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Die Gartenlaube (1865)/Heft 8

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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Keil
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Entstehungsdatum: 1865
Erscheinungsdatum: 1865
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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No. 8. 1865.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.

Wöchentlich 1 1/2 bis 2 Bogen. Durch alle Buchhandlungen und Postämter vierteljährlich für 15 Ngr. zu beziehen.

Friesenliebe.
(Fortsetzung.)


In Oscar Fordenskiöld’s Antlitz wechselten Gluth und Blässe, er preßte die Lippen fest aufeinander, wie wenn er den heftigen Worten, die er so gern entgegnet hätte, den Weg abschneiden wollte. Erst als er ruhiger geworden, fragte er kurz: „Darf ich den Inhalt Ihres Schreibens erfahren?“

Ein Zug kalter Verachtung zuckte um die Lippen des ältern Mannes. „Du kannst um so eher wissen, was ich an Nanna schreibe,“ entgegnete er, „als es nichts Anderes sein wird, als was ich sie in Deiner Gegenwart fragen wollte.“

„Und im Fall es Fräulein Hansen beliebt, Ansprüche an mich zu erheben, da ich das Glück genieße, ein Freiherr zu sein, während Arnulf Braderöp nur Schiffscapitain ist?“

„In dem Fall löse ich Ingeborg’s Verlobung – und Du wirst hoffentlich so ehrenhaft sein, den Ansprüchen gerecht zu werden, die sie macht, denn wie ich das Mädchen kenne, und das ist seit langer Zeit, würde Nanna Hansen selbst um eine Fürstenkrone nicht Etwas verlangen und thun, wozu sie nicht volle Berechtigung hätte.“

„Onkel, ich bitte Sie, schreiben Sie einen solchen Brief nicht! Greifen Sie nicht zerstörend ein in mein – in Ingeborg’s Schicksal!“

„Ich unterlasse nie etwas von dem. was ich zu thun als meine Pflicht erkannte! Ich sagte Dir, ich könne und wolle Ingeborg nicht als Weib eines Mannes sehen, an den eine Andere Ansprüche habe. Erhebt solche die Tochter des Deichgrafen Hansen – so besser jetzt, als später! Ich theile in dem Fall mein Vermögen zwischen Dir und Ingeborg, behalte mein Kind, das ich, aus Gründen, die Du kennst, vor dem Elend zu bewahren suche, welches mich ereilte und mein Glück, mein Leben zerstörte.“

Oscar Fordenskiöld wollte Einwendungen machen, da fiel sein Blick auf das strenge, entschlossene Gesicht seines Onkels und er schwieg.

Nach Verlauf von acht Tagen, die der junge Mann fern von Ingeborg und dem Hause seiner Verwandten verlebt, trat Baron Fordenskiöld vor seinen Neffen hin, mit den nämlichen, wie aus Erz gegossenen Zügen, unbeugsamen Willens, überreichte ihm einen Brief und sagte ernst:

„Seitdem ich das da gelesen, glaube ich, daß ich Recht und Nanna Hansen einst Ansprüche an Deine Treue hatte. Wie dem aber auch ist, sie weist Deine Hand zurück und Ingeborg kann ich nicht von Deiner Schuld überzeugen. Sie glaubt nicht, daß Du Dich Jener und ihrer unwerth benommen. Ist ihre Liebe nun wirklich so tief und stark, so wird sie die Probe bestehen, die ich für Dich ansetzen muß, um Beweise Deiner Treue und Standhaftigkeit zu erhalten, ohne welche Bürgschaft mir das Loos meines Kindes zu unsicher dünken würde. Drei Jahre sollst Du nach meinem Willen, nach meiner festen, unumstößlichen Bestimmung Ingeborg nicht sehen, nicht an sie schreiben, überhaupt in gar keiner Verbindung mit uns stehen. Kannst du nach drei Jahren Ingeborg’s Hand von mir mit dem guten Gewissen verlangen, das ich bei einem Sprossen des Fordenskiöld’schen Geschlechts voraussetze – so will ich nicht allein des Mädchens Worte auf dem Boikenhügel und diesen Brief hier vergessen, sondern dann auch nicht zögern, Dir Ingeborg zu übergeben.“

„Onkel, Onkel, Erbarmen!“ rief der junge Mann flehend, „kürzen Sie die Probezeit ab!“

„Um keinen Tag! Erst nach Ablauf dieser drei Jahre werde ich von Neuem auf Deine Treue bauen können, wenn in der Zeit Deine Liebe sich bewährt hat.“

Baron Fordenskiöld verließ das Zimmer, sein Neffe aber knitterte den kleinen Brief Nanna Hansen's zusammen und rief verzweifelnd:

„Und würf’ ich mich ihm auch zu Füßen, läge flehend, bettelnd im Staube vor ihm, von jetzt ab bis an’s Ende der Frist mir nur eine Minute zu erlassen – vergebens! Alles vergebens bei ihm, der nicht Gnade noch Erbarmen kennt, sondern mit unerbittlicher Strenge richtet.“

„Wo sich’s um eine Schuld handelt!“ setzte eine andere Stimme hinzu.

Der junge Mann blickte empor und sah in die dunkeln, traurigen Augen der Gräfin Adlersparre, die vor ihm stand.

„Tante, Du hier?!“

„Ich soll bei Dir bleiben, bis Knud Larsson’s Schiff in See geht, auf dem sich bereits Dein Gepäck befindet.“

„Wann ist das?“ fuhr Oscar Fordenskiöld in heftigem Schmerze auf.

„In vielleicht einer Stunde, lieber Oscar; es ist darum Zeit, aufzubrechen!“

„O Tante, kannst Du nicht für mich bitten?“

„Ich that’s, Oscar, aber – vergebens!“




Am Abend desselben Tages schien der Mond hell auf den kleinen Garten am Hause der „Gestrandeten“, der jetzt so verödet, so verwildert im einsamen Dünenthale liegt. Der Silberschein drang in eine dunkle Mooshütte, die, jetzt völlig verfallen, einst ein lauschig Plätzchen bildete, das Erich Larsson der kleinen Ingeborg erbaut und wo sie Beide als fröhliche Kinder ihre harmlosen [114] Spiele gespielt. Hier hatten sie Robinson, hier Paul und Virginie zusammen gelesen, und hier war’s auch gewesen, wo Ingeborg so glänzenden Freudenschimmer in Erich’s Leben geworfen, als sie ihm gesagt hatte, sie würde sterben vor Angst, wenn er wieder zur See ginge. – –

So klein die Hütte, so groß und reich der Schatz der Erinnerungen, der sich für Den daran knüpfte, der mit verschränkten Armen am Pfeiler des Einganges lehnte und düstern Auges auf die lichte Gestalt schaute, welche hell und klar das Mondlicht umfloß. Es war Ingeborg, Ingeborg, die auf dem engen Schauplatz ihrer Kinderspiele im ersten Schmerz ihres Lebens mit heißen Thränen weinte.

Ingeborg Fordenskiöld war vor acht Tagen siebenzehn Jahre alt geworden, sie kannte außer dem einsamen Eiland, auf dem sie lebte, nichts von der Welt, war, was ihr Vater gesagt, ein Kind, ein Kind, dem man sein Lieblingsspielzeug genommen. Wie das Kind auf den Weihnachtsbaum, so hatte Ingeborg sich alljährlich auf den Besuch ihres fröhlichen Onkels und des ewig heitern Oscar gefreut. Wie jener Baum Licht in dunkle Abende bringt, so hatte die Anwesenheit ihrer Verwandten Freude in ihr stilles Leben getragen. Beider Besuch brachte Ingeborg Abwechselung, brachte Anderes, als der tagtäglich im ruhigen Geleise sich abspinnende Lauf des Lebens, und welches Kind begrüßt eine heitere Abwechselung nicht mit Jubel und Entzücken?

Wenn Baron Fordenskiöld seiner Tochter vor vier Wochen gesagt hätte, sie solle ihren Onkel heirathen, Ingeborg würde der Vorschlag vielleicht ebenso behagt haben, wie der andere, Oscar’s Frau zu werden und mit ihm über das Meer hinüber in die Welt zu ziehen, nach der sie so heißes Verlangen trug. Die Eroberung dieses Mädchenherzens, dessen Gefühle alle noch ungeprüft, war keine schwierige, wenn sie auch Oscar in Anbetracht ihres Reichthums eine glänzende erschien. Nur wenige Wochen hatte ihr stilles Glück gedauert, dann hatte Ingeborg es den Freundinnen verkünden dürfen, und, wie so oft im Leben, war mit dem ersten lauten Wort auch dem „stillen Glück“ des ruhig freudigen Genusses das Grablied angestimmt!

Während dieser ersten grellen Schmerzensklänge in Ingeborg’s bisher so harmonischem Leben war sie eine Andere geworden, und was noch vor Wochen nicht einmal ein leiser Wunsch ihres Herzens gewesen, das hatte binnen Tagen sich zum glühenden Verlangen ihrer Seele gesteigert. Fort und fort lauschte sie auf die verhallten Töne ihres reinen Glücks, immer schmerzlicher sehnte sie sich zurück nach dem reichen Melodienschatz des alten Liedes, das da ewig neu bleibt, das auch an ihr seine überwältigende Macht und Kraft bewährt, als sie es zum ersten Male gehört, so kurze Zeit gehört!

Ob es nun nach Ansicht Anderer ein Unwürdiger war, der jenen Zaubergesang des Herzens angestimmt – was wußte sie davon! Er hatte ihr gesagt, er liebe sie, und was auch ihr Vater von seinem Verrathe gesprochen – sie glaubte es nicht! Wo ist in so geschützten und behüteten Verhältnissen das Mädchen zu finden, das von derartigem Unrecht nur einen Begriff hätte; wo das Mädchen zu finden, das, wenn es wahrhaft liebt, nicht für den Geliebten gegen eine ganze Welt in die Schranken treten würde?

Ingeborg glaubte zu lieben, zu lieben wie eine Heloise, zu dulden um einen Abälard! – – –

Wie schnitt diese Liebe, dieser Schmerz aber tief und tiefer in das Herz des Mannes, der, ein stummer Zeuge ihres Jammers, am Eingange der Mooshütte lehnte und in lautlosem Schweigen ihr Schluchzen anhörte! Sie sah ihn nicht. Sie saß auf der Moosbank im Hintergrunde des Häuschens, den Kopf gestützt auf die Arme, welche auf dem Tische vor ihr einen Halt gefunden, das Gesicht war vergraben in ihren Händen, unter der Fülle ihrer Locken, die aufgelöst in wirrem Durcheinander über Nacken und Schultern, über Hände und Arme flossen.

„Ingeborg!“ rief endlich der Mann am Eingang weich und leise, als neues, heftiges Schluchzen ihren zarten Körper immer mehr erschütterte.

Sie sprang empor, sah durch Thränen auf die Gestalt, sank zurück und sprach tonlos: „Ach, Du Erich, Du bist’s!“ – –

„Du dachtest, er sei’s, er, der diesen Jammer über Dich gebracht?“ rief er heftig. „O nein, Gott sei Dank! Dank Deinem Vater, der Elende ist fort, und so der Himmel die Gebete treuer Herzen erhört, setzt der Bube seinen Fuß nicht wieder auf unsere Insel, wo die Treue kein Wahn ist und mit der Liebe nicht Spott getrieben wird.“

„Erich, Erich, bist Du von Sinnen, mir das zu sagen?“

„Wer soll Dir’s anders sagen, wer hätte den Muth, Dir armem Kinde die Augen vollends zu öffnen und Dich anzuflehen: weine nicht um den, der Deiner Trauer unwerth ist!“

„Erich, um Gottes Barmherzigkeit willen halte ein, Du zerreißest mir das Herz, wenn Du so von meinem Verlobten, meinem künftigen Gatten sprichst!“

Das junge Mädchen stand bei den Worten plötzlich dicht vor Erich Larsson. Das Mondlicht fiel hell in die durch Thränen aufblitzenden Augen, beleuchtete ihr farbloses Antlitz, das jetzt langsam sich zu röthen begann unter der Gluth auflodernder Empörung.

„Ingeborg!“ rief er heftiger, „laß ab von dem, was nur ein Wahn erhitzter Phantasie ist. Wie kannst Du einen Mann als Deinen Gatten denken, der noch vor wenigen Wochen –“

„Halt ein! ich weiß, was Du sagen willst. Ueber Deine Lippen soll jene Lüge nicht kommen, die meinen Vater veblendet hat. Glaub mir, Erich, sie hat Unwahrheit gesprochen in ihrem unseligen Briefe.“

„Nein, nein, Ingeborg, sie sprach die Wahrheit!“

„Waren ihre Ansprüche begründet, warum dann nahm sie seine Hand nicht an, die mein Vater ihr in seinem Namen antrug?“

„Nanna Hansen ist eine Friesin, Ingeborg. Wer diesen einmal das Wort gebrochen, ist auch ihrer Liebe verlustig! Eine Friesin ist zu stolz, das Weib eines Mannes zu werden, der ein falsches Herz, kein rein Gewissen und seine Ehre befleckt hat.“

Mit lautem Aufschrei wich das Mädchen zurück, mit weitaufgerissenem, glanzlosem Auge starrte sie auf den unbarmberzigen Sprecher, dann ergriff sie in wild aufbrausender Heftigkeit seinen Arm und sagte zornig: „Wie kannst Du mir das anthun?“ Ihre Hand sank, unter seinem trüben ernsten Auge, das fest auf ihr ruhte. „Wie kannst Du mir das anthun, Erich?“ wiederholte sie leise.

„Weil ich Dich retten möchte, weil ich Dich liebe, Ingeborg!“

„Erich! Erich!“ rief sie zurückweichend.

Er stürzte zu ihren Füßen, ergriff ihr Gewand und flüsterte in leisen, gebrochenen Tönen: „Ja, Ingeborg, weil ich Dich liebe, weil ich Dich retten muß.“

Wie abwehrend streckte sie die Hand gegen ihn aus, den Blick abkehrend von diesen von Schmerz und Leidenschaft zerrissenen Zügen, die sie nur mild, nur ruhig kannte, obwohl sie wußte, wie kühn, wie trotzig sein Herz war.

Wild, stürmisch war auch jetzt sein Ton, als er leidenschaftlich hinzusetzte: „Heiß’ mich nicht gehen, wende Dich nicht ab! höre mich an! Ich, Ingeborg, liebe Dich, wie Du geliebt zu werden verdienst, liebe Dich, wie Du geliebt sein mußt, um dauernd glücklich zu sein.“

„Erich!“ flehte sie, „besinne Dich, komm zu Dir, bedenk, mit wem Du redest, zu wem Du so sprichst! Erich!“ setzte sie weich hinzu, „thu’ Dir’s selbst nicht an, Dich so zu vergessen, so Deine arme Schwester –“

„O, nicht dies Wort, Ingeborg! es hat mein Herz schon oft wie mit tausend Dolchen durchbohrt, hat mich schon manchmal an den Rand des Wahnsinns getrieben! Du bist mir Alles, nur nicht Schwester, Du bist der Abgott meiner Seele, das Idol meines Herzens, bist –“

„Kein Wort weiter!“ rief das Mädchen in aufflammendem Stolze mit strengem Ton.

Sie hätte aber eben so gut den tobenden Meereswogen gebieten können: „fließet rückwärts!“ wenn die Gewalt des Sturmes sie hinfort getrieben, weit über das Ufer ihres Bettes, weit über alle von Menschenhand künstlich erhobenen Dämme. Ihn riß jetzt die Gewalt der Leidenschaft hin, fort über alle Schranken trieb ihn der Sturm wild aufgeregter Gefühle, die Venunft, Ueberlegung, fester Wille und Macht der bestehenden Verhältnisse zurückgedrängt und lange im stummen Grabe gehalten hatte.

„Mein, mein wirst Du sein, wenn Du Dich losgerissen von dem Unwürdigen!“ antwortete er in höchster Leidenschaft.

Da übermannte sie der Zorn; mit einer Heftigkeit und Bitterkeit, die ihrem Wesen und Charakter bis zu dem Augenblick völlig [115] fremd gewesen, sprach sie: „Schmach über Dich, der Du den Abwesenden verleumdest, um seine Stelle zu erringen! Schande über Dich, der Du ihn der Untreue beschuldigst und mich zur Meineidigen machen möchtest! Wo ist jetzt das Erbtheil Eueres edeln Volksstammes, Herr Larsson, jenes Herz, das von keinem Falsch weiß, jenes Gewissen, das rein wie der Schnee ist, und jene friesische Ehre, die kein Flecken trübt? In Worten, in glatten, glänzenden Worten besteht Euer Ruhm, edler Friese! Euere Thaten sind schwarz, dunkel wie die Nacht, und darum fort von hier, mir aus den Augen für immer und ewig!“

Erich Larsson war aufgesprungen. Wie ein verwundeter Löwe stand er vor dem Mädchen – dem Kinde, und als sie geendet, zeigten ihr seine flammenden Augen zu ihrem Entsetzen, was sie im aufwallenden Zorne gethan.

„Erich!“ rief sie bebend, kaum hörbar.

Er schreckte zusammen.

„Verzeih!“ bat sie innig und versuchte seine Hand zu fassen.

Wäre ihm die giftigste Natter zu nahe gekommen, erschrockener hätte er nicht zurückweichen können. Noch einmal sah er sie an, eine kurze, eine flüchtige Minute, sah sie an mit Augen, in denen eine Welt von Gefühlen und Gedanken, aber kein Blick von Verzeihung lag, dann wandte er sich ab und hatte in der nächsten Secunde den Schauplatz seiner kurzen Schmach, den Ort, der einst der Schauplatz all seiner Freuden gewesen, verlassen, verlassen auf immer.

„Erich! Erich!“ rief Ingeborg ihm flehend nach. Es war vergebens, er kehrte nicht zurück!




Drei Jahre sind vergangen. Es ist ein heißer Sommertag und über Sylt wölbt sich der Himmel in wolkenloser Bläue. Die Luft ist schwül, wie sie die Insel selten kennt. Von der Küste stößt ein kleines Boot ab, in dem rudernd zwei Personen sitzen. Sie schaukeln auf den nur leicht bewegten Wogen des Meeres, welches das reine Blau des Himmels wiederspiegelt. Hell schimmert das weiße Segel in der Sonne und an der Spitze des schlanken Mastes flattert ein purpurrothes Wimpel. So gleitet das Schiffchen dahin, der Meeresküste entlang. Die Beiden, die ihr Leben diesem schwankenden Fahrzeug und ihrer schwachen Kraft anvertraut, reden mit einander und scheinen den duftigen Wolkenschleier nicht zu bemerken, der jetzt im fernen Westen, über dem Meere wie aus den Wogen aufsteigt, das Blau des Himmels und das Blau des Wassers in schmalem Bande durchschneidend.

„Gott sei Dank, Ingeborg!“ ruft der Mann im Boote aus, „nun ist’s endlich wie einst, der Verbannte hat zurückkehren dürfen und Du bist ihm von Neuem geschenkt; aber furchtbar, entsetzlich war diese Zeit, diese Trennung von Dir!“

Der leichte Schatten, der über dem einst so sonnigen Antlitze Ingeborg’s lag, wurde dunkler.

„Lassen wir die Vergangenheit ruhen, Oscar,“ entgegnete sie hastig, „leben wir einzig der Gegenwart! Sieh, wie schön Meer und Himmel sind.“

„Licht! Licht wie unser Leben sein wird, wenn Du Geliebte nun endlich ganz die Meine bist!“

Ihr Ruder schlug rascher und heftiger in die blaue Fluth, und der Stoß trieb sie weiter ab von der Küste.

„Halten wir uns näher am Lande!“ rief der junge Mann mit deutlich erkennbarer Besorgniß.

„Fürchtest Du Dich?“ fragte sie ernst und richtete das blaue Auge fest auf ihn.

„Fürchten?“ wiederholte er lachend, wenn auch ein wenig gezwungen, „o nein! ich habe blos Deiner Tante fest versprochen, uns nicht von der Küste zu entfernen, im Fall Petersen nicht mit uns fahre. Wir sind allein, und darum muß ich mein Wort halten.“

Was war’s für ein Lächeln, das jetzt Ingeborg’s Mund umspielte? Verschieden, ach ganz verschieden von jenem süßen, jenem lieben und unschuldigen Lächeln, das einst die vollen Lippen kräuselte, das wir an jenem Tage an ihr kennen lernten, wo ihr Glück schattenlos war und der Geliebte noch keine Proben seiner Treue abgelegt hatte!

Die starke Anstrengung Oscar’s, das Boot in die Linie zurückzubringen, die er seinem Versprechen angemessen fand, erzielte das Gegentheil, weil er in der Aufregung Steuer und Ruder falsch gebrauchte. Sie schnellten eine Strecke weiter in’s Meer hinaus. Aus seinem Gesichte schwand die Farbe; Ingeborg lachte hell auf, verstummte aber in der nächsten Secunde und fragte erschrocken: „Bist Du unwohl oder in der That so furchtsam? Ich bitte Dich, laß uns landen,“ setzte sie rasch hinzu, „Du bist todtenbleich.“

Der Verlobte wollte um jeden Preis seine Ehre retten. Er blickte seine Braut mit möglichster Ruhe an und sprach lächelnd: „Ich muß mein Wort schon brechen, um der muthigen Ingeborg nur zu beweisen, daß ich weder furchtsam bin, noch krank werde von einem bischen Wellenschlag.“

Er steuerte weiter in’s Meer, und sie ließ es, in Gedanken verloren, geschehen, denn ihr Blick hatte oben auf dem Kamm der Düne eine Gestalt getroffen, die unbeweglich dort stand und sich in scharfen dunkeln Umrissen vom lichten Horizonte abhob, und schaute starr nach ihr hin. Nach einigen Minuten war die Gestalt verschwunden. Sie war aber nicht gegangen. Den Blick auf das Meer geheftet, lag sie auf ihren Knieen; doch kein Gebet, nur die Frage brach sich Bahn über die bebenden Lippen: „Kannst Du es zulassen in Deiner Gerechtigkeit, daß er triumphirt und ich leide?“

„Nanna, bist Du das?“ fragte eine Stimme am Fuß der Dünen. „Was machst Du dort?“

„Ich raste ein wenig hier oben!“ entgegnete Nanna Hansen ruhig und saß wirklich ruhig in einer Höhlung der Düne, als die Fragerin den wellenförmigen Hügel erkletterte. Auch sie war eine unserer Bekannten, eins der Seemannskinder, jene muntere Alfhilde, nun seit zwei Jahren die Frau eines Schiffscapitains und zwar die des Arnulf Braderöp von Föhr, den Nanna nicht erhört und der sich mit Alfhilde getröstet hatte.

„Wie kommst Du nach Sylt?“ fragte Nanna.

„Um diesen Schatz, diesen prächtigen Knaben endlich meiner Mutter zu zeigen. Sieh ihn Dir an, dies Wunder von Geschöpfchen!“

Sie legte bei den Worten ein schlafendes Kind in Nanna’s Schooß, wischte sich den Schweiß von der Stirn, nahm neben ihr Platz und sagte ernst: „Ich war bei Larssons. Gott, wie krank die arme Frau ist! Der alte Knud meinte, sie erlebe den Abend nicht.“

„Sahst Du Erich?“

„Ja, und wie er drein schaut! dazu verfallen, daß man ihn für eine Leiche halten könnte, tobte er nicht so wild umher.“

„Sein ganzes Herz hängt an der Mutter, Alfhilde, an dieser armen Mutter, die ihren Sohn drei volle Jahre nicht gesehen.“

„Sein ganzes? Höre, Nanna, ich glaube, was Erich Larsson von Herz besitzt, und Alle sagen, viel sei das nicht, hängt an Ingeborg Fordenskiöld.“

„Wer Erich Larsson das Herz abspricht, versteht sich wenig auf’s Urtheilen. Wir, wir, Alfhilde, die wir ihn kennen, seit den Kindertagen, wissen besser, was hinter seiner rauhen Außenseite verborgen schlägt. Wie kommst Du übrigens auf den Unverstand zu denken, daß er Ingeborg liebt?“

„Weil ich ihn eben, wie Du sagst, seit den Kindertagen kenne; weil ich weiß, wie sehr er sich gegen sonst verändert hat.“

Nanna beugte sich auf das Kind herab und sagte ernst: „Ich denke, Du irrst!“ leise hinzusetzend: „fast glaub’ ich, er haßt sie!“

„Irren?“ rief Alfhilde, „nein, Nanna, sein Großvater denkt’s auch, er sagt sogar, diese Liebe habe Erich ganz verdreht gemacht, habe ihm die tolle Idee in den Kopf gesetzt, zu den Preußen überzugehen und Soldat zu werden, jetzt wo gerade sein Onkel gestorben war und ihn zum alleinigen Erben seines Vermögens eingesetzt hatte.“

„Nun eben, weil er Geld hatte, konnte er thun, was er wollte: Kaufmann war er nie gern; Soldat oder Seemann, dahin ging von jeher stets sein Streben.“

„Aber der Grund, Nanna, der Grund, der ihn bewogen …“

„Wird kein anderer sein, als daß Erich hofft und denkt, mit den Preußen noch einmal gegen Dänemark in’s Feld zu ziehen und für die Rechte Schleswig-Holsteins zu kämpfen.“

„So!“ sprach die junge Frau gedehnt, „Knud Larsson meint, es sei einzig Hochmuth. Erich habe Oscar Fordenskiöld immer um seine glänzende Uniform beneidet und habe dasselbe werden wollen, was der ist.“

„Gott bewahr’ ihn, das zu werden, was Jener ist! Uebrigens scheint Knud Larsson bei Dir von seiner Schweigsamkeit abzuweichen und Dir volles Vertrauen zu schenken.“

[116] „Ja, Andere macht der Schmerz stumm, ihn redselig. Er sprach viel; so erzählte er mir auch, daß in acht Tagen nun endlich Ingeborg’s Hochzeit sei.“

Nanna Hansen schnellte bei den Worten so lebhaft empor, daß das Kind erwachte und die junge Mutter mit einem Aufschrei den Liebling an sich riß, der vom Schooß des Mädchens zu fallen drohte.

Während Alfhilde das weinende Kind zu beschwichtigen strebte, hatte Nanna beide Hände vor das bleiche Antlitz gedrückt und hauchte tonlos: „In acht Tagen!“

„In acht Tagen! in acht Tagen!“ wiederholte sie im leidenschaftlichsten Schmerze, als Alhbilde ein paar Minuten darauf sie verlassen hatte und sie allein, das starre Auge zu Boden geheftet, auf kahler Düne stand.

Mit dem Ausruf: „In acht Tagen!“ warf sie sich dann auf die Kniee, den Blick wild gen Himmel gekehrt. Die Augen, denen langsam Thräne um Thräne entrollte, konnten aber lange nicht aufsehen zum scharfen, blendenden Sonnenlichte. Sie senkte das Haupt, tief und tiefer neigte es sich herab unter ihrem inbrünstigen Gebete und bald berührte ihre Stirn den Boden. Weinend, schluchzend lag sie lange an öder Stätte und immer und wieder rang sich aus ihrer von Haß und Rache erfüllten Seele der Ausruf heraus:

„O Gott, erhöre mich! Laß nicht vergebens sein all mein heißes Bitten!“

Schaaren von Möven umkreisten ihr Haupt und in der Ferne grollte dumpf der Donner – sie hörte es nicht! Am Himmel sammelten sich Wolken über Wolken schwarz und schwärzer – sie sah sie nicht! Ein Windstoß erhob sich, wuchs und wuchs, wirbelte den Sand der Düne auf und jagte einen dichten Staubregen über sie hin – sie fühlte ihn nicht! sie empfand einzig und allein die Qual der drei Worte: „In acht Tagen!“




Mit dem untergehenden Licht der Sonne schwand ein müdes Leben. Wild, furchtbar aber, wie der Ausbruch entfesselter Naturgewalten in diesem Momente war, wo das Gewitter sich über der Insel entlud, so wild, so furchtbar war auch der Schmerzesausbruch Erich Larsson’s, als die Stimme der Ewigkeit mahnend an sein Herz tönte und der grelle Blitz der Erkenntniß: „Deine Mutter stirbt!“ durch seine Seele zuckte.

Der alte Knud Larsson, der so oft ruhig dem Tode in’s Auge geschaut, saß jetzt bleich, zitternd, unfern des Lagers, wo ein siecher Leib mit den letzten Erdenschmerzen kämpfte, und blickte verwirrten Auges, mit pochendem Herzen, auf das langsame, aber sichere Vorschreiten dessen, dem kein Entrinnen möglich! Wie hoffnungslos er selbst war, die Hoffnungslosigkeit seines gebeugten, verzweifelnden Enkels konnte er nicht ertragen.

„Vielleicht hilft ein Gott, Erich,“ tröstete er, „und Du irrst, wenn Du glaubst, sie stirbt.“

Erich Larsson irrte indessen nicht; seine Mutter, die er drei lange Jahre verlassen und die ihn endlich zum letzten Lebewohl herbeigerufen, lag im Sterben. Erst Tags zuvor war er nach Sylt gekommen, einige Stunden hatte sie sich noch ihres geliebten Kindes erfreut; dann war es schlimmer und schlimmer mit ihr geworden und jetzt leuchtete das todesumflorte Auge nur hin und wieder noch einmal heller auf, wenn ihr Sohn, der an ihrem Bette kniete, verzweifelnd sprach: „Verlaß mich nicht, Mutter!“

„Verlaß mich nicht, bleibe bei mir!“ rief er dringender, als sie die Augen schloß, und betheuernd fügte er hinzu: „Ich will und werde Dir ein besserer Sohn sein, als bisher!“

Ein Lächeln himmlischen Erbarmens verklärte bei diesem Gelübde ihre milden Züge; sie erhob die schwache Hand, die sich schwer, immer schwerer auf sein gebeugtes Haupt legte.

Da riß plötzlich jemand mit lautem Schrei die Thür des Sterbezimmers auf, da stürzte, wie von wildem Orkan gejagt, der draußen tobte, eine Gestalt in das stille Gemach, in dem der ernste Tod weilte. Erich Larsson sprang empor und blickte entsetzt um sich; der alte Seemann richtete sich langsam auf und schaute drohend auf die, welche mit verwildertem Haar, mit wildem Blicke inmitten der kleinen Stube stand, und selbst der entweichende Geist war durch den Lärm fortgerissen von der Schwelle des Todes und schaute noch einmal zurück in’s unruhvolle Leben.

„Sie liegt im Sterben!“ sagten beide Männer zu gleicher Zeit.

„Und er stirbt! O Erich, er stirbt!“ schrie wehklagend das Weib, das herein gestürzt war. „Er stirbt, dort auf dem Meere, wenn Du ihn nicht rettest!“ rief sie dringend, warf sich dem jungen Mann zu Füßen und setzte in athemloser Hast hinzu: „Immer von Neuem wird das kleine Boot zurückgeschleudert in die Wogen, nur ein Wunder erhält’s über dem Wasser. O hilf, o rette, denn Du bist stark, kühn und muthig!“

„Nanna!“ sprach Erich entsetzt, „wer ist jetzt auf dem Meere? wer stirbt und wen soll ich retten?“

„Oscar Fordenskiöld! – und Erich, Du mußt ihn retten, denn meine Gebete haben ihn in den Tod gejagt! Ich werde wahnsinnig, geht das Boot unter.“

„Ihn?– ihn retten und meine sterbende Mutter verlassen? unmöglich!“

„Erich, thust Du es nicht, dann stürz’ auch ich mich in’s Meer. Ich muß sie sühnen, diese Schuld! Kaum noch war der Himmel blau und leicht tanzte das Boot auf den Wellen; da betete ich, betete und betete! Als ich aufsah, war der Himmel schwarz, ein Blitzstrahl zeigt mir sein Schiff, das vergebens die Küste zu erreichen sucht; da dröhnt der Donner, und durch sein Dröbnen, mit dem sich neue Blitze mischen, ruft eine Stimme: ,Dies ist Dein Werk!’ und, Erich, ,dies ist Dein Werk!’ so sagt mir noch lauter das endlich erwachte Gewissen!“

Die Sterbende richtete sich auf, sie sah auf den Himmel, sah das Unwetter und betete leise: „Herr, erbarme dich Aller!“

„Herr, erbarme dich Aller!“ wie war das oft ihr Angstruf gewesen, wenn der Sturm sich erhoben und sie die Ihrigen draußen auf der tückischen See wußte, die nur Gottes Erbarmen zu sicherem Boden machen kann.

Erich’s Mutter sank in die Kissen zurück, der Sohn wollte zu ihr stürzen, aber Nanna’s starke Hand hielt ihn fest. Sie umklammerte seine Kniee und flehte: „Erich, erbarme Dich mein, denn Gott wag’ ich nicht ferner zu bitten!“

„Laß der Mutter den Sohn!“ sprach zwischen Beide tretend der alte Seemann, „ich werde gehen. Mein Arm ist auch noch stark und gut mein Wille. Reicht Beides nicht – so lebt wohl!“

In demselben Augenblick öffnete sich die Thür, und bleich, wie man ihn nie gesehen, trat Ingeborg’s Vater ein. Ohne die Scene zu beachten, sprach er, die Hand des jungen Mannes ergreifend: „Erich, nah am Strande ringt mein Kind mit Sturm und Wellen – rette, rette Ingeborg!“

Mit weitaufgerissenem Auge, leblos, wie eine Statue, starrte Erich auf den Sprecher, und Nanna, die plötzlich einsah, welchen Haupthebel sie in ihrer Herzensangst in Bewegung zu setzen vergessen hatte, rief bastig: „Ja, Erich, Ingeborg ist mit im Boote. Ich sah sie ringen mit den Wogen. Während Oscar am kleinen Mast sich anklammerte, versuchte sie immer und immer wieder das Schiff der Küste zu nähern. O, eile, ihr zu helfen – suche Beide zu retten!“

Glanzloser fiel Erich’s Blick auf die Mutter, die tief und schwer aufathmete und sich ruhelos hin- und herwarf.

„Wir bleiben bei ihr!“ rief Nanna, und Baron Fordenskiöld trat leise zum Lager. Erich stieß ihn bei Seite, warf sich über die gelieble Gestalt und stürzte dann aus dem Zimmer, seinem Großvater nach, der bereits nach dem Strande eilte. Als ihre Augen über die schwarzen Wogenberge streiften, sahen sie, wie sich in der Ferne über den Wellen ein weißer flatternder Streifen erbob. Es war das vom Sturm zerrissene Segel. Auf diesen weißen Punkt steuerten beide Männer los. – – – –

Immer leiser ging der Athem der Sterbenden, immer lauter beteten die Beiden, die im stillen Gemache bei ihr zurückgeblieben, immer ärger heulte der Sturm, immer wilder brauste die See; Blitz um Blitz spaltete die schwarzen Wolken, Schlag auf Schlag grollte der Donner. Nach vielleicht einer Stunde trat Erich Larsson, mit Schweiß bedeckt, triefend von Regen, aber todtenbleich, in das kleine Zimmer, in dem jetzt lautlose Stille herrschte.

Er sah nur seine Mutter – sie war todt. Da erfaßten kalte Hände seine Hände, da blickten glühende Augen starr in seine starren Augen und ungefragt gab er mit klangloser Stimme die kurze inhaltschwere Antwort: „Beide leben!“

(Schluß folgt.)
[117]
Der Erzieher des Berliner Witzes.

Adolf Glaßbrenner.

Der geistvolle Karl Rosenkranz sagt in dem 1854 bei Brockhaus in Leipzig erschienenen Werkchen: „Aus einem Tagebuch“ sehr richtig:

„Es giebt Schriftsteller, die wir nicht zu den Klassikern rechnen und welche doch auf ihrem Gebiet classisch sind. Sie können auch einen Umfang der Wirksamkeit erreichen, der dem eines Klassikers gar nichts nachgiebt. Zu diesen Autoren rechne ich Adolf Glaßbrenner. Was hat die leichte, witzige, quecksilberne Feder dieses Mannes nicht schon hervorgebracht! Er ist der Schöpfer der sogenannten Guckkästnerliteratur, welche dem Berliner Jargon ein so großes Publicum in allen Ständen durch ganz Deutschland erschaffen hat. Er ist der Schöpfer zugleich der demokratischen Anschauungsweise des Berliner Bürgers, der aber in den anderen Städten der Monarchie seine Stammgenossen hat. Erfreulich ist es, zu sehen, wenn ein solcher Mann Beweise einer höheren Auffassung, eines idealern Talents giebt. Das hat Glaßbrenner soeben durch seinen ,Neuen Reinecke Fuchs’, ein episches Gedicht in sehr gewandter Sprache, eine Satire auf den Jesuitismus, gethan.“

Seitdem hat dieses Epos die vierte Auflage erlebt, ebenso wie seine Gedichte; die „verkehrte Welt“ erscheint sogar in der fünften. Ein Dichter mit so glücklichen Erfolgen dürfte wohl das Interesse unserer Leser in Anspruch nehmen und diesen darum eine kurze Lebensskizze nicht unerwünscht kommen. Sie ist bald gegeben.

Adolf Glaßbrenner wurde am 27. März 1816 zu Berlin geboren. Sein Vater war ein Würtemberger, seine Mutter eine Berlinerin. Ohne Zweifel ist diese Abstammung auf den Geist des Sohnes nicht ohne Einfluß geblieben. Der Berliner Mutterwitz erscheint darin auf höchst eigenthümliche Weise mit der schwäbischen Gemüthlichkeit gepaart, und gerade diese Paarung hat es Adolf Glaßbrenner möglich gemacht, sich aus der Berliner Guckkästnerliteratur heraus zu einem Poeten emporzuschwingen, der als einer der populärsten der Neuzeit gelten muß. Seine Lieder und Epen schlagen häufig genug einen Ton an, wie er nur derjenigen Muse zu Gebote steht, die so zu sagen die Muttermilch der echten Rationalität gesogen und mit dem wirklichen Volksliede sich in der innigsten Vertrautheit, in einer Art Seelenbund befindet. Sie trifft mit einem wunderbaren Geschick dessen eigenste Wendungen, dessen lachendste Drolligkeit und rührendste Stimmung. Nicht mit Unrecht hat man Adolf Glaßbrenner ein Stück deutschen Beranger’s genannt. Ihm stehen, wie diesem, eine virtuose Meisterschaft der [118] Form, der nationale Impuls, der politische Sarkasmus und die schlagende Pointe zur Verfügung. Wäre Deutschland uniformer und, wie Frankreich in Paris, in irgend einer Hauptstadt centralisirt, Glaßbrenner’s Wirkung würde der des französischen Dichters nichts nachgeben. Er würde ebenso der allgemeine Liebling der Nation, ihr Ruhm und ihr Abgott sein. Hat er doch in seiner Begabung wie in seinem ganzen Wesen alles Zeug dazu. Laßt in Wien, in München, Stuttgart, Köln, Leipzig und Hamburg dieselben Zeitströmungen stattfinden, wie in Berlin, dieselben Ansichten und Meinungen herrschen, dieselben Sympathien und Antipathien, und augenblicklich wird unser Dichter der unbestrittene Günstling der großen Masse sein.

Seine Individualität ist ganz danach angelegt und dafür gestaltet worden. Geburt, Erziehung, Bildung – Alles hat Adolf Glaßbrenner zum Manne des Volks gemacht.

Seine Eltern waren kleine Bürgersleute, Inhaber einer Schmuckfederfabrik, die sich in der Leipziger Strafte im sogenannten „Fliegenden Roß“, dem jetzigen Hotel de Prusse, befand. Hier verlebte unser Schriftsteller seine ersten Lebensjahre unter einer zahlreichen Geschwisterschaar. Man rühmt ihn als einen muntern, aufgeweckten Knaben, der sich mit Franzosen wie Russen, die damals abwechselnd Berlin besetzten, wohl zu vertragen wußte. Unberührt von den großen Ereignissen der Geschichte, deren verhängnißvolle Bedeutung das Kind natürlich noch nicht zu fassen vermochte, fesselte und beschäftigte ihn nur das fremde und Außergewöhnliche, das sich in rascher Folge seinen Blicken zeigte und wohl nicht wenig dazu beitrug, seine Entwickelung zu fördern. Lustig und voll Uebermuth, den Schelm im Nacken, konnte er doch zugleich auch ernst und fromm der Gewohnheit des Hauses folgen. In der Schule, in der er neben Karl Gutzkow saß, machte er Epigramme auf seine Lehrer sowohl, wie auf seine Mitschüler; daneben vermochte der kleine blonde Pausback aber auch daheim ganz gravitätisch auf einen Stuhl zu steigen und „Predigten zu halten“.

Theologie studiren zu dürfen, war denn auch später der sehnlichste Wunsch seines Herzens. Wäre ihm derselbe in Erfüllung gegangen, so säße unser Poet vielleicht als behäbiger Pastor in irgend einer Pfarre, um die Muse im Lande der Mark waten zu lassen. Die Bilder aus dem Berliner Volksleben aber hätte er dann wohl nicht geschrieben, denn um diese zu verfassen, war doch wohl nöthig, daß seine Familie, durch beengende Verhältnisse gedrängt, ihn für den Kaufmannsstand bestimmte. Hinter dem Ladentische irgend eines Band- oder Zeuggeschäfts hat Adolf Glaßbrenner seine eigentlichen Jünglingsjahre verschmachten müssen. In den karg gemessenen Mußestunden schuf er seine ersten poetischen Versuche, von denen schon 1827 einige in Berliner Blättern erschienen. Zwanzig Jahr alt, fühlte er sich literarisch bereits so weit flügge geworden, daß er Gott Mercur Valet zu sagen und wohlgemuth in den Dienst der Belletristik zu treten unternehmen durfte. Seine launigen Verse, seine Einfälle und seine ganze muntere Schreibart gefiel dem Publicum und verschaffte ihm Anhang. Zweiundzwanzig Jahr alt, redigirte er das Sonntagsblatt „Don Quixote“, das er mit den später vom „Kladderadatsch“ adoptirten Worten ankündigte: „Dieses Blatt erscheint täglich mit Ausnahme der Wochentage“.

Es ist deswegen wichtig, weil es gewissermaßen den Berliner Witz zuerst zu Worte kommen ließ und in die Literatur einführte. Der Berliner Witz war bis dahin nur ein Gassenjunge gewesen, ein Element, das auf allen Brunnenschwengeln, Treppengeländern und Fenstersimsen saß, mit den Beinen schlenkerte und „schnodderige“ Redensarten machte, aber von Niemand recht beachtet wurde, ausgenommen von denen, welchen er seine Schabernacke spielte. Adolf Glaßbrenner erlöste ihn aus dieser etwas unbequemen Situation, um ihn in eine epochemachende Stellung zu bringen. Er wusch dem Burschen die Hände, kämmte ihm das Haar und ließ ihm die Hosen flicken. Soweit zugestutzt, nahm er ihn vor, um ihm begreiflich zu machen, was er eigentlich sei. Berliner Witz, du bist kein bloßer dummer Junge, sagte er ihm; du bist das Genie Berlins, der souveraine Geist der Bevölkerung. Wenn du deiner selbst bewußt wirst, so kannst tu es zu etwas bringen und so zu sagen ein Mann bei der Spritze werden. Du mußt dich nur gewöhnen, deine Blicke höher und über die sogenannten Kellerhälse der Häuser hinauszurichten. Du mußt dich um Gott und die ganze Welt, zuletzt auch ein wenig um Politik und Geschichte kümmern.

Der Berliner Witz ist nicht auf den Kopf gefallen und „roch,“ wie die Berliner Redensart sagt, „Lunte,“ wenn er auch schon keineswegs gleich soweit war, die ganze Tragweite der Glaßbrenner’schen guten Lehren inne zu werden. Er fing von da an, sich in Alles zu mischen, was in Berlin sich ereignete. Er setzte sich mit den Stammgästen der Kneipe zu der „kühlen Blonden“, schlich sich in’s Theater ein, kroch dem Prediger in den Aermel seines Talars, dem Staatsrath in’s Portefeuille, dem Humoristen in die Feder, dem jungen Mädchen in’s Wangengrübchen, ja, es gab eine Zeit, in der er sogar courfähig war und verstohlen unter den Stufen des Thrones hockte. In jener Epoche war Kaiser Nikolaus von Rußland ganz vernarrt in ihn und kam nie nach Berlin, ohne ihm Audienz zu geben. Wenn der Zaar zu St. Petersburg guter Laune war, pflegte er stundenlang von den Unterhaltungen zu plaudern, die er mit dem Berliner Witze gehabt.

Der Berliner Witz wurde selbstverständlich durch diese Erfolge noch weit übermüthiger, als er von Haus aus war. Hatte er doch sogar seinen Censor, den alten närrischen Dichter Langbein gewonnen, der ihn klätschelte und streichelte, oft dabei die verhängnißvolle Scheere vergessend, die drohend in seinen Händen blinkte.

Da der Schelm das wohl merkte und die Gunst seines Inquisitors sich in Glaßbrenner’s „Don Quixote“ so weitgreifend zu Nutze machte, daß dieser drei Mal wöchentlich zu erscheinen anfing, so ward sein Gebahren endlich der Regierung lästig und sie genöthigt, die Zeitschrift durch den damaligen Minister des Innern, von Brenn, verbieten zu lassen; das erste Verbot dieser Art, das Preußen erlebte, und um so eigenthümlicher, als man damals sich eben noch in der Zeit der Censur befand. Aber die Censur war ohnmächtig dem Berliner Witze gegenüber, das fühlte man nur zu wohl. Man sah ein, daß man dem politischen Ernste und der ganzen öffentlichen Meinung bis zu einem gewissen Grade den Daumen auf’s Auge drücken konnte, aber nicht jenem lächelnden Schalke, dessen Bosheiten aus jedem Satze kicherten, hinter jedem Gedankenstrich kauerten. Vor dem konnte man sich nicht anders sicher stellen, als daß man ihn unterdrückte. So unterdrückte man ihn denn – als Journal, aber er kam wieder in Heften.

1832 fing Adolf Glaßbrenner an unter dem Namen Brennglas jene Reihe kleiner Schriftchen erscheinen zu lassen, die unter dem Titel: „Berlin, wie es ist und – trinkt“ von so ungeheuerer Bedeutung wurden, daß in Deutschland beinahe keine größere Stadt ohne deren Nachahmung blieb. Man zählte gegen zweihundert derselben. Der Hauptwerth dieser Werkchen bestand darin, daß in ihnen gewissermaßen das Volk als solches eine Stimme bekam. Sie stellten im modernen Schauspiel der Zeit gewissermaßen die antike Institution des Chores her. Die Reden der Könige und staatlichen Hauptpersonen erhielten nicht nur ein Echo, sondern auch Erwiderungen. Es entstanden Strophen und Gegenstrophen. Die Nation ließ sich vernehmen, zunächst nur mit Einfällen, Späßen und Witzen, aber auch in diesen schon zeigte sich eine gewisse Macht, eine Art von Souverainetät, die im Jargon sich kund that. Der Berliner Jargon war eine Zeit lang die Modesprache in Deutschland, das herrschende Idiom, das sich in die Presse, in die Kunst, in die exclusivsten Kreise, ja, bis in den Umgangston der Monarchen erbob. Noch Friedrich Wilhelm der Vierte nahm es an, wenn er seinem Geist ein Fest bereiten wollte. Freilich hat dieser Monarch damals nicht geahnt, daß der Berliner Witz sich empören und Revolution machen könne. Er hatte den Berliner Witz für harmlos gehalten und demselben nichts Böses zugetraut, obschon ihn Oesterreich da längst eines Besseren hätte belehren dürfen. Oesterreich ließ durch den Bundestag für ganz Deutschland die „Bilder und Träume aus Wien“ verbieten, die Adolf Glaßbrenner als die Frucht eines siebenmonatlichen Aufenthaltes in der deutschen Kaiserstadt im Jahre 1835 bei Otto Wigand in Leipzig herausgab.

Sicher ist, daß der Berliner Witz das Seine zu dem gewaltigen Umschwunge unsers Jahrhunderts mitgeholfen, auch dann noch, als Adolf Glaßbrenner sich gewissermaßen davon losgesagt. Dieser hatte am 15. September 1840 die schöne, feingebildete und geistvolle Schauspielerin Adele Peroni geheirathet und war mit dieser in deren Engagement nach Neu-Strelitz [119] übergesiedelt. Dorthin aber mochte der Berliner Witz ihm nicht folgen. Die Musen konnten im Lande der Mark, aber der Berliner Witz nicht im Lande der Obotriten heimisch werden. So nahm dieser denn Abschied von seinem Adoptivvater und Erzieher, der jetzt an der Seite einer liebenswürdigen und eleganten Frau sich überdies einigermaßen anfing seines Umgangs ein wenig zu schämen. Mit seiner Liebe stieg in seinem Herzen die Erinnerung an sein poetisches Talent empor. Im kühlen Schatten der Wälder, am Ufer der Seen, beim Schlagen der Nachtigall schwor er seiner Adele sich einen Dichternamen zu machen, einen Schwur, den er redlich gehalten. Schon 1843 erschien in Bern unter dem Titel: „Verbotene Lieder eines norddeutschen Poeten“ ein Band Gedichte, der vieles Hübsche und Werthvolle enthielt, aber dem Autor nur wenig Ruf erwarb, da die Regierungen Deutschlands alle Literatur in Bann gethan hatten, die zu jener Zeit von der Schweiz her sich Eingang zu verschaffen suchte. Die Anerkennung, die Glaßbrenner zu erlangen wünschte, fand er erst durch seinen im Eingang unserer Besprechung bereits erwähnten „Neuen Reineke Fuchs“, der großes Aufsehen machte und von welchem trotz seines nicht sehr billigen Preises (ein Thaler zwanzig Silbergroschen) in wenigen Wochen mehr als viertausend Exemplare abgesetzt wurden. Die weitere Ausbreitung dieses Werkes wurde zum großen Nachtheile Glaßbrenner’s mehrere Jahre lang durch Verhältnisse verhindert, deren Besprechung zur Zeit noch nicht gerathen erscheint. Dennoch hat es, wie ebenfalls bereits gemeldet, jetzt schon die vierte Auflage erreicht. „Dies Gedicht“ schreibt Rudolf Gottschall in seiner ‚Deutschen Nationalliteratur‘, „ist eben so reich an schlagendem Witze, wie an einer burlesken Naivetät, und einzelne Stellen athmen einen echt poetischen Duft.“

Mitten aus diesem poetischen Schaffen wurde Glaßbrenner durch die Revolution von 1848 gerissen. Als die Kunde von der Erhebung Berlins am 19. März 1848 nach Neu-Strelitz gelangte, konnten unsern Dichter weder die Bitten seiner Frau, noch die Vorstellungen seiner Freunde, am Wenigsten aber die umziehenden Gerüchte von Brand und Mord in Berlin zurückhalten, dahin zu eilen, wo er das Volk, ja seine eigenen beiden Brüder im Kampf für die Freiheit erwarten mußte. Wenige Stunden nach dem Eintreffen der Nachricht fuhr er mit Extrapost nach seiner Vaterstadt ab.

Was er daselbst erlebt, schildert er unter dem Namen „Ernst Heiter“, den er vielfach gebraucht, in seinem „Komischen Volkskalender“ von 1850 in Briefen an seine Gattin. Als er nach Neu-Strelitz zurückkehrte, wo er im Volke hochbeliebt war, wurde er mit Dr. Daniel Sanders, mit dem er bei Hoffmann und Campe um jene Zeit etwa auch ein Heft „Xenien“ herausgab, der Mittelpunkt der Strelitzischen Volksvereine. Obschon er nun in diesen seinen ganzen Einfluß aufbot, die Bewegung von allen Gewaltäußerungen und abenteuerlichen Ideen fern zu halten, ward er doch sehr bald der Gegenstand des besonderen Hasses der Reaction. Sie ruhte nach ihrer Erstarkung auch nicht eher, als bis er des Landes verwiesen wurde und Mecklenburg-Strelitz verließ. Seine Gattin willigte, um ihm folgen zu können, gern darein, ihren lebenslänglichen Contract mit bedeutendem Verlust in eine Pension umgewandelt zu sehen. Der Forderung Glaßbrenner’s, eine gerichtliche Untersuchung gegen ihn einzuleiten, um die gänzliche Unwahrheit der angegebenen Gründe seiner Landesverweisung an’s Licht zu bringen, ward von Seiten der Mecklenburg-Strelitz’schen Regierung keine Folge geleistet. Sie hatte erreicht, was sie wünschte, und damit war es gut.

Unser Autor begab sich nun nach Hamburg, wo er von 1850 bis 1858 verblieb. Er schrieb hier „die verkehrte Welt“, die „komische Tausend und eine Nacht“, „Caspar, der Mensch“ und gründete, von angesehenen Männern unterstützt, die Zeitung „Ernst Heiter“, die sehr gut aufgenommen, aber schon nach ihrer neunten Nummer für Preußen verboten wurde und dadurch den Todesstoß versetzt erhielt.

Das gesellige Leben Glaßbrenner’s und seiner Frau war in der alten Hansestadt das angenehmste, das sich denken läßt. Die ersten Häuser standen dem geistvollen und liebenswürdigen Paare offen, und so oft es seine Schritte jetzt noch besuchsweise dahin zurücklenkt, wird es mit aufrichtiger Freude überall willkommen geheißen. Der gute Tact, die gefällige Anmuth, der feine Geist Frau Adelens sind dort ebenso allgemein geschätzt, wie der schlagende Witz und die unverwüstliche Laune des anerkannten und bewährten Schriftstellers. Man muß Adolf Glaßbrenner und seine Gattin in den gastlichen Häusern der Familien Helbert, Hellmrich, Ladé, Ropp und Anderer gesehen haben, um sich eine Vorstellung von dem lebendigen Reiz und der bezaubernden Frische ihres Umgangs machen zu können. Besonders im zuerst genannten Hause, in dem einst Heinrich Heine und M. E. Schleiden verkehrt und das zu jener Zeit durch Robert Heller, Rudolph Gottschall, Ole Bull und manche einnehmende und glänzende Erscheinung der Bühnenwelt illustrirt wurde, fühlten sich die oben Genannten vorzüglich wohl und behaglich. Mit wirklich dankbarer Freude erinnert sich noch Jeder, der an den Gesellschaftsabenden und Mittagsmahlzeiten des Herrn und der Frau Helbert Theil nahm, der stets angeregten, bewegten und geistsprudelnden Unterhaltung, die hier ganz besonders durch Glaßbrenner’s nie rastende Beredsamkeit im Zuge erhalten wurde. Seine witzigen Bemerkungen und Einfälle jagten eine die andern und nie gab es Verlegenheit um Gesprächsstoff. Politik, Theater, Kunst und tägliches Leben, alles schoß und quirlte bunt durcheinander, von Frau Helbert wie von Frau Glaßbrenner mit ebensoviel weiblicher Würde wie zartem Tact in den passenden Grenzen erhalten. Manch tiefes, manch scharfes Wort ist hier gefallen, ohne daß je die Harmonie der Geselligkeit irgendwie bedenklich wäre erschüttert worden. Die Grazie war es, die hier selbst die Entrüstung und den Sarkasmus leitete. Sogar in der munteren Ausgelassenheit dilettantischer Theateraufführungen, mitten im Rausch und Strudel übermüthiger Sylvesterscherze verleugnete sich nie der Hauch ber höchsten und feinsten Bildung.

Es sind schöne, beglückende Stunden gewesen, die man hier verlebte, und sie werden Allen unvergeßlich bleiben, die sie mitgenossen.

Im Jahre verließen Adolf Glaßbrenner und seine Gattin Hamburg, um in die Vaterstadt des Ersteren zurückzukehren. Seine Heimathsberechtigung war in Frage gekommen, und da er diese in der preußischen Capitale nicht völlig schwinden lassen wollte, in Hamburg überdies bezüglich dieser von Seiten der Polizei seltsamer Weise auf Schwierigkeiten stieß, so entschloß er sich zur Uebersiedelung in seine eigentlichste Heimath.

Was er hier nun fand, freilich, verletzte ihn zuerst in hohem Grade. Glaßbrenner erkannte seinen Zögling, den Berliner Witz, nicht wieder. Der arme Schelm hatte sich wunderlich verändert. Er war nicht mehr der muntere harmlose Junge von ehedem, der mit rothen Backen, frischen Augen und flinker Zunge, oft ohne Mütze und Stiefeln, durch die Straßen lief. Der Berliner Witz war zu Gelde gekommen und ging jetzt wohlgekleidet, die Hände in den Hosentaschen und den hohen Castorhut aus dem Kopfe, breitspurig unter den Linden spazieren. Er hatte sich einen gewissen Dividendenesprit angeeignet und machte gute Geschäfte in „höherem Blödsinn“. Er hielt sich zur hohen Finanz und besuchte die Börse. Wenn er Glaßbrenner zufällig begegnete, nickte er, mit den goldenen Uhrberloques spielend, herablassend mit dem Haupte.

Adolf Glaßbrenner, davon, wie von vielem Anderen, unangenehm berührt, hielt sich damals vom öffentlichen Leben fern, so gut es ging, verkehrte nur mit wenigen Freunden und warf sich, wie zur Ablenkung und Erheiterung seines Gemüths, auf Jugendschriften, von denen „Lachende Kinder“, „Sprechende Thiere“, sowie die früher erschienene „Insel Marzipan“ besondern Anklang fanden. Erst später trat er wieder in die journalistische Thätigkeit ein und zwar dadurch, daß er Redacteur der „Berliner Montag-Zeitung“ wurde, die er käuflich an sich brachte. In dieser begann er nun mit aller Kraft seiner Satire gegen die Blasirtheit und den Nihilismus zu kämpfen, die sich in Berlin zur Herrschaft aufgeschwungen. Noch in diesem Augenblick steht er gegen diese Elemente tapfer unter den Waffen. Wer ihn in einer erquicklichen Erholungsstunde sehen will, begebe sich um Mittag in die von E. Th. A. Hoffmann und Ludwig Devrient her berühmte Weinhandlung von Lutter und Wegener, wo man ihn lustig und aufgeräumt verkehren sehen kann.

Die soeben erschienene vierte Auflage seiner Gedichte findet durch ganz Deutschland hin die freudigste Aufnahme und kann in der That nur dazu dienen, diesen echten Volksdichter in noch immer weitern Kreisen bekannt und beliebt zu machen.

F. W.



[120]
Das schwarze Buch der Sclavenjunker.
Ausplünderung der Kriegsgefangenen. – Der „Sclavenpeitscher“ als Gefängnißinspector. – Das „Yankeeschießen“ ein Soldatenexercitium. – Hungernoth und Hungerdelirien. – Tag und Nacht ohne Obdach. – Jeden Morgen Erfrorene. – „Es giebt keinen Ausdruck für unseren Hunger.“

Nichts kann die Unsittlichkeit der von Nordamerika’s Südstaaten verfolgten Politik und das Princip, auf das sie gebaut ist, treffender kennzeichnen, als eine Schrift, die unlängst in Philadelphia veröffentlicht, doch nicht in den Buchhandel gekommen ist. Zwar sträuben sich die Haare empor, zwar stockt uns das Blut in den Adern, wenn man die Seiten dieses Buches durchblättert, das der Redaction der Gartenlaube von officieller Seite übermittelt wurde, aber es verdient in weitesten Kreisen die höchste Beachtung, denn es soll Zeugniß ablegen von der Barbarei der südstaatlichen Kriegsführung und die Unmenschlichkeiten der sclavenzüchtenden Junker in Virginien und Carolina, in Georgien und Mississippi vor der gesammten civilisirten Welt an den Pranger schlagen – zur ewigen Verdammung alles Junkerthums jenseits und diesseits des Oceans. Von wie viel Blut und Hunger und Siechthum, von welchem unfaßbaren Jammer erzählen die glatten Velinblätter des Buches, erzählen Geschichten so grausiger Natur, daß sich die ausschweifendste Phantasie eines Sensationsnovellisten kaum solche Schauerscenen und Schauerdetails ersinnen und ausmalen könnte und daß man sich versucht fühlen müßte, das Ganze für die Ausgeburt eines wahnwitzigen Gehirns zu halten, wäre das Buch nicht eine amtliche Publication und mit allen Beweisen und Belegstücken versehen, welche an der Glaubwürdigkeit des Dargestellten – leider – nicht den leisesten Zweifel aufkommen lassen!

Schon nach den ersten Schlachten des amerikanischen Krieges war der Norden voll von beängstigenden Gerüchten über die Behandlung, welche die Rebellen-Behörden den gemachten Kriegsgefangenen zu Theil werden ließen. Jeder dieser aus der Haft entflohenen oder ausgelösten Gefangenen brachte die gräßlichsten Berichte heim von der Grausamkeit und Barbarei des Feindes, so daß sich schon damals die Gemüther des nordstaatlichen Publicums in höchster Aufregung befanden. Wo ein Krieg plötzlich in so ungeheuere Dimensionen hinaus wächst; wenn mit einem Male Tausende von Gefangenen die Lager von Freund und Feind überschwemmten, die beide ihre militärischen Ueberlieferungen und Erinnerungen nur einer um Generationen rückliegenden Vergangenheit zu entnehmen hatten: konnten Anfangs große Uebelstände und Mißbräuche nicht ausbleiben, bis in dieser Beziehung die nothwendigsten Anordnungen und Vorkehrungen getroffen waren. Allein der Kampf hatte nachgerade schon länger als drei Jahre gewüthet, beide Parteien waren inzwischen längst mit den Bräuchen und Gesetzen des militärischen Lebens vertraut worden, hatten alle Mittel und Anstalten kennen gelernt, wodurch die moderne Civilisation Unmenschlichkeit und Schrecken des Kriegs zu mildern versteht – und dennoch liefen Woche für Woche immer beängstigendere Nachrichten von der Barbarei der Conföderirten ein, welche, wie man hörte, die unglücklichen Gefangenen aus dem Norden vor Frost und Hunger schaarenweise in den Kerkern dahinsterben ließen; man erfuhr, wie bei der letzten Gefangenenauswechselung ganze Boote voller halbnackter lebendiger Skelete, die zerfressen waren von Koth und Ungeziefer, Schiffe voller Jammergestalten, siech und sterbend oder invalid für’s Leben, gegen wohlgenährte und gutgekleidete Männer eingetauscht wurden, die gesund und kräftig aus der nordischen Haft in die Reihen der Ihrigen heimkehrten.

Nunmehr mußten ernstliche Schritte geschehen, der täglich steigenden allgemeinen Erbitterung gerecht zu werden. Der Congreß selbst konnte nicht länger unthätig bleiben; er setzte eine Commission nieder, den Thatbestand festzustellen und zu ermitteln, ob und in wie weit jene grauenhaften Hiobsposten auf Wahrheit beruhten.

Ehe jedoch das Ergebniß dieser Erhebungen veröffentlicht war, hatte auch die sogenannte Sanitäts-Commission der Vereinigten Staaten, ein Verein menschenfreundlicher und sachkundiger Männer, der sich die Aufgabe gestellt hat, das Sanitätswesen der im Felde stehenden Armee zu organisiren, die Verpflegung ihrer Verwundeten und Kranken zu leiten und zu überwachen, und Treffliches leistet, seinerseits ebenfalls beschlossen, eine gründliche und unparteiische Untersuchung jener Scheußlichkeiten in Gang zu bringen. Zu diesem Behufe – „die wahre Körperbeschaffenheit der Gefangenen zu constatiren, die neuerdings durch Auswechselung aus der Haft in Richmond und sonstwo innerhalb der Linien der Rebellen befreit wurden“ – erwählte man im Mai des vorigen Jahres einen aus sechs Mitgliedern bestehenden Ausschuß, dem neben drei der ersten medicinischen Autoritäten von Philadelphia und New-York unter Andern der Gouverneur des letztern Staates angehört und außerdem von Unionswegen ein Deputirter – United States Commisioner – beigegeben ward.

Ohne Säumen unterzog sich der Ausschuß seiner schwierigen Aufgabe. Der Reihe nach besuchte er die verschiedenen Hospitäler, worin die aus südstaatlicher Kriegsgefangenschaft Entlassenen Unterkunft gefunden hatten, vor allen die von Baltimore und Annapolis in Maryland. Am letztern Orte allein beherbergten die zu solchem Behufe umgewandelten weitläufigen Räumlichkeiten der Marineschule und des St. Johns Collegiums über drei Tausend, Officiere und Soldaten aller Waffengattungen und Grade, sämmtlich erst vor Kurzem aus der Gefangenschaft erlöst.

Das Schauspiel von Elend und Leiden, das sich hier von Zelle zu Zelle, von Zelt zu Zelt, von Bett zu Bett den Untersuchenden bot, spottet jeder Beschreibung! Es bestätigte nicht nur die schlimmsten Befürchtungen, es überstieg sie; es übermannte selbst die Aerzte der Commission, die bekennen mußten, noch niemals ähnlicher Jammerscenen ansichtig geworden zu sein. Kein Bild, selbst die Photographien nicht, welche man von einigen der charakteristischsten Krankenerscheinungen nehmen ließ, grausenerregend wie sie sind, vermögen nur annähernd das Furchtbare des Eindrucks wiederzugeben, welchen der Anblick von Hunderten lebendiger Leichen, von buchstäblich zu Gerippen abgezehrten und ausgehungerten Gestalten machte, die nur durch matte, kaum bemerkbare Bewegungen verriethen, daß noch Athem in ihnen war. Gräßlicher aber als alles Dies, gräßlicher als die knochigen, hohlwangigen Gesichter, die in stumpfer Apathie wie Halbidioten die Vorübergehenden aus den Kissen heraus anstarrten; gräßlicher als die geschwollenen, durch Beulen und Wunden, durch Löcher und Narben verunstalteten Leiber, von denen Beine und Arme herabhingen, dünner, als die Glieder fünfjähriger Knaben, welche mühelos die Hand umspannt – entsetzlich, wie die Erscheinung eines grausigen Spukes, die uns nicht mehr aus den Augen kommen will, die uns auf Schritt und Tritt verfolgt, im Wachen und im Schlafen, war ein Moment, das sämmtlichen dieser Unglücklichen angehörte, denen in Baltimore, wie jenen in Annapolis, dem Reconvalescenten, der sich langsam im Lazarethgarten erging, wie dem Todsiechen, welcher den Kopf nicht mehr vom Pfühle aufrichten konnte, – es war der Ausdruck äußerster Trostlosigkeit in Augen und Zügen, ein Blick unüberwindlicher Melancholie, als hätten sie sammt und sonders eine Periode höchster physischer und geistiger Qual durchleben müssen, die jedes Lächeln für immer aus ihren Gesichern verscheuchte. Wo dies nämliche Merkmal Allen gemeinsam war, allen den Tausenden, welche in der Gefangenschaft bei den Rebellen geschmachtet hatten, da konnte von zufälligen individuellen Zuständen nicht mehr die Rede, da mußte eine allgemeine, immer und überall wirkende Ursache vorhanden sein, der jener unvertilgbare und unvergeßliche Ausdruck entsprang, und wer auch von der Commission vernommen wurde, Stabs- und Subalternofficiere, Sergeanten und Gemeine, und die Wahrheit seiner mündlichen und schriftlichen Aussagen und Antworten feierlich beschwor, – Alle hatten unveränderlich die nämliche Jammergeschichte zu erzählen: von Hunger und Mangel, von Schmutz und Obdachlosigkeit, von Kälte und Frost, von Martern ohne Zahl und ohne Beispiel!

Der Bericht der Commission liegt vor uns mit jenen schrecklichen Photographien als Titelbildern und dem gesammten Material von eidlich erhärteten und officiell beglaubigten Zeugnissen und Beweisen als Anhang, ein stattlicher Octavband. Es ist das Buch, von dem wir oben sprachen und welchem die nachstehenden Mittheilungen, hie und da wortgetreu, entnommen sind. Der uns zur Verfügung gestellte Raum gestattet freilich blos da und dort hineinzugreifen in die Masse der gesammelten Thatsachen und Einzelheilen, – doch wir fürchten, den Lesern wird auch so schon des Gräßlichen genug und übergenug geboten sein.

[121] Die geflissentliche Barbarei, die raffinirte Grausamkeit, mit welcher die Conföderirten ihre Kriegsgefangenen, Brüder ihres eigenen Stammes, mißhandelt haben, schreien zum Himmel in einer Zeit, wo bei allen civilisirten Nationen auch im Kriege die Gesetze der Menschlichkeit zur Geltung kommen; wo sich eben erst eine große Reihe von Staaten dem bekannten Genfer internationalen Sanitätsconcordate angeschlossen hat; wo, sobald die Schlacht geschlagen, für ihre Opfer der Unterschied schwindet zwischen Sieger und Besiegten; wo die Verwundeten von Freund und Feind sich gleicher Hülfe und Pflege erfreuen; wo man die Gefangenen der Wahlstatt nicht mehr in finstere Kerker wirft und hinter Schloß und Riegel sperrt wie Verbrecher, sondern sie kleidet und nährt und lohnt, als seien sie jetzt dem eigenen Heere einverleibt. Kann irgendwer noch Sympathieen hegen für die Bestrebungen der amerikanischen Secessionisten – und leider hat es auch in Deutschland an solchen Sympathien nicht gefehlt, noch fehlt es daran da, wo jede freiheitliche Regung als Eingriff in Rechte von Gottes Gnaden angesehen zu werden pflegt, – dies schwarze Buch, in welchem den Sclavenjunkern des Südens und ihrer Wirthschaft ein unvergängliches Denkmal der Schmach gestiftet ist, sollte für immer heilen von derlei Parteinahme.




In und um Richmond, der Hauptstadt Virginiens, des Junkerstaats par excellence, des amerikanischen Mecklenburgs, haben die Conföderirten zwei Hauptdepots für ihre Kriegsgefangenen. Dort befindet sich u. A. dicht am St. Jamesstrome das sogenannte Libby, das, ursprünglich eine große Tabaksniederlage, jetzt vorzugsweise kriegsgefangenen Officieren zum Detentionsorte dient. In sechs Zimmern von je hundert Fuß Länge und vierzig Fuß Breite waren hier mehr als zwölfhundert Officiere des Unionsheeres vom General bis zum Unterlieutenant monatelang zusammengepfercht und hatten in diesem engen Raume, der nicht überschritten werden durfte, Alles zu verrichten, was zur Herstellung der nothdürftigen menschlichen Existenz erfordert wird: zu wohnen, zu schlafen, zu kochen, zu essen, zu waschen u. A. mehr. Es scheint unglaublich und doch ist’s nichts als bittere Wahrheit!

Die erste Mißhandlung, welche die Gefangenen, Officiere wie Soldaten, regelmäßig über sich ergehen lassen mussten, war eine Ausplünderung von Allem, was sie irgend Werthvolles an und bei sich trugen. Diese Räuberei erstreckte sich soweit, daß den Unglücklichen oft nicht die allerunentbehrlichste Kleidung blieb. Decken und Ueberröcke wurden fast ohne Ausnahme weggenommen; an ihrer Statt mußten sich die Gefangenen mit den erbärmlichsten, schmutzigsten Lumpen behelfen. Anfangs gab es im Libby weder Bank noch Tisch noch Stuhl; auch war streng verpönt, sich etwa aus jenen elenden Hüllen einen Sitz oder ein Lager herzurichten! Später geruhte man den Gefangenen wenigstens zu gestatten, sich der Fässer und Kisten, worin ihnen allerhand Lebensmittel und Spenden aus der Heimath zukamen, als Möbel zu bedienen.

Trotz aller Vorsicht und trotz der fleißigsten Reinigungen konnte es bei solchem Zusammenschichten nicht fehlen, daß bald Jeder von Ungeziefer starrte. „Nachts lagen wir auf der harten Diele, nothdürftig eingewickelt in die Fetzen, die wir besaßen, aneinandergedrückt wie die Fische in einem Korbe,“ – bezeugt einer der vernommenen Officiere, – „auf der harten Diele, die rücksichtslos immer erst am späten Abend gescheuert wurde, so daß der Boden noch triefnaß war, wenn wir uns darauf zum Schlafen hinkauerten.“ In jedem Zimmer standen zwar zwei Oefen, allein in keinem brannte ein ordentliches lustiges Feuer; eine Handvoll grünes Holz war der einzige Vorrath, den man für den kalten Wintertag verabreichte.

Von der Strenge und Härte der sonstigen Behandlung macht sich Niemand einen Begriff. Bestimmte Normen, nach denen die Hausordnung im Libby geregelt war, schienen nicht vorhanden, die Gefangenen vielmehr einzig und allein den Launen der Gefängnißbeamten preisgegeben zu sein. Ein gewisser Major Turner, als Gouverneur des Platzes, und unter ihm der Gefängnißinspector Richard Turner, ein ehemaliger Sclavenaufseher – „Sclavenpeitscher“ nennt ihn der Bericht – hatten unumschränkte Autorität in Händen; Beides Männer von wahrhaft teuflischer Grausamkeit, deren Namen vor der gesammten civilisirten Welt gebrandmarkt zu werden verdienen.

In allen derartigen Gefangenenstationen des Südens bestand, wie in vielen Zuchthäusern, das Verbot, sich den Fenstern zu nähern; näher als drei Fuß durfte Niemand an diese herankommen. Wie schwer, oft geradezu unmöglich, wurde die Beobachtung dieses Gesetzes in so überfüllten Räumen, wo Alles in quetschender Enge beisammen war, daß wider Willen Einer den Andern stieß und drängte! Wie barbarisch war seine Handhabung, wenn zufällig oder ahnungslos einer der Gefangenen die gezogene Grenze überschritt! Auf der Stelle, ohne daß vorher der geringste Warnungsruf oder auch nur ein Zeichen erfolgte, feuerte die im Hofe postirte Wache auf den Unglücklichen. Tag für Tag fast knatterten dergleichen Schüsse, Tag für Tag fast sanken Gefangene todt oder schwer verwundet zusammen! „Auf einen Yankee zu feuern“ wurde zu einer Art von „Sport“ bei den conföderirten Soldaten, welche den Gefängnißwachdienst zu besorgen hatten. Man sah, wie sie, den Hahn ihres Gewehres gespannt, nach den Fenstern spähten und lauerten, ob sich kein Ziel für ihre Kugeln böte. Oft genug warteten sie diese Gelegenheit nicht einmal ab. So hatte sich eines Tages ein gefangener Officier, Lieutenant Hammond, in einen engen Breterverschlag begeben, der gar keine Fenster, sondern nur eine Spalte in einer seiner Wände hatte. Plötzlich ward der außen schildernde Soldat durch diese Lücke Hammond’s Hut gewahr, – sofort legte er die Muskete an und schoß. Er hatte tiefer gehalten, um das Herz des Gefangenen zu treffen, glücklicher Weise sprang jedoch die Kugel an einem Nagel ab und traf nur das Ohr und die Hutkrämpe des Officiers. Als sämmtliche Gefangene über diese Brutalität bei Major Turner Beschwerde führten, gab dieser kurz und höhnisch zur Antwort: „Meine Leute müssen sich üben,“ und die Schildwache sagte übermüthig: „Ich hatte gewettet, daß ich, noch ehe ich von Wache käme, einen Yankee todtschießen wollte.“ Damit war der Vorfall abgethan, und keine Behörde nahm weiter Notiz davon. – Noch kannibalischer hauste man in einem benachbarten andern Gefängnisse, das Kopf an Kopf voll stak von Rekruten. Vierzehn bis fünfzehn dieser furchtbaren Schüsse des Tages gehörten dort nicht zu den Seltenheiten! Auch in Danville in Virginien, das ebenfalls eine große Anzahl von Kriegsgefangenen beherbergte, war die Wirthschaft nicht menschlicher. Einer seiner Gefangenen stand eben dicht an dem Platze, wo er Nachts sein Lager hatte, das sich zufällig unweit des Fensters befand, und sprach mit einem Mitgefangenen. Unachtsamer Weise hatte er währenddem die Hand auf das Fensterbret gelegt. Auf einmal knallt ein Schuß, und der arme Bursche fällt mit zerschmettertem Schädel todt zu den Füßen seines Cameraden nieder. Von ihrem Posten aus hatte die Wache ihn nicht sehen können, wahrscheinlich aber hatte sie seinen Schatten bemerkt und war dann in die erforderliche Distanz zurückgetreten, um ihr Ziel schußgerecht zu bekommen.

Beinahe jeder Officier hatte von diesem grausamen „Sport“ der südstaatlichen Soldaten zu erzählen. Auf manche war zu wiederholten Malen gefeuert worden und einer beschwor, daß er vor seinen eigenen Augen fünfhundert seiner Cameraden auf solche Weise todt oder blessirt habe niederstrecken sehen. Ein Officier wurde von der Schildwache erschossen, als er durch das Fenster einem glücklich abziehenden Cameraden seinen Abschiedsgruß zuwinkte!

So entsetzlich, so unglaublich diese Barbareien sind – es war bei Weitem noch nicht das Schlimmste, dem sich die armen Dulder ausgesetzt sahen. Ach, wie Mancher mochte den Gefährten beneiden, den die Kugel der Schildwacht mit einem Schlage von den Martern erlöste, welche die Unmenschlichkeit des Feindes über sie verhängte! Wahrhaft herzbrechend, über alle Worte empörend sind die Scenen von Mangel und Hunger, wie sie, nach dem einstimmigen Zeugniß sämmtlicher Befragten, in allen diesen südstaatlichen Militärstationen die stereotype Tagesordnung ausmachten.

Ein handgroßes Stückchen Weizen- oder Maisbrodes und vier Loth Rindfleisch waren die Ration, welche reglementsmäßig jeder gefangene Officier täglich erhalten sollte. Allein auch das stand nur auf dem Papiere, in Wirklichkeit fand in Quantität und Qualität der Nahrung die allergrößte Willkürlichkeit statt. „Bei Gott im Himmel,“ äußerte einer dieser Officiere, „ich habe die Pferde in meines Vaters Stalle um ihr Futter beneidet!“ Allein auch diese Ration, sowenig sie hinreichte zur Ernährung und so ernstlich sie auf die Dauer die Gesundheit gefährden mußte, scheint an maßgebender Stelle für die Yankees noch zu gut und zu reichlich gedünkt zu haben. Vom vorletzten Herbste an verringerte und [122] verschlechterte die Kost sich dergestalt, daß bald offenbare Hungersnoth eintrat. Das gelieferte Brod war nicht mehr zu genießen, voller Hülsen und Kolben, die Rinde hart wie Eisen; die Erbsen, die von Zeit zu Zeit an die Reihe kamen, saßen voller Würmer und Larven, die in dicken Schaaren auf der Suppe schwammen, welche man daraus zu kochen versuchte. Wer nicht Freunde und Angehörige im Norden hatte, die ihn dann und wann mit Lebensmitteln versorgten, fiel bald Tag und Nacht den furchtbaren Qualen anheim, von denen der Hunger begleitet ist, um unter peinigenden Phantasien und Delirien langsam dahin zu siechen. „Das Feuer, das mir in Magen und Eingeweiden brannte, war entsetzlich,“ erzählte ein Hauptmann, als man ihn zum Zeugniß aufrief. „Von Stunde zu Stunde schwanden meine Kräfte mehr und mehr und ich wurde so schwach in meinen Gedanken, daß ich mich mit den bittersten Selbstanklagen marterte, nicht mehr gegessen zu haben, als ich frei und daheim war. Essen, essen, essen – an Anderes dachte ich nicht mehr. Einer meiner Mitgefangenen hatte von Freunden in der Heimath ein Stückchen Schinken empfangen. Stundenlang starrte ich mit fieberheißen Wangen und gierigen Augen auf diesen Schatz und sann und sann, wie ich ihn meinem Cameraden entwenden konnte.“ „Ich träumte von Nichts als von Essen und Trinken,“ deponirte ein Anderer. „Gedeckte Tische mit allen Leckerbissen besetzt, die ich mir erdenken konnte, gaukelten beständig vor meiner wirren Phantasie – alle Tafelfreuden, die ich je genossen, zogen an meiner Erinnerung vorüber und steigerten die Pein, die ich litt.“

Die Noth war furchtbar; Hunderte delirirten im Hungerwahnsinn, Hunderte wanden sich unter dieser grausamsten aller Torturen; Alle hatten jenen traurigen Herzergreifenden Blick im Auge, der sich nicht beschreiben läßt, aber nicht wieder vergißt. Und zur selben Zeit lagen die Keller unter dem Gefängniß – voll von Lebensmitteln, voller Kartoffeln, voll des schönsten Mehls, voller Gemüse, wie man eines Tags beim Aufheben einer Diele entdeckte!!

Das Alles war indessen noch nicht genug der Barbarei, das Raffinement der Grausamkeit ging noch weiter. Bisher waren die Gaben, die mit Eßwaaren und Genußmitteln gefüllten Kisten und Fässer, die für die Gefangenen aus der Heimath einliefen, regelmäßig an die Empfänger vertheilt worden, mit einem Male fand man ohne allen Grund für gut, diese Vertheilung zu sistiren. So stapelten sich jene Kisten und Fässer zu mehreren Tausenden in einer angrenzenden Niederlage auf und ihr Inhalt verdarb und verfaulte. Man kann sich die Tantalusqualen der Hungernden vorstellen, die Tag für Tag diese Gegenstände ihres heißesten Verlangens vor Augen hatten und nicht erreichen konnten! Und wenn es dann dem Inspector beliebte, etwa fünf oder sechs von den Tausenden von Kisten auszuliefern – was höchstens einmal in der Woche geschah – so verfuhr er dabei in einer Weise, welche nur zu einer neuen Grausamkeit wurde. Womit die trauernde Gattin, die bange Mutter den fernen Gefangenen zu erfreuen gedacht, was sie sorglichst gesondert und bestens verpackt und verwahrt hatte – in buntem Gemisch wurde es auf die Decke geschüttet, welche der Empfänger aufhalten mußte, Fleisch, eingemachte Früchte, Tabak, Gemüse, condensirte Milch, gepökeltes Fleisch, Alles durcheinander, so daß das Ganze eine ekelhafte Mischung bildete und kaum dem Ausgehungerten noch genießbar blieb.

Die kleinsten Vergehen, die leiseste Ueberschreitung der unmenschlichen Disciplinarvorschriften wurden mit Einsperrung in unterirdische Zellen geahndet, an deren Wänden das Wasser herabrieselte und dicker Schimmel wuchs. Manchmal war die darin campirende Menschenmenge so groß, daß die Meisten Tag und Nacht stehend zubringen mußten. In diesen schauerlichen Verließen hielt man auch die Geiseln fest! Daß mit dem Leben die Barbarei noch nicht endete, daß auch die Todten noch von ihr betroffen wurden, die sich nackt und bloß in offenen Kellern und Ställen anhäuften, wo Ratten und Mäuse, selbst Schweine ungestört an ihnen nagten und fraßen, sei nur angedeutet; die Feder sträubt sich, bei solchen Scenen zu verweilen.




Im Angesickt des Libby erhebt sich eine kleine Insel, Belle-Isle geheißen, aus dem St. Jamesflusse. Hier auf niedrigem, kahlem Sandplatze, der, ohne Baum und Strauch, den sengenden Strahlen der südlicken Sonne ausgesetzt ist, hatte man die gefangen genommenen gemeinen Soldaten zusammengetrieben, oftmals bis zu zwölf Tausend. Der Platz glich einigermaßen einem Feldlager, indem eine Anzahl von Zelten in regelmäßigen Reihen ihn bedeckten. Diese Zelte, morsch und zerfetzt, durch welche Regen und Frost ungehinderten Eingang fanden, waren das einzige Obdach, welches man den Gefangenen bot, allein es reichte nur für einen kleinen Theil von ihnen hin; den Uebrigen blieb zum Quartier nichts als die nackte Erde unter dem freien Himmel. Da lagen nun Tausende, ohne den geringsten Schutz gegen die Witterung, oft mitten im Wasser, oft auf eisigem Boden aneinandergepackt wie die Häringe, so daß Niemand sich rühren und regen konnte. Und die ganze Gegend ist voller Wald; das Holz zur Aufführung von Hütten und Baracken war in nächster Nachbarschaft zur Hand, dennoch ist seit dem Beginn des Krieges bis heute nicht der geringste Versuch gemacht worden, die Gefangenen derart nur auf’s Nothdürftigste unter Dach und Fach zu bringen.

Was müssen sie gelitten haben, wenn die Sommersonne den Sand zu ihren Füßen erhitzte und auf ihre Scheitel brannte! was, wenn die Herbstregen mit ihren gewaltigen Güssen kamen! was, wenn eisiger Wind ihre halbnackten frostzitternden Leiber peitschte! Ohne Decken, ohne Mäntel, meist ohne Hut, oft ohne Schuhe und Strümpfe – denn Alles, was sie davon besessen, war ihnen genommen worden, als sie in Gefangenschaft geriethen – in zerrissenen Hemden und Röcken kauerte sich Einer dicht an den Andern, um sich zu wärmen oder sonst die Unbilden des Wetters minder peinlich zu empfinden. Das Elend überstieg alle Begriffe. Dazu kam die ungewöhnliche Strenge des letzten Winters. Fußtief lag rund um Richmond der Schnee, der St. James starrte in dicken Eisbanden – und die Armen nach wie vor unter freiem Himmel!

Vergeblich suchten sie sich mit allen Kräften und Mitteln gegen den andringenden Tod zu wehren, legten sich Nachts Einer auf dem Andern in den Graben, der hinter einem Walle rund um den Platz lief, da wo er am meisten Schutz gewährte, drückten sich zusammen wie Schweine im Winter; trotz alledem aber fand jeder neue Morgen eine Reihe lebloser Gestalten hingestreckt, die in ihren letzten Schlaf hinübergeschlummert, die erfroren waren. In Angst und Verzweiflung rannten Schaaren der Unglücklichen die ganze Nacht auf und nieder, um sich den Feind vom Leibe zu halten, denn das gleiche Schicksal drohte Allen, umsomehr, als sie sammt und sonders Hunger litten. Die Kälte erstarrte sie, weil sie hungerten, der Hunger verzehrte sie, weil sie froren. Zu gleicher Zeit nagten so diese beiden grausamen Geier an ihren Eingeweiden; man wußte das nur zu gut im Congreß der Conföderirten, und dennoch erbarmte sich Niemand des Jammers. Die einzige Stimme, die sich einmal gegen solche Barbarei zu erheben wagte, „eine Barbarei, die den amerikanischen Namen auf ewig schände“, verhallte ungehört.

Schweine werden besser, rücksichtsvoller gefüttert, als die Gefangenen auf Belle Isle. Ein Stück unausgebackenen Brodes, muffig, voller Risse, als sei es nur an der Sonne geröstet, in dem noch ganze Körner und Hülsen saßen; ein Mundvoll übelriechenden, unappetitlichen Fleisches; ein paar Löffel verdorbener Bohnen; widerliche, dünne, ranzige Suppe, auf der in der Regel Schaaren schwarzer Insecten sich tummelten, – das variirte den Küchenzettel. Denn immer gab es nur einen dieser Leckerbissen auf einmal und immer kaum die Hälfte des zur Ernährung eines gesunden Menschen nöthigen Nahrungsquantums. Trotzdem geriethen die Leute in den Zustand wilder Aufregung, wenn die elenden Rationen ausgetheilt wurden, und fielen mit einer Gier darüber her, die sich nur dem Toben wilder Bestien vergleichen läßt, wenn in der Menagerie die Fütterungszeit gekommen ist.

Wer könnte die kunstlosen, ungeschminkten Aussagen der Gequälten lesen, ohne davon im Innersten seines Herzens ergriffen zu werden, ohne die Faust zu ballen in stillem Ingrimm über die Teufel in Menschengestalt, die geflissentlich – wie wir bald sehen werden, geschah dies Alles in wohlberechneter Absicht – solchen Ueberschwang von Noth und Elend verschuldet?

„Es giebt keinen Ausdruck für unsern Hunger!“ sagte der Eine. „Einmal wachte ich Nachts auf und fand, daß ich am Aermel meines Rockes kaute. Und wenn ich hier vor Ihnen, meine Herren Commissare, eine ganze Woche sitzen wollte, – ich könnte Ihnen noch lange nicht auch nur die Hälfte unserer Leiden erzählen.“

(Schluß folgt.)
[123]
Das Werk eines deutschen Bürgers.
Von Ludwig Walesrode.
II.
Marstall und Dichterasyl. – Die Geschäftslocale der Lebensversicherungsbank, ihre Beamten und ihr unheimlicher Kunde. – Die blauen Pappkasten im Directorialzimmer. – Das tröstliche, sittliche und volkswirthschaflliche Moment der Police. – Die Riesenziffern der Lebensversicherungsbank. – Die Sterblichkeitsstatistik und ihre arithmetischen Formeln. – Der Tod unter strenger Controle. – Zahlenverhältniß zwischen Todesursachen und Lebensalter. – Ein Hingerichteter unter den Versicherten. - Die strategischen Karten der Bank. – Die Polizei der Lebensversicherungsbank.

Jedem Fremden, der zum ersten Male vom Gothaer Bahnhofe durch die von freundlichen Landhäusern und Gärten gebildete Bahnhofstraße der Stadt zuwandert, werden gewiß zwei am Ende jener Straße auf terrassirter Höhe sich erhebende Gebäude ganz besonders in die Augen fallen. Wessen das eine von zierlich behauenen Quadern aufgeführte sei und welche Bestimmung es habe, darüber belehrt den Fremden ein flüchtig prüfender Blick. Der Mittelbau mit seiner crenelirten Mauerkrone, wie ein castellartiges Donjon die den Anlagen zugekehrte Facade hoch überragend, und das in Stein gemeißelte Wappen über dem Hauptpertale sagen es Jedem, daß Herzog Ernst von Sachsen-Coburg-Gotha der Besitzer sei, während die ornamental angebrachten, an die Rosse des Parthenon erinnernden Pferdeköpfe auf die Bestimmung des Gebäudes hindeuten. Es ist der herzogliche Marstall, dessen Seitenflügel zur Wohnung für die Gäste des Herzogs eingeräumt ist. Deutschen Poeten, die unter diesem Dache oft gastfreundliche Pflege gefunden, blieb es unbenommen, in diesen ornamentalen Pferdeköpfen weniger das Emblem des höheren Sport zu sehen, als den allegorischen Hinweis auf das Götterroß, unter dessen wildem Hufschlage der begeisternde Dichterquell dem Gestein des Helikon entströmte.

Der andere, ebenfalls von dem okergelben Felsquader des nahen Seeberges aufgeführte Nachbarbau giebt über seinen Eigner und seinen Zweck eine weniger zuvorkommende Auskunft. Die stattliche Langseite mit ihrer Doppelreihe hoher spiegelnder Fenster, die gar freundlich und klug dem Lichte draußen den Zugang eröffnen, läßt ebensowenig auf den Wohnsitz irgend eines begüterten Privatmannes, wie auf einen fürstlichen Residenzbau schließen. Es ist dem Ganzen unverkennbar der Charakter eines öffentlichen Zweckes aufgedrückt. Welches? Keine Inschrift über dem Eingänge sagt es uns, kein architektonisches Ornament deutet darauf bin, daß dieses Gebäude der Sitz der Gothaer Lebensversicherungsbank ist.

Ich setze voraus, daß Zweck und- Organisation dieses Instituts im Allgemeinen bekannt sind, wie Jedermann ja auch weiß, was er sich unter einer Feuer-, See-, Fluß-, Hagel-, Spiegelscheiben- und ähnlicher Versicherungsanstalt zu denken habe.

Meine Aufforderung an die Leser, mir auf einer Wanderung durch die Bureaus jener Bank zu folgen, dürfte daher hie und da auf ein erklärliches Befremden stoßen. Welche interessante Unterhaltung, welchen Gewinn für Anschauung und Einbildungskraft können sie sich von einem solchen Gange durch eine Reihe von Geschäftszimmern versprechen? Muß ich doch selbst gestehen, daß ich monatelang eben so theilnahmlos an der Gothaischen Lebensversicherungsbank vorübergegangen bin, wie ich Jahre lang gleichgültig au den Comptoirs der weltbekannten Millionärfirmen Salomon Heine, John Henry Schröder und Gottlieb Jäuisch auf den großen Bleichen in Hamburg vorüberging.

Erst als eine zufällige Veranlassung mich vor Kurzem in die Geschäftslocale der erwähnten Bank führte und meiner angeregten Fragelust von Seiten des Bankdirectors, des auf dem Gebiete volkswirthschaftlicher Statistik als Autorität anerkannten Finanzrathes Hopf, jede gewünschte Auskunft mit bereitwilliger Zuvorkommenheit ertheilt wurde, war es mir, als ob vor meinen Augen plötzlich von dem großartigen, sinnreich construirten Werke eines deutschen Bürgers die Hülle fiele. Wie wir oft erst in der Werkstätte des Künstlers das Kunstwerk verstehen, seine Meisterschaft und Bedeutung würdigen lernen, so werden uns Laien bedeutungsvolle, volkswirthschaftliche Schöpfungen erst verständlich, wenn es uns gestattet ist, aus räumlicher Nähe einen Blick in deren Getriebe zu werfen. Der Zauber einer großartig geregelten Thätigkeit zwingt uns zum Nachdenken über Dinge, die wir in der landläufigen Auffassung des Alltages als selbstverständlich hinzunehmen pflegen. Wir sehen, wie die anscheinend maschinenmäßige Geschäftsmechanik mit materiellen und sittlichen Wirkungen eingreift in das Leben des Individuums, der Familie, der Gesellschaft. Wir werden uns mit der Wohlthat des Zweckes auch der Schwierigkeiten und Hindernisse bewußt, denen zu begegnen neben dem Genie des Begründers es auch dessen voller muthiger Hingebung an die ihm vorschwebende Idee bedurfte.

Ich darf hoffen, daß der Leser gern den Gewinn der Stunde mit mir theilt, die ich in der Gothaischen Lebensversicherungsbank zugebracht. – – – –

Eine Flucht ineinander gehender, hoher, luftiger Zimmer, des Schmuckes freundlicher Wohnlichkeit entbehrend; aber die solid comfortable Einrichtung verräth, daß wir uns in den Geschäftsräumen eines reichen, sichern Hauses befinden, in denen gar fleißige Leute arbeiten vom Morgen bis zum Abend. Aber freilich hat es diese Anstalt auch mit einem gar eigenthümlichen Kunden zu thun, der sich wenig um die Geschäftsstunde kümmert, sondern ungestüm jeder Zeit anpocht und seine fälligen Wechsel präsentirt. Und dieser Kunde ist Niemand anders als der Tod, der ein gar großes Conto auf der Bank hat. Um Leben und Sterben dreht sich das „Soll und Haben“ der Bank. Wer sieht diesen freundlichen Bureaubeamten ihren ernsten Beruf an? Sie führen doppelte italienische Buchhaltung über das brechende Auge, den letzten Todesseufzer der Sterbenden, pflichttreu, gleichgültig und kaltblütig, wie der Todtengräber Tag für Tag neuen Ankömmlingen ihre letzte Ruhestätte bereitet.

„Er gräbt und schaufelt so lang er lebt“ –

Warum sollte er nicht, sein Pfeifchen schmauchend, ein lustiges Lied singen, während er die frische Erde aufwirft?

Gewohnte Arbeit – sicheres Geschäft. –

Ein kunstliebender König hätte die Locale der Lebensversicherungs-Bank wie ein Campo santo mit großen allegorischen Wandgemälden geschmückt, mit so etwas von apokalyptischen Reitern oder einem Holbein’schen Todtentanz. Die Actie und Dividende sind leider weniger poetisch. Wir sehen hier an den Wänden nichts als Repositorien, dicht besetzt mit Hauptbüchern, Manualen, Journalen und was sonst zur kaufmännischen Buchführung gehört, im Arbeitszimmer des Directors gewahren wir sogar ein großes Fachgestell mit übereinander gereihten blauen Pappkasten, die an ein Weißwaarenlager erinnern. Wo ringsum die Schauer des Todes uns anwehen sollten, überall nüchternes Geschäft, rundes, Zins erwerbendes Geld, gemüthlose Zahlen.

Die Lebensversicherungsbank ist eben eine bürgerliche Schöpfung. Sie illustrirt den Gedanken ihres Begründers in stillen, wohlthätigen Wirkungen. Welch ein Zauber haftet nicht an einem so geschäftstrockenen Document, wie eine Lebensversicherungspolice! Ist es doch, als ob aus derselben ein letzter freudiger Lichtstrahl in die Seele des sterbenden Gatten und Familienvaters fiele, um ihm die schwere, angstvolle Scheidestunde zu erleichtern! Das ebbende Bewußtsein verklingt in dem tröstlichen Gedanken, daß jenes Blatt Papier das Vermächtniß vorsorgender Liebe an die Theuren enthalte, die in dem von ihrem Herzen gerissenen Todten auch den Ernährer beweinen. Wie manche drückende Ehrenschuld, wie mancher lang vertagte Tribut der Dankbarkeit wird mit dieser Anweisung an die Casse der Lebensversicherungsbank getilgt! Wie viele Arme, die im ohnmächtigen Kampfe gegen Widerwärtigkeiten muthlos gesunken, werden wiederum zu frischer, rühriger Arbeit gekräftigt, wie viele Thränen getrocknet, wie viele von Kummer gebleichte Wangen zu neuem Lebensmuthe geröthet durch die Hülfe, die den Lebenden gewissermaßen aus den Gräbern ihrer Todten, wie vom Jenseits her, zufließt!

Ein volkswirthschaftlicher Schriftsteller hat treffend behauptet, daß der Culturzustand der Nationen vergleichungsweise nach dem Quantum der verbrauchten Seife zu berechnen sei. Hoffentlich aber ist die Zeit nicht mehr gar zu fern, in welcher die Statistik den nationalen Wohlstand und die glücklichen culturhistorischen Ergebnisse, die sich an diesen knüpfen, nach den Summen berechnet, [124] mit denen ein Volk sich für die Lebensversicherung besteuert. Der Gedanke, daß das Leben einer Zeitgenossenschaft zu Gunsten der nach ihr kommenden versichert wird – abstract ausgedrückt, daß die Gegenwart ihr Leben zu Gunsten der Zukunft versichert – ist durchaus keine solche Chimäre, als man bei dem flüchtigen Anhören dieses Ausspruches glauben könnte. Wenn in der überwiegenden Mehrheit eines Volkes Jeder danach strebt seinen Hinterbliebenen ein Erbtheil durch Lebensversicherung festzustellen, dann wäre in der That auch der Wohlstand eines Volkes versichert, und statt um sich zu greifen, würde das Proletariat in immer engere Grenzen eingeschränkt.

Und noch in anderer Beziehung wirkt die Gothaer Lebensversicherungsbank fördernd auf den Volkswohlstand ein, indem sie ihre verfügbaren Geldbestände dem Grundbesitze, vorzugsweise dem Ackerbau, als Anlehen zur Verfügung stellt. Ihr eigenes Vermögen durch Zinsertrag mehrend, erhöht sie die Werthe von Grund und Boden mittels des die Kraft zur Melioration schaffenden Kapitals. Aus dem harten Gelde, das sie in die Ackerfurchen streut, wächst billiges Brod für’s Volk. So rollen unaufhörlich viele Millionen Thaler aus der Bank hin und zurück, in raschem Kreislaufe, wie die Blutkügelchen im menschlichen Organismus, Leben und Gedeihen verbreitend.

Den Maßstab für das schwierige Problem, das die Lebensversicherung mit so glücklichem Erfolge zu lösen gewußt, dürfte ein flüchtig vergleichender Blick auf die Schwesteranstalt, die Feuerversicherungsbank zu Gotha, geben. Diese letztere, von demselben verdienten Bürger Arnoldi bereits im Jahre 1821 gestiftet, bat bei Gelegenheit des Hamburger Brandes die Feuerprobe in des Wortes verwegenster Bedeutung bestanden. Und weit davon entfernt, daß durch den harten Schlag ihre Mittel erschöpft worden wären, datirt gerade die gegenwärtige blühende Finanzlage dieser Bank von jener verhängnißvollen Katastrophe her.

Bei Alledem aber leistet die Feuerversicherungsbank nur Ersatz für die Schäden, die das durch Zufall oder Tücke entfesselte Element an Hab und Gut ihrer Interessenten anrichtet; die Zahlungspflicht der Lebensversicherungsbank jedoch ist eine permanente, denn sie tritt mit jedem Opfer ein, das ein unerbittliches Naturgesetz, der Tod, aus den Reihen ihrer Versicherten fordert, und – früher oder später – er wird sie Alle fordern. Gegenwärtig liegt das Leben von nicht weniger als sechsundzwanzigtausend sechshundert Personen „angefangen und geschlossen“ in den Registern der Gothaer Lebensversicherungsbank, und binnen einer Frist, welche nicht mehr die äußerste Grenze eines Menschenlebens erreicht, da sämmtliche Versicherte einen größeren oder geringeren Theil ihres Lebens bereits verbraucht haben, wird die Bank die ganze Summe sämmtlicher auf diese Leben versicherten Beträge mit 46, sage sechsundvierzig Millionen und 170,000 Thaler! an die Policeinhaber auszahlen müssen.

Das sind gigantische Ziffern!

Und doch braucht Niemand zu fürchten, daß die schwere dieser von Jahr zu Jahr um Millionen sich steigernden Verpflichtungen, mit denen die Bank belastet ist, einen Bankbruch herbeiführen könnte; daß eines Tages der hohe Einsatz, wie ein „Va banque!“ am grünen Spieltische, die Bank sprengen und ihren zahlreichen Gläubigern, den Wittwen und Waisen, ein trostloses Nachsehen lasten würde. Denn gerade darin bekundet sich in der Wirksamkeit der Gothaer Lebensversicherungsbank die Macht der zur gegenseitigen Selbsthülfe sich einenden „Gesellschaft“, daß mit der wachsenden Leistung auch im fortschreitenden Verhältnisse der Reichthum des Gemeinwesens wächst, daß das „Haben“ zum „Soll“ sich verhält, wie die Ernte zur Aussaat. So ist denn auch nicht trotz, sondern eben wegen der erwähnten Höhe ihrer gegenwärtigen Zahlungsobliegenheiten die Bank in der Lage, für dieses Jahr und die nächsten vier Jahre unter die Versicherten über zwei Millionen Thaler reiner Überschüsse zu vertheilen.

Freilich auch ist der Organismus dieser Bank ein Meisterstück, zu dessen Herstellung es neben der Begeisterung ihres Begründers für seine Idee auch dessen Finanzgenies bedurfte. In Deutschland fehlte es jener Zeit gänzlich an Erfahrungen für die einer solchen Anstalt zu gebende Einrichtung, namentlich an correcten Sterblichkeitslisten, die dem Rechnungswesen zu Grunde gelegt werden konnten. Die Mortalitätsstatistik, aus welcher die englischen Lebensversicherungsbanken – die älteste, die „Amicable“ in London, zählte bereits über einhundert und zwanzig Jahre – begründet waren, konnte bei dem damaligen unvollkommenen Stande der statistischen Wissenschaft überhaupt für die in’s Leben zu rufende Schöpfung keine principielle Bürgschaft leisten, abgesehen davon, daß die englischen Sterblichkeitsverhältnisse nicht die Norm für continentale, am wenigsten für deutsche Sterblichkeit, zu geben im Stande waren. Denn in England lebt das Volk anders, als in Deutschland, und stirbt darum auch anders. Die Sterblichkeitsliste, welche der berühmte englische Mathematiker Babbage eigens für die Gothaer Lebensversicherungsbank nach den Erfahrungen der Equitable Society in London ausarbeitete, war aus eben diesem Grunde nicht mit Zuverlässigkeit zu benutzen. Die Gothaer Lebensversicherungsbank mußte darum ihren eigenen Weg gehen, bis geniale Statistiker, wie Quetelet, Farr, Heym und Andere, ihr aus diesem schwierigen Gange die hülfreiche Hand boten. Die erst seit den vierziger Jahren auf ihre wissenschaftliche Höhe sich aufschwingende Statistik hat mit arithmetischen Formeln dem bis dahin schweigsamen Tode das Geständniß abgezwungen, daß auch sein Vernichtungswerk dem Gesetze der Ziffer unterworfen sei, daß auch er seine Opfer unter den Lebenden nach festen Procentsätzen fordere. Der Wissenschaft gegenüber zeigte sich selbst der unheimlich grinsende Knochenmann als „ein Mann, mit dem sich handeln läßt“, wie man geschäftlich sagt. So konnte die auf dem Princip der Vergesellschaftung begründete Bank dem Gesetze des Todes das Gesetz des Lebens entgegenstellen, denn die Gesellschaft stirbt nicht, nur das Individuum. In dem baaren Gelde, das die Lebensversicherungsbank bei jedem Todesfälle ihren Policeninhabern als Erbtheil auszahlt, arbeitet gewissermaßen die capitalisirte Arbeitskraft der Verstorbenen nutzbringend für die Lebenden weiter fort, über das Grab hinaus.

In dem geschäftlichen Betriebe der Lebensversicherungsbank wird darum der Tod, um den sich im Grunde die ganze Thätigkeit dieses Institutes dreht, unter scharfer Controle gehalten. Besonders wissenswerth müssen der Bankverwaltung die Ursachen erscheinen, durch welche die Sterbefälle unter ihren Versicherten veranlaßt werden, und das Zahlenverhältniß, in welchem diese Todesursachen zu dem Lebensalter der Versicherten stehen. Kein Dirigent einer großen Universitäts-Klinik kann darum sorgfältigere Register über die merkwürdigen Krankheiten führen, die in der von ihm geleiteten medicinischen Lehranstalt zur Behandlung gelangt sind, als der Director der Lebensversicherungsbank über die Krankheiten, denen seine „Versicherten“ erlegen sind. Es giebt schwerlich ein pathologisches Uebel, so entsetzlich und Ekel erregend es auch sein mag, das nicht in jenen Hauptbüchern, Manualen und Journalen, mit welchen wir die Wände der Bankbureaus bedeckt sehen, wie ein gangbarer Handelsartikel gebucht wäre. Eine ein Auszug aus den Geschäftsbüchern entworfene Liste der Krankheiten, denen die Versicherten der Bank vom Jahre 1829 bis zum Jahre 1862 erlegen sind, ist lang wie das Leporello-Verzeichnis; von Don Juan’s Liebschaften. Ist ja auch der Tod, wie ihn Holbein dargestellt, eine Art Don Juan, der nichts verschmäht, was ihm gerade in den Wurf kommt, und der an seiner knöchernen Hand eine bunte Reihe zum letzten Tanze führt.

Es ist erstaunlich, an welcher reichen Auswahl von Krankheiten ein civilisirter Deutscher mit ärztlicher Hülfe sterben kann! Unter den 8827 Todten, für welche, mit Ausnahme derer, die statutengemäß ihre Versicherungssumme verwirkt hatten, binnen dieses Zeitraumes von vierunddreißig Jahren, die Gothaische Lebensversicherungsbank eine versicherte Hinterlassenschaft von über vierzehn Millionen Thaler auszuzahlen hatte, befand sich sogar Einer, der an der Elephantiasis gestorben ist, jener exotischen Krankheit, die eigentlich im Vaterlande der biblischen Patriarchen, in Arabien und Aegypten zu Hause ist und an welcher, wie gelehrte Orientalisten es herausgefunden haben wollen, der Dulder Hiob, im Lande Uz, gelitten hat. Unter der einundzwanzigsten Rubrik: „Gewaltsamer Tod“ sind einhundertzweiundsiebenzig Selbstmörder und vier Ermordete verzeichnet. Ein Mitglied der Bank ist an den Folgen der – Hinrichtung gestorben!

Diese Sterblichkeitsstatistik, deren Ergebnisse von fünf zu fünf Jahren verzeichnet sind, vom fünfzehnten Lebensjahre ab – unter diesem Alter wird kein Leben versichert – bis zum neunzigsten Lebensjahre, bildet die Probe für das Rechenexempel, welches den finanziellen Operationen der Bank zu Grunde liegt, um die gemachten Fehler danach corrigiren zu können. Die Vergleichung der in dem erwähnten Zeiträume wirklich eingetretenen [125] Sterbefälle mit den nach der Sterblichkeitsliste zu erwartenden hat denn auch ergeben, daß 27659/100 Personen weniger gestorben sind und die Bank 525,595 Thaler weniger zu zahlen hatte, als sie nach ihrer Berechnung erwarten durfte.

Doch ich muß darauf verzichten meine Leser mit der ganzen Fülle der Zahlenergebnisse zu unterhalten, welche die Operationen der Gothaer Lebensversicherungsbank zu Tage gefördert, als Bestätigung des merkwürdigen Lehrsatzes der modernen Statistik, daß selbst Erscheinungen, die wir dem freien Entschlusse der menschlichen Willenskraft und der Willkür des Zufalles zuzuschreiben pflegen, einem festen Naturgesetze gehorchen – da diese Betrachtungen uns für den Raum dieser Blätter zu weit führen dürften.

Daß die Leitung eines Institutes, welches im Interesse seiner Theilnehmer mit so empfindlichen Ziffern rechnet, um selbst einen unscheinbaren Decimalbruch auf die Goldwage zu legen, von einer ungewöhnlichen Sachkennerschaft überwacht sein muß, ist natürlich. Und in der That ist die Eintheilung der Arbeit in den Bureaus der Gothaischen Lebensversicherungsanstalt wie der ganze Apparat, den wir um uns sehen, ein Meisterwerk geschäftlicher Verwaltungskunst zu nennen. Diese Tausende von über unser ganzes Vaterland wirr durcheinander sich kreuzenden Lebensfäden der bei der Bank Versicherten, hier ordnen sie sich in eine einzige leitende Hand. Von seinem Arbeitszimmer aus kann der Bankdirector mit einem Blicke die ununterbrochene Thätigkeit dieser sinnreich erfundenen, anscheinend so complicirten Maschine übersehen und dirigiren. Vielleicht läuft gerade, während wir uns in diesem Zimmer befinden, der Bericht eines auswärtigen Bankagenten von dem Tode irgend eines bei der Bank versicherten Schulze oder Müller ein. Sofort wird der Bankdirector mit sicherm Griffe aus einem jener mit Chiffernetiketten versehenen blauen Pappkasten, die uns an eine Weißwaarenhandlung erinnerten, das für jenes Individuum angelegte Personalactenstück unter den andern hier reservirten sechsundzwanzigtausendsechshundert Actenstücken, von denen Hunderte auf Schulze und Müller lauten, herausziehen, um die Ansprüche der betreffenden Policeninhaber an der Bank zu prüfen und danach das Gehörige zu verfügen.

Die Lebensversicherungsbank in Gotha.

In dem Arbeitszimmer des Bankdirectors fällt uns noch ganz besonders ein großes Repositorium auf, welches in riesigen Mappen die Specialkarten des preußischen Generalstabes und der deutschen topographischen Bureaus enthält. Schlagen wir eine solche Mappe auf, so gewahren wir mit Erstaunen, daß eine Menge von Ortschaften mit grellfarbigen Punkten und Strichen, wie zu einem Feldzugsplane, markirt sind. Und in der That dienen diese Karten auch der Lebensversicherungsbank zu ihren strategischen Finanzoperationen. Nehmen wir z. B. an, daß in einem entlegenen Winkel Ostpreußens, etwa in Masuren, ein Gutsbesitzer auf sein Rittergut mit für eine mitteldeutsche Zunge unaussprechlichem polnischen Namen ein Darlehn bei der Gothaer Lebensversicherungsbank beantragte. Gut und Gutsbesitzer sind der Bankverwaltung völlig unbekannt. Es wird darum die betreffende Section der Generalstabskarte, auf welcher das Gut sich finden muß, eingesehen. Der nächste Marktflecken oder das nächste Kreisstädtchen zu diesem Gute ist mit einem rothen Punkte markirt, als Zeichen, daß dort einer von den sechshundert Agenten der Gothaischen Lebensversicherungsbank seinen Sitz hat, während die entferntere Provinzialhauptstadt durch ein anderfarbiges Zeichen als Sitz eines Generalagenten hervorgehoben ist. Der Agent und im Nothfalle der Generalagent wird nunmehr zur genauesten Berichterstattung über die hypothekarischen Verhältnisse, die Bodenbeschaffenheit, die Bewirthschaftung des Gutes und den Leumund des Besitzers aufgefordert. Sind die Agenten persönlich mit den Verhältnissen des Gutes und des Besitzers nicht vertraut, so sind sie angewiesen, darüber mit dazu befähigten, in dortiger Gegend befindlichen und aus geschäftlichem Verkehr ihnen bekannten Banktheilhabern, die schon in ihrem eigenen Interesse das Interesse der Bank wahrnehmen werden, oder auch mit andern sachverständigen [126] und der Verhältnisse kundigen Personen sich in Verbindung zu setzen, zu diesem Zwecke „Agenturausschüsse“ zu bilden. Nach eingetroffener ausführlicher Berichterstattung entscheidet sich dann das Ausleihungscomité der Bank für oder gegen die Bewilligung des nachgesuchten Darlehns. Diese Organisation hat sich so vortrefflich bewährt, daß die Bank von ihrem Entstehen bis heute, an ihren gegen Zins ausgegebenen, auf viele Millionen sich belaufenden Capitalien, auch nicht den Verlust eines einzigen Groschens zu notiren gehabt hat.

Außerdem aber dienen diese Karten dazu, daß die Bankverwaltung die bei ihr Versicherten bei einem Wechsel des Wohnsitzes nicht aus den Augen verliert und in geeigneten Fällen sich von ihren Agenten über dieselben berichten lassen kann. Es muß z. B. der Bankverwaltung daran liegen, aus den fernsten Gegenden, wohin ihre Wirksamkeit sich erstreckt, in Erfahrung zu bringen, ob irgend eine bei ihr versicherte Person einem unmäßig lasterhaften Leben, der Trunksucht u. s. w. sich ergeben, oder einen Leben und Gesundheit gefährdenden Beruf ergriffen hat, oder ob dieselbe zu schwerer Leibes- und Gefängniststrafe verurtheilt worden, da in derartigen Fällen die Versicherung ungültig wird. Es ist diese Controle in einer auf dem Principe der Rechts- und Pflichtgleichheit gebildeten Vergesellschaftung durchaus eine gebotene, und da sie nur die Aufgabe hat die Innehaltung statutengemäßer Bestimmungen zu überwachen, durchaus fern von jeder gehässigen Spionage.

Ueberhaupt hat die Lebensversicherungsbank Grund auch die Nachtseite der Menschennatur mit in ihre Berechnung zu ziehen. Wir haben der segensreichen sittlichen Wirkungen der Lebensversicherungsbank schon oben gedacht. Aber Tod und Geld, für das verzweifelnde Elend und für die Habsucht sind diese beiden Worte, um welche sich die ganze Thätigkeit einer Lebensversicherungsbank dreht, zwei Dämonen, die mit verführerischen Vorspiegelungen nur zu leicht ihre Opfer berücken. Die Geschäftsbücher der Bankbureaus enthalten den Stoff zu einer ganzen Bibliothek erschütternder, aus dem Leben gegriffener Socialromane, und auch der Neue Pitaval könnte seinen schauerlich fesselnden Inhalt aus den Papieren der Bank reichlich vermehren.

Neben dem Calcul des scharfsinnigen Financiers und den gründlichen Beobachtungen des Statistikers ist darum auch noch der durchdringende Blick des Psychologen und Criminalisten erforderlich, um das Institut vor Schaden zu bewahren.




Abhärtung der Kinder.
Von Dr. Dornblüth.

Zwei junge Mütter unterhielten sich kürzlich über die Abhärtung ihrer Kinder. Die Eine badete ihr Kind und wollte es bei jedem Wind und Wetter hinausschicken, die Andere hielt Ersteres für Verweichlichung, Letzteres im Winter für zu gefährlich, duldete auch weder Mützchen noch Strümpfchen, welche Gegenstände oder Ursachen der Verweichlichung die Erstere gestattete. Die Kinder sind beide ungefähr drei Monate alt. Welche hat Recht, welche Unrecht?

Alle Kinderärzte sind heutzutage einig darüber, daß warme Bäder nicht nur als Reinigungsmittel, sondern auch als mächtige Förderungsmittel der Gesundheit außerordentlich nützlich sind. Die Reinigung ist auf andere Weise bei so kleinen Wesen niemals so vollständig zu erzielen, als durch ein warmes Bad, und durch die längere Einwirkung des warmen Wassers auf die Haut wird diese weich und geschmeidig und geschickt, die ihr zukommenden Ausscheidungen gehörig zu vollziehen. Kinder, die regelmäßig gebadet werden, sind Erkältungen keineswegs leichter zugänglich, als andere, wenn sie nicht unmittelbar nach dem Bade der Einwirkung der Kälte ausgesetzt werden. Das ist ein durch hinlängliche Erfahrung als unumstößlich festgestellter Grundsatz. Das Badewasser soll bekanntlich im ersten Monat achtundzwanzig Grad des Réaumur’schen Thermometers warm sein und dann allmählich, etwa von Monat zu Monat, um einen halben Grad kühler genommen werden, bis sechsundzwanzig oder höchstens fünfundzwanzig Grad erreicht sind. Nach Ablauf des ersten Lebensjahres, wo man die Kinder schon kräftiger reiben kann und wo sie der Kälte besser widerstehen, soll man dann kühle und selbst kalte Waschungen nachfolgen lassen.

Hierbei sind einige Erinnerungen zu machen. Erstens sind die gewöhnlichen Badethermometer in der Regel ziemlich ungenau, es ist nicht selten, daß sie um zwei oder drei Grad von einander abweichen. Man muß sich also stets überzeugen, ob der gebrauchte Thermometer richtig geht, was um so weniger Schwierigkeiten hat, als jetzt wohl die meisten Aerzte zum Zwecke der Krankenuntersuchung mit guten Thermometern versehen sind. Zweitens ist bei dem zu wählenden Wärmegrade immer daraus zu sehen, wie das Kind ihn aufnimmt: sobald es auf irgend eine Art im Wasser Unbehaglichkeit zu erkennen giebt, was es sonst nicht zu thun pflegte, so ist die Sache nicht richtig. Ist das Wasser zu warm, so wird die Haut roth, die Kinder schreien, und statt durch das Bad beruhigt und zum Schlafen geneigt zu werden, sind sie hinterher aufgeregt. Ist das Wasser dagegen etwas zu kalt, so werden sie blau und erreichen schwer ihre natürliche Wärme wieder. Man darf sich auch durchaus nicht einbilden, daß ein so allmählicher Uebergang von den warmen Bädern zu den kühlen Abwaschungen zu machen ist: die mit den letzteren verbundene Reibung mit dem Badeschwamme, den Händen etc., die plötzliche und rasch vorübergehende Einwirkung der Kälte selbst erregen die Nerven, ziehen das Blut nach der Haut und bringen in einem hinreichend kräftigen Organismus eine lebhaftere Wärmeentwickelung zu Wege, während ein zu kühles Bad, wenn es mehr ist, als eine schnelle Eintauchung, dem Körper seine Wärme so allmählich entzieht, daß keine Gegenwirkung erfolgt, die Haut, statt wie bei den Abwaschungen roth zu werden, blaß und bläulich wird und hinterher statt eines behaglichen Wärmegefühls Frösteln eintritt, welches nur durch kräftige Bewegung vortheilhaft überwunden, durch künstliche Erwärmung aber schwer ausgeglichen und vor übeln Folgen bewahrt wird. Die Abhärtung soll also nur dann durch kühle Waschungen gesucht werden, wenn die Kleinen Kräfte genug gesammelt haben, um so gewaltsamen Einwirkungen gehörig widerstehen und entgegenarbeiten zu können, was Beides vor Ablauf des ersten Lebensjahres gewiß nicht der Fall ist.

Also vernünftig gebadet, und die Kinder werden sich dabei wohl befinden! Sie werden ruhiger, bekommen bessern Appetit und bessere Verdauung, werden dadurch kräftiger und somit geeigneter, schädlichen Einflüssen, vor denen sie doch nicht ganz zu bewahren sind, zu widerstehen.

Ebensowohl ist durch die Erfahrung hinlänglich festgestellt, daß es Kindern schon im frühesten Alter sehr gut bekommt, wenn sie täglich ins Freie gebracht werden. Die frischere, reinere und im größten Theile des Jahres bei uns auch kältere Luft regt ihre Nerven kräftig an und giebt ihren Sinnen, so wenig diese auch noch ausgebildet sein mögen, Beschäftigung. In Folge davon kommen sie in der Regel mit besserem Appetit nach Hause und schlafen nachher länger und ruhiger. Ihre Blutbildung und gesammte Ernährung wird besser, was sich an der frischeren Gesichtsfarbe und dem festeren Fleische ebensowohl, wie an dem ruhigen Schlafe und dem munteren Wachsein zu erkennen giebt. Man muß nur beachten, wie früh die kleinen Wesen schon an dem Hinausgetragenwerden Gefallen finden, wie sie mit Ungeduld darnach verlangen, durch die Vorbereitungen kaum beruhigt werden und in lautesten Jubel ausbrechen, sobald die Thür sich vor ihnen öffnet! Freilich müssen in unserm Klima, und namentlich im Winter, die Kinder sorgfältig gegen die Kälte geschützt sein, und zwar so vollständig, daß beim Nachhausekommen keins ihrer Glieder sich kalt anfühlt. So lange sie im Steckkissen liegen, – was immer bis dahin der Fall sein sollte, wo ihr Rückgrat und ihre Muskeln hinlänglich erstarkt sind, um sie längere Zeit aufrecht zu tragen; wo sie, kräftige und gesunde Kinder um ihre zwölfte Lebenswoche herum, durch energische Bestrebungen aufrecht zu sitzen und um sich zu schauen, dies von selber kundthun, – so lange also werden die Kinder leicht durch Tücher oder Mäntel von der Form, wie die Thüringer Frauen und Wärterinnen zu tragen pflegen, geschützt. Ein weiches, wattirtes Hütchen, eine Art Kapuze mit [127] dichtem Schleier, ist daneben, wie auch später, nothwendig. Tragen die Kinder erst lange Kleider, so sind gestrickte wollene Strümpfchen und Schuhchen nicht wohl zu entbehren, da beim Sitzen auf dem Arme der Wärterin die Röcke und Kleider durch die Füßchen der Kinder selbst verhindert werden, unten genau zu schließen. Bei irgend windigem und kälterem Wetter ist es sehr zweckmäßig, das wollene Unterröckchen unterhalb der Hüfte zusammenzubinden, wodurch die Kinder vor jeder Zugluft geschützt sind, ohne in den Bewegungen ihrer Beinchen allzusehr beengt zu werden. Jedenfalls überzeuge sich die Mutter immer selbst, ehe der Ausgang beginnt, ob die Kleidung in Ordnung ist und ob die natürlichen Bedürfnisse des Kindes befriedigt sind, damit Durchnässung vermieden werde, die am allerleichtesten zur Erkältung führt, – und beim Nachhausekommen, ob das Kind überall warm und trocken ist.

Bei solcher Vorsicht wird man selten anders als bei sehr stürmischem und regnerischem Wetter oder strenger Kälte nöthig haben, die so wohlthätigen täglichen Spaziergänge zu unterbrechen. Gewöhnung an die Luft ist das beste Abhärtungsmittel. Ist aber ein Kind einmal unwohl, so wird es meistens besser zu Hause gehalten, denn dadurch, daß man mit einem kranken Körper von Neuem den krankmachenden Einflüssen trotzt, wird keine Abhärtung erzielt. Solche ist vielmehr, wie die Gewöhnung, nur dann zu erreichen, wenn die Wirkungen des einzelnen schädlichen Einflusses, sei dies nun Kälte oder was sonst immer, vollständig überwunden sind, ehe ein gleicher oder ähnlicher Einfluß wieder einwirkt. Sonst häufen sich die nachtheiligen Einflüsse oder die Anforderungen zur Ueberwindung derselben in rascherem Maße, als die Gegenwirkungen des Organismus jene auszugleichen und letzteren zu entsprechen vermögen, und dann ist nicht Abhärtung, sondern Schwäche und Gesundheitsstörung die Folge. Mit solchen grundverkehrten Abhärtungsversuchen, denen gar viele Erwachsene zu ihrem größten Schaden huldigen, ist es gerade so, als ob man durch unausgesetzte Arbeit suchen wollte stark zu werden, da doch Jedermann weiß, daß Arbeit nur dann stärkt, wenn sie in angemessener Weise mit Ruhe wechselt, damit der Körper neue Kräfte bereiten und sammeln kann. Wenn die Mutter zweifelhaft wird – und jede Veränderung in dem mit aufmerksamem Auge verfolgten Wesen und Gebahren der Kleinen muß sie zweifelhaft machen – sei sie lieber zu vorsichtig, als zu dreist, warte ab und frage einen verständigen Arzt um Rath. Denn bei Kindern kommt es, je jünger sie sind, destomehr darauf an, Krankheiten zu verhüten oder in ihren Keimen und Anfängen zu bekämpfen. Wie unendlich oft muß der Arzt, wenn er es auch den jammernden Eltern nicht zu gestehen wagt, sich selbst sagen, daß seine Bemühungen nur deswegen keine Hülfe bringen, weil sie zu spät kommen!

Falsch ist es also, die Kinder unter allen Umständen in’s Freie zu schicken. Ein Schnupfen oder Husten vergeht in der Regel leicht in gleichmäßig warmer Luft, während kalte Luft ihn immer von Neuem anregt, wodurch die Athmungswerkzeuge leicht bleibenden Schaden nehmen und bei Kindern jedenfalls in ihrer Entwicklung zurückgehalten werden. Aber gesunde Kinder müssen, warm gekleidet und vorsichtig behandelt, hinaus, um sich an die Luft zu gewöhnen und ihre wohlthätigen Einflüsse zu erfahren. Schutz gegen die Witterung ist für kleine Kinder viel leichter und vollständiger zu beschaffen, als für etwas größere, besonders im zweiten und dritten Lebensjahre, wo die Kinder zu schwer und zu ungeduldig sind, um sich tragen zu lassen, aber noch nicht kräftig genug, um sich bei kälterer Witterung durch eigene Bewegung gehörig zu erwärmen, noch auch so dichte Kleidung zu tragen, daß die Abkühlung nicht hindurchwirkt. Für dies Lebensalter ist es oft nothwendig, statt des Spazierganges im Freien, die Kinder warm angezogen in einem ungeheizten Zimmer oder einem andern trocknen und zugfreien Raume spielen zu lassen. Aufsicht ist aber um so mehr nöthig, weil kleinere Kinder, sobald sie anfangen zu frieren, sich erst recht keine Bewegung machen, sondern stillstehen oder sich hinkauern. Erst vom fünften oder sechsten Lebensjahre an haben sie Verstand und Kräfte genug, um sich, zum Spielen und Laufen angeregt, selbstständig der Kälte zu erwehren.




Zum Schluß noch ein Wort über die Kopfbedeckung. So verkehrt es ist, den Kindern ihren Kopf übermäßig warm zu halten oder immer gar zu ängstlich einzubündeln, so gefährlich ist es, ihn ohne Schutz der Kälte auszusetzen. So lange er noch nicht von Haaren bedeckt ist, welche die durch Wärmeausstrahlung vor sich gehende Abkühlung des Kopfes verhindern, ist auch im Zimmer ein leichtes Häubchen nothwendig. Der Kopf mit seinem werthvollen Inhalt ist bei kleinen Kindern sehr empfindlich gegen Kälte und Zugluft, und ein Schnupfen ist noch die leichteste, obwohl bei ganz kleinen Kindern keineswegs ungefährliche Folge der Unvorsichtigkeit in dieser Beziehung. Abhärtungsversuche möchten aber leicht dem Gehirn mehr Schaden zufügen, als auf der andern Seite Nutzen gewonnen wird. Eine so warme Einhüllung, daß dadurch alle Ausdünstung verhindert und der Kopf erhitzt und zum Schwitzen gebracht wird, ist aber ebenfalls nachtheilig, und wo bei Kindern Neigung zum Schwitzen am Kopfe vorhanden ist, mag man diesen lieber etwas zu kühl als zu warm halten, außerdem aber durch Waschungen mit kühlem Wasser oder mit sehr verdünntem Branntwein jener unangenehmen und gefährlichen Neigung entgegenwirken.




Blätter und Blüthen.

Eine Bettler-Hochzeit. Auf meinen unzähligen Kreuz- und Querzügen durch Paris habe ich die mannigfachsten und seltsamsten Bekanntschaften gemacht, namentlich zähle ich unter den verschiedenen Straßenkünstlern aller Art, an denen Paris so unglaublich reich ist, eine große Menge von Freunden und Anhängern. Ich habe für diese armen Teufel stets eine gewisse zärtliche Schwäche gehegt; je demüthiger und bescheidener sie sind, desto mehr erwecken sie meine Theilnahme, je zerlumpter und verhungerter sie aussehen, desto weniger kann ich ihnen den bescheidenen Tribut versagen, den sie von meinem Geldbeutel erhoffen.

Einer meiner besondern Freunde dieser Kategorie war ein noch ziemlich junger Mann mit blos einem Arme, dessen Geschäft darin bestand, dem Publicum einen dressirten Hasen vorzuführen. Gewöhnlich war die Garderobe meines Schützlings nichts weniger als luxuriös; eines Tages aber hatte er sich prächtig herausgeputzt und strahlte vor Vergnügen. Seine neue, frischlackirte Sonntagsmütze glänzte auf seinem Haupte; sein Kinn versteckte sich zwischen zwei ungeheuren blendend weißen Vatermördern; ein unerhörter Luxus, den ich noch nie bei ihm wahrgenommen hatte, eine hochrothe Cravatte mit einer Riesenschleife, schlang sich kokett um seinen Hals, und eine ganz neue, weiße und sehr faltenreiche Blouse trug zur Vollendung des ganzen Anzuges vortheilhaft bei. Als er meiner ansichtig wurde, zwinkerte er mir zutraulich mit den Augen zu, und sobald er seine Hasenproduction beendet hatte, winkte er mich zu sich heran und flüsterte mir in’s Ohr: „Sie sind immer gut und theilnehmend für mich gewesen und ich habe schon längst gewünscht, Ihnen meine Erkenntlichkeit bethätigen zu können; heute bietet sich eine Gelegenheit, ich will Ihnen Etwas zeigen, was Sie vermuthlich in Ihrem Leben noch nicht gesehen haben und gewiß auch so bald nicht wieder sehen werden.“

„Und das wäre?“ fragte ich neugierig.

„Eine Bettlerhochzeit!“ entgegnete er triumphirend. „Der Bettler von St. Sulpice ist einer meiner Bekannten; ich kann eigentlich diese häßliche Race von Müßiggängern durchaus nicht leiden, aber man darf es nicht mit ihnen verderben. Heute heirathet der Glückspilz und hat mich zu seiner Hochzeit eingeladen; wenn Sie wollen, können Sie mich begleiten, ich führe Sie ein und verspreche Ihnen, daß Sie sonderbare Dinge sehen und hören werden.“

Schlag zwei Uhr fand ich mich am Haupteingange der Kirche von St. Sulpice ein, wo Monsieur Aristide, – so heißt Freund Hasenbändiger – zuverlässig und pünktlich wie immer, mich bereits erwartete. Paris ist eine sehr große Stadt, das weiß die ganze Welt. Wie in allen großen Städten, fehlt es denn auch hier nicht an Bettlern aller Art und aller Gestalt, die auf jede erdenkliche und mögliche Weise Theilnahme, Mitleiden und Almosen zu erhaschen suchen. Um jedoch der Wahrheit die Ehre zu geben, muß ich sagen, daß man in Paris verhältnißmäßig nur wenig von diesen widerwärtigen, müßiggängerischen Parasiten belästigt wird; die Polizei hält sie gewaltig im Zaume und überwacht sie streng. Die Kirchenthüren aber, wie überhaupt alle Zugänge zu den Gotteshäusern und namentlich auch die Kirchhofseingänge, sind in der Regel von zahlreichen Bettlern belagert, und man findet unter diesen wahrhaft abschreckende Gestalten; indessen sind es fast immer dieselben widerlichen Erscheinungen: zerlumpte Weiber, die elende kränkliche Kinder in ihren fleischlosen Armen halten, und verstümmelte Männer, die unbeweglich wie die Fakire dasitzen und nur mit den Lippen wackeln, um den ewig gleichen Bettelspruch zu stammeln. Das sind die Bevorzugten, die Privilegirten der Bettlerkaste; sie werden geduldet, die Stellen, wo sie betteln dürfen, werden ihnen angewiesen, sie sind patentirte Bettler. Diese Bettelstellen, die, namentlich wenn sie an besuchten Orten gelegen sind, eine ganz erkleckliche Einnahme ermöglichen, sind natürlich sehr gesucht, und die Herren Bettler setzen Himmel und Erde in Bewegung, um dazu zu gelangen; sie erben meist in den Familien fort oder werden von ihren glücklichen Besitzern, wenn diese sich genug erbettelt [128] haben und sich zur Ruhe setzen wollen, gegen runde Summen in klingender Münze verkauft.

Die patentirten Bettler kennen sich natürlich alle sehr genau, schließen untereinander Offensiv- und Defensiv-Bündnisse und stiften Vereine, welche die Ausbeutung mitleidiger Seelen auf Commandite betreiben. Auch verheirathen sie sich untereinander, und es dürfte sich vielleicht der Mühe lohnen, die verschiedenen Heirathscontracte näher zu untersuchen, die diesen sonderbaren Ehebündnissen in der Regel zu Grunde liegen. Die Heirathsansprüche eines patentirten Bettlers müssen sich nach seiner größeren oder geringeren körperlichen Verunstaltung richten; je entstellter und verstümmelter er ist, desto bereitwilliger und freundlicher werden ihm seine Genossinnen entgegenkommen. Hat er einen Buckel, so verleiht ihm diese holde Unzierde schon gewisse Rechte; ist er dazu vielleicht auch noch lahm, so wachsen seine Ansprüche bedeutend; ist er aber etwa gar noch einäugig oder ganz blind, dann hat sein Glück keine Grenzen mehr und die glänzendsten Heirathen werden ihm von allen Seiten angetragen werden, denn nur eine Bettlerin, die ebenfalls mindestens bucklig, lahm und blind ist, oder eine, die sich bereits ein anständiges Sümmchen erbettelt hat und deren Säckel gehörig gespickt ist, wird es wagen, ihre Hand in die seinige zu legen und, auf seinen Bettelstab gestützt, an seiner Seite weiter zu betteln.

Ich trat mit meinem Begleiter in die Kirche. Hier fanden wir bereits eine ziemlich zahlreiche Versammlung, in der ich auch sofort verschiedene bekannte Gesichter entdeckte, deren abstoßender und widerlicher Anblick mich schon öfters zur Verzwiflung gebracht hatte, und ich muß gestehen, daß ich am liebsten mich sofort wieder empfohlen hätte; aber ich überwand diese Schwäche, meine Neugierde gewann wieder die Oberhand, besonders da mein Begleiter mir zuflüsterte: „Ich will Ihnen vor allen Dingen die Braut vorstellen!“ Ich ließ mich also in Gottes Namen zur Braut führen und fand ein kleines, buckliges, schrecklich blatternarbiges Weibchen, das halb blind war und sich zur Noth auch ganz blind stellen konnte; Monsieur Aristide nannte ihr meinen Namen und fügte hinzu, daß ich mich für die schätzbare Zunft, deren schönste Zierde sie sei, sehr lebhaft interessire. Auf diese Versicherung hin geruhte sie mir sehr freundlich zuzulächeln, das heißt, sie schnitt ein Gesicht, das ein Faun beneidet haben würde, und machte mir eine sehr zierliche Verbeugung, die ich nach besten Kräften erwiderte. „Nun zum Bräutigam!“ raunte mir mein treuer Begleiter zu. Der Bräutigam saß mit übereinander gekreuzten Beinen, nach türkischer Manier, in einer Art von Rollsessel, in dem er fast ganz und gar verschwand; nachdem ich ihm vorgestellt war, erhob er sich halb und grüßte mich sehr höflich; nun erst bemerkte ich, daß er ein ganz verwachsener und auf die unglaublichste Weise verkrüppelter Zwerg war. Der Anblick dieses sonderbaren Brautpaares brachte mich auf die sehr nahe liegende Vermuthung, daß es sich hier doch wohl nur um eine Convenienzheirath handeln könne; mein trefflicher Freund bestärkte mich denn auch sofort in dieser Voraussetzung, indem er mir mittheilte, daß Braut und Bräutigam Sprößlinge der beiden berühmtesten Bettler-Dynastieen von Paris seien, die in auf- und absteigender Linie fortwährend die besten Bettelstellen der Hauptstadt inne gehabt hätten.

Zur Feier dieser bedeutungsvollen und wichtigen politischen Heirath war der gesammte Heerbann der Bettler-Aristokratie aufgeboten und versammelt worden: Lahme, Blinde, Bucklige – es war eine förmliche Musterkarte aller menschlichen Gebrechen. Die Trauung ging mit großem Anstande und vieler Würde vor sich; da aber, wie es scheint, die Herren Bettler auch unter sich von ihrem Handwerke nicht lassen können, so wurde noch während der gottesdienstlichen Handlung eine kleine Bettelei organisirt. Ein junger Bursche, berühmter Gesichterschneider seines Metiers, welcher auf den öffentlichen Plätzen bereits viel Anerkennung genoß, ging mit einem Teller herum, um, wie er laut rief, eine Collecte für die „Armen“ zu machen. Die Bettler, ziemlich erstaunt sich ihrerseits auch einmal angebettelt zu sehen, erwiesen sich jedoch sehr großmüthig und die Speculation des Gesichterschneiders gelang vollkommen.

Nachdem die Trauung vollzogen war, bestieg die ganze Hochzeitsgesellschaft sehr elegante Miethwagen, die in großer Anzahl vor der Kirche bereit standen, und man begab sich nach den Höhen des Montmartre, wo in einem gut renommirten Restaurant dieses Stadttheiles, dem sogenannten Elysée-Montmartre, ein stattliches Hochzeitsmahl hergerichtet war. Sofort wurde denn auch Platz genommen und während der ersten Gänge verhielt sich die Gesellschaft ziemlich ruhig und anständig; es wurde sehr wenig gesprochen, dagegen desto mehr gegessen, und ich hatte Gelegenheit zu bemerken, daß alle diese Herrschaften, wenig vertaut mit den Gebräuchen unserer modernen Civilisation, für Messer und Gabeln eine ganz entschiedene Verachtung an den Tag legten und sich, nach orientalischer Sitte, ihrer Finger häufiger bedienten, als dies nach unseren Anschauungen und Begriffen angemessen erscheint.

Sehr bald aber artete das Hochzeitsmahl in ein wüstes Gelage aus. Man schrie und tobte, schlug mit den Messern auf den Tisch, zertrümmerte Gläser, vergoß Saucen, brüllte nach frischem Wein, erzählte obscöne Geschichten. Endlich wurden die Kehlen gestimmt und es erschallten in möglichst falschen Tonarten möglichst unanständige Lieder; zum Schluß, nachdem der Nachtisch aufgetragen war, sprang der Gesichterschneider, den die glücklicke Collecte, die er in der Kirche unternommen, in die beste Laune versetzt hatte, auf eine Bank und kündigte eine Gratisvorstellung an. Dieses Anerbieten wurde von sämmtlichen Anwesenden mit Jubel aufgenommen und der Grimassier gab seine Fratzen zum Besten. Hierauf begann der Ball. Das Orchester war eigenthümlich zusammengestellt: ein blinder Leierkastenmann, eine lahme Flöte und ein verkrüppelter Geiger hatten sich erboten, ihren Genossen zum Tanze aufzuspielen. Welch eine Musik! Welche Tänzer! Die Buckligen, die Krüppel, sogar die Lahmen holten sich ihre Tänzerinnen und sprangen wie die Tollen im Saale herum. Das Toben, Schreien, Drängen, Stoßen wurde immer wilder. Es war, als ob alle diese Leute von der Tarantel gestochen worden wären; man sah nur noch verzerrte, grimassirende Gestalten, Arme, die in den Lüften fochten, und Beine, die sich in den verwegensten, unglaublichsten Entre-Chats versuchten. Ich hatte genug und flüchtete mich, so schnell ich konnte, aus diesem wirren, chaotischen Durcheinander, das immer bedenklichere Dimensionen anzunehmen schien. Monsieur Aristide, der treulich an meiner Seite geblieben war, zog sich enenfalls mit mir zurück.

Als ich am nächstfolgenden Tage in den Nachmittagsstunden zufällig an der Kirche von St. Sulpice vorüberging, gewahrte ich das junge Ehepaar auf dem gewohnten Bettelplatze sitzend und eifrig beschäftigt, mit anerkennenswerther Philosophie und sichtbar gutem Appetit die erste gemeinschaftliche Bettelsuppe zu verzehren.




Beitrag zu Schillers Charakteristik. In der dreiundvierzigsten Nummer des verflossenen Jahrgangs der Gartenlaube befindet sich eine Notiz mit obiger Ueberschrift, die eine irrige Ansicht von dem Charakter unseres edelsten Dichters enthält. Ich schmeichle mir daher mit der Hoffnung, daß mir eine, wenn auch etwas späte, Berichtigung gestattet werde. Wo es sich um die Ehrenrettung auch eines ganz gewöhnlichen Menschen handelt, darf eine Berichtigung nie als zu spät oder veraltet betrachtet werden. Um wie viel mehr ist dies aber der Fall, wenn ein Schatten auf die Lichtgestalt eines der edelsten geistigen Vertreter einer großen Nation geworfen wird.

In der betreffenden Notitz heißt es, daß Schiller in den „Räubern“ aus persönlichem Groll gegen zwei Schweizer Junker den Canton Graubünden als „das Athen der Räuber und Diebe“ bezeichnet und daß er sogar den Namen des einen der beiden unliebsamen Junker, die seine Mitschüler Waren – des Herrn von Pestalozzi nämlich – aus gleichem Grunde in eine Mordscene in „Wallenstein’s Tod“ verflochten habe.

Der Schreiber jener Notiz meint in Bezug auf Graubünden, „gerade jene Gegenden hätten sich von jeher der tiefsten Sicherheit und Ruhe erfreut“. Nun, so ganz richtig ist diese Behauptung eben nicht. Man denke nur an die grausamen und räuberischen Vorfälle, die der religiöse Fanatismus zur Zeit des dreißigjährigen Krieges in der unmittelbaren Nachbarschaft von Graubünden hervorgerufen.

Die zweite Beschuldigung sind wir im Stande noch bestimmter zu widerlegen. Der Schreiber der erwähnten Notiz führt nämlich an, Schiller habe, um sich an Herrn von Pestalozzi zu rächen, dem schottischen Mörder Buttler in dem zweiten Auftritt des fünften Actes von „Wallenstein’s Tod“ folgende Worte in den Mund gelegt:

„Nun denn, so geht und schickt mir Pestalutzen,
Wenn ihr’s verschmäht, es finden sich genug.“

und abermals weiter unten, wo von Terzky’s und Illo’s Ermordung die Rede ist:

– – – – – – „Dort wird man sie
Bei Tafel überfallen, niederstoßen;
Der Pestalutz, der Lesly sind dabei.“

Der Verfasser sagt: „Pestalutz, wie der Name von Schiller’s Quälgeist in der schweizerischen Depravation lautet, ist auch hier gewiß nicht ohne Absicht gesetzt“ u. s. w. Hierin hat man wohl Recht, aber die Absicht ist eine wohlbegründete, historische, wie überhaupt viel mehr historisches Detail in Schillers Wallenstein enthalten ist, als die Welt noch zu ahnen scheint. Pestalutz ist nämlich kein aus Neckerei boshaft eingeschalteter Name, sondern ein wirklicher, dessen Träger in der blutigen Katastrophe von Eger ebenfalls eine Rolle spielte. Es gab im Terzky’schen Regiment einen Hauptmann Pestalutz, der sammt andern Officieren von Buttler in die Verschwörung gegen Wallenstein gezogen wurde. Als Beleg für unsere Angabe verweisen wir – anstatt auf die ursprünglichen nicht leicht zugänglichen Quellen – auf eine Stelle in einem neuern Werke, in Försters „Wallenstein’s Proceß“,[1] wo Seite 158 der Hauptmann Pestalutz unter den Mitverschworenen angeführt ist.

Der Dichter hatte die anderen höheren Officiere, die in die Verschwörung verflochten waren, in seinem dramatischen Meisterwerke entweder persönlich vorgeführt, oder doch erwähnt, mit Ausnahme der englischen Officiere Birch und Brown, deren Namen zu unpoetisch geklungen haben würden. Pestalutz aber klingt nicht so prosaisch und paßte wohl in’s Metrum; es war daher natürlich, daß der Dichter diesen Namen von Buttler gebrauchen ließ, um den unentschlossenen Mördern mit seiner Concurrenz zu drohen.

Schließlich sei mir noch die Bemerkung gestattet, daß, wenn ich diesen Gegenstand ausführlicher besprochen habe, als Manchem gerate nöthig scheinen dürfte, dies vorzüglich geschah, um die Berichtigung so nachdrücklich wie möglich zu machen. Wenn ich bedenke, wie enorm groß die Anzahl der Leser ist, durch deren Hände die „Gartenlaube“ geht, so scheint mir die Befürchtung nicht ungegründet, daß wir in irgend einer nächstens erscheinenden deutschen Literaturgeschichte die angeführten Punkte als Beweise für Schiller’s Unversöhnlichkeit und rachsüchtiges Temperament finden dürften. Die Herren Doctoren Janssen und Klopp, die leider bereits so viel dazu beigetragen haben, den Namen unseres Schiller auch im Auslande zu verunglimpfen, wären wohl nicht die Letzten, von einer solchen Anklage Gebrauch zu machen. Der Schreiber der Notiz scheint freilich den gehässigen Charakterzug beschönigen zu wollen, Andere, wir möchten fast sagen deutschfeindliche Deutsche, würden aber der Sache eine ganz andere Färbung geben.

London, Januar 1865.
Prof. Dr. Buchheim.


  1. Leipzig, 1844.