Die Gartenlaube (1865)/Heft 7

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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Keil
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Entstehungsdatum: 1865
Erscheinungsdatum: 1865
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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No. 7.   1865.
Die Gartenlaube.


Illustrirtes Familienblatt.Herausgeber Ernst Keil.


Wöchentlich 1½ bis 2 Bogen. 0Durch alle Buchhandlungen und Postämter vierteljährlich für 15 Ngr. zu beziehen.




Friesenliebe.


Wer in den letzten Jahren Nordschleswig bereist hat und die Insel Sylt durchstreifte, dem wird ein einsam liegendes Haus aufgefallen sein, das sich nicht allein durch seinen Baustyl vor den andern Häusern der Insel auszeichnet, sondern auch durch seine Umgebung, den Garten und die darangrenzende kleine Parkanlage sich als etwas Besonderes, etwas Anderes kundgiebt, als man auf Sylt und den friesischen Eilanden überhaupt zu sehen gewöhnt ist.

Jenes Haus, das „Haus der Gestrandeten“, wie das ursprünglich namenlose Gehöft einst auf der Insel genannt wurde, das jetzt so öd und verlassen inmitten der farbenreichen Hügelketten der wunderbar geformten Meeresdüne dasteht, zeigte sich vor zehn Jahren noch als kein so stiller, kein so verwilderter Ort. Eine von Menschen bewohnte, durch die verschiedensten Gestalten belebte Stätte, deren ganze Umgebung gehegt und wohlgepflegt war, zeugte es dazumal nicht nur von ordnender Hand und einem gebildeten Sinn, der geschmackvoll das vorhandene Material zu benutzen verstanden hatte, – nein, es verrieth dem denkenden Geiste hinlänglich, daß hier die Macht des Goldes in Schranken getreten war mit der Macht wilder Naturgewalten, die sich vielleicht nirgend so fessellos zeigen, wie auf diesem von Stürmen umbrausten Eiland der Nordsee.

Der dunkle Kranz der Erlen und Rüstern, die das Haus umgeben und sich so effectvoll vom schimmernden Hintergrund der weißzackigen Düne abheben, machte zwar immer einen etwas ernsten, vielleicht melancholischen Eindruck; doch das an den Fenstern und der offenen Veranda mit Blumen und Schlinggewächsen aller Art reich verzierte Gebäude, der bunte seltene Blumenflor des davorliegenden Gartens, die sauber gehaltenen Kieswege, das gastlich geöffnete Thor mit seinem durch Dunkel und Nacht stets hell strahlenden Licht im darüber erbauten Thürmchen – das Alles gab einst dem einsamen Hause Leben und freundlich, wohnliches Ansehen.

Jetzt sind Fenster und Thüren mit Läden fest verwahrt, der Garten ist verwildert, die Wege sind mit Unkraut überwuchert, an den dürren Rosenstöcken rankt sich hie und da eine wilde Schlingpflanze empor, wie wenn sie das vorschreitende Werk der Zerstörung verhüllen wolle, Seevögel machen kreischend Rast auf dem Giebel, dessen Schornsteinen kein Rauch mehr entsteigt, und Schaaren von Möven ziehen mit leisem Flügelschlag hin über das verödete Gebiet; das Thor des Gartens, durch welches kein Mensch mehr schreitet, ist ewig geschlossen und längst auch erloschen das Licht, das einst als freundlicher Leitstern dem Küstenfahrer geleuchtet. Trostlos ist’s namentlich anzusehen im Herbst, wenn der Sturm die schwanken Zweige der Erlen beugt und bricht, die gelben Blätter der Rüstern über den verwilderten Garten treibt, an den geschlossenen Läden rüttelt, wie wenn er sie jetzt endlich wieder öffnen wolle, und mit dem wilden Windsgeheul sich das laute Brausen der gegen die nahe Küste brandenden See eint und in ersterbenden Lauten und Klängen über das verödete Gebiet dahinzieht.

So jetzt! – einst anders. – –

Noch nicht volle zehn Jahre sind’s, da trat aus der Thür des Gartens eine kleine fröhliche Gesellschaft und schlug den Weg nach den Dünen ein. Sie bestand aus einigen jungen Mädchen, der Tochter des Hauses und ihren vier Freundinnen. Letztere waren Eingeborene der Insel, drei der Mädchen Kinder von Schiffscapitainen, die Vierte die Tochter eines sogenannten Deichgrafen, die von ihren Gefährtinnen nach der Stellung ihres Vaters den hochtönenden Titel „Deichgräfin“ erhalten hatte und vermöge ihres schönen, stolzen Aeußern demselben auch alle Ehre machte.

Zwischen diesen fünf Mädchen bewegte sich die elegante aristokratische Gestalt eines jungen Officiers mit ebensoviel Grazie wie Leichtigkeit. Er trug die Uniform eines schwedischen Gardeinfanterie-Regiments, hieß Baron Oscar Fordenskiöld und war in Kleidung und Manieren ein vollkommener Cavalier. Unter Scherz und fröhlichem Lachen suchte er den Platz an der Seite des Mädchens zu behaupten, welches unstreitig die Krone des kleinen Kreises war, ein Platz, der ihm voll Schelmerei und Muthwillen bald von den Seemannstöchtern, bald von der schönen Deichgräfin streitig gemacht wurde, wenn auch von dieser, wie es schien, mit nicht so harmlosem Sinn, wie von den Andern.

In ihrer lauten Fröhlichkeit bot die Gruppe ein hübsches Bild glücklicher Jugend. Sie gewann jedoch an Leben und Reiz, wenn „schön Ingeborg“, wie man das Fräulein des Hauses nannte, mit gewandter Bewegung und hellem Lachen dem jungen Officier entglitt, dann im schnellsten Lauf davoneilte und, wieder eingefangen, mit glücklichem Lächeln und heißem Erröthen eine Secunde lang in seinen Armen ruhte. Nicht mit Unrecht hieß Ingeborg Fordenskiöld, „schön Ingeborg“. Sie war eine reizende Erscheinung, anziehend und fesselnd, und stand in der ersten zarten Blüthe der Jugend; denn heute, am Tage ihrer öffentlichen Verlobung mit Oscar Fordenskiöld, ihrem Vetter, war zugleich ihr siebenzehnter Geburtstag.

Des Mädchens leichte, schlanke Gestalt erhob sich nur wenig [98] über Mittelgröße. Um ihr feingeschnittenes Antlitz, das jenes zarte Roth färbte, welches die Seemuschel in ihren Schalen birgt, flossen in natürlichen Wellen tief nußbraune glänzende Locken; die klaren blauen Augen strahlten von Lust und Glück, blickten groß, frei und offen in das noch so licht und glatt vor ihr liegende Leben und zeigten nur sehr selten ihre bedeutendere Schönheit, wenn die etwas gesenkten Lider mit den dunkeln Wimpern durchsichtige Schatten warfen auf das fast zu hell, zu leuchtend strahlende Blau. Mit dem blitzenden Schein dieser offenen Kinderaugen stand in vollstem Einklang das herzliche Lachen, das immer und immer wieder von den vollen Lippen tönte, und „schön Ingeborg“ war reizend bei diesem Ausbruch ungetrübten Frohsinns, frischer, ungebrochener Jugendkraft.

So heiter und froh, so voll Lust und Leben diese Gruppe – so ernst, still, fast düster jene andere, die ihr aus dem Hause folgte. Sie war gleichsam der Schatten zum vollen Sonnenlicht des Glücks, war gewissermaßen ein trauriges Symbol des Lebens, wo ja auch der rasch dahineilenden Freude der schwere Ernst auf dem Fuße folgt. Diese zweite Gruppe umfaßte nur drei Personen, zwei ältere Leute und einen jungen Mann von kaum zweiundzwanzig Jahren. Die eine der beiden ältern Gestalten, ein Mann nahe den Fünfzigern, war von hohem, muskulösem Wuchse, eine ernste, Achtung gebietende, äußerst vornehme Erscheinung. Sein Haar war aber schon völlig gebleicht und seine Züge waren durchfurcht, wie die eines Greises. Ruhe und Kälte drückten jetzt fast einzig die strengen Linien seines Gesichtes aus, in denen aber einst die verheerende Gewalt des Schmerzes und wilder Leidenschaft gewühlt haben mußten, um derartige Spuren von Kampf und Leiden zu hinterlassen.

Seitwärts von diesem Herrn wandelte langsamen Schrittes, gebeugten Hauptes eine zarte Frauengestalt in langem, schwarzseidenen Gewande. Sie mußte einst sehr schön gewesen sein, denn das marmorblasse Gesicht, das eine weiße Haube umschloß, wies Züge auf, die nach der Antike gemeißelt schienen. In diesen herrlichen Linien lag aber ein herzerschütternder Ausdruck von Kummer und Leid, wie ihn nur die herbsten Schicksale hervorgerufen haben konnten. Ueber die festgeschlossenen Lippen des ernsten Mundes schien nie ein Lächeln geglitten zu sein, aus den dunkeln melancholischen Augen nie ein Strahl der Freude geleuchtet zu haben! Obschon sie das vierzigste Jahr noch nicht erreicht, war auch ihr Haar gebleicht und schien sie überhaupt in Allem gleichen Schritt mit dem Manne gehalten zu haben, in dessen ganzer Erscheinung sich deutlich ausprägte, wie dornenvoll die Bahn gewesen, welche er im Leben durchwanden hatte.

Zwischen diesen Beiden war „schön Ingeborg“ herangewachsen. Jener ernste Mann, Baron Fordenskiöld, war ihr Vater, die Dame, Gräfin Alma Adlersparre, ihre Tante, die Schwester ihrer Mutter, welche, wie man ihr gesagt hatte, bald nach ihrer Geburt gestorben war. Fast achtzehn Jahre waren’s, als ein Schiff die Familie von Helgoland nach der Insel Sylt gebracht, wo sie sich angesiedelt und seitdem gelebt hatte. Kein Diener, keine Dienerin hatte sie begleitet, mit ihnen war nur der alte Schiffscapitain Knud Larsson gekommen, der in einem der größern Dörfer Sylts ansässig war und dort mit seiner verwittweten Schwiegertochter und deren einzigem Sohne Erich lebte.

Knud Larsson war aber ein sehr schweigsamer Mann, der kaum mit seiner Schwiegertochter ein Wort wechselte und, wie es hieß, nur mitunter mit seinem Enkelsohn redete; sein Haus wurde auch stets gemieden, wenn er, der gewöhnlich auf der See umherfuhr, einmal daheim war. So kam es denn, daß die Fremden, welche er mit nach Sylt gebracht, nachdem sie die Schwelle seines Hauses überschritten hatten, gewissermaßen wie begraben waren und Niemand etwas Näheres von ihnen erfuhr. Man hielt sie für Gestrandete und nannte sie auch nur „die Gestrandeten“. Zwar war Knud Larsson’s Enkel Erich zur Zeit, da sein Großvater diese Gäste in sein stilles Haus führte, kaum sechs Jahre alt, allein noch hatte er den Eindruck nicht vergessen, den es auf die Fremden gemacht, als sie in den Tagen, wo sie ihr neues Haus bezogen, das sie unweit der Meeresküste hatten bauen lassen, zum ersten Male den Namen erfuhren, mit dem es der Mund des Volkes belegt. Wie Wetterleuchten hatte es im Antlitz des Mannes gezuckt, als Erich ihm auf seine Frage nach den „Gestrandeten“ mit Kinderoffenheit gesagt, daß der Fragende selbst so heiße; zum unaussprechlichsten Staunen des Knaben waren Thränen in den Augen des ernsten Mannes aufgestiegen und er hatte geweint wie ein Kind. Die schöne Frau aber, die der kleine Erich wie ein Wesen aus andern Welten betrachtet, war bei den Thränen des Mannes ohnmächtig geworden, und als man sie zum Leben erweckt, hatte sie sich dem Herrn zu Füßen geworfen und schluchzend ausgerufen: „Gott sei Dank, die Starrheit Deines Schmerzes ist gebrochen, Du wirst genesen, wirst vergeben und vergessen!“ „Nie!“ hatte er finster entgegnet, und von Neuem war sie leblos hingesunken.

Wie oft auch der Herr später den Knaben voll Wehmuth gefragt hatte: „Wie heiß ich?“ das unglückliche Wort war nie wieder über des Kindes Lippen gekommen. Es hatte weder die Thränen, noch jene bedeutungsvollen Ausrufe vergessen, hatte trotz seiner Jugend tactvoll herausgefühlt, welchen Sturm er in der Seele jener Beiden heraufbeschworen, die man in Ermangelung andern Namens so benannt.

Die wirklichen Namen der Fremden, ihr verwandtschaftliches Verhältniß, das Alles hatte sich den Bewohnern von Sylt erst in spätern Jahren kundgegeben, erst da, als eines Tages ein Herr mit einem Knaben nach der Insel gekommen und nach dem Hause des Baron Fordenskiöld aus Schweden gefragt. Es war, wie man hörte, der Bruder des Fremden, der auch von jetzt an alljährlich wiederkehrte und mit seinem Sohne einige Wochen in dem einsamen Hause verlebte.

Erich Larsson, inzwischen zu einem Burschen von fünfzehn Jahren herangewachsen, hatte die nach Baron Fordenskiöld forschenden Fremden zu der einsamen Wohnung geleiten müssen. Seltsamer Weise hatte er sie Stunden lang in der Irre herumgeführt, sie endlich, als schon die Dämmerung eingebrochen, unter dem nichtigen Vorwande: „den richtigen Weg verfehlt zu haben“, in eins der kleinen Dünenthäler geführt, das unweit der Besitzung des „Gestrandeten“ lag, hatte sie gebeten, dort zu warten, bis er sich selbst zurecht gefunden, und war dann wie ein Pfeil nach dem Hause geschnellt, über dessen Thorbogen man eben das leitende Licht entzündete.

In Erich’s Seele war nämlich, wie er sich späterhin klar bewußt wurde, der dunkle Gedanke aufgetaucht, sein alter Freund und Gönner würde die Fremden nicht empfangen und vor ihnen vielleicht entfliehen wollen. Darum hatte er jene merkwürdigen Vorkehrungen getroffen. Es war anders gekommen. Er hatte die Ankömmlinge dennoch zu dem stillen Hause geleiten müssen, sie waren wiedergekehrt und der Knabe, den er einst lieber in’s Meer geschleudert, als zu „schön Ingeborg“ geführt, er war jetzt seiner Jugendgespielin Verlobter.

Erich Larsson, obschon aus einer Seemannsfamilie stammend und mit dem Meere vertraut seit der frühesten Kindheit, war auf Wunsch und Bitte seiner Mutter, die Vater, Gatten und drei Brüder auf der See verloren hatte, bewogen worden, dies tückische, furchtbare Element nicht als eigentliche Lebensheimath zu erwählen. Ein Bruder von Erich’s Vater war Handelsherr in Hamburg und ihn, der kinderlos, hatte Frau Larsson gebeten, sich ihres Sohnes anzunehmen, als Erich in seinem achtzehnten Jahre von der ersten größern Seefahrt glücklich zurückgekommen war. Wer weiß aber, ob Erich ihren Bitten allein nachgegeben, sich durch die Schilderung ihrer Angst allein hätte bewegen lassen, den ihm so lieben Beruf aufzugeben und Kaufmann zu werden. Ingeborg, seine kleine Freundin, war’s, die ihr Flehen mit dem seiner Mutter vereinte und ihm unter Thränen versicherte, daß sie während seiner Abwesenheit keinen ruhigen Tag gehabt und sterben würde vor Sorge, ginge er wieder zur See! – – –

Ingeborg Fordenskiöld’s Geburtstag war auch der von Frau Larsson. War darum Erich alljährlich zu diesem Tage nach Sylt gekommen, es war Niemand aufgefallen und Jeder in dem einsamen Hause hatte es sogar natürlich gefunden, daß er am Morgen schon Ingeborg seine Glückwünsche brachte und darauf den Tag, wie ehedem, mit der verlebte, die seit früher Kindheit seine Gespielin und Freundin gewesen war und sich selbst seine „Schwester“ nannte.

Als Erich am Morgen von Ingeborg’s siebzehntem Geburtstage dem jungen Mädchen seine kleinen Gaben überreichte und nur wenige Worte fand, um seine heißen Wünsche für sie auszudrücken, da erzählte sie ihm unter Lächeln und Erröthen, daß sie die Braut ihres Vetters sei und über’s Jahr schon seine Frau sein werde. Wohl fiel ihr die Todesblässe auf, die sein blühend Antlitz bei der Nachricht deckte; doch als er hastig sagte, wie das vom raschen Gehen komme und daß er schon seit mehreren Tagen [99] unwohl sei, beruhigte sie sich und sprach ihre Freude aus, daß er die Einladung ihres Vaters angenommen, auch heute den Tag mit ihnen zu verleben.

Wie gern Erich nun auch die Zusage rückgängig gemacht hätte, die er am vergangenen Abend gegeben, und zu seiner Mutter geeilt wäre, die unpäßlich war, er fühlte, daß er die Sache nicht ändern könne, ohne zu verrathen, wie unglücklich es ihn mache, Ingeborg verlobt mit Dem zu wissen, auf den er als Kind schon eifersüchtig gewesen.

All sein Stolz, sein Ehrgefühl – und er besaß von beiden viel zu viel für das Glück des Herzens und den Frieden seiner Seele – empörte sich in wildem Ungestüm gegen den Gedanken, seine unerwiderte Liebe zu Ingeborg entdeckt zu sehen und seiner alten Freunde, seiner jungen Freundin Mitleid zu erregen! – –

So kämpfte er tapfer mit dem Schmerz, der ihn fast zu ersticken drohte, und als die Hälfte des unseligen Tages glücklich verflossen, die Morgen- und Mittagsstunde vorüber war, die Pein zur Qual stieg, der Schmerz in’s Stadium der Verzweiflung trat, da – da, wo er fürchtete zu erliegen, bot sich ihm endlich die heißersehnte Gelegenheit, fern von der Geliebten neue Kraft zu erringen für die nächsten, letzten Stunden des Beisammenseins. Ingeborg hatte nämlich einen Spaziergang vorgeschlagen, und die Deichgräfin bat, denselben bis nach dem Boikenhügel auszudehnen, in dessen Nähe sie wohnte, weil sie ihrem Vater versprochen habe, gegen Abend daheim zu sein.

Erich Larsson hatte sich nicht der fröhlichen Jugend, sondern dem ernsten Alter angeschlossen. Sah man ihn zwischen den Beiden dahinschreiten, auf die der Kummer seine Last so sichtbar geworfen hatte, so fand man ihn dieser Gruppe, trotz des Unterschieds der Jahre, vollkommen anpassend. Seine Stirn war zwar nicht gefurcht, auf ihrer hohen, freien Fläche lagen aber die dunkeln Schatten trüber Gedanken und das glanzlos starre Auge, das so düster in die öde Weite starrte, schien sich fest zu bannen an dem dunkeln Gewölke, das in schweren Gebilden den goldnen Schein der Sonne verhüllte. Nur dann und wann einmal zuckte ein Strahl von Leben und Bewegung durch das finstere Antlitz des jungen Mannes, wenn das helle frische Lachen Ingeborg’s, vom Winde getragen, an sein Ohr klang, – doch rasch, wie er gekommen, verglomm der Schimmer wieder.

Unter Scherz und Lachen erreichte die erste Gruppe das Ziel der Wanderung, den Boikenhügel; in stummem Schweigen, sowie sie den ganzen Weg zurückgelegt, gelangten die drei Letzten des kleinen Zuges auf dem Plateau an, wo die jungen Leute, ausruhend, Platz genommen hatten und sich lebhaft unterhielten.

Der Boikenhügel wird von den Syltern, von den Friesen überhaupt, als kein gewöhnlicher Hügel betrachtet, sondern bald als das Grab des Meerriesen „Boh“ angesehen, von Anderen wiederum als die Stätte bezeichnet, die man ihm, als dem „Rächer alles Unrechts“, geweiht habe.

Der alten Volkssage nach hatte der Meerriese Boh einen sehr edeln Bruder, Namens Bolder, der, vermählt mit einer der schönsten Friesinnen, Nanna mit Namen, seinen Sohn Forsete schon so gut erzogen hatte, daß er der Schlichter aller Streitigkeiten im Lande der Friesen geworden und sehr angesehen war. In die schöne Frau des edeln Bolder verliebte sich aber ein jütländischer Meerriese, Namens Hother, der von der Todesgöttin Hel ein Gewand erhalten, das ihn gegen alle Angriffe schützte und unverwundbar machte. Angethan mit diesem Zauberkleide, ermordete er den Gatten der schönen Nanna, bemächtigte sich dann ihrer und wurde erst für seine Sünden bestraft, als Boh, Bolder’s Riesenbruder, von der That hörte, Hother überfiel, als er nicht sein schützend Gewand trug, ihn tödtete und damit, nach Ansicht jener Zeit, den Bruder auf’s Erhabenste rächte.

Wie fest das Sylter Volk an die Macht dieses Meerriesen glaubt, „das Unrecht zu strafen und zu rächen“, beweist am Besten, daß noch zu Ende des vorigen Jahrhunderts das durch einen Landvogt hart bedrückte Inselvolk auf dem Boikenhügel eine Klagschrift gegen einen bösen Landvogt an einem hohen Pfahl aufschlug, in der Hoffnung, Meerriese Boh würde auch die Ahndung dieses Unrechts übernehmen.

Die jungen Leute auf dem Plateau des Boikenhügels besprachen eben die alte Volkssage, als Baron Fordenskiöld, seine Schwägerin und Erich Larsson herzutraten.

Nanna Hansen, die Deichgräfin, vielleicht ebenso schön wie jene vorzeitliche Nanna, sprang, als die Andern kamen, blitzenden Auges empor, und die schwarzen Flechten ihres reichen Haares, die der Wind ihr in’s glühende Antlitz wehte, mit heftiger Gebehrde zurückwerfend, trat sie vor Baron Fordenskiöld den Aeltern hin und rief lebhaft: „O Herr, helft mir, Euren ungläubigen Neffen zu überzeugen, der da behauptet, daß Riese Boh keine Macht mehr auf Erden besitze und überhaupt ein Gebild überreizter Phantasie sei.“

War’s ein gewisses Etwas in Ton und Wesen des Mädchens, das Baron Fordenskiöld aus seiner gewohnten starren Ruhe riß, oder sah er das tiefe Erblassen seines Neffen, dessen Lächeln wie mit Zauberschlag entschwunden war und in dessen Zügen Pein, Schreck und Entsetzen so deutlich zu lesen standen? Er blickte auf Beide, forschend und prüfend und entgegnete dann mit der ihm immer eigenen Kälte: „Liebe Nanna, geben Sie’s auf, Jemand, der nicht an Ihre schönen Volkssagen glauben will, davon zu überzeugen.“

„O, es handelt sich hier vielleicht weniger um Volkssagen, als um unseren festen Volksglauben!“ rief das Mädchen noch lebendiger, noch schärfer, „ich möchte den jungen Herrn so gern davon überzeugen, daß das Unrecht sich immer rächt, ob nun Riese Boh oder ein Gott die Strafe übernimmt.“

„An wem?“ fragte Ingeborg’s Vater ruhig.

„Nun, am Schuldigen! an wem sonst?“ entgegnete Nanna lebhaft.

„Nicht immer büßt der Schuldige das Unrecht!“ sprach der Baron düster, wandte sich ab und schaute auf das Meer, das seine schaumgekrönten Wellen mit lautem Brausen gegen die nahe Küste trug.

„So giebt’s mithin keinen gerechten Gott mehr!“ stieß das Mädchen in leidenschaftlicher Heftigkeit heraus, setzte aber dann ernst hinzu: „Nein, Gott ist gerecht, Baron Fordenskiöld.“

„Das Leben aber voller Ungerechtigkeiten!“ rief dieser etwas lebhafter, als gewöhnlich. „Sehen Sie dorthin, Nanna, bis wohin sich einst Sylts Küste erstreckte! Was thaten die, welche einst harmlos dort lebten, wo jetzt die Meereswogen über ihrem Grabe brausen? Einfach spann sich ihr friedlich Dasein ab. Sie vertrauten dem Boden, der sie trug, schauten hoffend auf in’s Licht. Da kamen Wolken, da wüthete der Sturm, hoch und immer höher stieg das Meer, die Scholle, der sie vertraut, wich unter ihren Füßen, sie wurden in die todbringenden Wellen geschleudert, ihr Ringen, Kämpfen, Hoffen half zu Nichts, sie mußten untergehen und waren auf ewig verloren!“

„Nicht auf ewig!“ rief die Gräfin Alma lebendig und setzte langsamer hinzu: „hier, ja hier, wo sie vergeblich mit Wogen und Wellen, mit Sturm und Brandung gekämpft, da starben sie! doch dort im Licht, wo Freude und ewiger Friede herrschen und wohin die Schatten des Lebens nicht dringen, da erwachten sie und waren durch Nacht, durch Schmerz und Kampf zum Siege, zu ewiger Freude, zu ewiger Seligkeit gelangt.“

Baron Fordenskiöld warf nur einen flüchtigen Blick in die dunkeln traurigen Augen der bleichen Frau an seiner Seite, die ernst aufschaute zu jenem Lichte, auf das sie hoffte, an das sie glaubte – und leise, nur ihr verständlich, sagte er: „Mög’ uns auf ewigen Kampf bald ewiger Friede folgen!“

Die Gruppe der fröhlichen Jugend verließ den Hügel nicht so fröhlich, wie sie ihn erstiegen hatte, sondern fast eben so ernst und gedankenvoll, wie die beiden ältern Leute, die jetzt den Zug eröffneten. Unten am Fuß der Höhe trennte man sich von Nanna und die muntere Alfhilde Löhr, die Seemannstochter, rief ihr lachend nach: „Verschlaf’ die Grillen, die Du oben auf dem Boikenberg gehabt hast.“

Nanna, die stolze Deichgräfin, wandte sich auf den Zuruf nicht um, wohl aber zurück, als die Gesellschaft sich entfernt hatte und nur Erich Larsson noch auf dem Plateau weilte. Eine Secunde stand sie sinnend still, dann eilte sie den Hügel wieder hinauf und ihre Hand dem jungen Mann auf die Schulter legend, sprach sie eindringlich: „Erich, theile Du mindestens meinen Glauben! Vielleicht giebt er Dir Trost in der Verzweiflung Deines Herzens, die Dir Niemand besser nachfühlt, denn ich!“

„Nanna, was meinst Du damit? was willst Du?“

„Du sollst glauben, daß Unrecht sich rächt und den Schuldigen die Strafe ereilt, ob früh oder spät.“

„Inwiefern soll das mein Trost sein?“

[100] „Weil Du dann noch glücklich werden kannst,“ sagte sie ernst und bedeutungsvoll.

Er zuckte zusammen, richtete sich dann stolz, fast heftig empor und fragte trotzig: „Was berechtigt Dich dazu, mich für unglücklich zu halten?“

„Die Vergangenheit und – der heutige Tag!“

Die Worte erschütterten ihn; doch bezwang er sich und sagte kalt: „Ich verstehe Dich nicht!“

Sie sah ihn fest an und entgegnete traurig: „Ich verstehe Dich leider nur zu gut – Deine Qual – Deine Kämpfe – Deinen Stolz – und traurigen Sieg!“

„Nanna!“ rief er weicher, als er Thränen in den Augen sah, die er nur leuchtend von Glück und strahlend von Jugendmuth kannte.

„Ja, Erich, ich verstehe Dich!“ wiederholte sie ernst, „ich, die lustige Nanna, sag Dir’s noch einmal: Niemand, Niemand kann Dir die Verzweiflung Deines Herzens besser nachfühlen, denn ich! Unsere Lage ist insofern eine gleiche, weil der heutige Tag unsere beiderseitigen Jugendhoffnungen zerstörte. Ich, Erich, bin nur noch schlimmer daran, denn während Dich, wie ich glaube, noch kein festeres Band an Ingeborg knüpft, als das Deiner Liebe, war ich Oscar Fordenskiöld’s Braut, seit zwei Jahren seine glückliche, seine hoffende, seine überselige Braut! An meinem sechzehnten Geburtstage verlobte er sich mit mir im Geheimen, noch vor sechs Wochen, als er von Schweden kam, schwur er mir ewige Liebe, ewige Treue, und heute – heut’ ist er Ingeborg vor Gott und Menschen feierlich anverlobt!“

„Wie? Was sagst Du?“ schrie Erich entsetzt.

„Die Wahrheit.“

„Nanna, es ist unmöglich!“

„Ich dachte es bis heute auch, Erich! aber es ist doch wahr! Vor einigen Tagen beschied er mich hierher, hier an dieser Stelle sagte er mir, wie er durch den Willen seines Vaters, den Wunsch seines Onkels gezwungen sei, um Ingeborg zu werben, und daß dann auch bald die Hochzeit folgen werde. Er sprach auch noch von seiner Armuth, von Ingeborg’s Reichthum, von alten Verpflichtungen, die er eingegangen sei, ehe er mich geliebt habe, von neuen Ereignissen, die mit drückender Gewalt über ihn hereingebrochen seien, kurzum, er sprach und redete von Vielem, während ich von Allem Nichts verstand, als seine Absicht, mich aufzugeben. Obschon ich nun dies Eine, dies Entsetzliche zwar verstand, begriffen hab ich’s erst seit heute Morgen, wo Ingeborg mir, ihrer vertrautesten Freundin, die Anzeige von ihrer Verlobung sandte und mich bat, dem frohen Familienfeste beizuwohnen. Hier, an eben dieser Stelle, hab ich mir vor einigen Stunden Kraft erfleht, ihrer Einladung Folge leisten zu können, habe sie dann als seine Braut gesehen, sie – sie, die Freundin, in den Armen Dessen, der mir Liebe und Treue geschworen!“

Das Mädchen, das die letzten Worte in leidenschaftlicher Heftigkeit hervorgestoßen, blieb einen Augenblick in tiefes Schweigen verloren, dann fragte es mit hohler Stimme:

„Weißt Du, was es heißt, einer Friesin das Wort brechen?“

In sprachlosem Schrecken starrte er sie an, doch eh’ er eine Silbe entgegnen konnte, fuhr sie hastig fort:

„Du weißt von Hörensagen, was solch ein Weib unseres starren Volkes kann, dem man das Herz mit Füßen getreten und die Seele gefoltert hat. Doch ich, Erich, ich weiß jetzt aus Erfahrung, wie Jemandem zu Muthe ist, der so behandelt worden, und das ist etwas Anderes, o, das ist furchtbar, so furchtbar, wie meine Rache sein wird.“

„Was gedenkst Du zu thun?“

„Zu beten!“

„Zu beten?“

„Nichts Anderes! Mit der heißen Inbrunst, wie ich heute hier zu Gott um Kraft gefleht, so werd’ ich ferner Tag für Tag, Stunde um Stunde Ihn den Allmächngen bitten, das mir angethane Unrecht zu rächen! Er, der Allgütige, der mich heut erhört, wird sich auch künftig mir gnädig erweisen, wird den Meineidigen strafen, mit der härtesten Strafe, die ihm zu Theil werden kann – ihm die Liebe Ingeborg’s entziehen, die jetzt sein Glück ist, wie seine Liebe einst das meinige war.“

Sie schwieg erschöpft, und Erich Larsson sagte leise:

„Möchtest Du nicht vergebens beten!“




Die Sonne des nächsten Morgens stand noch nicht hoch am Himmel, als die beiden stattlichen Gestalten der Barone Fordenskiöld durch die niedrige Thür des Hauses traten, in welchem der Deichgraf Hansen wohnte. Sie begehrten Nanna zu sprechen. Als die Magd den Bescheid gab, Nanna sei bei Tagesanbruch mit ihrem Vater nach Föhr gefahren, leuchtete ein Freudenstrahl im Antlitz des jungen Mannes auf, während das ernste Gesicht des ältern Herrn noch ernster und düsterer wurde.

„Werden sie bald wiederkommen?“ fragte der Letztere nach kurzem Sinnen.

Das Mädchen lächelte ein wenig verlegen und entgegnete leise: „Sie wissen vielleicht nicht, daß der Capitain Arnulf Braderöp von seiner großen Reise heimgekehrt ist und einige Wochen auf Föhr bleibt?“

„Nein! Doch was hat das mit meiner Frage zu thun?“

Das Mädchen wurde noch verlegner, erröthete tief und griff, wie um irgend einen Halt zu haben, nach seiner Schürze.

„Arnulf Braderöp ist nicht allein der schmuckste Bursche,“ sprach sie dann langsam und bedächtig, „der je auf den Halligen gelebt, er hat auch eins der schönsten Schiffe, die je in See stachen. Als er voriges Jahr hier war – und Sie haben wohl gehört, daß das am Tage nach dem der Fall war, wo er nach Föhr zurückgekommen – da sagte er, die nächste Reise mache er nicht allein, sondern mit seiner Frau, für die schon eine Cajüte eingerichtet wäre, und diese Frau heiße, so Gott ihm gnädig sei und Menschen seine Wünsche erhörten, Nanna. Der Deichgraf lächelte bei den Worten so wohlgefällig, daß ich gleich wußte, Herr Arnulf Braderöp würde von ihm willkommen geheißen, wenn er den größten Schatz des Hauses entführen wolle; die Hauptperson, Nanna, wurde aber grad so roth, wie der Seekrebs, der da auf dem Heerde kocht, und gestern Abend, da ging sie dem Vater so lang um den Bart, bis der Alte versprach, heut seine Schwester auf Föhr zu besuchen, welche die Tante des Capitains Arnulf ist. Ich denke mir nun, sie werden so lange ausbleiben, bis alles Nähere von wegen – der nächsten Seereise verabredet ist.“

Wie wenig küssenswerth auch Jungfrau Stine Brömmer, der dienstbare Geist des deichgräflichen Hauses, aussah, Oscar Fordenskiöld schien, nach dem Ausdruck seines Gesichts zu urtheilen, das lebhafteste Verlangen zu tragen, sie in seine Arme zu schließen. Selbst sein ernster Onkel blickte die Berichterstatterin freundlich an und schritt mit freierer Stirn und hellerm Auge aus dem Hause, als er in dasselbe eingetreten.

Als beide Herren einige Schritte gegangen, sagte der Baron: „That ich Dir Unrecht, Oscar, so wird Niemand glücklicher sein, als ich, und ich Dich frohen Herzens um Verzeihung bitten.“

„Lieber Onkel,“ entgegnete der junge Mann mit geschmeidiger Unterwürfigkeit, „ein Irrthum war von Ihrer Seite nur zu natürlich, nach den seltsamen Worten des Mädchens. Wollten Sie mir nun aber auch gestern Abend nicht glauben, daß die schöne Deichgräfin immer etwas aufgeregt und voll überspannter Ideen sei, jetzt sind Sie hoffentlich überzeugt, daß in ihrem Ausruf kein Hinterhalt gegen mich lag. Fräulein Nanna –“

„Lassen wir das, Oscar! Ich sagte Dir bereits, ich glaubte seit lange keinen Worten mehr und mir genügten zu Ueberzeugungen einzig Beweise. Aus diesem Grunde begab ich mich zu dem Mädchen; da ich indeß durch Nanna’s Abwesenheit verhindert wurde, ihr die Fragen vorzulegen, die ich beantwortet wünschte und über welche Du mir keine mich befriedigende Auskunft gegeben hast –“

„Sie genügte aber doch Ingeborg – Ingeborg, meiner Braut!“

„Ingeborg ist ein Kind! sie kennt weder Herz noch Welt, sie war erschreckt durch Wort und Wesen ihrer Freundin, Du beruhigtest sie und sie ist zufrieden. Anders mit mir, dem Manne, der die dunklen Wege des Lebens kennt und die Tiefen der Seele ergründete, der aus bitterer Erfahrung weiß, wohin sich der Wogenschlag des Schicksals wenden kann. Laß also Ingeborg aus dem Spiele! Du hast’s jetzt nur mit mir, dem Vater, zu thun, der sein Kind vor dem Jammer bewahren möchte, welcher einst über mich, den fest Vertrauenden, hereinbrach. So werde ich denn an Nanna schreiben. Ich bitte Dich, so lange nach Westerland zu gehen, bis ich Antwort bekommen, und sei fest überzeugt, daß ich diese Dir keine Stunde vorenthalten werde.“

(Fortsetzung folgt.)
[101]

Die deutsche Freiheit.

Ein Kind der Wälder mit dem Mark der Eichen,
Wuchs sie heran in blut’gen Schlachtenschauern,
Erstürmt der Weltbezwinger stolze Mauern
Mit deutscher Kraft und trat auf Römerleichen.

5
Dann, nach Jahrhunderten, seht ihr sie trauern

Auf deutscher Städte Schutt mit düsterm Reigen,
Doch bald empor in Jugendschönheit steigen
Und aller Zeiten Stürme überdauern.

Und sie, die starke, die jahrtausendalte,

10
Die Freiheit, meint ihr, werde nun vergehen

Vor eurem Wort, vor eures Athems Wehen?

Habt Acht, daß sie ihr Banner nicht entfalte,
Vor dem, umrauscht vom Sturmwind der Gedanken,
Die Burgen fallen und die Berge wanken!

Friedrich Herold.
[102]
Ein Agitator
(Schluß.)

Gleich nach der Revolution von 1846 fielen mehrere seiner Anhänger von Fazy ab und liefen in das von ihnen besiegte Lager der Aristokraten und Conservativen hinüber. Man nannte diese, nach dem Namen eines Verräthers des sechszehnten Jahrhunderts, die Blondels. Ihre Motive waren theils persönliche, theils solche, die in ihrem Altgenferthum beruhten, das sie durch die neue Verfassung, welche neuen Bürgern und allen Religionen Thür nur Thor öffnete, bedroht sahen. Doch war die radicale Partei so stark, daß sie diesem Abfall mit Ruhe und Hohn zusehen und sich ohne Unterbrechung volle acht Jahre halten konnte, obwohl nunmehr auf der andern Seite Aristokraten, Conservative und Blondels vereinigt waren, welche ihre eigenen Meinungsunterschiede ruhen ließen und sich wie ein Mann gegen Fazy verständigten. Im Laufe der Jahre aber bildete die Fazy’sche Verfassung selbst seine eigenen Anhänger mehr und mehr zur Unabhängigkeit, und eine große Anzahl derselben fing an, sich unbehaglich zu fühlen, je mehr Fazy’s unbeschränkter Einfluß chronisch zu werden begann. Dieser seinerseits hielt sich nach seinem temporären Sturz für noch berechtigter, als früher, da er sich mit ganz Genf überzeugte, daß man ohne ihn nicht auskommen konnte und nach kurzer Zeit auf ihn zurückkommen mußte.

Fazy stieß schon damals viele seiner treuesten Anhänger vor den Kopf; im Staatsrath wie im großen Rath führte er das Scepter, und überall gab er den Ausschlag. Dazu kam, daß er bei all dem, was wir seinen Despotismus genannt haben, im Principe sich treu blieb und die Verfassung bis zur letzten Consequenz durchführte. Die Katholiken spielten ganz dieselbe Rolle, wie die Calvinisten; die Vortheile, die sich diese, vorzugsweise betreffs großer Geldfonds, den nach dem Wiener Congreß[1] in den Canton eintretenden katholischen Gemeinden gegenüber gewahrt hatten, sollten auch den letztern zu gute kommen; dem Fremden kam man, behufs des Aufblühens der Stadt, mit Erleichterung des Niederlassungs- und Erwerbung des Bürgerrechtes entgegen. Das behagte vielen Altgenfern nicht, in denen noch der ausschließliche Municipalgeist und der Calvinist stak, trotz allem Radicalismus. Die vielen neuen und flottanten Elemente der Bevölkerung brachten ein gewisses unruhiges Leben hervor, das gegen das alte, abgemessene, steife fremdartig abstach und den Altpatrioten mit Wehmuth erfüllte, da er sein historisches Genf zu Grunde gehen sah. Das Alles war die Schuld Fazy’s, und es lösten sich nach und nach von seiner Partei aus den verschiedensten persönlichen und unpersönlichen, Gemüths- und politischen Motiven verschiedene Elemente los, die endlich mit Anfang der sechsziger Jahre eine Partei bildeten, welche damit, daß sie sich „die Unabhängigen“ nannte, ihre bisherige Abhängigkeit von Fazy eingestand. Diese Unabhängigen nannten sich auch Radicale und protestirten laut und feierlich gegen die Anschuldigung, als ob sie sich von den radicalen Grundsätzen trennen wollten – und der größte Theil dieser Partei meinte es mit solcher Protestation auch ganz ehrlich. Sie hatte für ihren Abfall den besten Moment gewählt und der Sturz Fazy’s war unvermeidlich, denn in diesem Momente hatte sich so Vieles gegen ihn gesammelt, was zu einer furchtbaren Anklage formulirt werden konnte – zu einer Anklage, die zwar in einem großen Staate zum Theil lächerlich gewesen wäre, in einem kleinen aber zu einem Verdammungsurtheile führen mußte.

Derselbe Fazy, der in Paris und Genf sein Vermögen an Zeitungen und Broschüren ausgegeben, um für seine Principien Propaganda zu machen, der dann Jahre lang in einer kleinen, dunklen Stube im Arbeiterviertel wie ein armer Arbeiter lebte und nichts genoß, als die Freuden der Agitation für seine Ideen – derselbe Fazy erinnerte sich in seinen alten Tagen des üppigen Freudenlebens seiner Jugend. Alte Bedürfnisse erwachten wieder, der Genußmensch machte sich wieder geltend, ebenso der freigebige Mensch mit der stets offenen Hand, der Jedem zu helfen bereit ist und wie ein unerfahrenes Kind von jedem Gauner, der nur gut zu klagen versteht, sich betrügen läßt. Die Republik aber zahlt schlecht und ist nicht da, um Sybariten und leichtgläubigen Menschen die nothwendigen Fonds zu liefern. Der Staat hatte Fazy ein Grundstück geschenkt, Fazy sich ein prächtiges Haus darauf erbaut, aber mit fremdem Gelde. Er hatte nichts, um die Zinsen an die Gläubiger zu bezahlen, und doch brauchte er mehr, als diese Zinsen. In den prächtigen Räumen dieses Hauses hatte sich eine ehrenwerthe Gesellschaft von Männern, eine Art Lesemuseum oder Casino, eingemiethet; diese wußte sich nicht recht zu verwalten und überließ den jahrelangen Pacht ihrem Oberkellner und Oekonomen. Dieser, einmal im Besitze des Locals, machte den berühmten Cercle des étrangers, das Spielhaus, daraus. So kam Fazy eigentlich unschuldigerweise dazu, die Spielhölle in seinem Hause zu haben, aber er wurde schuldig, als er den Pacht erneuerte. Es ist eine Verleumdung, daß er Theil am Gewinne hatte, aber er bezog achtzehntausend Francs Miethzins, und er hatte als Haupt einer Partei und als oberster Beamter des Staates nicht die gehörige Rücksicht für seine Stellung. Er hatte nicht die Kraft, die man von ihm fordern konnte, als armer Mann in einem Dachstübchen zu leben und seine und der Republik Ehre zu retten; er hatte die verbrecherische Schwäche, sich auf das Gesetz zu berufen, das gegen die geschriebenen Statuten des Spielhauses nichts einwenden konnte. Seine Freunde behaupteten, daß er in seiner Leidenschaftlichkeit das Spielhaus aus Trotz gegen seine Feinde aufrecht halte und daß diese nicht das Recht hatten, ihn anzugreifen, da in der oberen Stadt bei den Aristokraten viele solche Spielhöllen bestanden. Aber hatte Fazy auch das Recht, der moralischen Entrüstung, der öffentlichen Meinung und seiner Stellung gegenüber so zu trotzen? und gab ihm die Unsittlichkeit seiner Feinde ein Recht, selbst unsittlich zu sein, ihm, der ein großes Princip zu vertreten hatte? Nein! wie groß immer seine Geldnoth gewesen, wie wenig man ihm nach dem Buchstaben des Gesetzes anhaben konnte – sein Betragen in dieser Angelegenheit war, mild gesagt, ein unschickliches, um so mehr, als Aller Augen auf ihn gerichtet waren und als er das Staatsoberhaupt vorstellte.

Zum Spielhaus kam – um es mit einem Worte zu sagen und über eine häßliche Privatgeschichte rasch hinwegzugehen – kam eine Maitresse. Fazy ist verheirathet und heute siebenzig Jahre alt. Was in einem großen Staate oder in einer Weltstadt als reine Privalangelegenheit übersehen worden wäre, gab in der kleinen Stadt, die zum Theil noch auf sehr strenge Sittlichkeit hält, großes Aergerniß. Man konnte den Mann nicht mehr schätzen, der sich in Gesellschaft verworfener Personen gefiel – und selbst die Lächerlichkeit heftete sich an den Jünglingsgreis. Sehr folgerichtig brachte man mit diesen Verhältnissen finanzielle Verlegenheiten in Verbindung, und neben so vielen Sagen und Scandalen ging auch das Gerücht, daß Genf von Fazy’schen Wechseln überschwemmt sei. Wer kann es einer Republik oder auch einer Partei übel deuten, daß sie unter solchen Verhältnissen einen Mann fallen läßt, den sie durch so viele Jahre auf den Schild gehoben, und daß sie selbst seine früheren Verdienste vergißt? Im Ganzen und Großen ist das nur ein Zeugniß zu Gunsten der Stadt – und wird der Geschichtschreiber diesen Abfall niemals als ein Zeichen der bekannten Wandelbarkeit in Republiken anführen können.

Unter solchen Verhällnissen also nahm die Desertion in’s Independenten-Lager immer mehr überhand. Selbst Leute, welche die Thorheiten und Vergehen des alten Mannes am wenigsten mit moralischer Entrüstung erfüllten, nahmen diese zum Vorwand, um ihre persönlichen Motive zu verhüllen. Trotz alledem aber wären die Independenten noch lange nicht stark genug gewesen, um Fazy zu stürzen, wenn sie nicht von allen Seiten Bundesgenossen bekommen hätten, die im Grunde nicht das Geringste mit ihnen gemein hatten. Seit der Revolution von 1846 bilden Aristokraten und Conservative eine so eng zusammenhaltende Partei, daß man es heute ganz vergessen, wie sie sich vor jener Revolution als patrizisches und bürgerliches Element feindlich gegenüber standen. Trotz ihrer engen Verbindung bildeten sie aber eine so unendlich kleine Minorität, daß es ihnen bei zehn Wahlen kaum gelang, eine entsprechende Minorität in den großen Rath zu bringen. Sie waren todt, sie zählten nicht, trotz aller Mühe, die sie bei jeder Wahl erneuerten, auf die von ihnen als den beinahe ausschließlichen Grundeigenthümern abhängigen Fermiers oder Pächter Einfluß zu üben. Sie waren bereit, sich jeder Partei anzuschließen, die sich gegen Fazy bilden würde.

Die Bildung der „Ficelle“ oder der Independenten war ihnen [103] darum höchst willkommen, und weiter gar nicht bedenkend, daß diese die radicalen Principien noch lauter proclamirten als die Fazy’sche Partei, stimmten Conservative und Aristokraten wie ein Mann mit den Independenten. Aber selbst diese Vereinigung dreier von einander ganz verschiedener, im Princip weit auseinandergehender Parteien konnte noch keine Majorität gegen die zahlreichen Anhänger Fazy’s zu Stande bringen, und sie würden sich vergebens abgemüht haben, wenn nicht die Ultramontanen den Moment für geeignet gehalten hätten, nunmehr ihre innerste Natur zu enthüllen. Man weiß es, daß die dem Canton annectirten katholischen Gemeinden, trotz der Wiener Verträge und trotz der Specialverträge mit Savoyen, unter dem alten, calvinistischen Genf beinahe ganz vom Staatsleben ausgeschlossen waren. Dasselbe System, welches sich im Jahre 1815 gegen die Einverleibung des katholischen Bestandtheils sträubte, suchte, da dieses doch geschehen war, die Vereinigung, so zu sagen, als eine mechanische zu erhalten, anstatt sie in eine chemische zu verwandeln. Die Katholiken waren eigentlich unterdrückt, unemancipirt; vor Allem aber suchte man sie von allen Aemtern und von den Vortheilen auszuschließen, welche die ungeheueren Geldfonds der Genfer Wohlthätigkeits- und Lehranstalten der protestantischen Bevölkerung gewährten. Mit der Revolution von 1846 wurde allgemeine Toleranz und Religionsfreiheit proclamirt; die Katholiken fungirten als Bürger, und wenn auch die alten Parteien sich immer des Religionsunterschiedes erinnerten, in der Masse des Volkes wurde dieser mehr und mehr verwischt. Die Katholiken bezeigten Fazy große Dankbarkeit und Anhänglichkeit – und wie sollten sie nicht, da er bei jeder Gelegenheit für sie eintrat und dafür von den andern Parteien als Pseudokatholik, als Werkzeug der Jesuiten verschrieen wurde? Setzte er es doch durch, daß im calvinistischen Rom den Katholiken ein schöner Bauplatz geschenkt wurde, und ist es doch seine Schuld, daß sie jetzt eine so schöne, herausfordernde Kirche besitzen! Doch war es bei aller Dankbarkeit und Anhänglichkeit nur natürlich, daß sich die Katholiken, oder vielleicht nur die Ultramontanen unter den Katholiken, für die Länge im Lager der Radicalen nicht heimisch fühlen konnten – und nachdem die Fazy’sche Constitution Wurzel gefaßt, die Religionsfreiheit eine gesicherte Eroberung war, so daß man der radicalen Principien nicht mehr bedurfte, gingen die Ultramontanen mit einem Male hinüber in das andere Lager, wo zwar ihre erbittertsten Feinde zu Hause sind, welche Feinde aber auch Feinde des Radicalismus, der Freiheit sind. –

Dies im Kurzen die Geschichte der neuen Parteibildung in Genf, die sich zwar seit langer Zeit vorbereitete, aber erst im Laufe der letzten drei Jahre vollbrachte, und so entstand die Majorität, welcher es zwei Mal nach einander gelang, Fazy von der Regierung auszuschließen. Man sieht, daß es eine künstliche und unnatürliche Majorität ist, zusammengesetzt aus den heterogensten Elementen, Patriziern, Conservativen, die Beide streng calvinistisch sind, Katholiken und Radicalen, die sich gegenseitig bekämpfen würden, sobald sie der alten, radicalen Partei, d. i. der Fazy’schen ledig wären. Jetzt, so lange diese noch so stark ist, wie sie sich trotz der Coalition bei der letzten Wahl gezeigt, halten diese divergirenden Elemente zusammen, demoralisiren und fälschen einander gegenseitig durch die beständigen principiellen Concessionen, die sie einander machen müssen. Die Geschichte dieser Parteibildungen erklärt die Vorgänge des 22. August, denn sie konnten nicht vor sich gehen, ohne tiefgehende Erbitterungen zu erzeugen, da man auf der Fazy’schen Seite den größeren Theil der Gegner als Abgefallene, als Apostaten betrachtete, und auf der anderen Seite ein mehrjähriges Streben wiederholt Enttäuschungen erfahren mußte (wie z. B. die Verwerfung der revidirten Constitution durch das ganze Volk), was die Independenten um so mehr schmerzte, als sie sich der Opfer bewußt waren, die sie, ihrem Princip entgegen, den reactionären Bundesgenossen zu machen gezwungen waren. Das Landvolk, welches der Fazy’schnen Verfassung außerordentlich viel zu danken hat und das sich um die städtischen Vorgänge, um Spielhölle, Maitresse, Geldgeschichten wenig kümmert, fand, daß „der Alte“ („le Vieux“) lange genug von der Regierung ausgeschlossen sei, und selbst die Bauern, die seit zwei Jahren gegen ihn gestimmt, ergriffen jetzt für ihn Pariei, da er seine „Lection“ erhalten habe. Die Anhänger Fazy’s waren ihrer Sache beinabe gewiß; die Independenten zitterten. Die Sache wandte sich gegen Erwarten der Einen und gegen die Furcht der Andern, daher um so größerer Jubel auf der einen, um so größere Erbitterung auf der andern Seite. Dazu das Gerücht von Fälschung der Wahlen – und es kam zum Kampfe.

Die Reaction hat die Vorgänge des 22. August gierig auszubeuten versucht, um so mehr als die Anhänger der Conservativen von Genf selbst aus die entstellendsten Berichte in die Welt hinaus sandten und senden ließen. Wohl hatte der Freund der Freiheit Ursache gehabt, besorgt zu sein, allein das Verdict, welches am 30. December der Obmann des Schwurgerichts verkündete: „Die Angeklagten sind nicht schuldig“, hat diese Behauptung glücklicherweise zu Schanden gemacht und das gesunde Urtheil der Genfer Bevölkerung von Neuem glänzend bewährt. Fazy selbst weilt jetzt wieder in Genf; ob er aber wieder das leitende Haupt seiner Partei werden wird, steht nach so manchen Enthüllungen, welche der Proceß gebracht hat, und nach den Differenzen, in die er mit dem Verwaltungsrathe der von ihm gegründeten „Banque générale suisse“ gekommen, sehr dahin.




Der Kaiser im Flügelkleide.
Von J. Marmor.

Wer bleibt wohl kalt, wenn er sich an die Tage seiner Jngend erinnert, an jene rosigen Tage voll warmen Sonnenscheins und hellen Lichtes, die nur auf Augenblicke durch trübe Wolken und rauhe Lüfte getrübt wurden? Wer gedenkt nicht mit süßer Wehmuth jener Hoffnungen eines immerwährenden Glücks, jener Pläne zur Beglückung der Menschen um sich herum, die man alle für gut und gleichgesinnt hält, weil man an sie den eigenen Maßstab legt? Wie zuckt das arme Herz zusammen, wenn es später das Leben kennen lernt und die meisten schönen Träume des warmen jugendlichen Blules wie Schäume zerfließen sieht!

Trotz aller dieser Täuschungen wird es aber Keiner bereuen, wenigstens einmal von einem Glück geträumt zu haben, nach welchem man im Leben vergeblich jagt. Wie glücklich sind diejenigen, welche in ihrer Jugend die Welt wie ein lachendes Eden ansehen konnten, und wie unglücklich Jene, denen das harte prosaische Leben jede Lust und Freude schon in der Knospe durch den vergiftenden Mehlthau des Kummers und der Sorgen erstickte! Mir war im Ganzen eine glückliche Jugend beschieden. Die frühere Zeit hatte das Gute, daß man die Jugend Jugend sein ließ und von der Blüthe nicht sogleich auch schon die Frucht erwartete. Mein Stiefvater, ein braver Mann, welcher mich wie seinen eigenen Sohn liebte, ließ mich gewähren und in den Freistunten mich mit meinen Gespielen nach Herzenslust herumtummeln. Unter denselben befand sich einer, welcher jetzt wie man zu sagen pflegt, die Geschicke der Welt in seinen Händen hat – der Kaiser Napoleon III., ehemaliger Prinz von St. Leu.

Nach dem Sturze Napoleon’s des Ersten war es der ehemaligen Königin von Holland, Hortensia Fanny Beauharnais, nicht mehr ganz geheuer in dem „schönen Frankreich“, und sie wünschte dasselbe so bald als möglich zu verlassen und nach der Schweiz zu ziehen, um dort in Muße sich der Erziehung ihrer beiden Söhne, Napoleon und Carl Louis Napoleon, zu widmen. Auf ihr Verlangen erhielt sie von Ludwig dem Achtzehnten einen Paß, mit dem sie am 17. Juli 1815 Abends um neun Uhr von Paris abreiste.

Ihre Reise brachte ihr Angenehmes, aber auch mannigfach Unangenehmes, je nachdem die Bewohner der von ihr berührten Gegenden dieser oder jener politischen Anschauung huldigten. Während nur das entschlossene Benehmen der österreichischen Schutzwachen sie und die Ihrigen vor Rohheiten der bourbonisch gesinnten Soldaten und Bevölkerung in Dijon schützte, warfen ihr die Napoleon ergebenen Bauern außerhalb der letzten Vorposten der Festungsmauern dieser Stadt Blumenkränze unter dem Rufe: „Es lebe der Kaiser!“ in ihren Wagen und sprachen ihr Bedauern aus, [104] daß die Guten fortgingen und die Schlechten zurückblieben. In Genf wollte sie bleiben, allein die Behörden gestatteten ihr nicht nur keine Niederlassung im Canton, sondern verlangten, daß sie schon am nächsten Morgen abreise. Nur den gewichtigsten Vorstellungen des Grafen von Voyna, Adjutanten des Fürsten von Schwarzenberg und Kammerherrn des Kaisers von Oesterreich, welcher ihr zum Schutze von Paris aus beigegeben worden war, verdankte sie noch eine Frist von einigen Tagen.

Auch in Aix in Savoyen, wo sie ein geräumiges Gehöft miethete, fand sie nicht lange Zuflucht. Die bourbonische Reaction im Süden Frankreichs gewann bald eine große Verbreitung und äußerte sich selbst durch Meuchelmorde an den Bonapartisten, welche man einer Verschwörung gegen die jetzige Regierung bezichtigte. Der österreichische General Pochemann, welcher die verbündete Macht in Lyon und den benachbarten Provinzen befehligte, ließ die Königin warnen, weil ihr und ihrer Söhne Leben bedroht wäre. Eine solche Nachricht war an sich schon geeignet, einen noch so schönen Aufenthaltsort zu verleiden; es kam aber überdies ein Ereigniß hinzu, um einen Wechsel desselben noch wünschenswerther zu machen. Ihr Gemahl, Louis Napoleon, verlangte seinen ältesten Sohn zurück. Die Mutter, welche mit größter Zärtlichkeit an ihren Kindern hing, gab nur mit blutendem Herzen nach, weil sie um das Leben desselben besorgt war. Dem jüngern Bruder zog die Trennung eine Gelbsucht zu, welche eine bedeutende Schwäche zur Folge hatte, von der er sich nur langsam erholte.

Aber auch die Königin litt furchtbar unter dieser Trennung und begann ernstlich zu kränkeln. Der Ort war ihr verleidet. Sie faßte denn einen raschen Entschluß und verließ die Stadt, welche sie immer und immer wieder an ihren großen Verlust erinnerte, am 28. November 1815. Bei ihrem Durchzuge und kurzen Verweilen auf dem Gebiete des Cantons Genf setzte sie die kleinen Herren desselben wieder in einen panischen Schrecken und veranlaßte sie zu höchst lächerlichen kriegerischen Vorkehrungen. In der Stadt Murten im Canton Freiburg jagte sie abermals den Behörden keine kleine Furcht ein, die sogar eine kurze Verhaftung zur Folge hatte. Von dort an kam sie ohne weitere Abenteuer durch die Schweiz und langte an der Grenze derselben, in Constanz am Bodensee, am Dienstag den 5. December 1815 an. Für’s Erste nahm sie ihren Aufenthalt im Gasthaus zum Adler an der Marktstätte, demselben behaglichen Wirthshause, dessen jetzt sinnig angeordneter und reich geschmückter glasbedachter Hof so manchem unserer Leser eine freundliche Erinnerung sein wird, und wandte sich sogleich an ihre Verwandte, Stephanie Louise Adrienne Beauharnais, Großherzogin von Baden, mit der Bitte, ihren Gemahl zu veranlassen, daß ihr der Aufenthalt in Baden gestattet werde, das allerdings zu denjenigen Ländern gehörte, in welchen den Mitgliedern der bonapartischen Familie nicht zu weilen erlaubt war. Die Antwort lautete verneinend.

Hortense war aber des flüchtigen Umherirrens müde und entschloß sich daher, von dem abschlägigen Bescheide keine Notiz zu nehmen und durch eine „vollendete That“, wie die Großen unserer Erde, die Sache zu Ende zu führen und alle weitern Erörterungen darüber abzuschneiden. Sie beauftragte deshalb ihren Hausverwalter, sich nach einer Wohnung umzuschauen, welche mit einer schönen Lage zugleich auch noch die nöthigen Räumlichkeiten vereinigte. Glücklicherweise liegt ganz in der Nähe der Stadt, nur ein paar Minuten östlich von der jetzigen Eisenbahnbrücke entfernt, in der Vorstadt Petershausen, hart am Rheine, ein größeres eingefriedigtes Gut, das neben Räumlichkeiten, welche wenigstens zur Noth dem kleinen Hof der Königin entsprechen konnten, noch hinreichend Platz zu Bewegungen und Spaziergängen und zugleich eine gewisse Abgeschiedenheit von der Welt darbot, wie sie dem Gemüzhszustand der Königin zusagen konnte. Das Gut hieß damals von seinem Besitzer, dem Handelsherrn Jos. Christoph Zumstein, das Zumstein’sche, wie heutzutage das Vincentische Gut.

Diesen Zufluchtsort miethete die Königin, bezog ihn am 4. Januar und richtete sich darin ein, so gut es gehen wollte. Sie bewohnte das dreistöckige Hauptgebäude, dessen Zimmer alle nach Westen gingen. Gegen Osten läuft ein Gang oder eine hölzerne Galerie der Länge des Hauses nach, worauf sich die Zimmer durch einen verschließbaren Vorplatz mittelst zweier Thüren öffneten. Der mittlere Stock wurde von Hortense und dem Prinzen Louis bewohnt, während den dritten die Hofdamen und die höhere Dienerschaft einnahmen. Das nun abgebrochene ehemalige Fabrikgebäude gegen Norden diente zur Beherbergung der niederen Diener und zu ebener Erde war die allgemeine Küche. Dies ward also die Stätte, wo eine gefallene Größe, oder vielmehr zwei, wenn man den Prinzen auch dazu rechnen will, sich auf deutschem Boden niederließen.

Für die Stadt Constanz war das Verweilen einer Exkönigin ein wirkliches Ereigniß, das ihre Bewohner mit einem gewissen Stolz erfüllte. Schon vom materiellen Standpunkte aus war der kleine Hof geeignet, der verarmten Stadt manche bisher unbekannte Vortheile zu bieten; die Leutseligkeit der Königin aber, verbunden mit der größten Freigebigkeit gegen Arme und Hülfsbedürftige, that das Uebrige, um ihr die Herzen zu gewinnen und ihr allgemeine Liebe und Hochachtung zu erwerben. Man erzählte sich manche schöne Züge von dem guten Herzen der Königin und ihres Sohnes, den man allgemein nur den Prinzen nannte. Wenn sie daher mit ihm ausfuhr, so entblößten sich alle Häupter, und die Grüße wurden ebenso herzlich entgegengenommen, wie sie gegeben wurden. War es ein Wunder, daß ich als zwölfjähriger, leicht erregbarer Knabe von dem allgemeinen Enthusiasmus für die vornehmen Verbannten angesteckt wurde und nähere Bekanntschaft, zwar nicht mit der Königin, aber doch mit dem Prinzen anzuknüpfen suchte? War ich doch einer seiner nächsten Nachbarn und konnte von meinem Hause aus ihn im Gute herumspringen sehen! Ueberdies waren wir im Alter nicht gar weit auseinander und mein Wunsch daher nichts gar so Thörichtes.[2]

Der Ausführung desselben standen aber manche Schwierigkeiten entgegen. So viel sah ich schon damals ein, daß ich mich dem Prinzen nicht so geradezu aufdrängen konnte; es bedurfte irgend eines Anlasses, mit ihm Bekanntschaft zu machen. Zum Unglück befand sich aber am Thorpfeiler des Gutes, welches durch ein hölzernes Gitter geschlossen werden konnte, die mir Furcht einjagende Inschrift: „Es wird Jedermann ersucht, der keine Geschäfte in diesem Gute hat, der Eingang zu meiden.“

Der Verfasser dieser Warnung, welcher mit dem Nominativ weit durch die Welt gekommen und den Accusativ gar nicht gekannt, mindestens nie gebraucht zu haben scheint, mein alter Zeichenlehrer Nikolaus Hug, der viel zur Königin kam und derselben manche Zeichnung machte, hat wohl nie daran gedacht, daß er mir durch sein unorthographisches Geschreibsel wie der Engel mit dem flammenden Schwerte vor dem Eingang in’s Paradies erschien.

Mein Sinnen und Denken war lange Zeit darauf gerichtet, irgend ein Mittel aufzufinden, in einer „Geschäftssache“ mit dem Prinzen bekannt zu werden. Ich sah so viele Leute, und darunter recht arme, in’s Gut gehen; aber freilich, die letztern betrachteten das Betteln als ein Geschäft und waren also nach dem Inhalt des Verbots zum Eintritt berechtigt. Vergeblich strengte ich allen mir damals zu Gebot stehenden Scharfsinn auf, das Zauberwort: „Sesam, thue dich auf!“ zu finden, welches mir, wie in Tausend und einer Nacht, das Paradies meiner Wünsche öffnen sollte. Ich zerarbeitete aber umsonst mein armes Gehirn; denn kein Buchstabe des benöthigten Wortes fiel mir ein. Da verfiel ich endlich auf die Association, welche heut zu Tage so große Wunder im gesellschaftlichen Leben bewirkt. Was der Eine nicht weiß, das weiß vielleicht der Andere, dachte ich und handelte rasch darnach. Ich hatte einen Jugendfreund von gleichem Alter. Nikolaus Gau mit Namen, den jetzt auch schon seit manchem Jahre die Erde in ihrem Schooße birgt. Er wohnte in Petershausen, dem Prinzen noch näher als ich, und war von der gleichen Begierde durchdrungen, denselben kennen zu lernen. Gemeinschaftlich machten wir uns nun an’s Werk und spannten unsere vereinten Kräfte zur Erreichung unseres Zieles an. So wenig uns sonst aber zu Jugendstreichen die Erfindungsgabe gebrach, so ließ uns dieselbe doch diesmal im Stich. Wir konnten kein Mittel finden, das mit einem Geschäfte auch nur die entfernteste Aehnlichkeit hatte, weshalb wir uns entschlossen, den gesetzlichen Weg an dem unorthographischen Verbot vorbei zu verlassen und auf Schleichwegen in das gelobte Land unsers heißesten Begehrens zu gelangen.

Es war an einem Sonntagsnachmittag im März des Jahres [105] 1816, als wir zur Ausführung unsers Vorhabens schritten. Der blaue Himmel schaute nach langem Winter freundlich auf die Erde herab, die Sonne verbreitete eine behagliche Wärme und lockte Schneeglöckchen und süßduftende Veilchen aus dem aufgethauten Boden, der an vielen Stellen schon grün zu werden begann. Wir rückten von der Nordseite, wo das Gut nicht eingeschlossen war, in dasselbe ein. Wie vorsichtige Jäger gaben wir uns gar nicht den Anschein, als ob wir nach einem bestimmten Ziele trachteten, sondern sprangen in Kreuz und Quer den Boten des Frühlings, dem großen Fuchs und einigen anderen Schmetterlingen, nach, welche die warmen Strahlen der Märzensonne aus ihren Winterquartieren gelockt hatten.

Allmählich steuerten wir, wie absichtslos, der Stelle zu, wo die Königin mit ihrem Hofstaate sich ebenfalls sonnte. Es war dies der Platz zwischen dem Nebengebäude und dem sogenannten Hänghause. Einige saßen auf einem hölzernen Canapee, Andere schlenderten plaudernd und scherzend auf und ab, und der Prinz trieb sich mit den Kindern des kleinen Hofes lustig auf der Wiese und den Wegen herum. Alles athmete so viel Lust und Freude, als ob die wohlthätige Himmelskugel auch das Eis um die Herzen gelöst und geschmolzen hätte.

Vorsichtig näherten wir uns dem fröhlichen Kreise, immer wie erfahrene Feldherren darauf bedacht, uns den Rückweg offen zu halten, mit auf die Schnelligkeit unserer Füße vertrauend. Schüchtern, wie wir waren, suchten wir die Aufmerksamkeit der Kinder auf uns zu ziehen und uns nach und nach bescheiden in ihre Spiele zu mischen. Unsere Absicht gelang uns wider alles Erwarten ausgezeichnet gut, da Kinder noch keine selbstischen Zwecke verfolgen und nur in der Verallgemeinerung des Vergnügens ihre Freude haben. Es war noch keine Viertelstunde vergangen, so spielten wir Alle zusammen, als ob wir alte Bekannte wären. Wir waren so glücklich, wie man es in der Jugend sein kann, wenn man einen seiner kindlichen Wünsche erreicht hat, nach dessen Erfüllung das Herz sich schon lange gesehnt. Wenn aber der Mensch am glücklichsten ist, so darf er fast sicher sein, daß das Geschick ihm bald einen Streich spielen und ihn aus seinem geträumten Himmel unsanft auf die Erde herabwerfen werde. Auch uns erging es so. Plötzlich stand der Handelsherr Zumstein, ein alter, grämlicher und kränklicher Mann, wie ein vom Himmel gefallener Meteorstein, in unserm Kreise und riß ihn erbarmungslos auseinander. Er wies uns aus seinem Gute fort, und wir waren schon im Begriffe, mit einem schmerzlichen Blicke auf unsere Spielgefährten, wie Adam und Eva das Paraties zu verlassen, als sich die Scene auf einmal zu unserm Besten wendete.

Der Prinz, welcher eingesehen haben mochte, daß eine Vergrößerung der Zahl seiner Spielgefährten ihm manches Vergüngen verschaffen könnte, welches er bisher entbehren mußte, wandte sich an seine Mutter mit der Bitte, daß wir bleiben dürften. Die schöne Frau hatte Mitleiden mit unserer Gemüthsverfassung, welche sie uns aus dem Gesichte lesen konnte, und entschied nach einem prüfenden Blicke auf uns, die wir in unserm Sonntagsstaate keine üble Figur spielen mochten, zu unsern Gunsten.

Von da an waren wir die täglichen Spielcameraden des Prinzen, worauf wir uns nicht wenig zu gut thaten. Er sprach zwar damals nur noch wenige Worte Deutsch; da wir aber schon Unterricht im Französischen genommen hatten, so konnten wir uns gegenseitig verständigen, und wenn uns beiderseitig die Worte gebrachen, so mußten Pantomimen unsere Gedanken verdolmetschen. Mit der Zeit lernte aber der Prinz von uns spielend deutsch, so daß es der Zeichensprache bald nicht mehr bedurfte.

An Platz zu allen möglichen Knabenspielen fehlte es in und außer dem Hause nicht. War es gutes Wetter, so jagten wir uns im ganzen Gut umher; bei Regenwetter rumorten wir in den Zimmern des Prinzen und auf dem Gange herum und verführten oft einen so höllischen Lärmen, daß es mich schon damals oft wunderte, daß man uns so frei gewähren ließ. Nur wenn die Königin unwohl war, wurden wir aus ihrer Nähe verbannt.

Die zwei Zimmer, welche der Prinz bewohnte, lagen im nördlichen Theile des Hauses und waren von denen seiner Mutter nur durch einen schmalen Gang getrennt. Im ersten, in welches man vom Gang und der Stiege aus durch einen verschließbaren Vorplatz gelangte, befand sich an der Decke in Stuccaturarbeit ein großes Wappen, welches oftmals unsere Neugierde erregte. Erst viel später erfuhr ich, daß es das Wappen der Grafen von Königsegg-Aulendorf sei, die noch in der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts den Hof besessen hatten.

Von allen Spielen gefielen dem Prinzen diejenigen am besten, welche mit tüchtigen Leibesübungen verbunden waren und etwas Kriegerisches an sich hatten. Wir folgten daher, wie jetzt noch Millionen, dem äußerst melodischen Klange der Trommel, welche unser hoher Camerad selbst meisterlich bearbeitete, während er zugleich noch nebenher seine Armee als Officier commandirte. Mit vielem Selbstgefühl und militärischem Anstande zogen wir mit Papiermützen, auf denen eine große Hahnenfeder prunkte, und mit Gewehren aus Rebstöcken, die, oben eingespalten, durch ein Hölzchen auseinander gehalten und entladen werden konnten, unserm Führer nach durch Dick und Dünn, wie es ehrlichen Soldaten geziemt. An unsern Spielen pflegte meist der Sohn der Amme des Prinzen, welche von Allen im Hause sehr geachtet und geliebt wurde, der junge Bure, Antheil zu nehmen. Louis nannte ihn seinen Milchbruder und hielt große Stücke auf ihn. Da ich um die Bedeutung des Wortes fragte, das mir ganz fremd war, so lachten Beide mich herzlich aus, erklärten es mir aber dennoch.

Bei diesen unsern kriegerischen Uebungen, die selten ohne kleinere oder größere Beulen abliefen, kam indeß einmal ein anderer Unfall vor, an welchem ich schuldlos die Schuld trug. Ich hatte nämlich das Unglück bei der Erstürmung der hölzernen Wiesenplanke, die unsere Festung vorstellle, als ich als einer der Belagerer mit meiner Waffe eben zu einem Hauptstreiche ausholen wollte, das Töchterchen der Hofdame Cochelet,[3] das sich zum Zuschauen hinter mich gestellt hatte, auf den Mund zu treffen. Das Kind, dessen Lippen arg bluteten, schrie jämmerlich und seine mit der Königin unserm Knabenspiele zuschauende Mutter kam mit den Worten „Marsch“ und „Fort“ – dem fast einzigen Deutsch, das sie verstand – in vollem Zorne auf mich losgesteuert. Weiter brauchte ich aber auch nichts mehr, um aus ihren unzweideutigen Pantomimen zu begreifen, daß es trotz der freundlichen Worte des Prinzen: „macht nix, macht nix!“ das Gerathenste sei, mich für diesmal aus dem Staube zu machen.

Fast acht Tage lang floh ich das Gut, trotz aller Bitten des Prinzen doch wieder zu kommen. Endlich erwischte mich die besänftigte Mutter, welche sich von meiner Unschuld überzeugt haben mochte, und lud mich selbst wieder ein. Das von mir angerichtete Unheil war nicht so groß, wie ich mir vorgestellt hatte, es bestand nur in einer oberflächlichen Abschieferung der Haut an den Lippen, welche durch ein etwas ungewöhnliches Mittel geheilt wurden, ein Mittel, wie es nur die Landleute bei derartigen leichten Wunden anzuwenden pflegen.

Natürlich ging es unter uns zu Zeiten nicht ohne Zank und Streit ab, und die Folge davob war, daß ich meinen vornehmen Cameraden einige Tage nicht besuchte. Gemeiniglich war er dann der erste, welcher die Hand zur Versöhnung bot. Ich durfte sicher sein, daß am zweiten oder längstens am dritten Tage nach meinem Ausbleiben der Verwalter Rousseau, ein braver Mann, welcher mit schwärmerischer Liebe und Ergebenheit an der königlichen Familie hing und das Deutsche noch am besten radebrechte, bei mir erschien und mich im Namen des Prinzen wieder zu kommen bat, was ich dann auch sogleich ausführte. Dabei fehlten nie kleine Geschenke, wodurch mich der Letztere zu ködern suchte.

An regnerischen Tagen trieben wir aber manchmal auch stillere Beschäftigungen. Der Prinz hatte schöne Bilderbücher, die wir gemeinschaftlich durchsahen und öfters theilweise durchlasen. Er war damals über acht Jahre alt und seine Schule hatte schon länger begonnen. Seine Mutter übernahm selbst einen Theil des Unterrichts; sie las ihm in den Abendstunden manches geeignete Buch vor und unterwies ihn im Zeichnen, Tanzen und andern schönen Künsten. Außerdem hatte der Prinz verschiedene Lehrer, die im Hause selbst wohnten. Schon länger leitete ein Abbé, Namens Bertrand, den Unterricht. Die ungemeine Lebhaftigkeit oder Rastlosigkeit des Prinzen machte es dem guten Manne aber sehr schwer, den Schüler zu einiger Ordnung und zum Lernen zu bringen, obgleich dessen Fassungskraft eine schnelle war. Die verständige [106] Mutter sah wohl ein, daß der Abbé nicht allein der Mann war, den feurigen Knaben zu zügeln. Sie übergab ihn daher einem strengern Lehrer, ohne Bertrand deshalb zu entlassen. Dieser neue Lehrer war ein gewisser Herr Lebas, ein Mann von vielem Verdienste und großer Gelehrsamkeit, welcher in späterer Zeit Professor der griechischen Sprache am Pariser Athenäum wurde. Sein Vater[4] war ein eifriger Republikaner aus der Schule Robespierre’s und erschoß sich nach der Hinrichtung des Letztern, weil er es für eine Schande hielt, ihn zu überleben.

Nur selten erschien dieser Herr Lebas, eine Gestalt von nicht gar großem Wuchse, schlank, mit ziemlich stark geröthetem Gesichte, das im Zorne noch röther wurde, und weißen Haaren; wenn er jedoch kam, so galt sein Erscheinen als das sicherste Anzeichen eines Gewitters, das mit Schlägen und Thränengüssen endigte. Wir kannten ihn nur unter dem Namen Abbé. So lange der Prinz Freistunden hatte, kümmerte er sich sehr wenig um dessen Treiben; nahte aber die Stunde des Unterrichts und kam der Prinz nicht sogleich, wenn ihn dessen Kammerdiener Cailloux, ein freundlich-ernster Mann, dazu aufforderie, so zeigte sich das flammend rothe Gesicht des Abbé’s, aus dem zwei feurige Augen unheimlich leuchteten. Die Worte sprudelten ihm alsdann so schnell über die Lippen, daß wir beiden Deutschen nur das öfters wiederholte „Monsieur le Prince“ verstehen konnten. Wollte der „gnädigste Prinz“ sich über sein Ausbleiben entschuldigen, so schwoll dem Zürnenden die Ader auf der Stirn so stark, daß sie zu bersten drohte, und dann fielen die Ohrfeigen fast noch schneller, als vorher die Worte. Heulend suchte Louis den Schlägen zu entrinnen, und wir machten uns unsererseits ebenfalls schnell auf die Beine, weil wir befürchteten, die Reihe möchte nun an uns kommen.

Die Soldaten- und Turnspiele beschäftigten uns aber nicht immer; wir lagen zeitweise auch den Geschäften des Friedens ob, besonders nahmen uns Fischerei und Krebserei, sowie allerhand mechanische Hantirungen öfters in Anspruch. Fast jeder Tag brachte uns denn ein neues unschuldiges Vergnügen und Abwechselung in unsere Spiele. Wir waren zu glücklich, als daß wir nicht die Tücke des neidischen Schicksals hätten gleichsam herausfordern sollen. Nur zu bald sollten wir jedoch an uns selbst erfahren, daß hier unten auf dem verkrusteten Feuerballe, den wir Erde nennen, das Glück nur wie ein Zugvogel vorübergehend erscheint.

Die Königin hatte im Sinne, mit ihrem Bruder Eugen von Beauharnais, Herzog von Leuchtenberg, das markgräfliche Schloß Petershausen sammt den dazu gehörigen Gütern, wozu der sogenannte Lorettowald gehört, zu kaufen. Sie schickte zu diesem Zwecke einen Bevollmächtigten in der Person eines hiesigen Kaufmanus Delisle an den Großherzog Ludwig nach Carlsruhe. Wie man allgemein sagt, hatte letzterer für die Herrschaft einmalhunderttausend Gulden gefordert, wogegen der Beauftragte nur neunzigtausend Gulden geben wollte. Der Großherzog soll kurz abgebrochen und seine Antwort auf den folgenden Tag versprochen haben. An diesem soll auch wirklich eine solche erfolgt sein und gelautet haben: die Herrschaft werde jetzt um keinen Preis mehr verkauft.

Als diese Nachricht in’s Publicum drang, war dasselbe sehr aufgebracht über den Bevollmächtigten, da man den Kaufpreis allgemein für nicht zu hoch hielt.[5] Es wurde dies aber noch in einem um so höhern Grade, als man bald vernahm, daß die Königin im Aerger über ihr vereiteltes Unternehmen von Constanz fortzuziehen beabsichtige. Ein solcher Entschluß war nicht geeignet, die Einwohnerschaft zu beruhigen, besonders in Jahren wie 1816 und 1817 waren, wo Überschwemmungen und hohe Preise aller Lebensmittel das Elend der an sich nicht wohlhabenden Bevölkerung noch bedeutend erhöhten. Man kannte die Wohlthätigkeit der königlichen Familie und versprach sich von derselben Minderung der Noth; auch rechnete man für die Zukunft auf vielen Verdienst bei den nöthigen Bauten im Schloß und erwartete von dem Glanze zweier kleiner Höfe keine geringe Hebung des Wohlstandes.

Zuletzt mußte man sich aber in’s Unvermeidliche fügen. Die Königin hatte Augsburg zu ihrem Aufenthaltsort gewählt, angeblich, weil die Schulen jener Stadt ausgezeichnet gewesen sein sollen. Am 6. Mai 1817 reiste sie ab. Die Trennung vom Prinzen war der zweite größte Schmerz meines Lebens; der erste war der frühe Tod meines guten Vaters gewesen. Ich hatte mit dem größten Theile des Hofstaates auf sehr freundlichem Fuße gestanden, weil man wußte, daß der Prinz mich recht gern hatte. So waren mir der Kammerdiener der Königin, Charles Tallé, welcher später in gleicher Eigenschaft zum Prinzen kam und demselben zur Flucht aus Ham vorzugsweise mit verhalf, sowie der Kutscher Florentin, welcher erst vor wenigen Jahren auf dem Schloß Arenenberg starb, sehr zugethan. Mit der Königin selbst kam ich, meines Wissens, nie in unmittelbare Berührung; denn was sollte sie auch mit einem zwölfjährigen Knaben sprechen? Ueberdies war ich damals viel zu schüchtern, als daß ich mich mit ihr zu reden getraut hätte, wenn sie selbst dies hätte thun wollen. Mit einer ehrfurchtsvollen Scheu betrachtete ich sie in ihrer vornehmen Schönheit und Anmuth nur von Weitem und war schon glücklich genug, wenn sie mir einmal zulächelte.

Ich könnte nun hiermit meine Jugenderinnerungen schließen, da mit der Abreise des Prinzen dieselben ihr Ende erreicht hatten. Zur Abrundung des Ganzen will ich aber noch kurz erzählen, was mir selbst oder Andern begegnet ist und was ich meist selbst mit angesehen habe.

Der Prinz war nur wenige Monate in Augsburg, als ich Gelegenheit hatte, ihm durch einen bekannten Mann einen von mir in französischer Sprache geschriebenen Brief zuzuschicken. Ich schilderte ihm darin in einfacher und offener Sprache meine Sehnsucht nach ihm. Er schrieb mir zwar nicht selbst, wenigstens erhielt ich keinen Brief von ihm, schickte mir aber viele freundliche Grüße und zugleich ein hübsches Geschenk. Dasselbe besteht in einem äußerst zierlich gearbeiteten kleinen goldenen Helm mit einem geflügelten Drachen oben und einem verschließbaren Visir. Mittels eines Ringelchens konnte er als Berloque an die Uhrkette gehängt werden. Glücklicherweise bin ich noch im Besitze dieses werthvollen Andenkens.

Unterdessen hatte die Königin das Schloß Arenenberg im Thurgau, zwei kleine Stunden westlich von Constanz erkauft und dasselbe herrichten lassen. Ich möchte nicht sagen, verschönern, denn das Schloß mit seinen Zinnen und seiner von vier Rundthürmen überragten Umfassungsmauer, ein Stück Mittelalter, hatte mir viel besser gefallen, als der charakterlose Neubau. Als er fertig war, bezog ihn die Königin mit dem Prinzen und ihrem Hofstaat. Ich bekam aber den Ersteren viele Jahre nicht mehr zu sehen, und als ich ihn wieder erblickte, erkannte ich ihn fast nicht mehr, so sehr hatte er sich verändert. Aus dem zarten Knaben mit dem schönen und milden Gesichtchen war ein Mann geworden, der auf nichts weniger als auf Schönheit Anspruch machen konnte. Es kam mir vor, als sei die Veränderung seiner äußern Person, wie an seinem Schloß, keine Verbesserung zu nennen.

Universitätsstudien, Reisen und Berufsgeschäfte einfernten uns räumlich und zeitlich von einander. Der Prinz hatte sich in den Jahren 1830 und 1831 in die italienische Verschwörung verwickelt, der sein Bruder zum Opfer fiel, während er selbst diesem Loose nur schwer entrann. Von dort an träumte er wohl seinen Kaisertraum und suchte mit allen Mitteln den Thron Frankreichs zu erlangen, welchen ihm der Onkel zugesagt hatte und auf den er ein vollkommenes Recht zu haben glaubte. Es ist daher begreiflich, daß er bei solchen Bestrebungen keinen Sinn mehr hatte für die glücklichen Tage seiner Kindheit, die mit all ihren Freuden schon allzuweit hinter ihm lagen. Ich muß jedoch zur Steuer der Wahrheit sagen, daß er mich als seinen Spielcameraden immer sehr freundlich und zuvorkommend behandelte, so oft wir uns trafen, was jedoch nicht häufig geschah.

Als im Jahre 1834, vorzugsweise durch meine Bemühungen, ein Bürgermuseum in Constanz erstand, wurde er auf meinen Vorschlag zum Ehrenmitglied der Gesellschaft ernannt, wofür er sich in einem Schreiben an dasselbe, sowie an mich, bedankte. Mehreren Bällen des Museums wohnte er bei und ich mußte immer an seinem Tische Platz nehmen. Seine Wohlthätigkeit war die alte, was Stadt und Land bezeugen könnte. Oft machte er sich das Vergnügen, ganzen Schaaren von Buben, die seiner schon lange auf der Stiege des Theaters warteten, den Eintrittspreis auf das sogenannte Chörle zu bezahlen. Da er meistens erst nach Beginn [107] des Stückes kam, so verkündete ein gewaltiges Jubeln und Trampeln der wilden Horde schon zum Voraus seine Ankunft.

Die spätern Schicksale des Prinzen sind aller Welt bekannt; weniger bekannt dürfte aber sein, daß dem braven Hausmeister Rousseau, einem Franzosen aus der Napoleon’schen Zeit vom Scheitel bis zur Zehe, einige Tage nach dem Empfange der Nachricht, daß der Prinz bei seiner versuchten Landung in Boulogne gefangen worden sei, das treue Herz brach.




Wild-, Wald- und Waidmannsbilder.
Von Guido Hammer.
Nr. 20.     Auf der Pürschfahrt.

Vergangenen Herbst folgte ich einer Einladung zur Jagd nach der wald- und wildreichen Herrschaft X. in Schlesien, um namentlich am Abschießen von Damwild, dessen Bestand sich dort weit über den innezuhaltenden Etat vermehrt hatte, Theil zu nehmen. Da der betreffende Jagdherr, außer bei einigen alljährlich veranstalteten Convenienzjagden für seine dazu geladenen hohen Gäste, ein Treiben auf Roth- oder Damwild nicht stattfinden läßt, so konnte ich um so mehr nach Herzenslust beim Pürschfahren, dieser reizendsten aller Jagdarten, das mir bewilligte Wild erlegen. Manchen Tag war ich in dieser Weise schon das an hunderttausend Morgen weite, ausschließlich mit Wald bedeckte Jagdgebiet durchstreift, und schon manchen Schaufler hatte dabei das tödtliche Blei meiner Büchse niedergestreckt, so daß oft am Abend drei bis vier Hirsche genannter Gattung, hinten auf dem Pürschwagen aufgebunden, als gute Jagdbeute heimgebracht wurden. Diese paradirten dann im Schloßhofe an dem sogenannten Wildgalgen so lange neben allerhand sonst noch eingeliefertem Haar- und Federwild der hohen, mitteln und niedern Jagd, bis der Wildhändler einer nicht zu fern gelegenen Stadt den ganzen Transport, das für die herrschaftliche Küche bestimmte Deputat abgerechnet, übernahm. Vorher aber wurden den zu zerwirkenden Roth- und Damhirschen sowohl, als den Rehböcken die Geweihe ausgeschlagen, die dann entweder von den betreffenden Schützen als waidmännische Siegeszeichen mit nach Hause genommen oder als solche, je mit dem Namen des Erlegers versehen, in den die schönsten Punkte der Forsten zierenden Waldhäusern aufgehangen wurden. Diese Waldvillen aber, aufgeführt in einem ihrer Umgebung angepaßten Style, dienten als Zusammenkunftsorte bei großen Jagden oder zu Sammelplätzen nach denselben, wo alsdann dinirt wurde. Die Geweihe von Edelhirschen hingegen, welche der Jagdherr selbst geschossen hatte, fanden ihren Platz im sogenannten Hirschsaale des vielgethürmten Schlosses, einem Baue ursprünglich aus dem zwölften Jahrhundert, so daß darin schon nahe an fünfzehnhundert dergleichen Trophäen von der eigenen Hand des Gebieters erlegter Beute hängen.

Kehren wir aber lieber wieder zurück in den frischen, grünen Wald!

In diesen fuhr ich denn wieder eines Morgens hinaus, und zwar in Begleitung des Jagdherrn. Es war so recht ein Tag der stillen verschleierten Spätherbstzeit, die mit ihrem wehmuthsvoll lächelnden Scheideblick mir stets das Herz mit ganz eigenthümlicher Wonne erfüllt. Bei einer Pürschfahrt darf man indeß solchen Gesichten nicht allzusehr nachhangen, will man nicht Manches verpassen. Darum ließ ich denn das Auge frisch und frei umher schweifen und tief in Wald und Dickicht eindringen, nur um Wild zu erspähen. Und nicht vergeblich geschah dies; denn als der Mittag herangekommen und auf des gastlichen Herrn Befehl ein mitgenommener Imbiß, Brod und kaltes Wildpret, durch einen Schluck feurigen Portwein gewürzt, eingenommen wurde, da barg der Pürschwagen bereits drei Damhirsche und ein altes geltes Thier, welches nebst zweien der Vorgenannten mein Beuteantheil war. Nicht gar lange wurde der frugalen Waidmannstafel im schwellenden Moose unter den alten Fichten, die mit ihren dunkeln tiefhängenden Zweigen das trauliche Dach bildeten, zugesprochen, denn die Tage waren kurz und wir tief drinnen im Forste, so daß, da die Jagd noch fortgesetzt werden sollte, nicht lange gesäumt werden durfte. So ging es denn weiter auf stillen Wegen durch den duftigen Wald, und bald gelang es dem mitfahrenden Wildmeister seinen Gebieter an einen ganzen Trupp Damwild, der durch ein dichtes Stangenholz gezogen kam, auf Schußweite heranfahren zu lassen. Ein starker, weißer Schaufler, dem schon halb und halb die Brunst im Kopfe stecken mochte, zog dem gemischten Truppe nach. Plötzlich kam nun das Kopfthier, jedenfalls durch den Pürschwagen rege gemacht, in’s Trollen und mit ihm die ganze Sippschaft, so daß auf das flüchtige Wild durch die allzu engen Lücken des Holzes mit Sicherheit nicht zu schießen war. Aber sie nahmen ihren Wechsel einem alten Wege zu, vor dem sie, wie das in der Regel geschieht, erst einen Moment Halt machten, ehe er von ihnen überschritten wurde. Hierbei kam der weiße Hirsch in eine etwas breitere Lücke zu stehen, so daß vom Pürschwagen aus ein Schuß auf ihn wohl als angebracht erschien. Aber schon setzte sich das Wildpret wieder, und zwar flüchtig, in Bewegung; nur der Hirsch äugte noch stehend einen Augenblick nach uns herüber. In diesem Moment traf ihn aber auch schon die Kugel aus dem sichern Rohre des Gebieters, und mit einer mächtigen Lançade flog der Getroffene nun über den Pfad, drüben im Dickicht verschwindend. Dennoch hatten wir Alle deutlich gesehen – auf dem weißen Haare des Hirsches leicht erkennbar – wie die Kugel dicht hinter dem Blatte gesessen, und wußten daher mit Bestimmtheit, daß er tödtlich verwundet war. Deshalb beschloß der Jagdherr, den mitgenommenen Hunden eine Jagd zu bieten.

Sofort wurde nun das Dächsel, ein niedliches, erprobtes Thierchen, auf die frische Fährte gesetzt, um den Angeschossenen zu stellen. Mit zitternder Gier schoß die kleine Krabbe, laut wie ein Glöckchen, dahin, bis sie ziemlich weit drinnen im Walde standlaut wurde. Der Hirsch hatte sich also vor dem giftigen „Gretel“ gestellt. Jetzt wurde mit einer noch jungen Schweißhündin von der eigenthümlichen langhaarigen Coburger Race zu ihrer Uebung am Leitseil auf der Fährte fortgearbeitet. In dieser Weise ging’s vom Anschuß aus zuerst durch die schon erwähnte Dickung, dann durch einen Jahrhunderte alten Fichtenbestand, wo das suchende Auge noch dann und wann ein Tröpfchen Schweiß im Moos, an Halmen oder den Nadeln der Streu fand und man daher ohne Täuschung so recht beobachten konnte, wie der Hund die Fährte hielt. Aber auch über ein weites Gehau, das mit seiner rothbraunen Haide, goldigen Schmälen und silbergrauen Stöcken, von der durchgebrochenen Sonne grell beleuchtet, vor uns lag, führte der Hund, ohne den frischen Schweiß, der hier gänzlich aufhörte, zum Leiter zu haben, sicher fort. Drüben am andern Rande der weiten Blöße empfing uns wieder der geschlossene Wald. Hoch empor strebten hier die alten bemoosten Tannen, in deren dunkeln Wipfeln die frische Herbstluft spielte, daß es von oben leise rauschend erklang, während unter ihnen friedliche Stille herrschte, nur durch das Bellen des Dachses, der noch immer den Hirsch stellte, zeitweilig unterbrochen. Bald leuchtete uns auch die weiße Haut des sich Vertheidigenden durch den Unterwuchs des Holzes entgegen. Schnell ward nun auch Diana, so hieß die Schweißhündin, vom Riemen gelöst, um sie am Stellen theilnehmen zu lassen. Gleich darauf unterschied man denn auch an ihrer Stimme, daß sie an den Angeschossenen herangekommen. Rasch eilten wir jetzt nach dem Kampfplatz, um hier den Hirsch vor den Hunden todtzuschießen, mußten aber, um dies bewerkstelligen und die ganze Scene übersehen zu können, durch den die Streitenden deckenden Unterwuchs dazu gezwungen, fast ganz hinanpürschen. So geschah es, daß wir bis auf ungefähr zehn bis fünfzehn Schritte unbemerkt herangeschlichen waren, als der Angegriffene plötzlich die zu hitzig auf ihn eindringende Coburgerin unter das Geweih bekam und mit diesem an die Erde bohrte, so daß man nicht anders konnte, als den Hund für immer verloren zu geben.

So sanften Blickes das Damwild, besonders das weiße, im gewöhnlichen Leben darein schaut, so zornwüthig ist der Ausdruck eines Schauflers, wenn er im Kampfe, sei es nun zur Brunstzeit mit seines Gleichen oder, wie hier, gegen Hunde, begriffen ist.

Es gewährte daher diese Scene einen wahrhaft drastischen Anblick. Denn während der zum Sterben Getroffene mit bitterster

[108]

Der verwundete Damhirsch.

Zornes- und Schmerzensgebehrde todesmuthig seine letzten Kräfte im Kampfe mit seinen Peinigern daransetzte und den einen davon eben siegreich bewältigte, daß sich dessen heulende Stimme mit dem Wuthgeschnaufe des Hirsches mischte, entquollen durch die heftigen Bewegungen der Todeswunde von Neuem die purpurnen Perlen und sickerten am weißen Haar des zitternden Leibes hernieder. Ja, die ganze eine Seite des mannhaft Streitenden war dunkel geröthet vom Schweiß, der sich beim Durchbrechen der Dickichte darüber ergossen hatte. Mehr und mehr schwanden sichtlich die Kräfte des mit dem Tode Ringenden, so daß dadurch der Hund wieder frei ward, der, wie durch ein Wunder beschützt, ohne erhebliche Verletzung davongekommen. Nichtsdestoweniger nahm der Hirsch mit dem letzten Reste seiner Energie nun mich, der ich hinangegangen, um ihn abzufangen, auf’s Korn; ich konnte mich deshalb nur durch einen raschen Sprung hinter einen mächtigen Stamm vor dem blind auf mich losgehenden schützen, da ich in diesem Moment nur mit dem Waidmesser bewaffnet war. Im selben Augenblick aber bekam er auch die zweite Kugel aus des Jagdherrn Büchse, die den Hirsch im Feuer, mir fast zu Füßen, zusammenbrechen ließ.

Ausgekämpft, ausgelitten hatte jetzt der Freigeborne. Stumm lag er in’s weiche Moos gebettet, während die Hunde, besonders das kleine giftige Dächsel, mit rasender Gier ihren Grimm am Verendeten kühlten, bis sie, an die Riemen gefesselt, nach dem Pürschwagen folgen mußten. Ich aber konnte mich nicht sogleich vom Anblick des heroisch Gefallenen trennen, der in seiner rothbefleckten Decke und mit dem gekrönten Haupte, hingesunken auf den sammetgrünen Teppich des schweigsamen Waldes, über sich das dunkele Gezweig der Tannen, ein gar ernst-schönes Bild bot.



[109]
Erkauft und Erkämpft.
Von Johannes Scherr.
(Schluß.)


Patriotisch zu fühlen gehört bekanntlich in der Regel nicht zu den Erfordernissen einer vornehmen Anschauung und Führung des Lebens. Man überläßt das der „Roture“ und der „Canaille“. Die vornehme Gesellschaft Europas hat einen kosmopolitischen Schliff und steht behufs der Aufrechterhaltung ihrer Privilegien in einem stillschweigenden Cartelverhältniß. Brunhild hatte daher kaum jemals über den Sinn des Wortes Vaterland nachgedacht und erst in neuester Zeit, erst seit ihrem Aufenthalt in Sigfrid’s Haus, hatte sich ihr das Vaterlandsbewußtsein mehr und mehr aufgedrungen. Wie das gekommen, sie wußte es selbst nicht zu sagen. Sigsrid stimmte doch keineswegs in den deutschen Modeton unserer Tage ein, des nationalen Nichts durchbohrendes Gefühl mit dem Phrasenbalsam selbstgefälligster Selbsttäuschung zu überstreichen und zu schwichtigen. Im Gegentheil, er geißelte, was er das deutsche Maulheldenthum und die liberalisirende Impotenz nannte, bei jeder Gelegenheit und erst heute noch hatte er, als zwischen ihm und Schwarzdorn von der schleswig-holsteinschen Sache die Rede war, die bittere Spottäußerung gethan: „Da werden wir uns mal wieder hübsch blamiren! Weil die Nation, und zwar ganz durch ihre eigene Schuld, als solche Nichts ist und Nichts kann, so mußte jeder Deutsche mit sehenden Augen und gesundem Menschenverstand von Anfang an wünschen und, was an ihm lag, auch wirken, daß die einzige vernunftgemäße und praktische Lösung der Frage, d. h. die Einverleibung der Herzogthümer in Preußen, möglichst rasch zu einer vollendeten Thatsache würde. Statt dessen schwatzen die ewigen Schwätzer zu Gunsten irgend eines beliebigen Thronprätendenten und begeistern sich dafür, an das bunte Kleinstaaterei-Narrenkleid der armen Germania einen neuen Lappen zu plätzen. Ach, unsere Landsleute sind wie die Priester des altägyptischen Thierdienstes. Sie können der heiligen Geschöpfe nicht genug haben und kommen vor Freude und Jubel ganz außer sich, so in Dolzig oder sonstwo ein neues aufgefunden wird.“ Und doch hatte der feine weibliche Instinct Brunhild’s unschwer erkennen lassen, daß Sigfrid unendlich viel mehr Vaterlandsgefühl verbarg, als Hunderte liberaler Slichworthelden und patriotischer Gemeinplätzetreter mitsammen aufzuzeigen sich beflissen. Einzelne gelegentlich hingeworfene Aeußerungen des scheinbar gehaßten und heimlich mehr und mehr heißgeliebten Mannes waren, eben weil sie von ihm kamen, für Brunhild zu fruchtbaren Anregungen geworden, über Wesen und Charakter, über die wahren Vorzüge und die wahren Mängel der Nation nachzudenken, welcher sie entstammte. Allein so recht als eine Deutsche sich empfunden hatte sie doch noch nie bis zu dieser Stunde, wo vor ihren Ohren ihr Vaterland so gröblich beschimpft wurde.

Sie fühlte, daß ihr das Blut zornheiß in die Wangen und Schläfen strömte. Ihre Hände ballten sich krampfhaft, und mit dem Fuße aufstampfend murmelte sie vor sich hin: „O, wär’ ich ein Mann!“

In demselben Augenblicke zuckte sie empor und ihr Auge schoß einen Blitz, halb peinlichster Spannung, halb Frohlocken, durch die Blätterwand in den Garten.

In den scharfabgeschnittenen Kreis der Lichthelle, welche von dem Tische der Engländer ausging, war die Gestalt Sigfrid’s getreten, während hinter derselben die des Pastors nur in dämmernden Umrissen erschien.

Brunhild sah, daß ihr Mann – denn in diesem Moment nannte ihn ihr stolzes Herz in völliger Selbstvergessenheit also – hinter den Colonel trat und demselben die Rechte auf die Schulter legte. Sein Gesicht war bleich, seine Nasenflügel dehnten sich, unter den dicht zusammengezogenen Brauen blickten die Augen groß, klar und stolz. Der Colonel, mitten in einem Satze unterbrochen, wandte sich um, seine Gesellschafter schauten auf.

„Sir,“ sagte Sigfrid langsam in englischer Sprache, „ich habe die Ehre, ein Deutscher zu sein.“

Mehr verstand die Lauscherin nicht, aber das Metall dieser Worte wurde zu einer stürmisch läutenden Freudenglocke in ihrem Herzen. „Er ist ein Mann, mein Sigfrid, ein Held!“ jauchzte es auf in ihr. Sie stürzte in ihr Zimmer, um die Treppen hinab und ihm an den Hals zu fliegen. Aber da schlug es wie ein lähmender Blitz vor ihr nieder: „Er wird kämpfen! Er kann fallen!“ und halb ohnmächtig warf sie sich auf das Sopha.

Dann kroch aus einer Seelenfalte des unglücklichen Weibes der Gedanke: „Aber dürfte, würde er sein Leben an einen elenden Prahlhans wagen, so er mich liebte, auch nur so viel liebte, wie ich seinen alten Caro liebe?“

Nach einer geraumen Weile, während welcher sie vergeblich nach Fassung rang, hörte sie in dem über dem ihrigen gelegenen Zimmer Sigfrid’s die beiden Freunde mitsammen auf und nieder geben. Dann wurden droben Stühle gerückt, es trat Stille ein, es war schon tief in der Nacht.

„Er kommt nicht,“ sagte sie bebend, „er will mich nicht mehr sehen, mir nicht ein armes Abschiedswort sagen!“

Sie sprang auf, öffnete leise die Thür und schlich aus dem dunkeln Corridor bis zum Fuße der nach oben führenden Treppe, ohne sich klar zu sein, was sie denn eigentlich wollte. Da ging droben eine Thür auf, ein Lichtschein blitzte über die Treppenstufen und sie vernahm Sigfrid’s Stimme, welcher zu dem Freunde sagte: „Verschlaf’ Dich nicht, Alter, und sei pünktlich, damit wir mit Sonnenaufgang auf dem Platze sind.“

Von einer tödtlichen Angst angefaßt, floh sie in ihr Zimmer zurück. „Mit Sonnenaufgang … auf dem Platze.“ Also war das Furchtbare wahr? Ihr Herz hämmerte hörbar laut in der Brust. Und er kam nicht zu ihr! Aber hatte sie es denn um ihn verdient, daß er zu ihr käme? Nein! Wohl aber geziemte es ihr, zu ihm zu eilen, sich zu seinen Füßen zu werfen, seine Kniee zu umklammern und ihn anzuflehen: „Verzeih’ mir, oder kannst Du mir nicht verzeihen, so laß mich wenigstens mit Dir sterben!“

Sie fühlte das und schon hatte sie die Hand an der Thürklinke, als sich der alte Stolz und Hochmuth zum letzten Male triumphirend in ihr aufbäumte. „Wie, wenn der stolze Mann die Flehende verachtungsvoll von sich stieße? Wenn er die Gelegenheit willkommen hieße, an der bis zum Aeußersten sich Demüthigenden den tödtlichen Schimpf zu rächen, welchen sie in jener unseligen Hochzeitsnacht ihm angethan?“

Der Gedanke, so sinnlos er sein mochte und wirklich war, verwandelte ihr kochendes Blut in Eis. Sie ging nicht in das Zimmer Sigfrid’s hinauf, aber sie verwachte den Rest der Nacht in verzweiflungsvollem Brüten.




7. Erkämpft.

Ein leises Geräusch in dem Zimmer über ihr störte sie auf. „Er rüstet sich zu dem verhängnißvollen Gange,“ sagte sie sich. „Ob er auch jetzt nicht versucht, mir ein Abschiedswort zu sagen?“

Er schien es nicht versuchen zu wollen. Brunhild öffnete vorsichtig die Thür ihres Zimmers und lauschte hinaus. Das fahle Zwielicht des ersten Morgengrauens lag auf dem Corridor. Sie hörte nach einer kleinen Weile die beiden Freunde geräuschlos die Treppe herabkommen.

Am Fuße derselben standen sie still und Brunhild, deren Seele in ihren Ohren war, vernahm die flüsternde Stimme Schwarzdorn’s: „Und Du willst also Deiner Frau kein Wort sagen?“

„Nein,“ entgegnete Sigfrid. „Es wäre schade, ihren Morgenschlummer zu stören. Ist die Schnurre vorbei, so oder so, magst Du ihr in Deiner Weise gelegentlich erzählen, daß Alter nicht vor Thorheit schütze, d. h. daß ein alter Burschenschafter nicht habe ruhig mit anhören können, wie so ungalant man mit der armen alten Mutter Germania umsprang.“

„Aber –“

„Wir haben wahrhaftig keine Zeit mehr zum Plaudern, komm! Im Uebrigen ist ja Alles –“ Seine Stimme verklang im Fortgehen.

Brunhild zog den Kopf zurück und schloß die Thür. „Er wollte mich nicht sehen,“ sagte sie in bitterem Groll und Trotz. „So mag er denn gehen.“

Sie versuchte, mit aller Gewalt in diese trotzige Stimmung mehr und mehr sich hineinzuarbeiten. Aber es ging nicht. Sigfrid’s Worte: „Es wäre schade, ihren Morgenschlummer zu stören,“ [110] hatten sie etwa kalt oder gar spöttisch geklungen? O nein! Aber er hatte sie nicht sehen und sprechen wollen. Sie konnte ihm doch nicht nachlaufen, und darum, meinte sie, wäre es das Klügste, sie kleidete sich aus und legte sich zu Bette.

Aber es ging nicht. Eine furchtbare Beklemmung bemächtigte sich ihrer und drohte sie zu ersticken. Sie riß das nächste Fenster auf, und von der großen Nußbaumallee her, auf welche dasselbe hinausging, schlug ihr die kühle Morgenluft entgegen. Sie beugte sich tief aufathmend hinaus, und da erhaschte ihr Auge zwei Männergestalten, welche von der Allee rechtsab auf den Fußweg bogen, der über die große Matte nach der entgegengesetzten Seite des Thalbodens führte. In demselben Augenblicke rasselte ein Wagen von der Freitreppe des Hotels weg und fuhr eilends die Allee hinab.

Da quoll ein Gedanke heiß in ihrer Seele auf und erfüllte widerstandslos ihr ganzes Fühlen und Sein. Nur im Umsehen raffte sie Hut und Shawl auf und enteilte dem Zimmer, sprang die Treppe hinab, glitt an dem aus verschlafenen Augen verwundert sie anblickenden Portier, welcher im Begriffe war, die Hausthür wieder zu schließen, vorüber durch den Porticus, den Perron hinab, in die Allee hinaus und lief dieselbe entlang bis zu der Stelle, wo der erwähnte Fußpfad sich abzweigt.

Diesen schlug sie ein und verfolgte ihn geflügelten Ganges. Da, wo an der andern Seite des Thales der Bergwald anzusteigen beginnt, mündet der Fußweg in eine schmale Fahrstraße, welche zwischen der Gebirgswand und dem Ufer des Stromes knapp sich hinwindet. Hier erschaute sie durch den leichten Morgennebel hindurch nur etliche hundert Schritte vor sich die rasch ausschreitenden Gestalten Sigfrid’s und seines Freundes, und, kaum von ihr erblickt, schlugen die Beiden einen linkswärts in den Wald hinaufführenden Seitenweg ein. Als sie an diesen herangekommen, bemerke sie, daß wenige Schritte darüber hinaus ein Zweispänner auf der Straße hielt. Er war leer. „Sind die Herren in den Wald hinauf?“ fragte sie den Droschkenführer.

„Meine Engelländer? Ja, sie heiget geng da Wäg g’no,“ gab der Mann gleichmüthig zur Antwort, mit dem Ende seines Peitschenstiels auf den Waldweg deutend.

Ohne weiter ein Wort zu verlieren, schlug Brunhild denselben ein. Er führte anfänglich gemächlich, dann steil und steiler bergan und endlich auf eine dicht mit Tannen bestandene Ebene. Hier aber theilte er sich und zwar dreizinkig. Brunhild stand in peinvoller Ungewißheit eine Secunde lang still. Rings um sie waltete lautloses Schweigen, da die Zeit der Sonnenwende längst vorüber und der Vogelsang demnach verstummt war. Plötzlich fiel ein helles Leuchten in die graue Waldesdämmerung, und als Brunhild aufschaute, sah sie die Tannenwipfel röthlich angeglommen. Das Tagesgestirn mußte also über die Gebirgsspitzen im Osten herauf sein.

Es trieb sie mächtig vorwärts, aber wohin? Sie that nacheinander auf jeden, der vor ihr liegenden drei Pfade etliche Schritte vorwärts und ebenso rasch wieder zurück. Endlich warf sie sich hastig auf den mittleren, geradeaus führenden und eilte vorwärts mit der Elasticität eines um Tod und Leben rennenden Rehes, nicht ahnend, daß nach einer kurzen Strecke der Weg in vielfachen Wendungen wiederum jäh bergan führte. Dann sprang er mit scharfer Biegung plötzlich nach rechts um, führte in dichtes Unterholz und Gestrüppe und ging hier ganz aus.

Verzweifelnd hielt die Eilende inne. Ihr Busen flog, Tropfen kalten Schweißes rollten von ihren Schläfen herab und ihre Augen starrten in die sie umgebende Waldwildniß, als ob sie vor Bangen aus ihren Hohlen springen wollten. In diesem Augenblicke kam das geahnte, das gewußte Gefürchtete. Zwei Schüsse fielen dort rechts hin so rasch hintereinander, daß es wie nur ein Knall durch den Wald hallte.

Der Athem stockte in Brunhild’s Brust. Dann brach ein Schrei aus ihrem Munde, grell und gell wie die Verzweiflung, und im nächsten Augenblicke flog sie unaufhaltsam durch das Gebüsche dahin, woher der Schall gekommen.

Die gesuchte Stelle war nahe beian. Brunhild fand sich unversehens am Saume einer Lichtung, von welchem der Boden rasch gegen ein schmales Thälchen abfiel, welches hier in den Wald eingeschnitten war. Auf dem grünen Wiesengrund konnte sie, etwa fünfzehn Schritte von einander entfernt, zwei Gruppen wahrnehmen, jede aus drei Figuren bestehend. Und je eine derselben lag und je zwei standen. Sie konnte in dem einen Daliegenden den englischen Colonel erkennen, der jetzt ein sehr stiller Mann, und … doch nein, sie erkannte, sie sah nicht ihn, sah Nichts und Niemand außer dem Einen – Sigfrid.

Und „Sigfrid! Sigfrid!“ schrie sie auf, in wahnsinnigen Sätzen den Abhang hinunterfliegend, und im nächsten Augenblicke lag sie ihm zur Seite auf den Knieen und schlug die Arme um den sterbenden Mann. Denn ein Sterbender war er. Die Gegner hatten, wie bestimmt worden, auf kurze Distanz a tempo gefeuert und in demselben Moment, wo Sigfrid’s tödtliche Kugel dem Colonel in die rechte Schläfe geschlagen, war ihm das Blei desselben seitlings in die Brust gefahren.

Aschfarben im Gesicht, faßte Schwarzdorn den Arm des Arztes, welchen die Engländer mitgebracht hatten, und gepreßten Athems, fast pfeifend, stieß er die Frage hervor: „Keine Rettung, Doctor?“

Der Arzt schüttelte den Kopf und flüsterte zurück: „Keine. Er hat nur noch Secunden zu leben.“

„Sigfrid, mein Sigfrid!“ flehte in Tönen bebender Zärtlichkeit Brunhild. „Ich bin da, Brunhild, Dein Weib, Deine Sclavin, die den Staub von Deinen Füßen küssen, die für Dich leben, die für Dich tausend Tode sterben will!“

Der tödtlich Getroffene, den man mit dem Rücken an eines der bemoosten, über die Matte hingestreuten Felsstücke gelehnt hatte, erhob das Haupt und öffnete die schon von den Schatten des Todes umflorten Augen. Ein heller Freudenblick leuchtete in denselben auf. Er machte einen Versuch, die Arme zu heben, als wolle er sie um das im Jammer vergehende Weib legen, und das schreckliche Röcheln seiner Brust bewältigend, sagte er mit einem herzzerreißenden Lächeln: „So bin ich also doch glücklich noch durch Waberlohe gedrungen und habe Dich erkämpft, Du schöne, stolze, hochgeliebte Walküre – erkämpft!“

Sein edles Haupt sank herab und ein Zittern überlief sein geisterbleiches Antlitz. Sie umklammerte ihn, sie preßte ihre Lippen auf seinen Mund, als wollte sie den entfliehenden Odem zurückhalten. So starb er unter ihrem, ach, zu spät gegebenen Brautkuß …

Als der in tiefster Seele erschütterte Freund eine Stunde später auf die Unglücksstätte zurückkam, Tragbahre und Träger mit sich bringend, fand er Brunhild regungslos am Boden sitzend, Sigfrid’s Haupt, das sie mit am Waldsaum gepflückten Eichenzweigen umwunden hatte, in ihrem Schooße haltend. Ihr Antlitz war fahler, als das des Todten, auf dessen friedvollen Zügen ihre brennenden Augen hafteten, die keine Thränen gefunden hatten. Sie schrak zusammen, wie aus einem Traume geschreckt, als die Männer herantraten. Dann aber fiel sie sofort wieder in ihre steinerne Regungslosigkeit zurück.

Dem armen Schwarzdorn schien das Bekränzen des Todten einen peinlichen Eindruck zu machen, es mochte ihm profanirend, affectirt, theatralisch vorkommen und daher sagte er fast rauh: „Madame, es ist Zeit …“

Sie ließ ihn nicht aussprechen, obgleich sie sich nicht an ihn wandte. Ohne aufzublicken, murmelte sie, die Hände Sigfrid’s in den ihrigen pressend: „Ich habe die Ehre, ein Deutscher zu sein … O, er hatte Ehre, Ehre, Ehre bis zum letzten Hauch, er, mein Held!“

Und halb singend brach sie in die eddaische Strophe aus:

„So war Sigurd
Bei Ginki’s Söhnen,
Wie hoch über Halme
Die Tanne sich hebt,
Wie der Hirsch über Hasen
Hochbeinig ragt
Und gluthrohes Gold
Ueber graues Silber …“

„Die unselige Tragödie schließt mit einem würdigen Finale,“ rief Schwarzdorn aus. „Sie ist wahnsinnig geworden!“

Er irrte. Sie war es nicht geworden und wurde es nicht. Noch am Abend desselben Tages hatte sie die gewohnte ruhigstolze Fassung und Haltung wieder erlangt und fest und klar ordnete sie, was zur Heimführung des todten Gemahls nach seinem Schloß am unteren See zu ordnen war.

Aber gerade in ihrer Gefaßtheit hatte die Schloßherrin mit den thränenlosen, brennenden Augen und den marmorblassen und marmorstarren Zügen etwas Furchtbares, Etwas, das Schwarzdorn [111] gefrorene Verzweiflung nannte. Der Freund hielt es in ihrer Nähe nicht länger aus. Am Tage nach Sigfrid’s Bestattung ließ er sich bei Brunhild melden und sagte ihr: „Gnädige Frau, ich bin kraft des Testaments meines hingegangenen Freundes zum Vollstrecker desselben ernannt.“

Sie saß still und stumm und wandte nicht das Haupt.

„Madame,“ fuhr er fort, „ich bedauere, Sie mit dieser Sache behelligen zu müssen; aber ich kann und will meine Abreise nicht länger verschieben und wünsche daher, wenigstens das Wichtigste dessen, was mir aufgetragen ist, möglichst rasch zu erledigen. Das Geschäft ist auch einfach genug. Der arme Sigfrid hat nämlich, mit Ausnahme verschiedener, allerdings nicht unbedeutender Legate, welche er seiner Dienerschaft aussetzte oder gemeinnützigen Anstalten zuwandte, sein ganzes Vermögen, liegende und fahrende Habe, Schloß, Gut und Geld Ihnen vermacht.“

„Das Schloß?“ entgegnete sie mechanisch, als hätte sie nur dies eine Wort aufgefaßt. „Es mag in Trümmer fallen; sein Herr ist todt.“

„Sie werden darüber zu verfügen haben, wie es Ihnen beliebt. Was das übrige Vermögen …“

„Gebt es den Armen. Gebt es, wem ihr wollt … Aber sagen Sie mir, verehrter Freund, sind der Architekt und der Bildhauer noch immer nicht aus der Stadt angelangt?“

„Doch, eben vorhin; allein ich bitte …“

Brunhild stand rasch auf und schritt an Schwarzdorn vorüber aus dem Zimmer.

Das war nun ihre Sorge, ihre Arbeit, das Einzige, wofür sie noch Sinn hatte, des Todten Grab zu schmücken. Als Hauptschmuck wurde zu Füßen desselben ein gewaltiger, unbehauener Granitblock aufgerichtet mit der Inschrift:

Sigfrid von Lindenberg.
Gefallen im Zweikampf für seines Landes Ehre.
August 1864.




8. Der Mond geht unter.

Die Herbstnacht ist still, klar und mild. Groß leuchten die Sterne über dem mitternächtigen Schweigen und der Vollmond gießt sein silbern Licht auf den kleinen Hochsee und die Burgruine mit dem halbzerfallenen Wartthurm.

Auf der Bank am Fuße desselben sitzt eine weibliche Gestalt, in dunkle Gewänder gehüllt. Die zurückgeschlagene Kapuze des Mantels läßt das gespensterhafte Weiß ihres Antlitzes sehen und den blassen Goldschimmer ihres üppigen Blondhaars. Die dunkeln Augen ruhen unbewegt auf der spiegelglatten Wasserfläche, regungslos liegen die ineinander geschlungenen Hände auf den Knieen und festgeschlossen, wie zu ewigem Schweigen, ist der Mund.

Eine Stunde vergeht. Dann erhebt sich die Gestalt und ohne Hast schreitet sie den Fußpfad hinunter zum See. Sie umgeht denselben zur Hälfte und verschwindet für eine kurze Weile in einem Weidengebüsche am östlichen Ufer. Wieder hervorgetreten, steht sie im vollen Schein des Mondes, welcher, zum Niedergang sich schickend, schon den Gipfeln der Hochgebirge im Westen nahe gekommen ist.

Ihr Obergewand ist hinaufgeschlagen und der weite Saum über den Hüften festgebunden. In schweren, straffen Falten hängt es über dem weißen Untergewand bis zu den Knieen herab, als bärge es eine gewichtige Last.

So muß es auch wohl sein, denn sie legt die wenigen Schritte, welche sie noch am Ufer hin thut, augenscheinlich nur mühsam zurück. Sie steht einen Augenblick still. Dann schreitet sie, mit fest an die Lenden gedrückten Händen, langsam in das Wasser hinein. Immer weiter hinein. Kein Zug ihres Gesichtes ändert sich auf diesem Todesgang. Die festgeschlossenen Lippen beben nicht, kein Zucken in den düster flammenden Augen, überall nur die Ruhe und Sicherheit einer eisernen Entschlossenheit. Immer weiter hinein. Schon umspielt die kalte Fluth die Brust, worin ein stolzes Herz so unbändig geschlagen, bis es unter dem Hammerschlag des Schicksals gebrochen wie spröder Diamant. Immer weiter hinein. Nur noch das schöne Haupt ist sichtbar auf der Wasserfläche, als läge es auf einem ungeheuren Silberteller.

Ein Schritt noch, ein letztes, blitzschnell schwindendes Aufschimmern des Goldhaars, dann ein leises Zusammenrauschen des Wassers über der Stelle, wo es zuletzt geschimmert.

Wellenringe zittern an das Ufer, ein Windhauch geht durch die Weiden und Föhren und hinter den Bergen versinkt der Mond.




Blätter und Blüthen.


Für junge Frauen von jungen Frauen. I. In dem Bräutigam sieht zumeist jedes junge Mädchen das Ideal verkörpert, wovon es geträumt, seit es zu träumen versteht. Sei mir dieser gewagte Ausdruck verziehen, es giebt jedoch im Leben jeden Mädchens eine Zeit, wo dieses süße Treiben sich entwickelt und die Seele erfüllt; ein Gemisch von Unschuld, Neugierde, hinter den Vorhang zu schauen, der so rosig die Zukunft verhüllt, und einer Ahnung des eigntlichen weiblichen Berufes, das ist die Zeit des mädchenhaften Träumens, und gewiß sieht jede Frau noch mit Wonne zurück in dieses Heiligthum ihres eigenen unschuldigen Mädchenherzens und ist im Andenken daran nachsichtig gegen die heranwachsende Tochter, wenn dieser einmal die Arbeit in den Schooß sinkt und – sie träumt.

Die Verlobung, der Brautstand giebt diesen Traumgestalten eine Wirklichkeit; die Gefühle, die als lose Schmetterlinge ohne Ziel und Zweck herumflattern, haben einen Gegenstand gefunden, auf den sie sich concentriren können, die ganze Wärme eines jungfräulichen Herzens strömt aus, den geliebten Gegenstand zu überschütten und mit dem Schönsten und Besten zu schmücken, was der herrlichste der Mädchenträume der Phantasie vorgegaukelt. Da kommt es denn häufig vor, daß der also Geschmückte nach der Hochzeit, in seiner Alltäglichkeit gesehen, viel von seinem Heiligenschein verliert, und es hat alsdann eine junge Frau die glänzendste Gelegenheit, den Grad ihrer Herzens- und Geistesbildung zu zeigen. Die naivsten Beispiele sind mir bekannt, wie junge Bräute sich ihren zukünftigen Ehemann ausgemalt haben und wie anders er ihnen nach der Hochzeit erschienen ist. Ich rede hier natürlich nur von den harmlosesten Täuschungen, von denen ich einige kleine Beispiele anführen will.

Eine junge Freundin verlobte sich mit einem wohlhabenden Kaufmann, der in einer mehrere Meilen entfernten Stadt wohnte. Jede Woche kam der Herr Bräutigam zum Besuch und stets in der feinsten Toilette. Er trug die sauberste Wäsche, die schönsten hellen Glacehandschuhe, hatte einen allerliebsten Henri-quatre, und das Haar, schwarz und glänzend und immer genau in derselben Anordnung, war der besondere Gegenstand des Entzückens der achtzehnjährigen Braut; er kam stets aus seiner Wohnung im obern Stockwerke am frühen Morgen schon schön frisirt und geputzt zum Kaffee, wo das Bräutchen am Familientische im Morgenhäubchen die Honneurs machte. Das Mittagessen wurde gleichfalls im Kreise der Familie genommen und mit musterhafter Artigkeit fand der liebe Bräutigam Alles ausgezeichnet; nur von einem Gerichte bat er ihn zu dispensiren, und dieses Gericht war – eine Nudelsuppe. Er versicherte, daß es sein ästhetissches Gefühl verletze, die prosaischen Nudeln möglicherweise seinen wohlgewichsten Henri-quatre berühren zu sehen, und daß er lieber auf den Genuß verzichte.

„Nicht wahr, das ist doch nett von ihm?“ sagte meine junge Freundin, als sie mir von dieser liebenswürdigen Schwäche des Geliebten erzählte. Sie selbst machte es nicht anders. Nie durfte in Gegenwart des Bräutigams von der Ausstattung gesprochen werden, denn es gab doch gar zu unästhetische Dinge dabei, als da sind: Hemden, Beinkleider, Röcke, Mieder etc. Ganz erschrocken und roth bis unter das Haar versteckte sie einst, als er in’s Zimmer trat, ein zusammengewickeltes Paket, das einen angefangenen Flanellrock enthielt, und nie, so versicherte sie, würde sie ihre Ansichten in solchen Dingen ändern.

Die Hochzeit den jungen Paares wurde gefeiert, und unter tausend Segenswünschen der Zurückbleibenden verließen die Neuvermählten das Elternhaus, den eigenen Heerd zu gründen. Nach einigen Monaten kam ich zum Besuche hin; meine junge Freundin war ein liebreizendes Weibchen geworden und die frohe Herzlichkeit, mit der sie mich empfing, der Ausdruck von Befriedigung in den anmuthigen Zügen zeigten mir, daß sie auch ganz glücklich sei und ihre Wahl nicht bereue.

Nachdem die ersten Begrüßungen vorüber und die Fragen der jungen Frau nach jedem noch so unbedeutenden Gegenstande in dem lieben Heimathstädtchen erledigt waren, bei denen auch der Hund, des Nachbarn Katze und der Großmutter Canarienvogel die größte Theilnahme erweckten, kam die Reihe des Fragens an mich, und ich fragte nicht aus bloßer Neugierde. Lag mir doch das Wohl dieses jungen Wesens am Herzen, da ich für sie die Gefühle einer ältern Schwester hegte. Ich war begierig, wie sie sich das Frauenleben gestalten, wie sie überhaupt sich entwickeln werde, denn sie war begabt mit Verstand und Klugheit. Da kam denn mancherlei zu Tage, was mich höchlich amüsirte, und ich will zum Troste für meine jungen Leserinnen, die sich etwa in ähnlicher Lage befinden, wie die kleine Frau, zu schildern versuchen, wie es ihr nach der Hochzeit ergangen ist.

„Denke Dir,“ erzählte sie mir mit größtem Ernste, „mein Mann trägt hier niemals helle Glacéhandschuhe; selbst als er mit mir die ersten Visiten machte, konnte ich ihn nicht dazu bewegen, und im Comptoir trägt er – nein, ich mag’s gar nicht erzählen – ein schwarzseidenes Oberhemd und einen häßlichen, abgetragenen Rock! Als ich ihn das erste Mal unten besuchte, [112] hätte ich ihn fast nicht erkannt; er machte auch wenig Umstände mit mir, als ich ihm mit einem Kusse einen herzlichen guten Morgen wünschte. Ohne die Feder aus der Hand zu legen, reichte er mir seine Wange und sprach: ‚Fünfundzwanzig, dreißig, siebenundvierzig – ssst!‘ Ich war ganz verblüfft und wollte mich beleidigt zurückziehen, als er eben sein Conto geschlossen hatte und mit seiner Rechnung fertig geworden war. Er erklärte mir sehr einfach, daß ich ihn nie beim Rechnen stören dürfe, weil von einem Fehler oft Wichtiges abhinge und ein Principal sich dergleichen nie dürfe zu Schulden kommen lassen. Ich verzog den Mund zum Weinen, eilte auf mein Zimmer und wollte schmollen. Ich wollte, ja, aber ich konnte nicht. Er hatte doch eigentlich Recht und er mußte es doch besser verstehen. Rasch sattelte ich um, ich wollte liebenswürdig sein und siehe, das gelang mir besser. Als er zum Essen kam, war ich heiter und bat scherzend um Entschuldigung wegen meines Verbrechens von heute früh. Er küßte mich zärtich und nannte mich sein kluges Weibchen. Aber noch etwas viel Schrecklicheres muß ich Dir miltheilen. Denke Dir nur, in jedem seiner Röcke steckt ein Taschentuch und dieses wechselt er nie, unbekümmert darum, ob die Farbe desselben mehr dem Weiß oder dem Schwarz ähnlich ist. Ich war außer mir darüber, wenn ich daran dachte, wie sauber Alles an ihm war, wenn er uns bei der Mutter besuchte. Auf meine naive Frage, wie es denn möglich sei, sich so zu verändern, gab er mir ruhig die Antwort: ‚Ich habe mich nicht verändert, nur die Verhältnisse sind anders geworden. Meine alte Haushälterin versorgte alle meine Rocktaschen stets mit reinen Taschentüchern, meine junge Frau wird das auch lernen müssen!‘ Seit der Zeit kannst Du mich jeden Tag auf der ‚Taschentücherjagd‘ finden, das heißt, ich vertausche die gebrauchten Tücher mit reinen, und obgleich er sich den Anschein giebt, es nicht zu bemerken, so macht es mir doch Vergnügen, zu wissen, daß ich damit einer seiner Gewohnheiten Rechnung trage und ihm gefällig bin.“

Die junge Frau schwieg nachdenklich, und ich war eben im Begriff, ihr zu sagen, wie sehr ich ihre Handlungsweise billige und daß sie auf dem besten Wege sei, als sie, fast wehmüthig, wieder begann: „Das Schlimmste hab’ ich Dir noch nicht erzählt, doch es muß heraus, Dir gegenüber kann ich nichts auf dem Herzen behalten! Wirst Du es glauben“ – sie stockte ein Weilchen – „sein schönes Haar, das er immer so reizend trägt“ – sie stockte wieder „ist nur zur Hälfte sein Eigenthum; oben auf dem Scheitel trägt er – eine kleine Perücke!“

Das war mir selbst überraschend bei einem so jungen Manne, und ich mochte wohl ein recht verwundertes Gesicht bei dieser Mittheilung gemacht haben, denn plötzlich schlang meine junge Freundin ihre Arme um meinen Hals und sagte mit einer wahrhaft rührenden Stimme: „Nein, nein, Du darfst deshalb nicht schlecht von ihm denken, dafür kann er nun schon gar nicht, daß er das garstige Ding tragen muß; ein Nervenfieber in der Jugend zerstörte seinen natürlichen Haarwuchs; seit jener Zeit trägt er auf den Wunsch des Arztes die Tour, die ihn“ – sie wurde wieder ganz heiter – „doch eigentlich sehr gut kleidet. Und ich habe doch einen hübschen Mann,“ sprach sie dann mit jugendlichem Uebermuth, „und so sehr gut ist er und so fleißig, so treu, so klug und – ich liebe ihn von ganzem Herzen und möchte ihn gar nicht anders haben!“

„Und die Nudelsuppe?“ sagte ich gespannt.

„Ach, sei davon still, er ißt sie sehr gern und wollte mich nur ein wenig bestrafen meiner ästhetischen Ziererei wegen!“

Siehst du, meine liebe junge Leserin, das war ein kluges Weibchen! Ich schloß sie gerührt in meine Arme und bat den Himmel, sie ferner in seinen Schutz zu nehmen. Beruhigt reiste ich ab, nahm ich doch die sicherste Garantie für das Lebensglück meiner Freundin mit mir: die Gewißheit, daß diese Geist und Herz auf der richtigen Stelle habe und den besten Gebrauch davon machen werde, du aber, gehe hin und thue desgleichen!


Eine verhängnißvolle Alpenfahrt. Gewiß sind die meisten unserer Leser der lebens- und schwungvollen Schilderung mit Interesse gefolgt, welche in Nummer 3 des laufenden Jahrgangs dieses Blattes ein Weihnachtsbild aus einem Tiroler See- und Bergwinkel vor Augen brachte. Sie werden daher mir schmerzlicher Theilnahme von dem beklagenswerthen Unfalle hören, der dem Verfasser jenes Artikels, Dr. Heinrich Noë, einem der talentvollsten jüngeren Schriftsteller Baierns, vor Kurzem in der Nähe des Achensees, wo er zeitweilig sein Zelt aufgeschlagen, widerfahren ist. Die Augsburger Abendzeitung berichtet aus München, wie folgt:

„Aller Einreden ungeachtet machte sich Dr. Noë mit ganz einfacher Fußbekleidung auf den Weg von Bertisau nach dem Plumser Joch; nach einiger Zeit begann es auf das Heftigste zu stöbern: Noë irrte vom Wege ab und verlor im fußtiefen Schnee seine Schuhe; es blieb ihm dessenungeachtet nichts anderes übrig, als seinen Weg gleichwohl fortzusetzen; binnen kurzer Zeit hatten sich an seinen Fußsohlen Eisklumpen gebildet, sodaß er deswegen und vor Mattigkeit nicht mehr gehen konnte. Nun schleppte er sich, auf allen Vieren kriechend, nach einer nahen verlassenen Sennhütte und fand dort noch vorräthiges Holz. Hiervon machte er sich Feuer und schmolz das Eis von den Füßen. Leicht vorauszusehen wäre sein Loos gewesen, hätten nicht glücklicherweise des Weges kommende österreichische Grenzwächter, von dem aus der Hütte emporquellenden, übelriechenden Rauch aufmerksam gemacht, den Verirrten entdeckt und nach der nächsten Ortschaft gebracht. Man hat den Unglücklichen mit der Bahn nach Ansbach gebracht, wo seine Eltern leben. Zum Glück scheint indeß der Unfall nicht so ernste Folgen nach sich zu ziehen, wie die ihn jetzt behandelnden Aerzte anfänglich fürchteten, die von Amputation der Zehen beider Füße, ja sogar vielleicht dieser letzteren selbst sprachen. Dr. Noë befindet sich erfreulicher Weise schon auf dem Wege völliger Genesung und wird sicher noch manche Alpenfahrt – hoffentlich aber keine so verhängnißvolle mehr wie die neuliche – unternehmen und schildern können.


 Kreuz- und Quer-Charade.

  1  |  2 
  3 |  4

Wenn Du in des Sommers Schwüle
Dich in 1. und 2. ergangen,
Und Dich sehnst nach Schattenkühle,
Stillt 3. 4. Dir Dein Verlangen.

So der Ruhe hingegeben,
Horchest Du wohl 3. 2. Klängen,
Die vom Felde dicht daneben,
Jubelnd sich zum Ohr Dir drängen.

Auf dem Feld im Sonnenscheine
Sind 1. 4. ein Spiel den Winden,
Aber bald kommt mehr als Eine,
Die’s versteht, sie fest zu binden.

Träumend Deine Blicke weilen
Auf dem ländlich schönen Bilde,
Und die Stunden rasch enteilen,
Abend kommt mit seiner Milde.

Ruft das Glöckchen der Capelle
Heim sie von des Tages Mühen,
Sieh, da 4. 2. auf der Stelle
Viele, eh’ sie heimwärts ziehen.

Auch Dich mahnt es heimzugehen,
Und aus 1. 2. 3. 4. wendet
Sich Dein Schritt, um nachzusehen,
Was 1. 2. 3. 4. gespendet.

Und was ist’s, das Du gefunden?
Früchte, die auf Blättern nicken,
Oder lockend zwischen bunten
Blüthen Dir entgegenblicken.


Erklärung. Wahrhaft schmerzlich ist es uns, auch unsererseits die Leser der Gartenlaube von Neuem um Geduld wegen der längst versprochenen Erzählung von Hermann SchmidDer baierische Hiesel“ bitten zu müssen. Wie uns der Verfasser soeben schreibt, rauben ihm Körperleiden, mehr aber noch ein großer Seelenschmerz, den er kürzlich dadurch erfahren, daß, trotz dem einträchtigen Urtheile der Kritik und trotz der einstimmigen Befürwortung der betreffenden Preisrichter, seinem Trauerspiele „Ludwig im Bart“ der vom Könige von Baiern ausgesetzte Preis ohne jedwede Motivirung versagt worden sei, augenblicklich die nöthige Ruhe zur Vollendung der genannten Erzählung. Dieselbe werde aber noch im Laufe des gegenwärtigen Quartals uns im Manuscripte zukommen. Die Redaction.     



Kleiner Briefkasten.

F. M. in Berlin. Die Erfindung läßt kaum zu wünschen übrig, aber die Ausführung, die Form? Für jetzt also „Nein“. Indeß „Rom ist nicht in einem Tage gebaut“.

J. G. in N … bg. Vom Ober- und Unterland ist bis jetzt nichts zu uns gedrungen. Forschen Sie freundlich nach.

D. R. in Bielefeld. Getroffen. Der Artikel in Nr. 49, 1864: „Ein gekröntes Opfer“ hat Herrn Georg Hiltl, unsern altbewährten Mitarbeiter, zum Verfasser.




Schach.
Auflösung der Aufgabe Nr. 1.
  Weiß.       Schwarz.
1)0 D A 4 – C 2 0 L E 4 – H 1: oder A
2)0 D C 2 – G 6 0    G 5 – F 4:
3)0    E 3 – E 4 0 K E 5 – D 4: (am besten)
4)0 D G 6 – D 6:       0 K beliebig.
5)0 D D 6 – D 5
A.
1)0 ....... 0 D A 7 – B 7
2)0 T D 4 – E 4: 0 K E 5 – F 5
3)0 T E 4 – E 6 0 K F 5 – G 4
4)0 D C 2 – F 5       0 Beliebig.
5)0 D oder S H 6
B.
1)0 ....... 0 K E 5 – F 5
2)0 L C 2 – E 4: 0 K F 5 – G 4 oder C
3)0 D C 2 – D 1 0 K G 4 – H 4
4)0 D D 1 – H 5       0 Beliebig.
5)0 D H 6 - H 3
C.
2)0 ....... 0 T E 7 – E 4
3)0 D C 2 – E 4: 0 K F 5 – G 4 oder C
4)0 D E 4 – E 6 0 Beliebig.
5)0 D


Correspondenz.

O. S. in B. 0 Falsch gel. Nr. 1 wegen 2) D A 7 – E 7:.



Verantw. Redact. Ernst Keil in Leipzig. – Verlag von Ernst Keil. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.

  1. WS: Vorlage Congroß
  2. Ludwig Napolen wurde am 20. April 1808 geboren, welches Ereigniß Kanonendonner der Bevölkerung von Paris verkündete. Erst am 14. November 1810 aber ward er zu Fontainebleau von seinem Großonkel, dem Cardinal Fesch, getauft.
  3. Die Hofdame Cochelet erkaufte später das im Sommer 1834 abgebrannte Schloß Sandegg, welches sie nachher dem Herzog Eugen von Leuchtenberg wieder abtrat. Sie heirathete den ehemaligen französischen Oberest Parquin, den Besitzer des Schlosses Wolfsberg, eine der Hauptpersonen im Straßburger Drama. Ihre Tochter, der oben gedacht ist, soll in Mannheim noch verheirathet leben.
  4. Derselbe Lebas, von dem, durch ein eigenthümliches Zusammentreffen, erst in voriger Nummer der Artikel „In der Höhle des Löwen“ erzählt hat.
    Die Redaction.
  5. Die großherzoglich markgräflich badische Domänen-Kanzlei verkaufte im Jahre 1851 an’s großherzogliche Kriegsministerium das Schloß mit allen baulichen Zugehörungen, den Gärten und Wällen um dieselben herum, mit Ausschluß des Lorettowaldes, der Reben, Felder etc. um fünfundsiebzigtausend Gulden.