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Die Gartenlaube (1865)/Heft 6

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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Keil
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Entstehungsdatum: 1865
Erscheinungsdatum: 1865
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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No. 6.   1865.
Die Gartenlaube.


Illustrirtes Familienblatt.Herausgeber Ernst Keil.


Wöchentlich 1½ bis 2 Bogen. 0Durch alle Buchhandlungen und Postämter vierteljährlich für 15 Ngr. zu beziehen.




Erkauft und Erkämpft.
Von Johannes Scherr.
(Fortsetzung.)


„Mein Fräulein,“ sagte der kecke Mann im Tone der tiefsten Ehrerbietung, „ich bitte Sie inständig um Verzeihung, wenn ich den Versuch wage, in dieser ungewöhnlichen Weise mich Ihnen vorzustellen. Ich heiße Sigfrid von Lindenberg, war vormals ein Stück von einem Juristen, item von einem Poeten, Revolutionär und Freischärler, bin aber jetzo ein solider Mann von anständiger Bildung, nebenbei auch falls sie, meine Gnädigste, das interessiren sollte, Besitzer eines freiherrlichen Wappens, das vor Alter ganz schimmelig geworden, item Schloßherr, Gutsbesitzer und so weiter.“

Sie warf die Lippen spöttisch auf, als wollte sie sagen: „Was geht denn das Alles mich an?“ Aber sie schwieg und gewann es mit gewaltsamer Bemühung sich ab, den Kühnen mit vornehmer Wegwerfung anzusehen. Er ließ sich jedoch nicht abschrecken, sondern begann wieder: „Mein Fräulein, ich bitte ehrfurchtsvoll, daß Sie geruhen mögen, mir Ihren Namen zu nennen. Ich bitte, bitte!“

Sie schüttelte den Kopf und versuchte es, das beispiellose Abenteuer, welches ihr zugestoßen, komisch und drollig zu finden; aber es wollte nicht gehen. Was war doch nur für ein seltsamer Klang in der Stimme dieses Mannes?

„Bitte, bitte!“ wiederholte er.

„Mein Herr, ich, heiße Brunhild von Hohenauf,“ sagte sie kurz und schneidend.

„Brunhild?“ entgegnete er mit einem Lächeln, von welchem, wie die Sage ging, schon mehr als eine Frau mit Grund gemeint hatte, daß es ein sehr verführerisches sei. „Brunhild? Das trifft sich ja ganz wunderbar! Brunhild und Sigfrid, urzeitlich-mythisch-heroische Namen, die so zu sagen gar nicht von einander getrennt gedacht werden können.“

Sie lächelte unwillkürlich, weil auch ihr die Beziehung auf die altgermanische Heldensage blitzschnell sich aufdrang.

„Und nicht nur Brunhild und Sigfrid stimmen zusammen,“ fuhr er fort, „sondern auch Hohenauf und Lindenberg. Beim Jupiter, der wunderbarste Schicksalswink! Brunhild von Hohenauf und Sigfrid von Lindenberg? Da wird Einem ja ganz literar-historisch-wundersam zu Muthe, ganz eddaisch und nibelungisch oder auch nikolaiisch und müllerisch.“[1]

Er lachte herzlich, und, mochte sie wollen oder nicht, sie mußte mitlachen.

Dadurch kühn gemacht, falls das überhaupt noch nöthig war, dämpfte er seine Stimme zu tiefem Ernst und sagte: „Ich weiß nicht recht, hab’ ich selbst oder hat ein Anderer ’mal gesagt: Wenn die Götter dir die Pforte zum Himmel aufthun, so zögere keinen Augenblick, hineinzuschlüpfen; sonst schlägt sie unwiederbringlich zu … Nun wohl, ich nehme mein Herz in beide Hände. Fräulein Brunhild von Hohenauf, wollen sie die Frau Sigfrid’s von Lindenberg werden?“

Sie wurde bleich, als wäre plötzlich ein Schuß ihr in’s Gesicht gefeuert worden. Dann stand sie langsam auf, schwang ihren Hut auf den Kopf, zog ihre Mantille auf die Schultern und mit dem Sonnenschirm spöttisch grüßend, rauschte sie an dem kecken Freiwerber vorüber mit den stolz hingeworfenen Worten: „Mein Herr, Sie sind entweder ein ausbündiger Narr oder der geckenhafteste aller Gecken!“

Mephisto Schwarzdorn setzte an, um in ein homerisches Gelächter auszubrechen. Als er jedoch den Freund ansah, wie dieser der rasch den Hügel hinabschreitenden Schönen nachblickte, die Brauen finster zusammengezogen, mit der Rechten im Barte wühlend, unterließ er das laute Lachen und sagte nur: „Lieber Junge, Du hast kein Glück in Römerrollen. Beim Heraufgehen kamst Du mir wie ein parodirter Scipio vor und hier oben war es Dir beschieden, einen travestirten Cäsar vorzustellen: – Veni, vidi, victus sum.“

„Du hast Recht: ich ward besiegt. Aber merke, was ich Dir sage. Diese stolze und spröde Walküre Brunhild wird mein Weib, oder … Genug! Laß uns den steileren, aber bedeutend kürzeren Pfad durch das Gehölz hinabgehen, weil ich vor der Dame im Orte drunten anlangen will.“

Fräulein Brunhild zügelte ihren Schritt, als sie am Fuße des Burghügels den Fahrweg erreicht hatte, sie fühlte sich wunderlich beklommen und es war ihr zu Sinne, als rollte eine Feuerkugel in ihrer Brust. Unwillkürlich mußte sie vor sich hinsagen: „Was war doch das? Wie konnte ein Mensch es wagen, mir einen solchen Schimpf anzuthun? … Und doch!“

Dieses „Und doch!“ war einer jener Naturlaute, in welche Menschenherzen mitunter ausbrechen ohne Wissen und Willen, und wie die stolze Schöne das Wort sprach, empfand sie zugleich das gebieterische Bedürfniß, stillzustehen und nach der Hügelhöhe zurückzublicken. Sie widerstand indessen und setzte ihren Weg fort. Wer sie aber genau beobachtet hätte, mußte bemerken, daß ihr Gang die sanftabfallende Straße zum Strom hinab nicht ihr gewohntes elastisches Schweben war, sondern ein mattes Schlendern, als [82] müßte sie sich Gewalt anthun, vorwärts zu kommen. Und nach etlichen hundert Schritten stand sie abermals still, um wie selbstvergessen vor sich hinzusprechen: „Und doch!“ Dann warf sie, wie über sich erzürnt, trotzig die Lippen auf, legte den Rest ihres Weges rasch zurück, überschritt die Brücke und bog jenseits derselben in die Nußbaumallee ein, an welcher ihr Quartier lag.

Im Vorzimmer zu ihrem Gemache harrte ihr Kammermädchen der Herrin. Die Dienerin stand auf, als Brunhild eintrat, und sagte schüchtern: „Gnädiges Fräulein, sind Sie unwohl?“

„Unwohl? Wie so?“

„Sie sehen so angegriffen aus, so blaß.“

„Bah, ich bin ganz wohl. Hast Du Georg zur Post geschickt?“

„Ja, und er brachte einen Brief zurück,“ versetzte das Mädchen, die Thür zu dem inneren Zimmer öffnend.

Brunhild trat ein, nahm den Brief vom Tische und legte ihn wieder gleichgültig hin, als ihr die Adresse die Handschrift ihres Vaters gezeigt hatte. Sie ging an’s Fenster und stand eine Weile nachdenklich, die Blicke mehr in das eigene Innere als in die Landschaftspracht draußen tauchend. Mit einem Male trat sie heftig zurück, sie hatte den „Narren“ oder „Gecken“ erblickt, welcher, aus dem Hotel kommend, drunten rasch über den Vorplatz schritt. Wie sie sich vom Fenster wegwandte, fiel ihr Blick zufällig auf den großen Spiegel an der Seitenwand und dieser zeigte zu ihrer Ueberraschung, daß ihr Antlitz, welches doch nach Aussage der Zofe soeben noch blaß gewesen, mit Purpurröthe bedeckt war. Unwillig kehrte sie sich von der ärgerlichen Glasfläche ab, nahm zerstreut den Brief auf, öffnete den Umschlag und begann mechanisch zu lesen. Plötzlich jedoch erweiterten sich in Staunen und Schrecken ihre Augen, sie wankte auf ihren Füßen, schwankte bleich wie der Tod auf einen Stuhl zu, ließ sich auf denselben niederfallen und preßte, das Papier in ihren gerungenen Händen zerknitternd, halb athemlos hervor: „Eine Bettlerin! Eine Bettlerin!“ Tonlos fügte sie nach einer Weile hinzu: „Ah, wie sagte denn der … der … der Mann? ‚Wenn die Götter dir die Pforte zum Himmel aufthun‘ … Zum Himmel? … Aber schon ist sie zugeschlagen, unwiederbringlich!“

Nach Verlauf einer Stunde ging im Vorzimmer draußen die Klingel. Die eintretende Zofe fand ihre Herrin in gewohnter Fassung und Haltung. Fräulein Brunhild sagte kurz und kalt: „Rasch die Koffer gepackt, Hanne! Laß Georg die Rechnung fordern und bereinigen. Wir reisen mit dem zunächst abgehenden Dampfboot.“




4. Verkauft und gekauft.

Auf dem von zwei reichvergoldeten Karyatiden getragenen Marmorgesims des Kamins brennt eine aus Silber getriebene dreiarmige Lampe und erhellt ein Schlafgemach, welches mit anmuthvoller Pracht auszuschmücken und zum Empfange der Hochgeliebten herzurichten zärtliche Fürsorge und künstlerisch gebildete Einbildungskraft gewetteifert haben.

Aber die Augen Brunhild’s schweifen gleichgültig über alle diese Liebeserweise des Mannes hin, dem sie heute mittels eines frostigen Kopfnickens vor dem Altar zum Weibe sich gelobt hat.

Im vollen Brautstaat, das Myrthenreis noch im Haare, liegt sie, den Rücken der von einem maurischen Hufeisenbogen überwölbten Nische zugewandt, in welcher hinter einer Wolke von dunkelrother Seidendraperie die weißen Atlaspfühle des Brautbettes hervorschimmern, in einem Lehnstuhl, den Blick starr auf einen mächtigen Spiegel geheftet, der ihre Gestalt voll widerspiegelt.

Ihr Antlitz ist bleich bis zur Fahlheit und zu dieser Blässe steht das düstere Feuer der großen dunkeln Augen, steht das Fieberroth der trotzig zusammengepreßten Lippen in einem unheimlichen Contrast. Zuweilen hebt sich ihre Brust unter dem weißen Spitzenkleid und dann legt sie die schöne schlanke Hand darauf, wie um den Sturm der Gefühle, die da drinnen ihre Wogen schlagen, niederzupressen.

Dann wendet sie, als ob ihr Spiegelbild ihren Widerwillen erregte, mit einer Gebehrde der Ungeduld den Blick vom Spiegel ab, steht auf und geht an das hohe Bogenfenster, dessen Doppelflügel geöffnet sind.

Aus den Blumenbeeten drunten hauchen Veilchen und Jasmin ihren Duft zu der schönen, bleichen, dämonisch bewegten Braut empor. Sie achtet nicht darauf. Theilnahmlos tauchen ihre Augen in die laue, mondhelle, leise athmende Frühlingsnacht. Fernher klingt das Singen stürzender Gletscherbäche. Wie in träumerischem Kosen plätschert das leichte Wellengekräusel des Sees an dem Ufersaum des Parkes. Weithin über die prächtige Wasserfläche zittert ein silberner Strahl, der Widerschein der Mondsichel, die in der dunkelblauen Wölbung der Himmelsglocke über dem Hochgebirge schwebt. Ihr geisterhaftes Licht rieselt auf einen Bergkoloß von höchster Mächtigkeit nieder, welcher jenseits des Sees, gerade dem Fenster des Brautgemachs gegenüber, hinter vielfach abgestuften Vorbergen seine furchtbar schroffen, schwarzen, eisumpanzerten Felsenglieder hoch in die Lüfte hebt. Mechanisch fällt ihr Blick auf die finstere Bergmajestät, mechanisch haftet er an den beiden blendend weißen Firnschneeflächen, welche an der Scheitelkrone des dunkeln Riesen wie zwei Diamanten funkeln.

Ihre Seele ist weit von hier; ist daheim im nie zwar geliebten, jetzt aber gehaßten Vaterhause, zur Stunde, wo ihr Vater, händeringend, Angstschweiß auf der Stirn, flehend zu ihr gesagt hatte: „Es kostet Dir nur ein Wort, nur ein Ja, um mich vom Bettelstab, um mich von Schmach und Selbstmord zu retten!“ Und sie hatte dieses Wort gesprochen, hatte dieses Ja gegeben, dem Manne gegeben, welchem schon in dem Moment, als sie zuerst ihn gesehen, ihr Herz stürmisch entgegengeschlagen und welchen, so wollte es ihr infernalischer Stolz, sie tödten möchte, könnte, müßte, weil ein tückisch Verhängniß ihm gestattet hatte, so um sie zu werben, so sie zu erwerben …

Die schweren Sammetgardinen, welche die Thür des Zimmers verbargen, wurden zurückgeschlagen und die stattliche Gestalt des Bräutigams erschien auf der Schwelle.

Sigfrid’s Mund lächelte, aber dennoch lag eine leichte Wolke von Ungewißheit und Sorge auf seinem offenen, mannhaft schönen Gesicht. Er blieb einen Augenblick zögernd stehen, den Blick zu der am Fenster stehenden und in sich versunkenen Braut hinübersendend. Dann schritt er geräuschlos über den weichen Teppich, trat ihr zur Seite und legte sanft seinen rechten Arm um die prächtig-schlanke Gestalt.

Sie wandte das schöne Haupt zu ihm um und blickte ihn an, so kalt, so abweisend, so verachtungsvoll, als hätte sie sich auf diesen gefürchteten Moment seit lange mühsam, aber mit Erfolg vorbereitet. Er hielt ihren Blick aus, und als nun sein Auge so lieb und gut und zärtlich auf ihr ruhte, als sie seinen Athem auf ihrer Wange fühlte und sein Arm mit zarter Schonung sie gegen seine Brust hinzog, da schrie es in ihr auf: „Ich liebe Dich, Mann!“ und das Jauchzen und Frohlocken ihrer Seele machte sie unwillkürlich die Arme erheben, um sie dem Bräutigam heiß um den Nacken zu schlagen.

Aber sie that es nicht. Sie fand in ihrem Hochmuth die Kraft, die fast übermenschliche Kraft, es nicht zu thun. Sie hatte sich eine Rolle vorgebildet, die Unselige, und diese Rolle mußte gespielt werden. Doch nein, es war nicht etwas künstlich Zurechtgemachtes, was sie zu handeln trieb, wie sie handelte. Es war vielmehr ihr eigenstes Wesen, ihre von früh auf genährte, nahezu an den Wahnsinn streifende Verschrobenheit, Verdrehtheit und Verbildung, ihre Genialitätsaffectation – die Schwaben haben dafür einen viel derberen, aber auch viel bezeichnenderen Ausdruck: – ihre Großweibssucht, die ihr zur Natur gewordene Unnatur.

Der Zornschrei des sterbenden Talbot: „Unsinn, du siegst!“ ist ja der unaufhörlich und unzählig oft wiederkehrende Grundbaß in der großen Narrensymphonie des Lebens…

Mit einer Stimme, deren leises Beben seine tiefe Empfindung verrieth, sagte Sigfrid: „Und so hätten gütige Götter doch vollendet, was in den Sternen geschrieben stand – Brunhild ist das Weib Sigfrid’s geworden.“

„Das Weib?“ entgegnete sie schneidend, mit einer herbspröden Bewegung seinem Arm sich entziehend. „Die Waare, wollen Sie sagen, mein Herr! Man hat mich verkauft und man hat mich gekauft, das ist Alles.“

Hoch aufgerichtet stand sie ihm gegenüber. Ihre Augen sprühten Feuer und ihre Schönheit war die der Medusa.

Ein dunkles Roth überfuhr Sigfrids Wangen und Stirn und seine Lippe bäumte sich zornig empor. Aber er bezwang sich, wie denn – faselnde Psychologen mögen sagen, was sie wollen – im Sinne der Vernunft der Mann immer weit mehr sich zu bezwingen, zu bezähmen und zu beherrschen weiß, als das Weib.

„Brunhild,“ sagte er mild und freundlich, „bedenke, was Du thust! Diese Stunde schließt unsere ganze Zukunft in sich.“

[83] „Ich habe Alles bedacht,“ gab sie zurück. „Nur nicht, wie sich die Sclavin ihrem Besitzer gegenüber anzustellen hat. Aber,“ fügte sie mit unbeschreiblich höhnischer Betonung hinzu, „darum brauche ich mir wohl keine Sorge zu machen. Der Käufer wird schon wissen, daß und wie er über die Waare disponiren kann und will!“

Den Augen des schwer beleidigten Mannes entfunkelte ein Zornbliiz und seinem Munde entfuhr ein halbunterdrückter Fluch. Aber Sigfrid von Lindenberg war allzeit, in der Studentenkneipe wie auf der Rednerbühne der Volksversammlungen, auf dem Schlachtfelde wie im Kerker, ein Gentleman gewesen und er war es auch jetzt.

Obzwar im Innersten aufgestürmt und empört, wußte er sich zu zwingen und zu stimmen, um gehaltenen Tones die Thörichte zu fragen:

„Brunhild, ist das Ihr letztes Wort?“

„Ja.“

Ohne Heftigkeit, aber fest faßte er ihre Hand und zog sie an’s Fenster.

„Fräulein von Hohenauf, sehen Sie dort drüben am Scheitel des Schreckhorns die zwei so nahe beisammenhängenden und doch ewig getrennten Schneewolken?“

„Was soll das, mein Herr?“

„Das Volk nennt die beiden Schneeflecken dort die zwei verdammten Seelen und erzählt eine schaurige Sage von ihnen. Sehen Sie genau hin! Das Bild unserer Zukunft steht vor Ihren Augen.“

„Sie dichten, mein Herr.“

„Nein, ich prophezeie. Wir werden als zwei verdammte Seelen neben einander stehen und doch hätten wir mitsammen zwei selige sein können. Sie hätten mich – o, mit wie wenig Mühe! – zum glücklichsten Manne gemacht und ich, für welchen Frauen, so schön wie Sie, das Leben und mehr als das Leben hingegeben hätten, ich würde Sie auf den Händen getragen und wie eine Mutter geehrt, wie eine Schwester beschützt, wie eine Tochter behütet und wie eine Geliebte geliebt haben … Vorbei!“

Er ließ ihre Hand los, trat zurück und sagte noch mit einer tiefen Verbeugung: „Ich habe die Ehre, Ihnen eine gute Nacht zu wünschen. Morgen werde ich Ihnen meine Ansichten mittheilen und die Ihrigen entgegennehmen, wie wir unser Nebeneinanderleben möglichst wenig unbehaglich einrichten könnten. Für heute nur noch dies Eine: Fräulein Brunhild von Hohenauf, Sie haben mich einen Käufer, Ihren Käufer, gescholten. Wohlan, jetzt und immer verschmäht der Käufer, über die Waare zu disponiren!“

Damit ging er, und als er gegangen, da brach ihre Stärke, ihr Stolz, ihr Wahnwitz doch zusammen. Vernichtet sank sie auf einen Stuhl und die unnatürliche, ja frevelhafte Gespanntheit ihres Wesens suchte und fand einen vulcanisch-heftigen Ausbruch in krampfhaftem Schluchzen.




5. Neben einander.

Aus den zwei verdammten Seelen wurden nicht zwei selige. Sie lebten neben einander hin, bis, wie Sigfrid am Morgen nach der trübseligen Hochzeitsnacht seiner Frau, die nicht seine Frau war, vorgeschlagen hatte, „eine schickliche Lösung sich fände.“

Er benahm sich gegen sie mit vollendeter Courtoisie. Selbst der leiseste Schatten von Zwang war aus ihrem Dasein entfernt und sie mochte sich in vollster Freiheit bewegen. Die Dienerschaft zollte der Herrin ehrerbietigste Aufmerksamkeit und pünktlichsten Gehorsam. Jedem Wunsch, den das verzogene Glückskind launenhaft hinwarf, geschah mit fast zauberhafter Raschheit Genüge. Sie zwang sich, heiter zu erscheinen, geräuschvoll das Leben zu führen, und derweil verzehrte sich ihr stolzes Herz in der Brust.

Denn sie liebte diesen Mann, der ihr mit so gleichmäßig höflicher Kühle begegnete, liebte ihn mit brennender Gluth und Eifersucht. Sie ertappte sich auf Unmöglichem; denn für unmöglich hätte sie es doch fürwahr gehalten, daß eine Zeit kommen könnte, wo sie, wie sie that, heimlich die Armstuhllehne küssen würde, worauf Sigfrid’s Hand geruht, wo sie, so es ungesehen geschehen konnte, zärtlich seinen alten morosen Pudel, der mancherlei Fata mit seinem Herrn durchgemacht, liebkosen, wo sie in den Stall sich schleichen würde, um das Lieblingspferd dessen zu streicheln, den sie so übermüthig verschmäht, so tödtlich gekränkt hatte.

Möglich, wahrscheinlich sogar, daß die Energie ihrer Leidenschaft den Eiswall ihres Hochmuths einmal unversehens durchbrochen und niedergeworfen haben würde, falls Sigfrid nicht so streng innerhalb der Schranken kühler Gemessenheit sich gehalten hätte. Die Beiden sahen sich meist nur bei Tische und bei diesen Begegnungen gefiel sich der Schloßherr in einem Tone, welchen die Frauen und vollends leidenschaftliche Frauen am allerwenigsten ertragen können, in dem Tone gleichmüthiger Ironie nämlich, die sich mitunter in allerhand krausen Bildungen des Humors ausließ. „Er verschmäht mich,“ grollte es in der tiefsten Seelenfalte des stolzen Weibes; „er verschmäht mich und glaubt mir zeigen zu dürfen, daß er mich verschmäht. Eher sterben, als dem Uebermüthigen durch ein Wort, durch einen Blick verrathen, was“ … nun was sie vor sich selbst verbergen wollte und doch nicht konnte, nämlich, daß sie diesen Mann anbetete.

Vielleicht hätten ihre heimlichen Monologe doch anders gelautet, so sie mit angehört hätte, wie der alte Hausmeister eines Abends zu seiner alten Lebensgefährtin sagte: „Höre, Lise, der arme Herr ist in letzter Zeit auffallend gealtert. Vor etlichen Monaten hatte er noch kein weißes Härchen auf dem Kops und im Bart, und jetzt hat es recht ordentlich drein geschneit.“

„Ich hab’s wohl bemerkt,“ gab die Lise zur Antwort. „Der gute Herr ist recht unglücklich, obgleich er sich’s nicht anmerken lassen will. Warum hat er aber auch so ne Lucifera heimgeführt?“

„So ’ne was für Eine?“

„Nun ja doch, Alter, so ’ne Lucifera, sag’ ich, die Dam’ ist ja stolzer und hochmüthiger als Lucifer selber. Gieb Acht, lange thut das nicht gut …“

Zu Ende des Hochsommers kam Pastor Schwarzdorn zum Besuch. Sigfrid holte den Freund auf der nächsten Eisenbahnstation ab. Sie hatten demnach mehrere Stunden mitsammen zu fahren, und so langte Schwarzdorn, der ein Künstler im Ausholen war, ziemlich vollständig über den Stand der Sachen im Schlosse unterrichtet daselbst an. Der kaustische Verächter von Menschen und Dingen war aber doch lange nicht Mephistophel genug, sich darüber zu freuen, daß der „Romantiker“ Sigfrid seine Prophezeiung nicht Lügen gestraft hatte. Wunderlich aber war es anzusehen, daß der zwanglose Sarkastiker bei Tafel der Schloßherrin gewissermaßen zu imponiren, ja sogar fast ihr Wohlgefallen zu erregen verstand.

Nachher zeigte Sigfrid dem Freunde die neuen Wirthschaftsgebäude, die er gebaut, und die ausgedehnten Parkanlagen, die er bis zum Hochwald des Bergrückens, an dessen Fuß das schöne Besitzthum gelegen ist, hinaufgeführt hatte. Sie verbrachten mit der Besichtigung des Gutes den Nachmittag, und auf dem abendlichen Heimweg zum Schlosse äußerte der Gast: „Ich mach’ Dir mein Compliment, alter Junge. Dein Gut darf sich sehen lassen, und Du scheinst in der Verwaltung desselben eine angemessene und fruchtbare Thätigkeit gefunden zu haben. Es ist auch gescheidter und lohnender, hier Aecker zu verbessern, Wiesen zu entsumpfen, Bäume zu pflanzen und Gartenanlagen zu schaffen, als daheim bei uns politisches Phrasenstroh mit zu dreschen.“

Sigfrid, welcher das Bedürfniß fühlte, seine Seele ihrer schweren Bürde wieder einmal in einem heftigen Ausbruch zu entladen, ergriff die gebotene Veranlassung, um sich mit äußrster Leidenschaftlichkeit und Bitterkeit über die deutschen Zustände auszulassen. „Dieses Deutschland, das zu vergessen und dem zu entfremden mir – Dank den Göttern! – nachgerade gelungen ist,“ rief er aus, „dieses Deutschland würde die Schlafstube der Weltgeschichte sein, wenn es nicht ihre mit Hunderttausenden von unnützen Scharteken angefüllte Bücherei wäre, wohin sich Dame Historia zurückzuziehen pflegt, um, ermüdet von Thaten, die sie mit anderen und für andere Völker gethan, im Halbschlummer über philosophischem und theologischem Nonsens und literarischem Lumpenkram zu duseln und zu dämmern.“ In diesem Tone ging es lange fort; denn Ehren Schwarzdorn, welcher merkte, daß die Explosion dem Freunde Erleichterung verschaffte, trug Sorge, die „Gemüthsausschleimung“, wie er das Ding bei sich nannte, durch sarkastisch hingeworfene Widerspruchsworte noch mehr zu reizen und [84] in Fluß zu bringen. Endlich schloß Sigfrid damit, daß er dem Freunde die Frage zuschleuderte: „Was ist denn dermalen in dem Fröbel’schen Kleinkindergarten deutscher Politik das Hauptspielzeug?“

„So viel ich weiß, eine Nähmaschine, worauf, da wir derartiger Costüme niemals genug haben können, ein neuer Herzogsmantel nach allen Vorschriften der Legitimität und Heraldik verfertiget werden soll,“ versetzte der Pastor. Dann plötzlich den Ton ändernd, fügte er ernst und theilnehmend hinzu: „Lieber Freund, Du bist offenbar nicht in der Verfassung, ein ruhiges und wohlbemessenes Urtheil über die deutschen Sachen hören, geschweige fällen zu können. Deine Worte riechen nach Galle, das Unglück macht bitter und ungerecht, und gestehe nur, Du bist kein glücklicher Mann.“

„Es wird sich geben.“

„Es wird sich leider nicht geben! Denn eher und leichter bringst Du zehn Kameele zumal durch ein Nadelöhr als den Eigensinn und die Halsstarrigkeit eines Weibes zur Anerkennung eines Unrechts und einer Verfehlung. Diese Brunhild hat, gerade herausgesagt, etwa Satanisches an sich. Sie wird Dich unfehlbar zu Grunde richten, wenn Du sie nicht zeitig von Dir thust.“

„Bah, warum nicht gar? Ich sag’ Dir, ich will und werde sie doch noch zähmen, die schöne, stolze Wilde …“

Wunderbare Tyrannin, Convenienz die Große, die Größte! Selbst die unbezähmbare Brunhild fügte sich ihr, als ob da von einem Widerstande nur gar keine Rede sein könnte. Sie fügte sich ihr, indem sie gegenüber dem Gaste in aller Form die Frau vom Hause darstellte und beim Abendtisch die Obliegenheiten der Wirthin anmuthig erfüllte. So anmuthig, daß Sigfrid’s Stirn hell aufglänzte, Schwarzdorn’s Humor in prasselnden Raketen sich entlud und ein rechtes Behagen über den kleinen Kreis sich verbreitete. Auch Brunhild fühlte sich davon berührt und horchte mit Theilnahme dem Gespräche der beiden Männer, welche, jeder in seiner Art bedeutend, so sehr von einander verschieden waren und doch einander so von Herzen zugethan.

Schwarzdorn äußerte seinen Entschluß, die ungewöhnlich günstige Witterung zu benutzen, um gleich morgen eine kurze Rundreise durch altbekannte und geliebte Hochgebirgsgegenden anzutreten, und Sigfrid erklärte, daß er den Freund begleiten wolle.

„Darf ich auch mit?“ fragte Brunhild. Das unbewachte Wort war heraus, aber blitzschnell kam die Reue hintendrein. Sie biß sich auf die Lippe, sie hätte sich mögen die Zunge abbeißen. Als Sigfrid voll freudiger Verwunderung die Fragerin ansah, blickte ihm schon wieder nur das unbewegliche Marmorantlitz der sprödesten, stolzesten aller Walküren entgegen. So sagte denn der Angekältete artig, aber in kühlem Scherzton: „Wer wird erst noch fragen! Von mir gar nicht zu reden, selbst der knorrige Schwarzdorn da wird zu Blüthen der Liebenswürdigkeit ausschlagen, falls er die Ehre und das Glück hat, Ihren Reisecavalier machen zu dürfen.“

Auf ihrem Zimmer angekommen, sagte Brunhild halb unbewußt vor sich hin: „Das war ein lieber Abend … Wie gut und schön er spricht und wie viel Seele in seinem Auge!“ Und sie seufzte tief auf.

In dieser Nacht bethaute sie ihr Kissen mit brennenden Zähren.




6. Ein Mann.

Die kleine Reisegesellschaft hatte ein halb Dutzend Tage lang jene Alpenlandschaft durchzogen, die unbedingt zu den erhabensten und zugleich anmuthigsten Landschaftsdichtungen der Schöpferin Muttererde gezählt werden muß. Auf der Heimkehr zum Schloß am See hatten die Reisenden einen Rasttag in dem berühmten Fremdenstandlager und Curort gemacht, allwo vor Jahresfrist die erste Begegnung zwischen Sigfrid und Brunhild stattgehabt.

Schwarzdorn, dessen scharfer Blick in dem Benehmen, welches die stolze Schöne während der Gebirgsfahrt eingehalten, gelesen hatte, daß Etwas in ihr arbeitete, was vielleicht eine glückliche Veränderung zu Gunsten seines bedauerlichen Freundes zuwege bringen könnte, war auf den Einfall gekommen, gerade an diesem Orte, wo die Beiden sich zuerst gesehen, einen entschiedenen und entscheidenden Versuch zu machen, sie zusammenzubringen. Er hatte daher den Vorschlag gemacht, etliche Tage hier zu verweilen, um altvertraute, erinnerungsreiche Pfade wieder zu begehen, wie er andeutungsvoll sagte. Der Vorschlag war gebilligt worden und der pastorliche Mephisto, welcher, aller seiner Skeptik und Sarkastik zum Trotz, gleich allen seinen „engeren Vaterlandsleuten“ ein gut Stück Romantik im Leibe hatte, mühte sich mit dem Gedanken ab, wie es zu machen wäre, daß er die Beiden möglichst zwanglos und unversehens zu der Burgruine an dem kleinen Hochsee hinaufbrächte, wo er seinen „großen Schlag“ thun wollte …

Die beiden Freunde waren bei hereingebrochenem Abend nach dem Zeitungslesecabinet gegangen, und Brunhild saß, nach dem heißen Tage die Nachtkühle zu genießen, auf der kleinen Veranda, auf welche sich eine Thür ihres Zimmers öffnete, das gegen den Garten des Hotels hinauslag, welcher sich mit seinen Blumenbeeten und Gebüschen in die Schatten der Nacht hindehnte. Es war still. Das Gesumme der Schwärme von den in der großen Allee bei Laternenschein Lustwandelnden drang nicht hierher. In das leise Rauschen des hinter dem Garten vorbeiströmenden Flusses mischten sich, von der Anlage beim Curhause herabkommend, einzelne verlorene Geigen- und Flötentöne.

Brunhild, hinter der Fülle des Laubgewindes der wilden Rebe, welches die Veranda bekleidete und bedachte, in sich zusammengeschmiegt, ließ die Erlebnisse der letzten Tage an ihrer Seele vorübergehen, und sie sträubte sich, wie ihr Stolz noch vor wenigen Monaten oder Wochen gethan hätte, schon nicht mehr gegen die wohlige Nachempfindung der Befriedigung, womit das zartsinnige Gebahren Sigfrid’s während der Reise sie erfüllt hatte. Sie empfand es daher mißmuthig als einen störsamen Eingriff in ihre Träumerei, als eine Gesellschaft von Engländern, der sonstigen steifleinenen, ungeselligen Gewöhnung dieser „rothhaarigen Barbaren“ ganz entgegen, unten im Garten an einem Tische lärmend debattirend sich etablirte. Kellner stellten Kerzen mit Glasglockenschirmen auf den Tisch, brachten Weinflaschen und eine dampfende Grogbowle. Die Gentlemen, sammt und sonders schon über das jugendliche Mannesalter hinaus, mochten alte Bekannte sein, sich zufällig am hiesigen Orte getroffen haben und in der Freude hierüber zu dem Entschlusse gekommen sein, „die Flasche heunmgehen zu lassen“, wie dieselbe vor Zeiten zu Oxford oder Cambridge unter ihnen herumgegangen war. Ein stattlicher Mann von militärischer Haltung, dem von jeder seiner Wangen eine ungeheure, brandrothe Haarcotelette herabhing und den die Andern mit „Colonel“ anredeten, war augenscheinlich der Mittelpunkt und so zu sagen die Respectsperson des Kreises, in welchem es hinlänglich laut herging.

Brunhild war aufgestanden, um sich in ihr Zimmer zurückzuziehen, als der Gegenstand des Gespräches der Engländer – sie verstand Englisch – sie zurückhielt, obschon sie gar nicht hatte hinhören wollen. Sie bedauerte aber sofort, einer mechanischen Regung von Neugier nachgegeben zu haben.

Es war gerade die Zeit, wo das moderne Carthago sich einbildete, für die „Rose von Dänemark“ zu schwärmen, und der britische Leopard, in mehr oder weniger künstlicher Erhitzung, seine Flanken kriegerisch mit dem Schweife peitschte, mit demselben Schweife, welchen er bald darauf, als es hätte zum Klappen kommen sollen, so kläglich schmählich zwischen die Hinterbeine geklemmt hat. Kein Wunder daher, daß die zechenden Gentlemen das „feigste und niederträchtigste Volk der Erde“ – so betitelten ja die englischen Zeitungen die vierzig und mehr Millionen Deutsche Tag für Tag – zum Gegenstand ihrer Unterhaltung und zum Stichblatt ihres Grog-Humors machten. Allen voran der Colonel, welcher seinen Kumpanen im Groteskstyl die Erlebnisse einer Reise schilderte, welche er soeben in deutschen Landen gemacht hatte. Da er sehr laut sprach, konnte Brunhild hinter dem Laubvorhang der Veranda alle die Hohn- und Schmachreden, womit er Deutschland bedachte, deutlich verstehen, und nun ging etwas Seltsames in ihr vor.

(Schluß folgt.)



[85]
Ein Agitator.

James Fazy.

Es muß doch eine eigene Bewandtniß haben mit einer Stadt, welche heute noch so klein wie unzählige obscure Städte zweiten und dritten Ranges in großen Staaten, noch viel kleiner vor wenigen Jahren, der Hauptort des kleinsten Staates in einem Staatenbunde zweiten Ranges, außerdem abseits von der welthistorischen Heerstraße und in einer Sackgasse, die das höchste Gebirge Europas abschließt, auf einem zum größten Theile unergiebigen Pudding-Boden und an einem noch unfruchtbaren, d. i. unschiffbaren Wildwasser gelegen – es muß mit einer solchen Stadt eine eigene Bewandtniß haben, die, trotz aller dieser ungünstigen Bedingungen, dennoch die Aufmerksamkeit des ganzen Welttheiles zu den verschiedensten Zeiten zu fesseln und in den entferntesten Gegenden Parteileidenschaften für und wider zu wecken weiß. Diese Stadt muß noch eine jener energischen, unabhängigen, gewaltigen Stadtseelen haben, die in früheren Jahrhunderten die Geschicke der Welt entschieden und die heute beinahe überall in der Allgemeinheit großer Staaten verschwunden sind. In der That hat das kleine Genf eine Geschichte, die sich, was Geist, Heldenmuth, Bürgersinn, politische Schöpferkraft betrifft, in vieler Beziehung mit den Städten der antiken Welt und, was Freiheitssinn, Leidenschaft, Ausdauer anlangt, mit den berühmtesten Städtegeschichten Italiens messen kann.

Es ist hier weder Ort noch Raum, zurückzugreifen bis auf den allobrogischen Ursprung der Stadt, auch nicht auf die endlosen Kämpfe, die sie durch Jahrhunderte mit ihren eigenen Bischöfen und den mächtigen Herzögen von Savoyen zu bestehen hatte; nicht der Ort, das Joch von Blut und Eisen zu schildern, das ihr, nach kaum errungener Selbstständigkeit, die Reformation und jener unerbittliche finstere Eiferer aus Frankreich auflegte, welcher aus dem heitern, freiheitsdurstigen Genf eine düstere Stadt von Leichenbittern, Pfaffen und Pfaffenknechten, Censoren und Spionen schuf, – wir werfen nur einen kurzen Blick auf die letzten siebenzig Jahre.

Zur Zeit, da Frankreich die Weltgeschichte absorbirt, wird bekanntlich Genf französisch und geschichtslos. 1814 erfreut es sich der Befreiung vom napoleonischen Joche wie alle andern Staaten, und sein sehnlichster Wunsch ist es, sich, künftiger Sicherheit wegen, als Canton an die Eidgenossenschaft anschließen zu dürfen. Es bittet und fleht, wie ein unglücklich liebender, aber die Eidgenossenschaft benimmt sich sehr spröde. Die katholischen Urcantone wollen vom calvinistischen Rom nichts wissen; Bern, Freiburg und andere patrizische Cantone stemmen sich gegen die Verbindung mit einer Stadt, die schon vor der französischen Revolution demokratische Wünsche hegte; Zürich und andere deutsche Cantone fürchten für ihren Zopf, überhaupt sträuben sich die deutschen Schweizer gegen eine Vermehrung des „wälschen“ Elementes in der Eidgenossenschaft. Endlich aber setzt es Genf doch durch, besonders da es mit einer Verfassung auftritt, vor der Patrizier, [86] Zünfte und Zopf nicht zu erschrecken brauchen. Diese Umstände, dieses Verhältniß zur Schweiz vom Moment des Eintrittes in den Bund an sind nicht zu vergessen; sie haben nie aufgehört, eine Rolle zu spielen, sie sind noch heute von Wichtigkeit.

Die Verfassung, mit der man in den Bund trat, war allerdings der Art, daß sie die Machthaber in den alten Cantonen, die Geschlechter, Zünfte etc. nicht beunruhigen mochte: man griff auch in Genf hinter die Revolution zurück und die Geschlechter regierten unter etwas anderer Form und unter verschiedenen Vorwänden nach wie vor. Die Genfer ließen sich das gefallen, froh genug, die Fremdherrschaft los und mit der Schweiz verbunden zu sein. War es nicht überall so?

Aber so konnte es nicht bleiben. Die Bewegung von 1830 erschütterte die ganze Schweiz und überall die Herrschaft der Patrizier, sie konnte unmöglich spurlos an Genf vorübergehen, das mehr als hundert Jahre früher viel weiter gehende demokratische Ideen predigte, als selbst jene waren, die man in den dreißiger Jahren in den radicalsten Cantonen verwirklichen wollte. Eine tiefgehende Gährung ergriff die von aller Regierung ausgeschlossenen Volksclassen – sie bedurften nur eines Mundes, eines Hauptes, um gegen das verrottete, alle Aemter wie allen Besitz einnehmende Regiment der oberen Classen aufzutreten. Der Mann trat auf.

James Fazy, geboren im Jahre 1794, stammt aus einer altadeligen französischen Familie, welche durch die Zurücknahme des Edictes von Nantes unter Ludwig dem Vierzehnten der Religion wegen zur Auswanderung gezwungen wurde, also merkwürdigerweise aus einer jener Familien, welche die Nutznießung der aristokratischen Verfassung zu Genf hatten, die er abzuschaffen bestimmt war, um die alte Volkssouveränetät an ihre Stelle zu setzen. Die cofsiscirten Güter dieser Familie machten zum Theil den Reichthum des Hauses Polignac aus. Doch war noch Fazy’s Vater ein reicher Mann und hinsichtlich des Unternehmungsgeistes seinem Zeilalter weit voraus. Er scheint den ganzen spätern Aufschwung der Industrie geahnt und auf dem Standpunkt der modernen Nationalökonomie gestanden zu haben. Seine Söhne ließ er in Deutschland, in dem Herrnhuter Stifte zu Neuwied, erziehen. Unter der Restauration kam James Fazy als sehr unterrichteter junger Mann nach Paris und sofort in Verbindung mit Armand Carrel, mit Cavaignac, Lafayette, überhaupt mit den Führern der Opposition, welche die Julirevolution vorbereiteten. General Lafayette schenkte ihm sein besonderes Vertrauen, beauftragte ihn mit mehreren wichtigen Sendungen und zog ihn in die Geheimnisse des französischen Carbonarismus.

Fazy trat damals in persönliche Verbindung mit allen Agitatoren, die zu jener Zeit in Frankreich, Italien, Spanien, Portugal und Polen Bewegungen leiteten oder vorbereiteten. Man kann behaupten, daß von den Männern, welche in den nächsten drei Decennien wo immer in Europa für die liberalen Ideen eintraten, ihm beinahe keiner persönlich unbekannt war. Seine Wirksamkeit vor der Julirevolution war eine doppelte: eine öffentliche als Journalist, eine geheime als Verschwörer. Auch stand er in den Julitagen mit in den vordersten Reihen der Männer, welche in der Bewegungspartei bekannt waren, hatte es da unmittelbar mit Lafayette zu thun und saß nach Einnahme des Hotel de Ville mit an dem Tische, um welchen sich die erste provisorische Regierung gruppirte. Als Lafayette selbst Louis Philipp als die „beste der Republiken“ proclamirte, wandte sich Fazy sofort von ihm ab und der Partei zu, welche die Arbeit nicht für vollbracht hielt, so lange nicht die wirkliche Republik proclamirt war. Mit der Action hatte es bald ein Ende, da Frankreich sich mit dem Bürgerkönigthum begnügte, und Fazy wirkte weiter, wie vor der Julirevolution, freilich jetzt an der Seite einer geschwächten Partei. Er gründete und leitete mehrere Zeitungen nacheinander, welche sich dadurch vor den anderen auszeichneten, daß sie den Nachdruck auf die nationalökonomischen Fragen legten.

Um diese Zeit kam er mit dem Prinzen Louis Napoleon in Berührung, welcher Prinz damals Republikaner, ja Socialist war. Mit dem Gelde dieses Prinzen gab er eine revolutionäre Zeitung heraus. Seine eigenen Hülfsmitlel waren beinabe erschöpft, die Agitation, die Gründung von Zeitungen, die nicht auf eine große Partei rechnen konnten, die Geldstrafen und dabei das Pariser Leben hatten den größten Theil seines Vermögens verschlungen. Als auch die letzte Zeitung unterdrückt wurde und in Genf die Unzufriedenheit mit dem alten Zopfregiment laut zu werden anfing, eilte er mit dem Rest seines Vermögens, mit seiner Thatenlust, mit seinen revolutionären Erfahrungen in seine Heimath zurück, entschlossen, Alles daran zu setzen, um Genf die volle Freiheit zu erringen. Ohne Zeit zu verlieren, trat er als Agitator auf und erwarb sich von Seiten der Aristokraten um so größeren Haß, als man ihn als einen Apostaten der Kaste betrachtete. Man hielt ihn, wie das immer der Fall ist, nur für einen Ehrgeizigen und kam ihm mit allen möglichen Anerbietungen entgegen; er wies Alles von sich, kehrte der obern Stadt, dem Viertel der Patrizier, den Rücken, miethete sich im Arbeiterviertel Faubourg St. Gervais eine kleine Stube, lebte wie ein Spartaner und machte sich in den untern Volksclassen bekannt und beliebt. Als Abkömmling einer Patrizierfamilie, als Mann von Pariser Manieren, hatte er Anfangs viel mit dem Mißtrauen des Volkes zu kämpfen, bis die Verfolgungen, die ihm von Seiten der Regierung zu Theil wurden, die gehörigen Bürgschaften boten.

Zur Zeit des berühmten Zuges Mazzini’s und Romacino’s gegen Savoyen hatte er schon so viel Einfluß, daß er, mit dem Volke hinter sich, die Genfer Regierung zwang, durch die Finger zu sehen, die Vorbereitungen zu dem Zuge geschehen und die von der mißglückten Unternehmung Zurückgekehrten entschlüpfen, sogar unbehelligt in Genf leben zu lassen. Fazy selbst war mit bei dem Zuge. Er entwickelte eine außerordentliche, eine wahrhaft erstaunliche Thätigkeit: Brochüre auf Brochüre folgte, Zeitung auf Zeitung, Flugblatt auf Flugblatt. Druckereien wurden geschlossen, Zeitungen unterdrückt, Processe eingeleitet, Geldstrafen verhängt – kurz all die Mittelchen reactionärer Regierungen erschöpft – es nützte nichts: Fazy arbeitete weiter, schrieb, sprach, stiftete Gesellschaften und Verbindungen, sammelte Gelder, klärte auf. Bei all dem schrieb er Romane, eine Geschichte Genfs, um die Genfer mit dem Beispiel ihrer Vorfahren zu entzünden und um ihnen zu zeigen, wie sie sich schon einmal mit dem Conseil général, d. i. demokratisch, regiert haben, und Biographien bedeutender Genfer, die für ihr Vaterland geblutet haben, wie z. B. das Leben Pierre Fatio’s, und endlich Abhandlungen über gerechte und ungerechte Besteuerungen, über Stimmrecht etc. etc.

In Folge dieser Agitation sah sich die Regierung schon zu Anfang der vierziger Jahre gezwungen, gewisse Zugeständnisse zu machen und kleine Veränderungen in der Verfassung anzubringen. Aber diese Zugeständnisse und Veränderungen modificirten im Grunde nichts am alten Princip, hielten die alten Privilegien aufrecht und genügten nur einer kleinen Anzahl bevorzugter Bürger. Die Gährung ging sogar tiefer, als das calvinistische und conservative Genf im Geheimen und endlich öffentlich mit den Jesuiten gemeinschaftliche Sache machte und auf die Seite jener Cantone trat, die das Unwesen unterstützten, dem später der Sonderbundskrieg ein Ende machte. Die Calvinisten und Conservativen hatten sich selbst entlarvt und gerichtet; die Zeit war reif. Fazy proclamirte die Revolution; das gründlich entrüstete und vorbereitete Volk stand in ungeheuerer Majorität auf seiner Seite – und die altväterliche Regierung fiel nach geringem Schütteln wie eine faule Frucht vom Baume. Diese Revolution war darum von so ungeheuerer Tragweite, weil nun Genf im Bundesrathe den Ausschlag gab und der Sonderbundskrieg beschlossen werden konnte. Die Revolution kam der Schweiz, kam Europa eben so zu Statten, wie dem Canton Genf selbst. Dieser berief eine constituirende Versammlung, welche, von Fazy geleitet, jene Verfassung decretirte, die, was die Verwirklichung des Freiheitsprincips betrifft, sämmtliche Verfassungen Europas weit hinter sich läßt und welche aus Genf das gemacht hat, was es heute ist: eine Stadt, in welcher die vorhandenen geistigen und materiellen Mittel bis zu einem Grade ausgenutzt und befruchtet werden, wie das vielleicht an keinem andern Punkte der Welt der Fall ist: – welche Verfassung aber auch, als ein verführerisches Beispiel, den Neid oder den Haß jener Cantone erregte, in denen noch von Vielen oder Einzelnen nutzbringende Ueberreste der guten allen Zeit ausgebeutet werden. Alle diese Cantone meinen, wie der Oberst Ziegler, daß, obwohl die Genfer Verfassung nur consequent und bewunderungswürdig in ihren Wirkungen, es doch nicht genug sei, daß Genf stehen bleibe und die anderen Cantone erwarte, sondern daß es zu ihnen, wenigstnus den halben Weg, zurückkehren müsse.

Was die allgemeine Theilnahme sämmtlicher Bürger am Staatswesen, die unumschränkte und unbewachte Wahl der executiven [87] und legislativen Gewalten, die vollkommene Handels- und Gewerbefreiheit, die die Erwerbung des Bürgerrechtes und die Niederlassung erleichternden Gesetze, die Religionsfreiheit, kurz all die neuen Institutionen, welche auf die Revolution folgten, aus Genf gemacht haben, ist vielfach schon anderswo ausgeführt worden, und es ist unmöglich, auf diesem beschränkten Raume das auch nur andeutend auszuführen. Es ist genug, wenn wir sagen, daß Genf von der Revolution an sich so rasch entwickelte wie eine amerikanische Stadt, und daß, wer diese Stadt vor der Revolution gesehen und sie jetzt wieder sieht, auch ohne ihre innere Umgestaltung zu kennen, einsehen müsse, daß er hier eine ganz neue Welt vor sich habe, die mit der alten nichts zu thun hat. Hat es doch der fanatische Conservative Cherbuliez, ein persönlicher Feind Fazy’s, in der Revue des deux Mondes eingestehen müssen, daß das heutige Genf eine große, unbegreifliche Schöpfung sei, und ein halbconservativer Historiker, Herr Gallieur sagt: Wie man immer über Herrn Fazy denke, so müsse man doch zugestehen, daß seit Calvin Niemand auf die Geschicke Genfs so großen Einfluß ausgeübt, wie dieser Mann.

Anstatt aller Ausführungen wollen wir nur einer Maßregel erwähnen, als einer besonders bezeichnenden und wirksamen: die Niederreißung der Befestigungen. Die Stadt Genf hatte Gräben, Wälle und Mauern, wurde von den Machthabern wie eine Grenzfestung behandelt und man schloß die Thore bald nach Einbruch der Dämmerung. An eine Zunahme der Bevölkerung konnte kaum gedacht werden, da die Häuser auf dem kleinen, durch die Festungswerke beschränkten Raume schon so eng aneinander und so hoch in die Luft als möglich gebaut waren. Es sah da ärger aus als in irgend einer mittelalterlichen Stadt. Die Häuser aber gehörten zum größten Theile der alten Partei, die schon dadurch jenen Zuwachs an Macht erhielt, den ausschließlicher Besitz unbeweglicher Güter giebt. Sie war factisch die Besitzerin, also die Herrin der Stadt, und war eben so wenig gewillt, diesen Vortheil wie irgend einen andern mit einer größeren Anzahl zu theilen. Daß die Bevölkerung in dieser Stadt verdumpfte, war ihr gleichgültig; daß sie nicht zunahm, war ihr angenehm, denn wer konnte ihr bürgen, daß einer größeren Bevölkerung gegenüber eine regierende Coterie sich halten würde. Die einengenden Befestigungswerke waren ihr mithin so lieb, wie ihr Augapfel, wie das Symbol ihrer Macht. Schon in der ersten Hälfte des vorigen Jahrhunderts trat ein Genfer, Namens Micheli-Ducrest auf, der, als ausgezeichneter Ingenieur und Officier aus fremdem Kriegsdienst heimgekehrt, eine Abhandlung veröffentlichte und dem Rathe überreichte, in welcher er darthat, daß die Befestigungen von Genf nicht nur nutzlos, ja sogar gemeingefährlich für die ganze Schweiz seien, da sie einer Belagerung nicht gehörig widerstehen, wohl aber einem einmal eingebrochenen Feinde als Halt und Stütze, jedenfalls zur Deckung eines Rückzuges dienen könnten. Micheli-Ducrest wurde dafür ein Hochverrathsproceß gemacht und er mußte die Flucht ergreifen. Zu Anfang der dreißiger Jahre erstattete eine militärische Commission der Eidgenossenschaft an diese einen Bericht, welcher beinahe genau dieselbe Ansicht ausdrückte, welche jener vor mehr als neunzig Jahren ausgesprochen; aber der Bericht hatte keine Folgen, da der Genfer Rath diese zu hintertreiben verstand.

Trotz solcher Antecedentien dieser ein Jahrhundert alten und längst beantworteten Frage, erhob sich von Seiten der Aristokraten und Conservativen ein gewaltiges Geschrei über Hochverrath, Landesverrath, Auslieferung an Frankreich, als Fazy mit dem Antrag auftrat, die nutzlosen Festungswerke niederzureißen, der Stadt Luft und Licht zu geben, unzählige neue Baupläne und damit der Republik neue Geldquellen zu schaffen. Man wandte sich selbst an den Bundesrath, um mit Hülfe seiner Autorität die Kalamität von der Stadt Genf abzuwenden, und dieser, immer bereit den Ueberresten des alten Regiments Recht zu geben, vergaß auch jenen obenerwähnten militärischen Bericht und schickte sich an, ein Veto ergehen zu lassen, kam aber, bei der Rührigkeit Fazy’s, zu spät. Das ganze Volk stand auf Seiten Fazy’s; mit Musik zog man hinaus; es war eine patriotische Handlung, einige Steine von den alten Festungswerken zu reißen. Sie verschwanden; die Gräben wurden ausgefüllt; Genf hatte mit einem Male einen ungeheueren Grundbesitz, und – um es kurz zu sagen – die Bauplätze sind im heutigen Genf so theuer wie nur in Paris, trotzdem viele Hunderte von Bauplätzen geschaffen wurden. Die Conservativen selbst, die jammerten, daß ihre Besitze entwerthet würden, sehen ihre alten, verrotteten Häuser heute um das Drei- und Vierfache im Werthe gestiegen. Wie die Maßregel der Niederreißung unzähligen Armen und eben so unzähligen Fremden und neuen Bürgern gesunde Wohnungen verschaffte, eben so bereicherte sie die schon Reichen. Das Geschrei über Landesverrath hörte aber trotz alldem ebensowenig auf, wie der Haß gegen Fazy. Hatte er auch den Reichthum der Reichen vergrößert, so hat er auch andere Besitzende neben ihnen geschaffen, dem alten Genf ein Ende gemacht und, vor Allem, Geld aus dem Boden gestampft und so die Conservativen umgangen, die gehofft hatten, die neue Regierung auszuhungern, mit Zurückziehung ihrer Capitalien Unzufriedenheit zu erzeugen und das neue System zu stürzen.

Im Jahre 1854, also erst acht Jahre nach der Revolution, wurde Fazy aus der Regierung herausvotirt, aber nur um bald darauf wieder gewählt zu werden und sich auf’s Neue bis zum Jahre 1861 zu halten. Bis dahin hielt man ihn im Auslande, selbst in Genf, immer für den Präsidenten des Staatsrathes, selbst wenn er es nicht war, in dem richtigen Gefühle, daß er immer die Seele desselben gewesen. Mit dem genannten Jahre beginnt sein endlicher Verfall. Fazy hat in der That ein neues, reiches, rühriges und durch und durch freies Genf geschaffen; er hat aus dem unbedeutendsten Canton einen Factor gemacht, der in der Eidgenossenschaft eine Wichtigkeit erhielt, wie einer der größten Cantone; er hat gezeigt, wie man in der Freiheitslogik bis zu den sogenannten letzten Extremen gehen könne, ja gehen müsse, um auch die richtigen Früchte zu ernten. Es wurden Institutionen in’s Leben gesetzt zum Vortheil Aller und es haben sich Einrichtungen bewährt, die man vor ihm als utopistisch, als schöne aber unpraktische Schwärmereien betrachtete; es wurden Veränderungen vorgenommen, zu denen man, bevor sie in’s Leben traten, die Mittel eines großen Staates nicht für zureichend gehalten hätte. Dem Unterricht wurde, im Verhältniß zur Größe des Staates, das größte Budget der Welt zugewendet; verhältnißmäßig die meisten Banken, Disconto-Gesellschaften gegründet und die besten und zahlreichsten Communicationswege eröffnet; die Stadt verwandelte sich in eine Stadt der Paläste und wuchs in der Bevölkerung; diese wurde reicher als je, obwohl die eingeborene Uhrenindustrie durch die Concurrenz von Chaux-de-Fonds, Locle, Besançon, Paris und London in der Abnahme begriffen ist. Dies Alles hat Fazy und sein System gethan; dies Alles ist es, was ihm ein Monument ein Jahr nach seinem Tode sicherte. Wir wollen jetzt von dem Fazy sprechen, der sich um das Monument gebracht hat, denn wir sind nicht, wie es bisher geschienen haben mag, die Lobredner des merkwürdigen Mannes, obwohl wir zugeben müssen, daß manches Lobenswerthe mit zu seinem Verfall und Falle beigetragen.

Hier muß nun vor Allem auf die unbestreitbare und entscheidende Thatsache der Nachdruck gelegt werden, daß James Fazy der begabteste, der geistreichste und erfahrenste Mensch aller Parteien ist, daß er immer die gegebenen Mittel zu benutzen wußte, wenn solche fehlten, sie zu schaffen verstand und sich nicht leicht durch irgend welche Combination von Umständen in Verlegenheit bringen ließ. Die radicale Partei Genfs, wie viele ehrenwerthe Männer sie auch zählen mag, ist doch so arm an politischen Köpfen, wie die conservative. Fazy hatte eigentlich niemals Parteigenossen, sondern zum größten Teile ein Gefolge, das auf sein Wort hörte, wie auf das Wort des Meisters. Naturgemäß war er die Seele der radicalen Partei, die er organisirte, und da diese durch viele Jahre bestehen mußte, ehe sie zu Kampf und Sieg kam, ließ sie sich, als die schwache Partei, gern und willig von einem Einzigen leiten. Dieses Verhältniß änderte sich nicht, als die Partei siegte und die demokratischste Verfassung durchsetzte, denn Sieg und Verfassung schufen weder auf dieser noch auf der andern Seite politische Köpfe. Durch eine lange Reihe von Jahren war also Fazy Alles in Allem: er war die Partei und er imponirte seinen Feinden nicht weniger als seinen Anhängern, kein Wunder, daß er im Schooße der Partei das wurde, wozu sie und die Umstände ihn machten, ein Despot, d. i. ein Mann, der immer und immer nur seine Meinung durchsetzte und neben dem kein Anderer aufkam. Gab ihm das eine verderbliche Sicherheit, so weckte es zugleich eine stille Unzufriedenheit bei denen, die im demokratischen Staate keine vorwiegende Persönlichkeit eine Alleinherrschaft üben sehen wollten und doch weder Muth noch Mittel hatten, diese zu beschränken.

(Schluß folgt.)



[88]
In der Höhle des Löwen.
Aus den Erinnerungen eines alten Franzosen.
Mitgetheilt von Georg Hiltl.

Herr Anatole Mesnard hatte sein fünfundsiebenzigstes Lebensjahr zurückgelegt, als man 1840 schrieb. Alte Leute mit regem Geiste, vollgepfropft mit Erinnerungen, mittheilsam und liebenswürdig, sind überhaupt sehr willkommene Erscheinungen. Besonders interessant sind aber alte Franzosen, wenn sie die genannten Eigenschaften besitzen. Sie behalten einen so frischen, jugendlichen Zug und erzählen bei der ihnen angebornen Lebendigkeit das Erlebte so fesselnd und so dramatisch, daß der Hörer unwillkürlich sich in die Zeit zurückversetzt glaubt, die sie darstellen. Ein solcher alter Franzose war Herr Mesnard, und ich hatte das Glück, aus seinem Munde die seltensten Anekdoten aus der Vergangenheit, insbesondere aus den Tagen der ersten französischen Revolution zu hören, von denen mich vor Allem die nachstehenden Mittheilungen interessirten, die ich gebe, wie sie der alte Herr erzählte.

Von all den denkwürdigen Erinnerungen – begann derselbe – welche ich mir aus den Zeiten der ungeheuren Revolution bewahrt habe, ist doch wohl die wichtigste für mich: der Besuch bei dem Haupte der Schreckensmänner, bei dem Manne, der das Leben von Tausenden in Händen hatte; der durch Blut ging und darin erstickte; dessen Leben, Wirken und Pläne bis heute noch ein ungelöstes Räthsel genannt werden müssen – mein Besuch bei Maximilian Robespierre. An sich vergißt sich ein Besuch bei Robespierre schon nicht, wie viel weniger, wenn es sich dabei um ein Unternehmen handelt, das den allergefährlichsten Abenteuern an die Seite gestellt werden darf. Ich habe mir von Robespierre ein Menschenleben erbeten, das schon der Guillotine verfallen war.

Die Familie Robespierre’s war mir nicht fremd, denn ich bin zu Frévent bei Arras geboren. Ihn selbst lernte ich bei seinen Besuchen in Arras kennen; wir waren fast von gleichem Alter. Robespierre zählte etwa zwei Jahre mehr, als ich. Viel genauer bekannt, als mit ihm, ward ich aber mit seinem Freunde und Schulgenossen Lebas, der, ebenfalls zu Frévent bei Arras geboren, zu meinen Spielcameraden gehörte. Später kamen wir auseinander; Lebas schlug die Laufbahn eines Rechtsgelehrten ein, ich widmete mich dem Kaufmannsstande.

Die Ereignisse trieben Maximilian Robespierre bald auf die Oberfläche des stürmischen Meeres der Revolution, und fast unzertrennlich von ihm blieb sein Freund Lebas, dem ich verschiedene Male wieder begegnete. Lebas war eine durchaus ehrenhafte und liebenswürdige, höchst poetische Natur, und wir konnten nicht begreifen, wie ein so lieber Mensch, als es Lebas war, in der Nähe des furchtbaren Mannes aushalten konnte. Zuletzt erfuhren wir, daß Lebas die jüngste Tochter des Tischlers Duplay, in dessen Hause Robespierre wohnte, geheirathet habe. Wie wichtig mir Lebas wurde, werden Sie bald sehen.

Am 6. April 1794 verkündeten die Ausrufer, Anschläge und Zeitungen in Arras, daß zu Paris Tages vorher Danton, Herault de Léchelles, Hebert und Camille Desmoulins ihre Häupter auf das Bret der Guillotine gelegt hatten. Danton’s Popularität war sehr groß gewesen, man kann sich daher die allgemeine Bestürzung denken; dennoch wagte noch Niemand, sich gegen das System des Schreckens zu erheben. In sehr gedrückter Stimmung saßen wir, meine Eltern, zwei Schwestern und ich, in Gesellschaft unserer beiden Comptoirgehülfen, beim Abendessen, als der alte Diener des Hauses bleich und zitternd eintrat, Madame Lepelletier anmeldend, die meinen Vater dringend zu sprechen wünsche. Madame Lepelletier war eine nahe Bekannte unsers Hauses und eine sehr achtungswerthe Dame. Ihr ältester Sohn stand bei der Nordarmee, Marion aber, seine schöne Frau, dem altadeligen Geschlechte der de Bonnaire entsprossen, lebte in Paris; ebenso der jüngste Sohn, François, welcher dort das Collège Louis le Grand besuchte. Die alte Dame trat ein, ihre Kniee schwankten und kaum konnte sie bis zu einem Sessel gelangen. Endlich, nachdem sie sich ängstlich umgeblickt hatte, ob sie auch keinen Verdächtigen gewahrte, brachte sie mühsam die Worte heraus: „Gott! Marion und François sind verhaftet! Sie wurden in das Gefängniß des Luxembourg geworfen.“

„Weshalb aber? Reden Sie doch?“ frug mein Vater in höchster Bestürzung.

„Einen Grund giebt man nicht an. Die Verhafteten erfahren meist ihr Vergehen erst in der Stunde des Todes.“

„Vielleicht ist es nur ein Gerücht,“ tröstete meine Mutter, „denn was kann François verbrochen haben?“

„Nein, ein Gerücht ist es nicht. Mein Advocat schreibt mir mit der Abendpost von Paris. Meine Angst ist unbeschreiblich. Herr Mesnard! Sie haben schon oft geholfen; können Sie keine Hülfe ausfindig machen? Kann Niemand meinen lieben, schönen, schuldlosen Jungen retten?“

Die Unruhe der Madame Lepelletier steigerte sich bis zu Krämpfen. Während die Frauen der Bejammernswerthen Beistand leisteten, ging ich mit meinem Vater im Zimmer auf und nieder. Das Geschick der Armen ging uns schwer zu Herzen. Ihr mußte Hülfe werden in ihrer furchtbaren Lage, das stand bei mir fest. Die offenbare Gefahr, die damit verknüpft war; der Gedanke, einer schönen Frau, wie Madame Lepelletier in Paris, einen solchen Ritterdienst zu leisten – das hatte einen mächtigen Reiz für einen jungen Mann, wie ich’s dazumal war. Zudem lag die Hochherzigkeit gewissermaßen in der Luft jener Zeit, und Beispiele großartigster Aufopferung erlebte man fast täglich.

„Ich werde die Verurtheilten retten!“ rief ich plötzlich aus, meinen Schritt anhaltend.

„Anatole!“ rief mein Vater. „Du bist unsinnig.“

„Um Gotteswillen, lieber Sohn!“ rief meine Mutter. „Denk’ Du nicht daran.“

Madame Lepelletier war durch meinen exaltirten Ausruf zu sich gekommen. Sie sprang auf mich zu, faßte meine Hand und drückte sie heftig. „O edler, braver junger Mann,“ rief die Aermste, „Sie wollten es versuchen? Ja, Sie sind gut, muthig, klug. Gewiß es wird Ihnen gelingen.“

„Anatole, Du mußt doch bedenken – –“ warf mein Vater zitternd ein.

„Du wagst Dein Leben!“ jammerte meine Mutter, sich an meinen Hals werfend.

Ich sah das kummervolle Gesicht der armen Mutter, aber ich gedachte auch der Angst der Gefangenen und dazu kam das Ehrgefühl. „Nein!“ rief ich. „Keine Abmahnungen, weg mit der Furcht! Ich reise morgen mit dem Frühesten nach Paris; ich spreche Robespierre, zuerst aber eile ich zu Freund Lebas. Er, Robespierre’s Pylades, er sollte nicht meinen Plan fördern können? Haben Sie also keine Furcht, meine Lieben!“

Der Name Lebas hatte meinem Vater wenigstens die Ueberzeugung beigebracht, daß ich nicht hirn- und planlos handeln wollte. So gaben mir denn nach einigem Widerstande meine guten Eltern ihren Segen, Madame Lepelletier drückte mir stumm die Hand. Ich hatte, so viel es ging, die oberflächlichste Darstellung der ganzen Sachlage aufgenommen. Besonders wichtig war es für mich, die Gefangenen sprechen zu können, was mit Hülfe des Schließers der Luxembourg-Gefängnisse möglich war; selbstverständlich gegen eine bedeutende Belohnung. Madame Lepelletier theilte mir mit, daß der Mann Lambert heiße und daß ich mich dreist an ihn wenden könne, wenn ich ihm einen Gruß und das Bild der Madame Lepelletier brächte. Ich notirte mir ferner die Wohnung des Notars der Dame, ebenso Straße und Hausnummer, wo früher Frau Marion Lepelletier gewohnt hatte, und suchte dann mein Schlafzimmer auf.

Schlafen konnte ich natürlich nicht. Erst als die Stille der Nacht mich umgab, ordneten sich meine Gedanken. Ich stellte mir jetzt vor, welchen gewagten Schritt ich unternehmen wollte. War es nicht schon gefährlich genug, nur für die Verdächtigen zu bitten? Wer sich Freund eines Geächteten nannte, war Feind der Nation; eine Bitte für die Gefährdeten brachte die höchste Gefahr. Dann fragte ich mich wieder, ob Lebas, der ein weicher und poetischer Mann im gewöhnlichen Leben war, auch ebenso mild urtheilen werde, wenn es sich um politische Gegenstände handele. Wußte man doch auch, daß Robespierre makellos in seinem Lebenswandel, ein Freund der einfachsten Vergnügungen, ein Pfleger der Blumen; daß sein höchster Genuß ein Spaziergang in stiller, ländlicher Natur sei; daß seine Augen sich mit Abscheu von der Schlachtbank [89] eines Fleischers wendeten. Er war nicht im Stande den kleinsten Wurm zu tödten, der bei einem Spaziergange über den Weg, dicht vor des Wandlers Füßen kroch – dennoch schickte er Tausende von Menschen in den Tod. Ein solcher Mann war sicher für meine Rettungsversuche am schwersten zugänglich. Dazu kam, daß ich nicht ein Mal genau wußte, wie stark oder schwach die Verhafteten sich compromittirt hatten und daß wir, meine Familie und ich, in dem Rufe standen, zwar keine Feinde der Freiheit, aber doch keinesweges begeisterte Anhänger des Convents zu sein.

Dieses Alles wirbelte bunt in meinem Gehirne durcheinander. Gegen Morgen erst schlummerte ich ein.

Mit der Beschreibung des Abschiedes, der Klagen, Wünsche und Befürchtungen will ich Sie nicht länger aufhalten; genug, um fünf Uhr rasselte die Diligence zum Thor von Arras hinaus, um Abends nach sieben Uhr erst über das Pflaster von Paris zu rollen. Ich war seit Jahr und Tag nicht in der Hauptstadt gewesen. Mit Staunen betrachtete ich daher die wunderlichen Zierrathen an den Häusern. Ueberall Fahnen mit den Farben der Republik, Freiheitsbäume, deren Spitzen die phrygische Mütze trugen, Sprüche aus Rousseau’s Schriften und dergleichen. Die geschäftigen Menschen eilten hin und her, Ausrufer mit den neuesten Nachrichten vom Kriegsschauplatze, die Beschlüsse des Convents, die Listen der Verhafteten, die Verurtheilungen, die Executionen verkündend. Hier und da an den Ecken erhob sich auf einem Tische ein Volksredner, den eine brausende Menge umgab; dort zog ein Bataillon Nationalgarde, von der Uebung kommend, über den Platz; dann wieder drängte sich ein Haufe fast grotesk gekleideter Jacobiner durch die Menge. Paris war in fieberhafter Bewegung. Man hatte heute, am achten April, wieder zahlreiche Opfer unter die Guillotine befördert; man sprach von neuen Verschwörungen der übrig gebliebenen Mitglieder der Gironde, an deren Spitze Louvet stehen sollte.

Bei einem Freunde unseres Hauses, einem Herrn Brotteau, nahm ich Quartier und begann noch an demselben Abende in der Dunkelheit einige Nachforschungen. Ueberall begegnete ich rauschenden und erregten Menschengruppen. Man hörte das Ça ira und die Marseillaise von Männern, Frauen und Kindern singen. Die rothe Mütze gewahrte ich häufig, und namentlich fiel mir eine sonderbare Mode der Damen auf: sie trugen Strickbeutel von ungeheuerer Größe, auf welchen die zerstörte Bastille abgebildet war. Ich ging zunächst zur Wohnung der Madame Marion Lepelletier in der Straße Blancs Manteaux. Hier erfuhr ich aber, daß gestern auch der Wirth, ein Schneider, verhaftet worden sei, weil er sich fälschlich für einen Volksvertreter ausgegeben. Nur die Schließerin, eine alte Frau, wohnte noch in dem Hause.

Am folgenden Morgen lenkte ich zunächst meine Schritte nach den Gefängnissen des Luxembourg, aber den Gefängnißwärter Lambert konnte ich nicht sprechen und zwar aus dem einfachen Grunde, weil man auch ihn verhaftet hatte. Es hieß, er habe Gefangene begünstigt, und er wurde auch am 13. April guillotinirt.

So niedergeschlagen mich diese beiden ersten vergeblichen Bemühungen machten, ich sammelte meine Gedanken und Kräfte dennoch wieder. Paris schien mir heute seine gewöhnliche Physiognomie wieder erhalten zu haben, und ohne die beliebten rothen Mützen, die Fahnen und Inschriften hätte man nicht geglaubt in dem ungeheuern Krater umher zu wandeln, aus dem der gewaltige Feuerstrom über Europa sich ergoß. Nur einige Zettelankleber waren von gaffenden Neugierigen umringt. Die Affichen enthielten Erlasse des Convents, Aufforderungen zu patriotischen Gaben für die freiwillige Nordarmee, Drohungen gegen schlechte Bürger, darunter die Theaterzettel, endlich Versteigerungen von Möbels verjagter Aristokraten. Eine der Affichen lautete:

„In dem Quartier de la Sorbonne haben vorgestern Abend bei einer Versammlung der fünften Section Kundgebungen zu Gunsten des verhafteten Aristokraten Conrandin stattgefunden. Die schlechten Bürger, welche ihre Stimmen erhoben haben, mögen sich hüten. Ihre Köpfe stehen nicht fester als der einer Gypsfigur, welche man aus dem vierten Stock auf das Straßenpflaster wirft. Conrandin war Rath des gestürzten Tyrannen Ludwig Capet. Wäre er auch sonst kein Verbrecher, das genügte. Ebenso schuldig aber wie er sind seine Fürbitter. Wer mit den Freunden der Tyrannen ist, wird das Bret küssen (hingerichtet werden).

Unterzeichnet: Drei wachsame Patrioten.“

Sie können sich denken, welchen Eindruck dieser Anschlag auf mich machte! Doch im schlimmsten Augenblicke pflegt der Muth am meisten und sichtlichsten zu wachsen. Ich sah ein, daß ich sofort auf das Ziel losgehen und einen Besuch bei Robespierre wagen müsse. Die Listen der Gerichteten oder Verurtheilten wiesen noch nicht die Namen unserer Freunde auf, und so lange sie noch lebten, wollte ich die Hoffnung nicht sinken lassen. Robespierre wohnte im Hause des Tischlers Duplay, in der Straße St. Honoré, da, wo heute Nummer 396 ist.

Schlag neun Uhr bog ich in die Straße St. Honoré ein. Je näher ich der Wohnung des gefürchteten Mannes kam, um so schneller fühlte ich mein Herz schlagen. Endlich war ich dicht an dem Hause des Tischlers Duplay. Ich ging auf die andere Seite der Straße und betrachtete das Gebäude. Die Hausthür war offen und aus dem Flure bemerkte ich eine Gruppe von Sansculotten. Sie hatten sich einen Tisch in die Mitte des Flures gesetzt und genossen ihr Frühstück; an der Wand lehnten ihre Piken. Alle trugen die rothe Mütze und rauchten aus kurzen Pfeifen; einige lasen Journale, andere führten lebhafte Unterhaltungen. Es war die Wache, welche der Convent täglich im Hause Robespierre’s aufziehen ließ. An den meisten Fenstern der Häuser ringsum sah ich die Vorhänge herabgelassen; man wollte nicht immer das Schauspiel der zum Schaffote abziehenden Karren mit Verurtheilten genießen, welche man durch die Straße St. Honoré führte.

Am Eingange des gefürchteten Hauses trat ein baumlanger Mann, in eine Carmagnole gekleidet, Holzschuhe an den Füßen, einen Cavaleriesäbel an der Seite, auf mich zu.

„Wen suchst Du, mein kleiner Bürger?“ fragte er eine Wolke von Tabaksrauch in die Luft blasend.

„Den Bürger Lebas,“ antwortete ich mit einer leicht zitternden Stimme.

Der Mensch betrachtete mich mit gerunzelter Stirne. „Lebas? Er ist bei Robespierre.“

„Eben deswegen will ich ihn sprechen.“

„Du hast ein Anliegen?“

„Ja.“

„Weißt Du nicht, daß Meldungen um Zutritt immer des Abends vorher abgegeben werden müssen?“

„Ich wußte es nicht, ich bin fremd und komme direct von Arras.“

„Von Arras? aus Robespierre’s Geburtsstadt?“

Dieser Ort schien eine Empfehlung für mich zu sein. Während der Unterredung traten nun die übrigen Mitglieder der Wache heran und ich sah mich von einem Kreise furchterweckenker Gestalten umgeben. Die Unsauberkeit, welche auf Allen lagerte, gab ihnen ein entsetzliches Ansehen.

„Ein guter Bürger?“ rief der Eine.

„Nicht doch. Es ist ein Muscadin.“

„Ha! ha! ha!“ lachte ein Dritter.

„Wahrhaftig! Puh! wie er nach Bisam riecht.“

Ich bemerkte zu meinem Schrecken, daß ich wirklich diesen Parfum an mir hatte.

„Bürger, für einen Patrioten ist Deine Uhrkette zu lang.“

„Dein Hut ist mit einer Schnur eingefaßt, ein Zeichen des Aristokraten.“

„Sein Hals ist gut für die Laterne.“

Die Gesellschaft wollte sich ausschütten vor Lachen über diesen Witz. Ich sah ein, daß ich nur durch die größte Entschiedenheit aus diesem Feuerkreise und zu meinem Zwecke komme könne. Rasch griff ich in die Tasche und zog meine Sicherheitskarte hervor, die mir Herr Brotteau besorgt hatte.

„Ich verbitte mir nun ernstlich diese schlechten Späße!“ rief ich. „Auch im Scherz Aristokrat genannt zu werden, ist eine Beleidigung. Willst Du, Bürger, meine Karte prüfen, dann wirst Du sehen, daß ich unverdächtig bin, und so frage ich Dich zum letzten Male, wo ist der Bürger Lebas?“

Der Riese warf einen Blick auf die Karte, deren Stempel ihm bekannt war, und ging damit in das Haus. Glücklicker Weise kam er bald zurück und brachte mir die erfreuliche Nachricht: Lebas wolle mich sogleich sprechen. Ich erhielt die Erlaubniß in das Haus zu gehen. So war ich denn innerhalb der Mauern, aus denen so viel Jammer, Angst und Verzweiflung über Millionen hervorbrach! Ich will nicht in Abrede stellen, daß ich meine Seele Gott empfahl und im Stillen den Entschluß bereute. [90] Freier athmete ich jedoch, als Lebas die Flurtreppe herab und mir entgegen kam. Sein edles Gesicht, seine Freundlichkeit zerstreuten die Besorgnisse.

„Mesnart,“ rief er, „Du hier – bei uns? Ah, das freut mich! Worin kann ich dienen? Willst Du einen Posten, etwa beim Lieferungswesen? Gut, Du sollst ihn haben; o, Du bist ehrlicher Bürger Sohn. Wir müssen solche Leute haben, Unterschleife sind den Patrioten ein Gräuel. Erst vorgestern haben wir zwei Betrüger unter die Guillotine befördert. Sie müssen Alle sterben.“

Er hielt mir seine Hand hin, ich schauderte zusammen. Immer Blut – immer das Eisen des Fallbeils! Ich mußte mich kurz fassen, zog Lebas in eine Ecke und theilte ihm schnell den Zweck meiner Anwesenheit in Paris mit.

Er schlug die Augen empor – sie blickten ernst. Bevor er zu sprechen begann, sah er mich lange scharf an. „Anatole,“ sagte er mit halber Stimme, „man merkt, daß Du lange nicht in Paris warst. Weißt Du, was es sagen will, zwei Menschen unter dem Messer der Guillotine hervorzuziehen? Du kennst ihre Vergehen gegen die Nation nicht.“

„Aber Lebas – ein Weib, ein schuldloser sechzehnjähriger Schüler des Collège!“

„Schuldlos? Die Republik ist gefährdet; wer in diesem Augenblicke nur einen Schimmer von Schuld auf sich zieht, muß vernichtet werden. Ich gebe zu, daß vielleicht Mancher unschuldig leidet, aber das kümmert uns nicht. Besser Tausend geopfert, als Millionen in’s Elend gestürzt!“

Lebas’ Aussehen veränderte sich auffallend; seine Züge nahmen einen wilden Ausdruck an, seine Gesticulationen waren heftig und drohend.

„Wenn nun aber,“ warf ich ein, „ein Unschuldiger gerettet werden kann? Wenn es sich herausstellt, daß ein Franzose, ein Bürger nur durch Umstände verdächtigt wurde? Ist es nicht Pflicht, ein Leben zu retten, nicht Pflicht, dem Staate einen Bürger zu erhalten? Lebas – gedenke Deines Weibes, Deiner Mutter – gedenke des Wechsels im Leben. Vielleicht erbarmt sich auch einst ein Mitleidiger Deines jungen Kindes, das jetzt an der Brust Deiner Gattin ruht – vielleicht bist in wenigen Tagen auch Du nicht mehr. Lebas, die Tage rauschen jetzt an uns vorüber wie Stunden, der Sturmwind der Revolution treibt sie, und Danton hat gerufen: ,Meine Feinde werden mich nicht lange überleben!‘“

Lebas senkte sein Haupt. Er drückte mir die Hand, und sein Mund verzog sich zu schmerzlichem Lächeln. „Was kommen soll – komme. Wir sind einig mit uns,“ sagte er. „Deine Schützlinge betreffend – ich will Alles versuchen; Du mußt Robespierre sprechen. Saint Just ist gerade bei ihm, sie haben die Nacht gearbeitet. Warte, bis Robespierre angekleidet ist, im Hofe da, bis ich Dich rufen lasse. Dort oben auf der Galerie sitzt er und läßt sich frisiren; ist er fertig, kommst Du vor. Ich will nur erst die Listen durchsehen, um das Vergehen der Lepelletiers zu kennen, dann spreche ich mit Robespierre.“

Lebas ging. Ich trat voll ängstlicher Erwartung in den Hof. Auf demselben waren Breter, Zimmerbalken und dergleichen Vorräthe aufgestapelt. Ein Arbeiter sägte Breter auseinander. In der Ecke des Hofes befand sich ein kleiner Brunnen, Weinreben rankten sich an den Mauern empor, Tauben flogen umher, tiefe Stille, nur das Gelächter der Wachen und das Kreischen der Säge unterbrachen die Ruhe. Ich hatte mich an die Mauer gelehnt und meine Blicke auf die Person gerichtet, welche Lebas mir gezeigt. Es war Robespierre. Rings um das Haus lief eine Galerie. Auf diese öffneten sich die Zimmer des ersten Stockes, auch das Robespierre’s. Er ließ sich stets, wenn das Wetter günstig war, in der Galerie frisiren; so auch heute.

Er hatte einen Pudermantel umgehängt, neben ihm stand ein kleiner Sessel, auf demselben ein Teller mit Früchten, einigen Brodschnitten und einem kleinen Glase Wein. Sein Gesicht konnte ich nicht erkennen, denn während des Frisirens las er Journale. Nicht weit von ihm ruhte ein ungeheuer großer Hund, eine Dogge. Sie führte den Namen Bronet und war Robespierre’s Liebling. Der Friseur trug eine Jacobinermütze, war aber sonst sehr sauber. Die Thür zu Robespierre’s Zimmer stand offen, zuweilen blickte der Lesende auf und schien die Frühlingsluft einzufangen.

Endlich empfahl sich der Friseur, und fast zu gleicher Zeit trat Lebas auf die Galerie. Mein Hals verlängerte sich, die Augen bohrten sich fest an den Beiden, mein Blut stockte. Jetzt ward mein Anliegen verhandelt. Ich konnte jedoch nur abgerissene Worte verstehen; ich sah, wie Robespierre heftig wurde, wie Lebas ebenfalls lebhaft gesticulirte, auf Papiere wies, die er in der Hand hielt; dann wandte Robespierre den Kopf gegen die Thür des Zimmers und sprach etwas. Es schien mir, als antworte eine Stimme aus dem Zimmer. Endlich stand er auf, ging in das Zimmer und warf die Thür hinter sich zu. Wenige Minuten später war Lebas bei mir. „Deine Sachen stehen so weit gut,“ sagte er hastig, „nur glaube ich nicht, daß Du Beide retten kannst. Die Frau schwerlich. Sie ist arg compromittirt. Ihr Wirth, ein Schneider, hat sie in das Verderben gebracht, denn er hat sie verleitet, Briefe an die Coblenzer Emigrirten in ihrem Zimmer aufzubewahren; indem er sich für einen Volksvertreter ausgab, hat er viele Bürger verleitet. Der junge Mann François hat Briefe verrätherischen Inhaltes zu einem gewissen Agenten der Coblenzer getragen, doch ist seine Schuld geringer, da er ohne Vorwissen gehandelt. Stelle Dich bei Robespierre, als wüßtest Du von nichts. Komm.“

Wir stiegen die Treppe hinauf. Wie ich in Robespierre’s Zimmer gekommen bin, weiß ich nicht zu sagen. Ehe ich meine Gedanken gesammelt hatte, stand ich dem Gefürchteten gegenüber. Nichts wirkte hier erschreckend auf die Sinne. Einfach weißgetünchte Wände, ein Bett aus Nußbaumholz, darüber eine Decke von weißem Damast mit rosa Blumen durchwirkt, ein Tisch mit Wachstuch bezogen, einige Binsenstühle – dies war des kleinen Zimmers Ausstattung. Links vom Eingange stand ein Bücherrepositorium, auf dessen Bretern viele Papiere, einige Bände und Zeitschriften lagen. Das Fenster ging auf das Dach hinaus; auf dem Fenster standen schöne, blühende Blumen in Töpfen, umschwirrt von Käfern, die in der Frühjahrssonne auf- und niederflogen. Am Tische saß ein Mann und las. Robespierre stand an dem Ende seines Bettes und stützte die rechte Hand auf die Lehne der Ruhestätte.

Die Leidenschaft, der Haß, welchen seine Gewaltmaßregeln gegen ihn aufstachelten, haben es vielfach versucht, die Erscheinung des Mannes, sein Gesicht, seine Stimme mit den blutigen Befehlen, die er ertheilte, in Einklang zu bringen, d. h. der Gefürchtete mußte auch das Aussehen einer Hyäne oder eines Tigers haben, seine Stimme mußte gleich dem Gekrächze des Raben tönen etc. Dies Alles ist nicht wahr. Robespierre’s Gesicht hatte im Gegentheil einen sanftmüthigen Ausdruck; seine Stirn war hoch und trug einige Falten, seine Augen, etwas verschleiert, waren feurig, wenn er sie aufschlug, die Nase, gut geformt, zeigte große Nüstern, die sich bewegten, wenn er sprach. Er war hager im Gesicht und eine elfenbeinfarbige Blässe überzog dasselbe; die Mundwinkel umspielte, wen er wohlwollend sprach, eine gewinnende Freundlichkeit, sonst lagen sie festgekniffen aufeinander. Er hatte besonders schöne Zähne und Haare. Seine Figur war schlank und wohlgebaut, seine Brust breit und die Stimme keineswegs kreischend, sondern nur in Momenten des Affectes scharf, sonst sanft, sogar schleppend. Er gesticulirte sehr wenig während des Sprechens. Seine Kleidung war äußerst sauber: ein hechtgrauer Frack mit blanken Knöpfen, eine buntgeblümte Weste, dunkle Beinkleider und Halbstiefeln. Ein sorgfältig gekräuseltes Jabot schloß sich an die schmale, schneeweiße Halsbinde.

„Anatole Mesnard, ich erkenne Dich wieder,“ das waren Robespierre’s erste Worte zu mir.

„Ich freue mich, Bürger Repräsentant, daß Du Dich meiner erinnerst.“

„Deine Familie ist mir wohlbekannt. Ihr seid lau, aber nicht feindlich. Man kann nicht von Jedem Selbstaufopferung erwarten; um so mehr wundere ich mich, wie Du zu dem Entschlusse gekommen bist, eine Bitte für die Vertächtigen zu wagen.“

„Eben weil ich der Selbstaufopferung fähig bin, Bürger Repräsentant.“

„Was heißt das?“ fragte Robespierre lauernd.

„Ich war mir bewußt, mein Leben auf’s Spiel zu setzen, indem ich ein Wort zu Gunsten meiner compromittirren Freunde wagte. Glaubst Du nicht, Bürger Repräsentant, daß es heutzutage ebensoviel Muth erfordert, für einen Verurtheilten bei Dir Gnade zu erflehen, als eine mit Kanonen besetzte Schanze zu stürmen, hinter welche sich die Feinde der Nation versteckt haben?“

Ein Blitz fuhr aus Robespierre’s Augen. „Das ist wahr,“ [91] sagte er phlegmatisch. „Leben und Freiheit sind in den Händen des Convents. Warum bedenken die Leichtfertigen das nicht? Der Convent ist die Stimme der Nation; sie schreit laut und gewaltig. Ich kann es nicht begreifen, daß so Viele sie nicht hören wollen. Noch unbegreiflicher sind mir Menschen, wie Deine Freunde. Wie – sehen sie denn nicht unser Leben? Schau um Dich, dies einfache Zimmer ist mein ganzes Reich; mein Tisch ist der meines Wirthes, eines Handwerkers, ich besitze keine Güter, keine Schätze; was Du hier erblickst, ist Alles, was ich mein nenne; kein Makel liegt auf meinem Leben und dem meiner Freunde – nun, geht doch hin und vergleicht damit die Orgien der Emigrirten in Coblenz; hört, mit welcher Verachtung selbst die fremden Truppen der Preußen von jenen vekommenen, erbärmlichen Franzosen sprechen, die eine Plage sind für das Land, wohin sie sich geflüchtet – hört es und dann sage mir: wie ist es möglich, daß sich französische Patrioten dazu hergeben können, solche Leute gegen die Nation zu unterstützen? Dieser Erbärmlickkeit haben sich Deine Freunde schuldig gemacht.“

Er setzte mir nun weitläufiger auseinander, was Lebas nur flüchtig erwähnt. Sein Ton wurde schneidend, als er sprach; er hielt die Augen fest auf mich geheftet und ich konnte meinen Blick nicht von ihm wenden; unwillkürlich dachte ich an jene Sagen von Bezauberung, durch welche das Opfer gebannt wird.

Lebas merkte, wie ich, der Fluth von Robespierre’s Worten unterliegend, immer wirrer und befangener ward. Er kam mir zu Hülfe. „Maximilian,“ sagte er, sanft den Arm des Sprechenden berührend, „hör’ auf, Dich zu ereifern. Die Leute sind so vieler Worte nicht werth.“

„Nein, beim Heile der Nation, sie sind es nicht!“ schrie Robespierre, „und bist Du es denn werth,“ rief er mir zu, „daß ich so viele Zeit verschwende, so Vielerlei in den Wind rede? Wenn Du es nicht schon längst begriffen hast, daß sie schuldig sind, so bist Du ein schlechter Bürger, ein Verdächtiger!“

Die Sache wurde gefährlich. Lebas parirte den Stoß.

„Maximilian, gehe nicht zu weit,“ sagte er, „ich habe Dir schon auseinandergesetzt, warum unser Freund Mesnard also handelte. Du selbst hast zugegeben, daß es gefährlicher ist, eine Bitte für Compromittirte zu wagen, als sich auf die Feinde zu stürzen – nun denn, verdient dieser Muth unsers Freundes nicht eine Belohnung? Wir haben keine äußerlichen Ehrenzeichen, belohne die republikanische Aufopferung Anatole’s, die den Tod nicht scheute, durch einen Befehl zur Freilassung der Gefangenen. Anatole kehrt nach Arras zurück – soll er voll Jammer, mit Seufzen, tagtäglich an Deinem Geburtshause vorübergehen, weil Du ihm die Freilassung eines Weibes und eines armen, verleiteten, verblendeten Jungen abgeschlagen? ihm, der sein Haupt gewagt hat? François Lepelletier und seine Schwägerin sind wohl der Gnade des Convents zu empfehlen; lasse sie zurückkehren in ihre, in Deine Vaterstadt, lasse sie einziehen als freie Bürger in jene Mauern, aus denen Du zur Rettung der Nation gekommen bist.“

Robespierre dachte einen Augenblick nach; dann warf er Lebas einen ernsten Blick zu und ging an den Tisch. „Danke dem Geschicke,“ sagte er zu mir, „daß Du aus Arras kommst und Lebas zum Freunde hast.“

Er ergriff ein gestempeltes Papier und tauchte die Feder ein. Ich begann leichter zu athmen. Plötzlich erhob sich der bis zu diesem Augenblicke eifrig lesende Mann. Es war St. Just. Nie habe ich eine interessantere männliche Schönheit gesehen. So viel Sanftmuth, gepaart mit so vieler Energie, zeigten wenig Gesichter. St. Just war damals sechsundzwanzig Jahre alt. Er hatte das Aussehen eines Märtyrers; solchen Ernst, solche Schönheit hatten die alten Maler ihren Helden aufgedrückt, wenn sie deren Ende am Marterpfahl, den Tod zur Ehre des Glaubens, darstellten. Dennoch war dieser schöne Mann der Furchtbarste von Allen, und mein Haar sträubte sich, als er mit fast tonloser Stimme sagte: „Halt, keine Uebereilung! Der Knabe – ja. Es mag drum sein. Das Weib – nimmermehr.“

Marion Lepelletier war verloren.

„Wie, Du meinst, Antoine, ich dürfe es nicht?“ fragte Robespierre.

„Du darfst es nicht,“ sagte Saint Just fest. „Weiber sind die Schlimmsten. Diese hier hat mit voller Ueberlegung gehandelt. Soll es heißen, die Leute von Arras machen eine Ausnahme vor dem Gesetze? Obenein ist das Weib geborne Aristokratin, die mit ihrem patriotischen Gatten nicht zusammenleben konnte. Solch Geschmeiß wollt Ihr retten? Lebas, willst Du die Verantwortung übernehmen?“

Saint Just war schrecklich anzusehen, seine grauenhafte Schönheit imponirte so gewaltig, daß mir Bitte oder Entgegnung in der Kehle stecken blieben. Lebas zuckte die Achseln und schwieg. Robespierre schrieb einige Zeilen; während des Schreibens sagte er: „Genug der Reden. Das Weib stirbt.“

Saint Just las wieder in seinem Journale. Lebas winkte mir zu und ich schloß meinen Schmerz in meine Brust. Robespierre gab das Papier an Lebas. „Laß dies durch Simon in den Luxembourg tragen. Der junge Mensch wird frei sein. Möge er sich eine Erinnerung bewahren. Man kommt nicht zwei Mal so glücklich davon, wenn man sich an dem Vaterlande versündigt.“

Ich stammelte mit thränenden Augen meinen Dank. Robespierre reichte mir die Hand. „Grüße mir Arras, Bürger Mesnard, und Deine Eltern. Seid nicht nachlässig in Eueren Pflichten. Nun guten Morgen. Du hast mich lange genug aufgehalten.“

Lebas gab mir einen Wink. Die Thür von Robespierre’s Zimmer schloß sich bald hinter uns. Leichter, gewürziger, balsamischer kam mir die Luft vor, freier und hochgewölbter der Himmel, strahlender die Sonne. Hatte ich doch wenigstens ein Menschenleben gerettet, und die Höhle des Löwen, Robespierre’s Zimmer, lag glücklich hinter mir!

„Danke dem Himmel,“ sagte Lebas, „daß Du Einen losgebeten hast. Die Frau, ich wußte es gleich, sie war nicht zu retten.“

Noch an demselben Nachmittage verließ ich um vier Uhr mit meinem Schützlinge Paris. Am folgenden Morgen um sechs Uhr lag er in den Armen seiner Mutter. Die Freude der Mutter, der Jubel meiner Eltern, lassen sich nicht beschreiben; sie wurden nur schmerzlich getrübt durch Marion’s furchtbares Loos. Sie endete am 18. April unter der Guillotine, ebenso ihr Hauswirth, der Schneider. An demselben Tage starben noch einundzwanzig Verurtheilte durch das Fallbeil.

Drei Monate später hatten Robespierre und Saint Just aufgehört die Welt in Schrecken zu setzen. Auch diese Lieblingskinder hatte die Revolution gefressen. Mein armer Lebas erschoß sich. Seine liebenswürdige Frau aber lebt noch heute; sie wird von Vielen unterstützt, und ich habe oft mit ihr jene für mich bedeutungsvollen Stunden einer schreckensvollen Zeit besprochen.




Das Dreikönigsfeuer auf dem St. Lorenzthurm zu Nürnberg.[2]

Nach längerem Aufenthalte in der Fremde saß ich endlich im Coupé, um nach meiner schönen und vielgeliebten Vaterstadt Nürnberg heimzukehren. Schon waren wir ihr nahe, immer und immer wieder zog mich es an das Wagenfenster und meinen Blick der Gegend zu, wo bald die alte Kaiserburg, die gleich einem schirmenden Wächter über die Stadt emporragt, sowie diese letztere selbst aus der mondhellen Nacht hervortreten mußte.

Je näher wir der Heimath kamen, je peinlicher ward meine Ungeduld, und es war mir darum nur erwünscht, daß mein Nachbar, ein gar liebenswürdiger Reisegefährte, mich noch einmal in ein interessantes Gespräch verwickelte. Plötzlich aber schnitt ein Ausruf des Staunens und des Schreckens unsere Unterhaltung ab. Rasch, wie unwillkürlich, bog ich den Kopf zum Wagenfenster hinaus. Großer Gott, ein greller Feuerschein zuckt mir in’s Auge! [92] Da, wo das Zwillingspaar der Thürme von St. Lorenz schlank in die Luft steigt, brodelt ein entsetzlicher Qualm, wallen Feuerströme und stiebt eine glühende Funkensaat weithin über die Häuser der alten Stadt. Dazwischen hinein wimmern die Brandglocken der übrigen Thürme wie wehklagend um das grause Geschick, das einen aus ihrer Mitte getroffen. Das Juwel Nürnbergs steht in Brand; das soll mein Wiedersehen sein, das der erste Gruß nach langem Scheiden! Schmerzlichst bewegt lehnte ich mich zurück.

Der Zug hielt. Hastig stieg ich aus, dem Schauplatz der Katastrophe, dem schwerbedrängten Thurme zu, der – eine Riesenfackel, angezündet von jenen räthselhaften Kräften der Natur – dem entsetzten Zuschauer ein nur zu deutlicher Wegweiser, sich selbst zum Untergange leuchtete. – Die Glocke von St. Sebald hatte eben neun geschlagen, als ich mich neben Freunden, die ich im grausen Flammenschein des Thurmes erkannte und begrüßte, in der Gegend des Nassauer Hauses aufstellte, um der Verheerung, die sich mir schon in der Ferne gezeigt, nun auch in der Nähe in das Auge zu schauen. Durch einen Blitzstrahl – den einzigen, in dem sich hier am 6. Jan. während eines tobenden Schneesturmes die elektrisch-schwüle Atmosphäre entlud – unterhalb des Knopfes entzündet, brannte der Thurm, da bei der bedeutenden Höhe keine Wasserkraft zur Hemmung des Feuers verwendet werden konnte, trotz aller aufopfernden Anstrengung immer tiefer herab. Immer größer, immer gewaltiger wurde die Gluth; an den vergoldeten Kupferplatten emporschlagend, leuchteten die Flammen in den herrlichsten Farben – ein wunderbarer Anblick, bis jene sich ablösend in die Tiefe hinabsanken. Wie wenn ein ungebeurer Topf voll glühenden Metalls brodelt und überquillt, so brauste es hoch oben auf dem Flammenheerde. Wie der Schweif eines Kometen zog sich der Feuerregen, vom wüthenden Sturme gepeitscht, über die Kirche und die Stadt hinweg, glühende Ziegel, eiserne Stangen, auf die Straße herabschleudernd, und jetzt stürzt noch das letzte Gebälk der Thurmspitze, mit ihr die schmelzende Glocke, hinein in den glühenden Schlund. Eine Feuersäule steigt wirbelnd empor, und ein Schrei ringt sich aus Tausenden von Kehlen – ein in all seiner Entsetzlichkeit imposanter Augenblick.

Der brennende St. Lorenzthurm in Nürnberg.
Nach der Natur gezeichnet von Lorenz Ritter.

Stunde auf Stunde verrann unter ungeheuren Anstrengungen der Einen und bangem Zuschauen der Anderen, bis man endlich gegen Mitternacht des Feuers Herr wurde, obwohl noch nicht alle Gefahr beseitigt war und der überwundene Feind mit größter Sorgfalt bewacht werden mußte, damit er nicht von Neuem sein Zerstörungswerk beginne. – –

Die Nacht mit ihren Schrecken war vorüber, kahl starrten die zerstörten Mauern empor in die Morgenluft, stoßweise noch dicke Rauchwolken, die letzten Zuckungen des besiegten Elementes, darüber wegwälzend.

„Du mußt noch einmal in das Glockenstübchen, in dem Du so oft an unseren Kirchweihfesten mit dem Glöckner plaudernd saßest und hinabschautest auf die Stadt!“ Der Gedanke, einmal aufgetaucht, ward zum Entschluß -, ich rüstete mich rasch zur Wanderung; es sollte mein erster Besuch in der Vaterstadt werden, der ich nun wieder angehörte.

Der Platz um die Kirche bot ein wüstes Bild – zerschmetterte Ziegel neben ausgebrannten Pechpfannen; Feuereimer, verkohlte Holzstücke bedeckten die Wahlstatt. Mich durch die Menge drückend, sah ich mich einem Feuerwehrmann gegenüber, der, von der nächtlichen Arbeit geschwärzt, am Eingänge zur Kirche Wache hielt.

„Wohin,“ tönte es mir entgegen.

„Zu dem Thurm, ich muß hinauf!“

Sei es das Bittende meiner Worte, oder glaubte er, ich sei wirklich bei den Löschanstalten beschäftigt, er trat zur Seite und gab mir Raum zum Eintritt in’s Innere. Welch Bild der Verwirrung zeigte sich meinen Blicken! Unter den Betstühlen, in den Gängen stand, durch verschüttete Eimer, zerplatzte Schläuche vergossen, das Wasser, mit einer dünnen Eiskruste überzogen. Zwischen den kunstvollen Schnitzwerken des Veit Stoß, den Altarbildern Wohlgemuth’s, lehnten Leitern, lagen Feuereimer, war die zur Ablösung bereite Mannschaft der Feuerwehr aufgestellt. Dazwischen hinein ertönten die Commandoworte der Rettungsmannschaft, die Hunderte von Rufen

[93]

In der Glockenstube des St. Lorenzthurms.
Nach der Natur gezeichnet von Lorenz Ritter.

nach Wasser – es war ein Kontrast zu der sonst so friedlichen, ernster Sammlung und Andacht geweihten Stätte, wie er schreiender nicht gedacht werden konnte. Auch unten im Thurm hatte sich von dem aus ihm herabtriefenden Wasser ein förmlicher Teich gebildet, über den Breter gelegt waren, welche mich an den Fuß der Wendeltreppe trugen. Hier aber stellte sich mir ein neues Hinderniß entgegen: Männer, mit Befestigen der Schläuche beschäftigt, sahen mich kaum auf die Treppe zuschreiten, als sie sich mit einem „der Herr darf nicht herauf!“ vor die Thür postirten.

Ihre entschlossene Miene sagte mir, daß ich diesmal nicht so leichten Kaufes, wie vorhin – mit meinem treuherzigen. bittenden Gesicht – durchkommen würde. Darum herrschte ich sie an: „Geht an Eure Arbeit und schraubt die Schläuche fest!“ Der brüske Ton meiner Worte, das Entschlossene meines Auftretens [94] verfehlten ihre Wirkung nicht: mich verblüfft betrachtend, traten sie zur Seite und ich stieg mit klopfendem Herzen in den Thurm.

„Kennst Du Den?“ hörte ich hinter mir die Stimmen der Männer. „Nein, es muß Einer vom Bauamt sein.“ Ich aber schritt in der kaum über drei Fuß breiten Wendeltreppe empor und kam mir – rechts und links, oben und unten, von aufwärts in den Thurm führenden Schläuchen umrahmt – vor, wie Laokoon und seine Söhne in der grausen Umschlingung der giftgeschwollenen Schlangen. Die Schläuche selbst waren an verschiedenen Stellen durch den ungeheueren Druck, den die in ihnen aufsteigende Wassersäule auf die Seitenwände ausübte, in den Nähten geplatzt, aus denen mir von allen Richtungen ein Kreuzfeuer von feinen Wasserstrahlen entgegenspritzte. So von jeder Seite, und zum Ueberfluß auch noch von auf- und niedersteigenden Feuerwehrmännern begossen, öfters mich an die triefenden Wände drückend, erreichte ich endlich die erste Abtheilung des Thurmes und athmete tief auf.

Ein Blick durch die Seitenöffnung zeigte mir, wie hoch ich schon gestiegen; tief unter mir standen in schwärzlichem Gewimmel Schaaren von Menschen, die heraufsahen und vielleicht von der Möglichkeit eines nochmaligen Ausbruchs der Gefahr sprachen. Zu meiner Seite gähnte mir aus der Dachbedeckung des Kirchenschiffes die Oeffnung entgegen, welche die herabgestürzte Thurmspitze mit dem Knopfe und dem wohl vier Fuß großen, vergoldeten Hahn geschlagen. Hier lag es, das symbolische Thier des heiligen Petrus, mit gebrochenen Flügeln hohlen Auges nach jener Stelle schauend, wo es so lange Jahre friedlich gehaust und aus der es nun so jäh den tiefen Flug herab gethan; – wann wird es ihn wieder aufwärts nehmen zur Höhe?

„Bleiben Sie,“ hörte ich neben mir die Stimme eines Arbeiters, „es werden jetzt die Schläuche abgeschraubt, um das Gebälke zu begießen; Sie würden zu naß.“ Aber nässer, als ich war, konnte ich doch wohl nicht mehr werden; darum setzte ich, dem kopfschütlelnden Alten für seinen guten Rath dankend, meine Wanderung fort. Die schmale Treppe verlassend, wandte ich mich dem Hauptthurme zu. Röhren, die übereinandergeschlungen sich durch den Eingang zwängten, machten es mir unmöglich, darüber hinweg zu schreiten; ich mußte darunter wegschlüpfen, und während dies geschah, ging die ebengehörte, wohlgemeinte Warnung in Erfüllung: aus einem der Schläuche überströmte mich eine Fluth eiskalten Wassers und machte mir die Thatsache fühlbar, daß ich die höchste Potenz des Naßwerdens doch erst noch zu erreichen hatte. Meine Pelzmütze troff von Wasser und Schmutz, und dieselben elementaren Bestandtheile durchtränkten meine Kleider und füllten meine Stiefel.

So nahe an dem ersehnten Ziele ließ ich mich indeß durch nichts mehr abschrecken. Jetzt kamen schon die großen Glocken, friedlich und ruhig hingen sie neben einander; an ihnen, sowie an dem schweren Gebälk hafteten große Eisstücke in phantastischen Formen. Darüber rieselte und sickerte das Wasser hinunter in die schwarze Tiefe. Ich aber stieg weiter empor auf schwankenden Holzstufen, durch Dampf und durch Schutt; durch die halbdurchgebrannte Decke rieselten noch glühende Kohlen und heißes Steingeröll herunter und zischten in die Wasserpfütze, die den Boden des Raumes bedeckte. Dabei erdröhnte der ganze Bau über mir von dumpfen Schlägen.

„Haltet ein, Ihr da oben!“ Mit diesen Worten stürmte ich mein Skizzenbuch fest an mich drückend, über den heißen, qualmenden Schutt hinaus in das ehemalige Glockenstübchen, wo ich mich bald mitten in einer dichten Rauchwolke befand.

„Wer kommt denn jetzt da herauf? Was wollen denn Sie hier?“ hörte ich fragen, aber mir versagte die Antwort beim grausigen Anblick, den das ehemals so trauliche Stübchen mir bot. Das innere Achteck, welches den Holzbau des Glockengebälkes trug, ragte vor mir ausgebrannt, geschwärzt, wie eine riesige Zackenkrone in den kalten Januarhimmel hinauf; glimmende und verkohlte Balken standen da und dort noch dazwischen; zu bizarren Gestalten erstarrt, hingen die geschmolzenen Kupferziegel sowie die kupferne Bekleidung der Balken in das Innere herein, das hoch aufgefüllt war mit glimmendem Gestein und geschmolzenem, in tausenderlei Form unter dem schwarzen Schutt hervorblitzendem Metall. Im Mittelgrund hatte sich ein Paar vom Rauch und Dampf unkenntlich gemachte Gestalten herabgebeugt – sie hatten die Glocke gefunden, die hier, geborsten, noch halb im Schutt versenkt lag. Und hier, hart daneben, der geschwärzte Kamin mit seinem heimlichen Thürchen, das, halb geschlossen, des langjährigen Freundes zu warten schien, der jenen so oft erwärmt – das Alles zusammen war ein Bild des Grauens und doch wieder so übermächtig groß, das letzte Ringen des Elementes mit dem Menschen darstellend.

„Ja, was wollen Sie denn eigentlich hier oben?“ tönte es wieder in mein Ohr und riß mich aus meinem Sinnen.

„Zeichnen,“ gab ich ruhig zur Antwort.

„Zeich–nen?“ rief der brave Feuerwehrmann mit weitgeöffneten Augen, „zeichnen?“ und maß mich schon vom Fuß bis zum Kopf mit seinen Blicken. Ich aber öffnete mein Skizzenbuch und warf mitten in dem Höllenbrodem, unter dem Knistern und Krachen der einstürzenden Balken und Mauern und unter den schütternden Axtschlägen der Rettungsmannschaft, mit flüchtigen Strichen das Bild hinein, das jetzt vor den Augen der Leser liegt.

Man ließ mich ruhig gewähren, und als ich zu Ende gekommen, stieg ich, froh des gelungenen Abenteuers, mit weniger Hindernissen, als sich dem Aufklimmen entgegengestellt, hinab in’s gewöhnliche Leben und Treiben der Menschen.




Ein aufgeklärtes Literaturgeheimniß.

Es sind nun genau zwölf Monate, seit die „Gartenlaube“ ihren Lesern ein sehr gelungenes Portrait und eine kurze Biographie des Deutsch-Amerikaners Charles Sealsfield brachte. Sealsfield lebte damals noch. Der Verfasser jener Lebensskizze und dieser Zeilen, mit dem alten Herrn persönlich befreundet, hatte sich damals zu ihm nach seinem Landsitz „Unter den Tannen“ bei Solothurn begeben, um ihn persönlich um einige Aufschlüsse zu bitten. Er traf ihn, im halbdunkeln Zimmer auf seinem Krankenstuhl, einem abgeriebenen Ledersessel, sitzend, im Halbschlummer, als gebrochenen, aufgegebenen Mann. Die Bitte wurde erst schweigend, dann keineswegs unfreundlich, aber etwas verlegen entgegengenommen. Er sei krank, so lautete endlich die ausweichende Antwort; jede geistige Anstrengung sei ihm beschwerlich. Nach erfolgter Herstellung werde er mit Vergnügen die gewünschten biographischen Notizen zusammenstellen. Einige Monate später starb Sealsfield, ohne seine Zusage erfüllt zu haben.

Die dürftige Lebensbeschreibung von dazumal verpflichtet den Schreiber dieser Zeilen, den Lesern dieser Blätter nun auch dasjenige über den interessanten räthselhaften Mann mitzutheilen, was er seither in Erfahrung bringen konnte. Eine fernere Veranlassung giebt ihm die kürzlich bei Ahn in Brüssel erschienene Broschüre „Erinnerungen an Charles Sealsfield“ von Kertbeny; diese Schrift, in welcher der Unterzeichnete wiederholt als Gewährsmann und als naher Bekannter Sealsfield’s genannt wird, enthält eine irrthümliche, durch Facten wiederlegte Grundanschauung, welche er nicht unerwidert lassen darf.

Der gesammte handschriftliche Nachlaß Sealsfield’s bestand aus seinem eigenhändig geschriebenen Testament. Dasselbe enthält nichts, weder über den früheren Lebensgang noch über die Herkunft oder die Familienverhältnisse des Mannes, dem es beliebt hatte, sich bis über das Grab hinaus in das Dunkel des Geheimnisses zu hüllen. Aber das Testament nannte als Erben die Glieder einer Familie Postel aus Poppitz in Mähren. Dieser Umstand mußte einige Aufklärung verschaffen. Bald ergab sich, daß Sealsfield höchst wahrscheinlich selber ein längstverschollenes Mitglied jener im Testament bedachten Familie Postel gewesen. Diese Vermuthung stellte sich später als evidente Gewißheit heraus. In Folge der Bestimmungen jenes Testamentes begaben sich zwei Mitglieder der Familie Postel nach der Schweiz, Männer, welche Sealsfield – nach seinem Lieblingsausdruck – ohne Zweifel als „echte Gentlemen“ qualificirt hätte. Aus dem Munde derselben hat der Verfasser dieser Zeilen Nachstehendes über die Jugendgeschichte [95] Sealsfield-Postel’s und die Katastrophe, welche ihn als Postel verschwinden ließ, um ihn – nach Jahrzehnten – als Sealsfield zum berühmten Schriftsteller werden zu lassen.

Carl war der älteste Sohn des Anton Postel, eines behäbigen Landwirths im Dorfe Poppitz, Herrschaft Pöltenberg, Kreis Znaym, Markgrafschaft Mähren in Oesterreich, geb. den 3. März 1793; ihm folgten sechs Geschwister, vier Brüder und zwei Schwestern. Die Pfarrei Poppitz und die nahegelegene Probstei Pöltenberg gehörten und gehören noch dem ritterlichen Orden der Kreuzherren in Prag. Dieser Orden, gleich den Johannitern und Templern, zur Zeit der Kreuzzüge gestiftet zur Beschützung der Pilger und zur Krankenpflege, verwandelte sich im Laufe der Zeiten in einen Mönchsorden mit ziemlich freien Ordensregeln; er behielt sein Ansehen und seine beträchtlichen Güter; sein Kleid war ein schwarzer Talar mit einem rothen Kreuz aus Seide auf die linke Brust gestickt.

Es scheint ein besonderes Ziel des Ehrgeizes der Eltern, insbesondere der strenggläubigen Mutter, gewesen zu sein, den ältesten der Söhne als „Kreuzherrn“ zu sehen, im stattlichen Ordensgewand, an Seele und Leib geborgen, nicht nur sich selbst, sondern auch allen seinen Angehörigen die Wege zum Himmel bahnend. Der Knabe mustte studiren. Er absolvirte die Gymnasialclassen in Znaym. Nachdem seine Studien so weit gediehen waren, kehrte er eines Tages in sein Elternhaus zurück. Er trat vor die Mutter und fragte: „Frau Mutter, was soll nun aus mir werden?“

Die Mutter, welche den klugen und gelehrten Sohn mit den Augen des Geistes bereits im schwarzen Talar mit dem rothseidenen Kreuze auf der Brust sah, erwiderte erschrocken: „Müßt’ ich glauben, dast Du jetzt noch daran zweifelst, was aus Dir werden soll, so würde mich jeder Kreuzer, den wir an Dich wandten und jede Entbehrung reuen, welche wir uns auferlegten, Dir das Studiren möglich zu machen.“

Carl Postel nahm den Urtheilsspruch schweigend entgegen und trat in das Ordenshaus der Kreuzherren in Prag als Novize ein. Es mochte dies um’s Jahr 1813 sein. Bald genug kam der verhängnißvolle Tag der Priesterweihe. Der geniale junge Ordensbruder wurde Secretariatsadjunct und brauchte nicht sehr lange zu warten, bis er von dem Großmeister des Ordens zum Ordenssecretair ernannt wurde. Der Ehrgeiz des Bauernsohnes von Poppitz durfte sich keineswegs als zurückgesetzt betrachten; aber das Mönchsleben taugte nicht für den freien, hochfliegenden Geist des jungen Mannes. Ein jüngerer Bruder Carl Postel’s, des Kreuzherrn, widmete sich ebenfalls den Studien; er lag in Prag der Rechtswissenschaft ob. Nicht selten besuchte er den älteren geistlichen Bruder im Kloster.

Eines Abends, es war im Sommer 1822, spricht er, wie gewohnt, bei ihm vor; wie gewohnt, erscheint eine Flasche Wein aus dem Klosterkeller auf dem Tisch. Aber der Bruder erscheint gedrückt, verstimmt, zerstreut. Endlich bricht er in die Worte aus: „Heute siehst Du mich zum letzten Male, ich fliehe aus dem Kloster!“ Dann schildert er dem Erschrockenen seine innern Kämpfe, die ganze Qual der geistigen Tortur, welcher ein strebsamer junger Mann mit hellem, gebildetem und denkendem Geiste in den Klostermauern zu erliegen Gefahr laufe. Er schloß: „Willst Du von mir Abschied nehmen – fürs Leben, so komm morgen früh acht Uhr in den Klosterhof. Dort wirst Du mich in den Wagen steigen sehen. Ich geleite einen Ordensbruder nach Karlsbad zur Brunnencur und werde nicht wieder zurückkehren.“

Des andern Morgens fand sich der jüngere Postel im Klosterhof ein. Der Bruder drückte ihm die Hand, während seine Augen sich mit Thränen füllten. Er stieg in den Wagen und rollte davon. Es waren die Klostergäule, die ihn dem Kloster entführten … Der Abschied der Brüder war für’s Leben, – sie sahen sich niemals wieder.

Von Karlsbad wandte sich Carl Postel, der flüchtige Kreuzherr, nach Wien. Dort hatte er einen hochgestellten Gönner, der ihm einst die Stelle eines Hofcaplans zugesagt hatte. Eine solche Stelle war eben vacant. Postel stellte sich dem Gönner vor und erinnerte ihn an sein Versprechen. Die Antwort war keine erwünschte: „Die erledigte Stelle sei schon vergeben; Postel sollte nach Prag in sein Kloster zurückkehren; das nächste Mal werde er dann ganz gewiß berücksichtigt werden.“ Postel entgegnete: „Es ist zu spät! Ich bin gegen das Gebot meiner Ordensobern statt in’s Kloster nach Wien gereist, ich kann nicht wieder zurück.“

Sein letzter Besuch galt einer jungen Dame aus hohen Kreisen, deren Bekanntschaft von Prag her datirte; dann verschwand er. Er soll sich nach Tirol gewendet haben und von da nach der Schweiz. Weiter seine Spur zu verfolgen, gelang selbst der österreichischen Polizei nicht. Der Secretair des Kreuzherrenordens, Carl Postel, war der Welt für immer entschwunden. Sie ließ es sich nicht träumen, daß er zehn Jahre später unter amerikanischer Maske, als genialer Romanschriftsleller, sie wiederum in Anspruch nehmen und in Aufregung setzen werde.

Vorstehende Erzählung bietet uns eine vollständige Lösung des psychologischen Räthsels und erklärt uns genügend das Benehmen des Mannes, der sich vor seiner eigenen Berühmtheit fürchtete und versteckte. Das bis über’s Grab bewahrte Geheimniß des eigenen Namens, das lebenslängliche Cölibat, die Scheu sein Bildniß unter die Leute kommen zu lassen, das Ausweichen vor katholischen Geistlichen auf seinen Spaziergängen, die Ungeduld über das Glockengeläute der Klöster, die sich in der Nähe seiner Wohnung „unter den Tannen“ befinden, das Nüchterne, Zellenartige seiner Wohnungsräume, dies Alles findet seine ungezwungenste Erklärung. Kein heimlicher Verbrecher war er, für welchen er zuweilen gehalten wurde, sondern ein aus seinem Kloster entwichener Mönch. Kaum bedarf es der directen Beweismittel, welche diese Thatsache bestätigen: der Signatur C. P., welche der Verewigte auf seinen Grabstein zu setzen verordnete, der Bestimmungen seines Testaments, für welche sich sonst kein vernünftiges Motiv finden ließe, der typischen Aehnlichkeit seiner Gesichtszüge mit denen der Geschwister Postel (von welcher Schreiber dieser Zeilen selber sich zu überzeugen Gelegenheit hatte), der Identität der Handschrift Carl Postel’s und Charles Sealsfield’s.

Die Vermuthung, welche Kertbeny in seinen „Erinnerungen“ aufstellt, Sealsfield sei „ein Jude aus Oesterreich“, ist durchaus nicht stichhaltig. Er habe sich, als einst die Rede auf einen Rabbiner kam, des höflichen Ausdrucks „Israelite“ bedient; das ist aber doch nichts weniger als ein Beweis für Sealsfield’s Judenthum. Kertbeny sagt ferner, bei der schweizerischen Volkszählung von 1860 habe er die Frage des Formulars: „katholisch? protestantisch?“ mit den Worten ausgefüllt: „von anderer Religion“. Dies ist unrichtig. Das Formular lautete: „katholisch? reformirt? von anderer christlicher Confession?“ Sealsfield subsumirte sich unter letztere Rubrik. Braucht man erst noch auf die Gesichtszüge zu weisen, welche durchaus nichts „Orientalisches“ an sich haben? oder auf den Umstand, daß sich der sterbende um Weihnacht 1863 das Abendmahl in seiner Krankenstube reichen ließ? Er war kein „Israelite“, sondern ein entwichener Mönch, der während seiner letzten kranken Tagen zum Protestantismus sich hinüberneigte, aber kaum je sich zum förmlichen Uebertritt veranlaßt sah.

Ebenso schief ist Kertbeny’s Urtheil über Sealsfield’s Stellung zu der Schweiz und den Schweizern. Sealsfield brachte – annähernd berechnet – wenigstens fünfundzwanzig Jahre seines Lebens in der Schweiz zu, nämlich von 1832 bis 1850 und von 1857 bis 1864. Er hatte – früher und später – Umgang und Bekanntschaft mit vielen bedeutenden Männern der Schweiz. In letzter Zeit zählte er die Nationalräthe Peier in Hof, Gutzwyler und andere hervorragende Persönlichkeiten zu seinen Freunden und bestimmte den erstgenannten zu seinem Testamentsexecutor. Er kaufte sich, der sein Leben lang wie ein rollender Stein keine bleibende Stätte gehabt hatte, endlich noch ein Haus in der Schweiz und machte sie dadurch zu seiner dritten Heimath. Hätte er bei gesunden Sinnen dies Alles gethan, wenn er die Schweizer im Allgemeinen als „unangenehme Patrone“, welche „kein geistiges Leben haben“, und die Schweiz als ein Land, wo man „verbauern und verwildern“ muß, qualificirt haben würde? Sealsfield als Adoptivsohn und Bewunderer Amerikas wäre es schlechter als einem Andern angestanden, den nüchternen, derbrealistischen, wenig überschwenglichen, aber gesunden und schwindelfreien schweizerischen Volksgeist zu mißachten. Manche, welche sich, der Gastfreundschaft des schweizerischen Bodens erfreut haben, mögen mit solchem Urtheil später ihren schnöden Dank abtragen – Sealsfield war nicht so undankbar gegen ein Land und Volk, welches ihm während fünfundzwanzig Jahren ein Asyl und endlich seinem müden Leib ein Grab gewährte.

Alfred Hartmann.



[96]
Blätter und Blüthen.

Noch eine naturwissenschaftliche Vexir-Frage. Jedes Kind weiß jetzt, daß die Sonne feststeht und sich um sich selber dreht, trotzdem sie sich um die Erde zu bewegen scheint, und daß die Erde in ihrem jährlichen Umlauf um die Sonne sich ebenfalls um ihre eigene Axe dreht; aber wie steht es in dieser Beziehung mit dem Monde? Dreht sich der Mond ebenfalls um sich selbst, während er die Erde umkreist? Wenn wir uns in den Lehrbüchern der Astronomie Rath holen wollen, um diese Frage zu beantworten, so werden wir finden, daß uns dieselben im Stich lassen. So müssen wir denn selber versuchen, uns die Bewegung des Mondes klar zu machen; dem denkenden Leser soll es dann überlassen bleiben, aus unsern Auseinandersetzungen sich das Nöthige herauszunehmen und sich die Frage selbst zu beantworten. Wir glauben sicher zu sein, daß ein Theil der Leser und Leserinnen sein Ja, ein anderer ebenso großer Theil sein Nein bereit hat, gerade wie bei unserer Vexirfrage in Nr. 52 des letzten Jahrgangs.

Der Mond mag im ersten oder im letzten Viertel stehen oder mag voll sein, immerfort erblicken wir den allbekannten Mann im Mond, natürlich je nach der Gestalt des Mondes mehr oder weniger verfinstert. Mit andern Worten: die helle Mondscheibe hat einige dunkele Flecken, welche wir immer an einer und derselben Stelle erblicken. Daraus machen wir den Schluß, daß der Mond bei seiner Bewegung uns immer eine und dieselbe Seite zu kehrt. Dieser Satz ist unbedingt richtig, auf ihn können wir schwören wie auf die Bibel und, was die Hauptsache ist, auf ihn können wir unsere weiteren Auseinandersetzungen gründen. Um uns nun die Bewegung des Mondes um die Erde recht klar zu machen, denken wir uns, daß diese, die Dame Erde also, in der Mitte eines Saales unbeweglich still stehe, daß jener aber, der Herr Mond, in dem Saale jene Dame umkreise, aber so, daß er sein Gesicht ihr immer zugewendet hält. Der Herr geht also um die Dame genau so herum, wie die Katze um den heißen Brei; auch diese wendet ihr sehnsüchtiges Auge nicht ab von dem heißgeliebten, aber nicht heiß geliebten Brei. So ist auch die Bewegung des Mondes um die Erde, das ist Wahrheit.

Unsere Frage ist aber dadurch noch nicht beantwortet. Sehen wir weiter! Wenn leichtfüßige Jungfrauen und Jünglinge einen Rundtanz vollführen, so weiß jedermann, daß die tanzenden Paare sich um sich selber drehen. Denken wir uns nun in die Mitte der Tanzenden versetzt, so werden wir bemerken, daß dieselben uns fortwährend andere Seiten ihres Ich zukehren, sodaß wir sie abwechselnd von vorn und von hinten zu sehen bekommen. Daraus schließen wir, daß, wenn sich ein Körper um sich selber dreht, wir ihn nacheinander von allen Seiten beschauen: da dies nun aber beim Monde nicht der Fall ist, so kann sich der Mond auch nicht um sich selber drehen. Gut, aber wer sagt denn, daß wir uns gerade in die Mitte des Saales stellen sollen? Nehmen wir einmal Stellung an der Thür des Saales und lassen jetzt den Herrn Mond die in der Mitte des Saales stehende Dame Erde so umkreisen, daß er dieselbe immer im Auge behält. Werden wir nun nicht, wenn der Herr seinen Kreislauf vollendet hat, ihn ebenfalls von allen Seiten, von vorn und von hinten, von rechts und von links, in Augenschein genommen haben? Sicherlich. Dem Beobachter an der Thür wird es demnach so vorkommen, als ob der Herr Mond sich auch um sich selber gedreht hätte. Ein außerhalb der Mondbahn, also z. B. auf der Sonne befindlicher Beobachter, wird also behaupten: der Mond hat sich nach je vier Wochen einmal um sich selber gedreht.

Unsere Frage hat sich dadurch in eine andere verwandelt: „Dürfen wir uns auf unsere Beobachtungen des Mondes von der Erde aus verlassen, oder müssen wir uns außerhalb des Mondreviers versetzt denken?“ Es giebt allerdings viele Bewegungen der Himmelskörper, welche von der Erde aus beobachtet einen ganz andern Eindruck machen, eine ganz andere Erscheinung hervorbringen, als wenn man sie von einem andern Punkte des Wellraums aus beobachtete. Ob zu solchen Bewegungen auch die Drehung des Mondes gerechnet werden muß, ist zu untersuchen. Da uns die Axendrehung des Mondes, von der Erde aus gesehen, zweifelhaft erscheint, so wenden wir uns einmal zur Sonne, welche sich ja auch um sich selber dreht.

Diese Drehung der Sonne aber können wir von der Erde aus recht gut beobachten, wenn auch nicht mit bloßem, so doch mit bewaffnetem Auge. Von jedem andern Punkte des Weltalls aber kann die Rotation der Sonne ebensogut wahrgenommen werden und es scheint demnach, daß die Axendrehung nicht zu denjenigen Bewegungen gehört, welche dem Beobachter auf der Erde anders erscheinen als dem Beobachter an irgend einem andern Punkte des Himmels. Hiernach würden wir also gezwungen sein anzunehmen, daß der Mond sich überhaupt nicht um sich selber dreht. Zuerst also nein, dann wieder ja und nun wiederum nein! So kommen wir nicht zum Ziel; greifen wir die Sache deshalb einmal wo anders an. Machen wir uns den Begriff „sich um sich selbst drehen“ zuvörderst recht klar und durchsichtig. Ein Wagenrad dreht sich doch sicher um sich selber, das wird Niemand bezweifeln; ein jedes Kind weiß auch, daß ein Wagenrad eine Axe hat, welche im Mittelpunkt des Rades feststeht. Es ist aber nicht durchaus nöthig, daß diese Axe gerade im Mittelpunkt liegt: es giebt ja auch unregelmäßige Körper, welche überhaupt kein eigentliches Centrum haben, und diese können sich gleichwohl um eine Axe drehen. Nehmen wir z. B. einen Stuhl mit vier Füßen: wir fassen ihn an der Lehne, stützen ihn auf einen seiner Füße und drehen ihn um sich selber herum. Daraus ist ersichtlich, daß unbeschadet der Drehung eines Körpers um sich selbst die Drehungsaxe im Körper liegen kann, wo sie will. Ist aber die Lage der Drehungsaxe gleichgültig, so kann sie auch ganz und gar außerhalb des Körpers liegen, welcher sich dreht. Gehen wir von diesem Grundsatz aus, so können wir die Bewegung des Mondes als eine Drehung um sich selbst ansehen, bei welcher die Drehungsaxe dann allerdings nicht im Monde, sondern außerhalb des Mondes und zwar im Mittelpunkt der Erde liegt. Sonach dreht sich der Mond doch um sich selbst? Ueberlege sich aber auch der denkende Leser oder die wißbegierige Leserin ja recht genau, ob man auch sagen könne, daß ein Körper sich um seine eigene Axe drehe, wenn diese Axe nicht einmal in ihm liegt; man überlege sich, ehe man die Frage entscheidet, ob man sagen könne, der Mond drehe sich um seine eigene Axe, wenn diese Axe im Mittelpunkt der Erde liegt, also doch der Erde gehört.

Hütet Euch, freundliche Leser der Gartenlaube, damit es Euch nicht gehe wie jenem ehrlichen Manne, welcher sich in einer Zuschrift an die Redaction rühmte, wie leicht ihm die Lösung der in Nr. 52, 1864 aufgestellten Glas Wasser Frage geworden sei, und dieselbe Frage – falsch beantwortet hatte.

R. H.




Handeln die Thiere nur aus Instinct oder mit Ueberlegung? In den Jahren 1851 und 1852 war ich Commis in dem Fabrikgeschäfte des Herrn Friedrich Heermann in Holzminden; derselbe hatte auf dem Fabrikhofe einen Fuchs an die Kette gefesselt, der fast nichts von seiner Wildheit verloren hatte, obgleich er jung gefangen war und schon anderthalb Jahre an der Kette lag. Manches Täubchen, das sich dem Häuschen zu nahe wagte, das man Meister Reinecke aus Lehm und Steinen hergerichtet hatte, ward von diesem mit einem Sprunge erreicht; trotzdem hatte mein Principal seine Freude an dem Thier und wollle es nicht abschaffen. Ich machte mir oft ein Vergnügen daraus es zu necken, vorzüglich damit, daß ich einen leckern Bissen ihm so nahe legte, daß es ihm mit Vorderlauf oder Schnauze bis auf sechs Zoll nahe kommen, aber ihn nicht erreichen konnte. Dann ging ich abseits und sah aus gewisser Entfernung, wie er sich vergeblich bemühte den Bissen zu erreichen; bei dem fünften Male kam es gar nicht mehr aus der Höhle, es mochte wohl eingesehen haben, daß sein Bemühen vergeblich war. Nach acht Tagen machte ich den Versuch von Neuem; aus meinem Hinterhalte sah ich, wie der Fuchs aus seinem Gebäude kam und auf das Stück Fleisch losging. Als die Länge der Kette nicht genügte, drehte er sich um, fügte zur Länge der Kette die Länge seines Körpers hinzu, erreichte mit dem Hinterlaufe das Stück Fleisch und schob es so zu sich heran.

H.




Für Landwirthe. Unter den landwirthschaftlichen Blättern Deutschlands nimmt jedenfalls die nunmehr schon seit zwanzig Jahren erscheinende Agronomische Zeitung von Dr. Wilhelm Hamm in Leipzig einen hervorragenden, wenn nicht den ersten Rang ein. Wir sehen in derselben die größten Männer der Wissenschaft und der Praxis als fleißige Mitarbeiter vertreten; so: J. von Liebig, A. von Weckberlin, Prof. Dr. Knop, O. Rohde, Dr. H. Grouven, Dr. K. Birnbaum, Prof. Dr. Kühn, Gartendirector Jühlke, H. Jaeger und viele andere, namentlich auch aus dem Gebiet der ausübenden Landwirthschaft. Ein gewählter, nur aus Originalen bestehender Text, eine große Masse des Inhalts und eine gute Ausstattung mit reichen Illustrationen rechtfertigen die Empfehlung dieser Zeitung, deren Herausgeber auch seit Jahren zu den Mitarbeitern der Gartenlaube gehört.



  1. Der Herr Verfasser spielt zweifelsohne auf Nikolai’s „Sebaldus Nothanker“ (1773) an, in welchem eine Frau von Hohenauf vorkommt, und auf Gottwerth Müller’s dermaleinst hochberühmten „Sigfrid von Lindenberg“ (1779).      Anmerkung des Setzers.
  2. Bekanntlich entlud sich am 6. Januar d. J. ein merkwürdiges elektrisches Gewitter über einen großen Theil von Deutschland, zumeist von einem heftigen Sturme begleitet. Unter den mannigfachen Verwüstungen, welche dies Unwetter an verschiedenen Orten, namentlich in Süddeutschland, anrichtete, wo ihm u. A. die Burg Hohen-Rechberg in Schwaben und mehrere Kirchthürme in der Nähe von Würzburg und Erlangen zum Opfer fielen, ist vor allem die Zerstörung eines der schönen Thürme der herrlichen St. Lorenzkirche zu Nürnberg zu beklagen, dessen obere schlanke Spitze, vom zündenden Blitzstrahl gegtroffen, bis auf die Steingiebel ein Raub der Flammen wurde.
    Die Redaction.