik in seinem Leben liegt, so hat sie darin ihren Grund, daß er den religiösen und kirchlichen Fragen eine größere Tragweite und eine tiefer greifende Bedeutung im Bewußtsein der Zeitgenossenschaft beimaß, als das thatsächlich der Fall war. Schon an Gervinus hatte ihn eben dies verdrossen, daß er dem neunzehnten Jahrhundert die politische Färbung zuschrieb, wie dem sechszehnten die religiöse. S. glaubte in der Fortsetzung der Reformationsära zu leben; daher das Gefühl der Enttäuschung, sobald seit 1866 der Accent immer entschiedener auf den politischen Factor vorrückte, während die kirchlichen Ideale sich vielfach über die Treulosigkeit bisheriger Anhänger zu beklagen hatten.
Der erste Stoß, welcher Rückgang bedeutete, erfolgte jedoch noch auf theologischem Gebiete selbst. Es war der Rückschlag auf sein Werk „Das Charakterbild Jesu“, erstmalig 1864, in 4. Auflage 1873 erschienen. Hier war das johanneische Evangelium als Quelle für das Leben Jesu aufgegeben und der „Versuch“ (das Wort steht auf dem Titel) gemacht, ausschließlich auf Grund der drei älteren Evangelien ein Bild des äußeren und inneren Lebensganges zu gewinnen, welches natürlich ungleich menschlicher ausfallen und nothwendiger Weise mehr Erdfarben zeigen mußte, als die vom Logos-Christus ausgehenden Darstellungen. Nicht wenige Theologen haben seither Aehnliches unternommen, ohne daß ihnen ein Haar darum wäre gekrümmt worden. Damals aber war die Sache neu und wirkte peinlich. Dazu kam, daß der vielfach verblüffende und abstoßende Eindruck des Buches eine gelegene Handhabe bot für Unternehmungen, welche nicht bloß dem Theologen, sondern mehr noch dem Kirchenpolitiker und der von ihm vertretenen Sache galten. Es kam die Zeit der „Schenkel-Proteste“, die, von Karlsruhe und Berlin aus in Scene gesetzt, durch ganz Deutschland gingen und die theologische Facultät in Heidelberg eine lange Reihe von Jahren über fast lahm gelegt haben. Hunderte von Pastoren verlangten im Anschlusse an den badischen Protest die Absetzung des Verfassers mindestens als Seminardirectors, da er „durch grundstürzende Irrlehre der Kirche ein Aergerniß gegeben“. Eine private Anfrage aus dem Ministerium, ob er nicht um des Friedens willen die Directorstelle aufgeben wolle, beantwortete S. entschieden ablehnend; ein oberkirchenräthlicher Erlaß vom 17. August 1864 wahrte die Rechte der wissenschaftlichen Forschung, deren Grenze in dem angegriffenen Buche nicht überschritten sei, und S. selbst gab, nachdem schon zuvor eine Durlacher Conferenz für ihn eingetreten war, in zwei Vertheidigungen, betitelt „Zur Orientirung über meine Schrift: das Charakterbild Jesu“ (1864) und „Die protestantische Freiheit in ihrem gegenwärtigen Kampfe mit der kirchlichen Reaction“ (1865), bei aller Schärfe der Entgegnung doch manche beruhigende Erklärung: er habe in dem angefochtenen Buche nur die eine Seite an der Sache zur Darstellung gebracht und Aehnliches. In der That war er sich nicht bewußt, mit dem „Charakterbild“ aus der Continuität seiner bisherigen theologischen Entwickelung herausgefallen zu sein. Daher ihm seine Vertheidigung zwar von Seiten des Herzogs Ernst von Gotha eine Auszeichnung, von Seiten D. F. Strauß’ dagegen in der gegen ihn und Hengstenberg gerichteten Streitschrift „Die Halben und die Ganzen“ (1865) einen bissigen Angriff eintrug. Nahm ihn Strauß für einen „Halben“, so hat sich dafür die pietistisch und orthodox gerichtete Theologie von ihm als einem ganz Abgefallenen zurückgezogen, darunter auch solche, die sich in den ersten Zeiten der „Allg. kirchl. Zeitschrift“ wenigstens mit anonymen Artikeln an derselben betheiligt hatten. Noch 1862 hatte S. im „Theologisch-homiletischen Bibelwerk“ die Briefe an die Epheser, Philipper, Kolosser behandelt. Nachdem die 5000 Exemplare starke Auflage verkauft war, wurde eine zweite nöthig, die denn auch 1867 erschienen ist, und zwar ohne nennenswerthe Veränderungen. [89] Da aber der Verfasser mittlerweile zum Ketzer gestempelt worden war, veranstaltete der Herausgeber, Johann Peter Lange in Bonn, von der Hand eines Generalsuperintendenten eine gleichzeitig erscheinende Parallelausgabe dieses Theiles, wodurch der unvorhergesehene Schaden wieder ausgeglichen erschien.
Nachdem der „Schenkelstreit“ die badische Kirche drei Jahre lang bewegt hatte, fand er auf der Generalsynode von 1867 dadurch seinen Abschluß, daß hinfort der Besuch des Heidelberger Seminars nicht mehr für obligatorisch gelten sollte. Seither ist S. von der unmittelbaren Betheiligung an kirchlichen Fragen mehr zurückgetreten, um sich einer um so intensiveren schriftstellerischen Thätigkeit zu widmen. Früchte derselben waren „E. M. Arndt, ein politischer und religiöser deutscher Charakter“ (1866), „Der deutsche Protestantenverein und seine Bedeutung für die Gegenwart“ (1868 und 1871), „Friedrich Schleiermacher, ein Lebens- und Charakterbild für das deutsche Volk bearbeitet“ (1868), „Christenthum und Kirche im Einklange mit der Culturentwickelung“ (1867, 2. Aufl. 1871), „Brennende Fragen in der Kirche der Gegenwart“ (1869), „Luther in Worms und Wittenberg“ (1870). Insonderheit aber setzte er die, mit dem „Charakterbild Jesu“ begonnenen, Studien über das Urchristenthum fort, wie zahlreiche von seiner Hand herrührende Artikel in dem, 1869–75 von ihm herausgegebenen, fünfbändigen „Bibel-Lexikon. Realwörterbuch zum Handgebrauch für Geistliche und Gemeindeglieder“ beweisen. Zusammengefaßt hat er seine Anschauungen über die neutestamentliche Litteratur in dem, zugleich als Ergänzung und Fortsetzung zum „Charakterbild“ auftretenden Werke „Das Christusbild der Apostel und der nachapostolischen Zeit“ (1879), daraus bezüglich seines Verhältnisses zu der s. g. Tübinger Schule erhellt, daß er von derselben mit Ausnahme des johanneischen Punktes so viel wie nichts angenommen, sondern sich fortwährend auf jener conservativeren Linie gehalten hat, wie sie typisch durch den Namen de Wette gekennzeichnet ist. Endlich hat er auch dem Bedürfnisse einer Revision seiner dogmatischen Anschauungen Genüge geleistet in dem Werke „Die Grundlehren des Christenthums, aus dem Bewußtsein des Glaubens dargestellt“ (1877). Gemeinverständliche Darstellung, neben welcher die wissenschaftliche Haltung nicht zu kurz kommt, übersichtliche und knappe Behandlung bei wesentlicher Vollständigkeit, maßvolles Urtheil in eigenen und fremden Angelegenheiten sind Vorzüge dieser letzten, das Experiment mit dem Gewissens-Standpunkt fallen lassenden, Bearbeitung des Stoffes, die dem Buche, wäre es 20 Jahre früher erschienen, wahrscheinlich einen dauernderen Platz in der dogmatischen Litteratur gesichert hätten. Jetzt fiel es in eine Zeit, da eben die Fundamentalfragen der religiösen Erkenntnißtheorie, der Religionsphilosophie und des dogmatischen Denkens von Ausgangspunkten aus, die dem Verfasser nicht mehr in Sicht zu liegen kamen, mit frischer Energie erörtert zu werden anfingen. Wenn Schenkel’s rastlose Feder seit 1880 feierte, so lag die Schuld an einem immer sehr erregbaren, jetzt durch die Fülle der Arbeiten und Kämpfe allmählich zerrütteten Nervensystem. Er hielt zuletzt seine Vorlesungen nur noch im Hause und mußte sie bald ganz aufgeben, nachdem die Leitung des Seminars bereits in die Hände eines jüngeren Collegen übergegangen war. Er hat gewirkt, bis seine Kraft völlig verbraucht war. Von langem, zuletzt fast unerträglich werdenden, Leiden erlöste ihn der Tod am 19. Mai 1885. An seinem Grabe wandte sein College Holsten auf ihn das Wort an: Er ist ein Mensch gewesen, und das heißt ein Kämpfer sein.
- Holtzmann, Zum Andenken an D. Schenkel, in der Protest. Kirchenztg., 1885. – Hönig, Protest. Flugblätter 1885. – Gaß, Herzog’s Realencyklopädie, Ergänzungsband 1888.