Die Gartenlaube (1866)/Heft 24

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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Keil
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Entstehungsdatum: 1866
Erscheinungsdatum: 1866
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[369] No. 24.
1866.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.

Wöchentlich bis 2 Bogen. Durch alle Buchhandlungen und Postämter vierteljährlich für 15 Ngr. zu beziehen.


Der Frankfurter Advent.
Historische Novelle von Bernd von Guseck.
(Fortsetzung.)


Sperber erbot sich, den ihm von der Frau Weidel übergebenen Brief auf der Post zu bestellen. Es war schon zu finster, die Aufschrift zu lesen; als er aber an das lichthelle Fenster der Thurn und Taxisschen Expedition trat, sah er doch, wie schlecht gekritzelt der Name auch war, daß die Alte an den Lieutenant Ortenburg geschrieben hatte – nach Marburg. „Ach, wenn doch das ganze hessische Corps, das noch weit überm Rhein stand, und die Preußen in Marburg wären, um dem Custinus hier den Garaus zu machen!“ dachte Sperber.

Die Amme, wie Frau Amalie Weidel trotz ihrer achtzig Jahre noch im Hartinger’schen Hause genannt wurde, war unterdessen hier angelangt und erregte, da sie nach ihrer Manier ohne Weiteres bei der Frau Senatorin eintrat, durch ihre Erscheinung am Spätabend gleich die Besorgniß, daß sie eine schlimme Nachricht bringe.

„Freilich!“ sagte sie, ohne sich an die ihr gewordene Weisung zu schonender Mittheilung zu kehren. „Der Herr sitzt fest im rothen Hause; er und noch vier Rathsherrn sind arretirt, auch zwei Juden, die reichsten, sind hingeschleppt worden, wie ich unterwegs noch gehört habe.“

Ein lauter Schrei der Frau Hartinger hatte ihre Meldung schon unterbrochen. „Im rothen Hause, sagst Du?“ rief Dorothea in höchster Aufregung. „Aus welchem Grunde sind sie verhaftet worden?“

„Es heißt, weil sie Feinde bei sich aufgenommen haben – Andere meinen, es sei wegen der Brandschatzung –“

„Also bekannt ist es schon und wir erfahren es zuletzt?“ sagte Dorothea, „Mutter, ich werde zur Frau Syndicus gehen, einer von den Leuten kann mich begleiten, dort höre ich gewiß die Wahrheit.“

Die Mutter war trostlos. „Sie werden ihn nach Frankreich schleppen, sie werden uns zu Bettlern machen! Und Du willst mich jetzt verlassen?“

Dorothea sprach ihr zu, aber sie ließ sich nicht abhalten; ihr Gefühl brach nicht in Jammern und Klagen aus, es war das Gefühl eines starken Zornes. Einer von den Comptoirdienern begleitete sie mit der Laterne auf dem kurzen Wege und leuchtete an der Hausthür einem Menschen in’s Gesicht, der an die Mauer gelehnt stand. „Was will Er hier? Auf wen wartet Er?“ fuhr er ihn an.

„Auf Ihn nicht!“ klang die derbe Antwort. „Ach, sind Sie’s, Mamsellchen? Ich wollte die gute Frau Weidel nach Haus bringen; auf den Gassen ist’s nicht geheuer für eine alte Frau.“

Dorothea erkannte den Gesellen, welchem sie vor einiger Zeit eine Gabe verabreicht hatte. Sperber’s Gesicht war nicht so leicht zu vergessen, sie würde sich seiner aber doch nicht erinnert haben, wenn er nicht zuletzt noch das Gespräch mit ihrem Vetter gehabt hätte. „Frau Weidel wird bei meiner Mutter bleiben,“ sagte sie freundlich.

„Und Sie wollen wohl zum Herrn Vater?“ entgegnete Sperber. „Ach, da kommen Sie nicht hinein! Da stehen Schildwachen.“

„Wißt Ihr auch schon, was geschehen ist?“ fragte Dorothea.

„Es wird noch besser kommen! Der Custinus ist gut bedient, er weiß den Hammer auf die rechte Stelle zu schlagen. Als ich bei ihm, im rothen Rock wie einen Scharfrichtersknecht, den tollen Böhmer sah, da wußt’ ich schon genug.“

Von Dr. Böhmer, dem ehemaligen Gymnasialdirector aus Wiesbaden, dem Sohne eines würdigen Professors in Göttingen, war schon in den befreundeten Häusern, welche Dorothea mit ihrer Mutter besuchte, die Rede gewesen; sie wußte, daß Böhmer sich unbedingt den neuen Freiheitsaposteln angeschlossen hatte. Mit seinem und vielen andern Namen aus Mainz war auch Stamm mehrfach erwähnt worden; war Stamm, der sich einen Freund ihres Hauses nannte, nicht bei Custine, und wenn er auf diesen, wie ihr Vater meinte, einen großen Einfluß hatte, konnte er nicht verhindern, was geschehen war? Mit diesem Gedanken beschäftigte sich Dorothea, nachdem sie sich von dem Gesellen, der nun seine eigenen Wege ging, getrennt hatte.

Bei Frau Seeger, der Gattin des hochgeachteten Syndicus, erhielt sie vollen Aufschluß. Custine hatte fünf der angesehensten Männer aus dem Rath und zwei reiche Juden als Geiseln für die Zahlung der Contribution festnehmen lassen. Gegen die steigenden Gewaltmaßregeln war nichts zu thun, als ungebeugt auf seinem Rechte zu verharren. Der Syndicus Seeger und der Kaufmann Engelbach sollten noch in der Nacht mit Courierpferden nach Paris abreisen. Unterdessen mußte die Zahlung beginnen, wenn nicht die angedrohte Plünderung der herrschaftlichen Höfe und der Patricierhäuser stattfinden sollte. Das schwere Geschütz war aber auf wiederholte Forderung standhaft verweigert worden. Custine hatte die Zeughäuser bis jetzt wohl nur deshalb noch nicht erbrechen lassen, weil er keinen Angriff auf Mainz befürchtete und darum die Kanonen dort nicht brauchte. Welcher Geist in der ganzen Einwohnerschaft lebte, bewies die Thatsache, daß die Sachsenhäuser, welche er bei einem Besuch ihres Stadttheils persönlich um einen Baum, um diesen als Freiheitsbaum aufzurichten, gebeten hatte, ihm denselben rund abschlugen. „Die Frankfurter sind [370] ein widerspenstiges, hartnäckiges Volk!“. hatte er darauf zu Dr. Böhmer, seinem Begleiter, gesagt und diese Aeußerung war bekannt geworden. Die Frankfurter waren stolz darauf.

Dorothea kehrte mit ihren Nachrichten zu der bekümmerten Mutter zurück, bei welcher sie noch die Amme traf, die ihr aus der Mainzer Zeitung heute die politischen Artikel vorlesen mußte, welche sie sonst nicht kümmerten. Wie hatte sich dies ihr sonst so liebe, gemüthliche Blatt, in welchem sie mit Vergnügen von all’ den Lustbarkeiten am Hofe des Kurfürsten, von Frau von Coudenhove und den galanten Herren und Damen gelesen hatte, in der letzten Zeit verändert! Forster’s und Wedekind’s Angriffe auf den schlechten Geist, der in Frankfurt sich der von Frankreich ausstrahlenden Lichtmasse verschließe, hatten sie heute so verstimmt, daß sie beschloß, die Mainzer nicht mehr zu halten und sich mit der hiesigen zu begnügen, in welche jetzt freilich auch Custine seine Proclamationen und Erlasse rücken ließ. Ueber die Gefangenschaft des Gatten beruhigte sie sich einigermaßen, als sie von ihrer Tochter hörte, was der Grund sei. Von Wegschleppen oder gar Todtschießen war nicht die Rede; sie hatte sich schon geängstigt, daß man ihm die Beherbergung seines eigenen Neffen zum Verbrechen machen könne. Die Amme schien über Hermann mit der Mutter gesprochen zu haben, denn diese sagte auf einmal: „Weißt Du, daß Contreordre für den Nachschub gekommen ist? Hermann ist nicht auf dem Marsch nach dem Luxemburgischen, sondern steht in Marburg, weil sie fürchten, daß die Franzosen von hier aus in Hessen einfallen werden.“

Auf die Frage der Tochter, woher sie das wisse, blickte Frau Hartinger auf die Amme, und diese sagte kurz: „Ich hab’s gehört.“ Ortenburg hatte aber selbst an sie geschrieben; er mußte von ihr Aufklärung über die räthselhaften Worte haben, die sie ihm, gegen den sie doch sonst so zärtlich war, beim Abschied bitterböse gesagt hatte. Ihre Antwort war heute durch Sperber auf die Post getragen worden.

„Wir können also ruhiger schlafen,“ sagte die Mutter. „Morgen wollen wir sehen, ob wir den Vater sprechen oder ihm wenigstens Essen schicken können. Gute Nacht, Dorche! Guter Rath kommt über Nacht.“

Den Geiseln, welche Custine in Verwahrsam genommen hatte, war die Verbindung mit ihren Familien und auch mit ihren Mitbürgern keineswegs abgeschnitten; im Gegentheil hoffte der General durch sie auf diese zu wirken oder, wie man heute sagt, einen Druck auf sie zu üben. Darum ließ er sie über ihr Schicksal in Ungewißheit: das Damoklesschwert hing über ihrem Haupte. Der widerspenstigen Stadt wollte er seine Gegenwart nicht lange mehr schenken, sondern sein Hauptquartier nach Mainz zurückverlegen, einstweilen konnte er ihr aber noch das Schauspiel eines Triumphzuges vorführen. Die Saline von Nauheim war wirklich von Houchard genommen worden; mit vierzehnfacher Uebermacht hatte er das schwache hessische Detachement, das von Hanau zum Schutz hierher geschickt war, nach der tapfersten Vertheidigung endlich überwältigt, als es die letzte seiner Patronen verschossen hatte. Die Gefangenen ließ Custine nun im Triumph unter Cavalerieescorte zu Frankfurt durch die Hauptstraßen führen, es machte aber auf die Einwohner nicht den gehofften Eindruck. Sie empfingen die deutschen Krieger, welche vor Unmuth über diese Behandlung knirschten, mit lebhaftem Enthusiasmus und thaten Alles, um ihnen und ihren zahlreichen Verwundeten ihr Schicksal zu erleichtern.

Dagegen machte der tapfere Widerstand des kleinen Häufleins Eindruck auf Custine, denselben, wie vor Zeiten der der Schweizer bei St. Jacob an der Birs auf das große Heer der Armagnacs. Wie diese, davon imponirt, den Angriff auf die Schweiz aufgaben, so Custine den seinigen auf Hanau. Um so wüthender fiel die Proclamation gegen den Tyrannen und Tiger von Hessen aus, um so abgeschmackter der Schluß derselben, in welchem er den hessischen Soldaten – fünfzehn Kreuzer täglichen Sold, wenn sie zu ihm übertreten wollten, fünfundvierzig Gulden Pension für einfache Desertion, das Bürgerrecht, brüderliche Liebe und Freiheit bot! Der Erfolg, war nur allgemeine Entrüstung im hessischen Volke, das theilweise zu den Waffen griff. Reellen Gewinn gab jedoch die Nauheimer Beute an Salz, fünfhunderttausend Thaler werth, die nach Mainz geschleppt wurde, und Houchard’s fortgesetzte Brandschatzung der reichsten Klöster und Besitzungen in der Gegend.


5.

Fand denn das Beispiel des braven Hessenvolks gar keine Nachahmung? Ließ sich ein Landstrich von wenigstens acht Millionen einer treuen und wehrhaften Bevölkerung durch achtzehntausend Franzosen in Angst und Schrecken setzen, so daß keine Hand sich gegen sie aufhob? Wer trug die Schuld der Schmach und fand sich gleichgültig mit der Schande ab? Hören wir darüber einen Rheinländer, welcher jene jammervolle Zeit mit erlebt. hat! Von den kleinen Herren, die sich vom Breisgau bis nach Westphalen in die deutschen Rheinlande theilten, fühlte sich keiner mehr in seiner Residenz sicher. Alle zogen rückwärts und ließen Land und Leute im Stich, am schnellsten diejenigen, welche einst am lautesten gedroht und getrotzt. Der Bischof von Speier suchte im Odenwalde eine Zuflucht, der Kurfürst von Trier bei dem von Köln Schutz; in Coblenz wurden um fabelhafte Summen Schiffe gemiethet, alle Cavaliere, die meisten Geistlichen, kurfürstliche Räthe mit Frauen und Kindern, sehr viele Bürger und Handwerker, die meisten Mönche und Nonnen, sogar der Gardeoberst von Landenberg mit Officieren und Gemeinen – Alles floh rheinabwärts! In Bonn und Köln packte man aber auch bereits zur Flucht nach Westphalen und Holland ein. Die Fürstin von Neuwied empfahl sich der Milde Custine’s. Der panische Schrecken verbreitete sich vom Rheinlande weiter bis in das Herz von Deutschland. Baden und Würtemberg, auch mehrere Reichsstädte betheuerten ihre Neutralität, die Bischöfe von Bamberg und Würzburg, das Reichskammergericht erbaten sich Schutzbriefe von Custine; aus Cassel flüchtete die landgräfliche Familie, während der Landgraf an der Spitze seiner Truppen noch jenseit des Rheins im Felde stand; ja die Gesandten auf dem Reichstage zu Regensburg mietheten bereits Schiffe zur Flucht auf der Donau, wenn die ersten Franzosen sich bei Nürnberg zeigen würden.

Von jenen kleinen Herren und freien Gemeinwesen ist die Mehrzahl, absonderlich die geistlichen Fürsten, in der Napoleonischen Zeit ihrer Selbstständigkeit beraubt und bei der Umgestaltung Deutschlands 1815 nicht wieder restaurirt worden. Man würde jedoch ungerecht sein, wollte man ihnen die ganze Schuld jener unerhörten Schmach aufbürden; es war das Elend der politischen Verfassung des deutschen Reichs, welches sich darin kund gab. Wären Custine’s Thaten so kühn und gewaltig gewesen, wie seine Proclamationen, hatte er nur mäßige Colonnen von Mainz gegen Coblenz und über Frankfurt landeinwärts rücken lassen, so würde er der ganzen westlichen Kleinstaaterei mit einem Schlage ein Ende gemacht und aus dem ganzen Rheinlande vorläufig eine Tochterrepublik Frankreichs geschaffen haben. Die Stände des Kurfürstenthums Trier, verlassen von ihrem geistlichen Herrn, schickten ihm in ihrer Rathlosigkeit bereits eine Gesandtschaft, um wegen einer Brandschatzung, noch ehe er trierischen Boden betreten hatte, gütlich mit ihm zu contrahiren, ihm die preußischen Magazine in Coblenz und, wenn er darauf bestünde, auch den Ehrenbreitstein zu überlassen! Diese Gesandtschaft empfing Custine noch in Frankfurt, und es machte auf die wackern Bürger einen ebenso beschämenden, wie niederbeugenden Eindruck. Auf Hülfe war nicht mehr zu rechnen. Die Kaiserlichen in Belgien, die Preußen und Hessen auf dem Rückzuge noch jenseit Coblenz mochten wohl schon geschlagen und zersprengt sein.

Trüb gestimmt durch solche Gedanken, bekümmert um ihren Vater saß Dorothea Hartinger allein. Die Mutter war ausgegangen, um sich bei Freundinnen Rath und Trost zu holen. Es war allerdings gestattet worden, die im rothen Hause verwahrten Geiseln mit allem Nöthigen zu versehen, aber eine Freilassung, bevor der letzte Kreuzer der Contribution entrichtet war, stand nicht in Aussicht; es hieß sogar, daß sie nach Mainz transportirt werden sollten. Dorothea bangte darum, da erschreckte ein leises Klopfen an der Thür das sonst so herzhafte Mädchen; kaum daß sie antworten konnte. Die Thür wurde bescheiden geöffnet – ein französischer Officier trat herein. Sie stand bestürzt auf. Welches neue Unheil sollte ihr dieser Bote verkünden? Er nahte sich ihr rasch. „Verzeihung, Mademoiselle, dem wahren Freunde.“

Bei dem Tone dieser Stimme blickte sie erstaunt auf; nun erst erkannte sie, wer der Officier war.

„Ich war fern von hier,“ fuhr dieser fort, „ich konnte nicht ahnen, was sich hier begeben würde! Sie staunen, mich in französischer Uniform zu erblicken?“

[371] „Nachdem Sie deutsche getragen, Herr Stamm,“ entgegnete Dorothea, welche durch seinen Anblick ihre volle Geisteskraft wieder gewonnen hatte.

„Deutsche?“ wiederholte Stamm lächelnd. „Giebt es eine deutsche Uniform? Wenn ich durch Verhältnisse in den Rock des Kurfürsten von Mainz gekommen war, so hatte ich ihn schon vor der Katastrophe ausgezogen und, theure Mademoiselle, ich bin ein Straßburger, meiner Familie nach ein Elsasser, also französischer Bürger! Meine Pflicht war beim Ausbruche des Krieges, dem Vaterlande meinen Degen zu weihen. Gegen Niemand würde ich mich in dieser Weise rechtfertigen, als gegen Sie … Doch nicht deshalb kam ich her, sondern Ihres Herrn Vaters wegen. Ich habe Alles gehört und werde meinen ganzen Einfluß aufbieten, Ihren Herrn Vater zu retten. Sie erschrecken vor dem Worte? Ja, ich kann es Ihnen nicht verschweigen, Sie haben ein starkes Herz! Ihr Vater ist angeklagt, mit den Feinden Frankreichs conspirirt zu haben, ich warnte ihn umsonst …“

„Eine ehrlose Verleumdung!“ rief Dorothea.

„Gewiß! Wenigstens glaube ich es … Aber die Folgen sind bedrohlich und eine Rechtfertigung würde kaum möglich sein. Sorgen Sie aber nicht, theure Doris. Sie haben einen treuen Freund, der für Sie sein Leben opfern würde. Ich bin Custine’s Adjutant, ich werde auf Gefahr meines Kopfes handeln, auch wenn ich von Ihrer Seite keinen Dank zu hoffen hätte.“

„Wie können Sie daran zweifeln!“ sagte Dorothea, von seinen Worten schwer geängstigt.

„Darf ich hoffen?“ rief er entzückt und küßte ihre Hand. „Ah, Madame!“ sagte er, nach der Thür sich wendend, zu der eben eintretenden Frau Hartinger, welche vor der Gruppe wie versteinert stand. „Sie kommen zur guten Stunde. Ich darf keine Zeit verlieren, wenn ich das Schrecklichste verhindern will. Mademoiselle wird Ihnen Alles erklären!“

Er empfahl sich, und die Mutter hörte von Dorothea, was Stamm ihr entdeckt. Sie hatte bei keiner ihrer Freundinnen viel Trost gefunden und gerieth jetzt bei der Mittheilung ihrer Tochter in völlige Verzweiflung. „Sie werden ihn erschießen! Sie werden sein ganzes Vermögen confisciren!“ jammerte sie. „Dein Hermann hat dies ganze Unglück über uns gebracht!“

Vergebens suchte Dorothea sie zu beruhigen, den Vorwurf von dem Vetter abzuwenden und die Hoffnung in ihr zu wecken, daß Stamm, der für den Vater eine solche Freundschaft gezeigt, die ungerechte Verfolgung hindern werde, da er Custine’s Adjutant sei. Die Mutter, deren ohnehin schwache Geisteskräfte jetzt ganz gebrochen waren, hörte kaum auf sie und rang nur die Hände. Es waren traurige Stunden, welche Dorothea mit ihr verlebte, besonders als ein Billet, das sie an den Vater geschrieben hatte, dort nicht abgegeben werden durfte. Diese Verschärfung, wenn sie sich nicht auf alle Sieben erstreckte, die als Geiseln im rothen Hause gehalten wurden, bestätigte Stamm’s Nachricht nur zu sehr. Eine traurige Nacht für die Beiden, welche um den Gefangenen zagten!

Stamm kam folgenden Tages sehr früh. Sein ernstes Gesicht verrieth, daß er selbst die Hoffnung nicht theilte, welche er aussprach. Der General hatte eine Beschleunigung der Angelegenheit versprochen; weiter durfte er sich nicht auslassen, doch stehe die Sache immer noch so schlimm nicht, wie sie vielleicht fürchteten.

„Seien Sie überzeugt,“ setzte er mit einem feurigen Blick auf Dorothea hinzu, „daß mich die Guillotine, die mich dabei selbst bedroht, nicht schrecken wird, die Hoffnungen, die in mir erweckt worden sind, durch meine Thaten zur Erfüllung zu bringen. Nur wenn mir die Rettung des Vaters gelingt, verdiene ich den schönen Preis!“

Die Mutter sah ihn mit ganz verwunderten Blicken an und Dorothea erröthete heiß. In ihrem Herzen regte sich ein Gefühl des Unwillens, durfte sie ihm aber Worte geben? Sie gerieth mit ihrer eigenen Natur in Widerspruch, daß sie die unbegreifliche Täuschung, in welche sich Stamm wiegte, nur einen Augenblick bestehen ließ; aber durfte sie ihn jetzt kränken, wo er vielleicht das Schicksal ihres Vaters in seiner Hand hatte? Dennoch würde sie den richtigen Ausweg aus ihren Zweifeln gefunden haben, wenn ihr Stamm Zeit dazu gelassen hätte; auch diesmal hielt er sich nur ganz kurze Zeit auf. Die Verlegenheit der Mutter, wie der Tochter schonend, ging er für jetzt nicht weiter, sondern sprach wieder von der Großmuth seines Feldherrn, welche sich auch in diesem Falle bewähren werde. Von Custine’s Großmuth wußte man in Frankfurt zu erzählen!

„Dorche,“ sagte die Mutter, als er sich entfernt hatte, „Du böses Kind! Hast mir Alles verschwiegen?“

„Was meinst Du?“ entgegnete Dorothea, deren Stolz sich sträubte, die Mutter zu verstehen.

„Nun, wenn Du freilich den Hermann nicht magst, so trifft sich’s glücklich, daß gerade der Freund unsers Hauses, der unser Glück machen kann –“

„O, kränken Sie mich nicht!“ unterbrach Dorothea heftig bewegt ihre Mutter. „Ob Stamm ein edler und wahrer Freund ist, wird sich zeigen; wie er zu dem Wahne kommt … Gott ist mein Zeuge, daß ich unschuldig daran bin!“

„Aber wenn’s doch so steht, er ist ein hübscher Mann, und angesehen auch, von guter, patricischer Familie aus Straßburg –“

„Ein Feind unsers deutschen Vaterlandes!“ rief Dorothea.

Dafür hatte Frau Hartinger keine Begriffe. „Er kann aber für uns Alles thun. Und wenn Du doch den Hermann …“

„O Mutter, Sie quälen mich!“ sagte Dorothea bittend. „Wenn Stamm wirklich edel ist, wird er für seine hülfreiche That den Preis nicht fordern, den ich ihm nicht gewähren kann. Muß ich denn,“ setzte sie mit gehobener Stimme hinzu, „wenn ich für meinen Cousin nur ein verwandtschaftliches Gefühl habe, durchaus diesem Franzosen zum Opfer gebracht werden?“

„Aber Dein Vater? Willst Du Nein sagen, wenn sie ihn zur Guillotine schleppen, wie Stamm gemeint?“

Die Mutter hatte diesmal doch den empfindlichsten Nerv getroffen; Dorothea senkte das Haupt und verstummte. Sie ließ keinen Blick in ihr Herz thun und die Mutter glaubte, sie überzeugt zu haben. Als nun Stamm sich weder an diesem, noch dem nächsten Tage im Hartinger’schen Hause zeigte und ein neuer Versuch, von dem Vater selbst Mittheilungen zu erlangen, scheiterte; als die Nachforschung, welche bei den Bürgermeistern angestellt wurde, bei der nöthigen Zurückhaltung zu nichts führte: da verdüsterten sich alle Aussichten auf eine glückliche Lösung. Dorothea hatte ihrer Mutter begreiflich gemacht, wie gefährlich es sei, von der Anschuldigung des Vaters irgend etwas verlauten zu lassen, da Niemand davon zu wissen schien, aber darum blieben sie auch in der tödtlichsten Ungewißheit. Entscheiden mußte sich aber Alles in kürzester Frist. Der Bürgermeister Mühl hatte gesagt, daß die erste Million der Brandschatzung fast abgeliefert sei und die Geiseln sodann auf freien Fuß gestellt werden sollten. Zitternd erwarteten Frau Hartinger und ihre Tochter, ob auch der Vater dabei ihnen zurückgegeben würde.

In Dorothea’s kindliche Besorgniß mischte sich aber ein starkes Gefühl des Hasses, wie ihn die Unterdrückung erzeugt. Sie konnte den Gedanken nicht loswerden, daß eine muthige Erhebung des Volkes die Stadt und das Land von ihren Drängern befreien müsse. Auf Hülfe von Kaiser und Reich war seit Jahrhunderten an keiner bedrohten Stelle mehr zu rechnen; die Heere, welche einzelne Fürsten in’s Feld gestellt, um dem unglücklichen König von Frankreich, der zu dieser Stunde noch im Gefängniß schmachtete, zu Hülfe zu kommen, hatten keine Lorbeeren gepflückt und waren fern; nur das Volk, das tapfere, deutsche Volk, wenn es sich ermannte, konnte sich selbst befreien. Aber eine sicilianische Vesper, eine Pariser Bluthochzeit in deutschen Landen? Vor diesem Gedanken schauderte das einsam sinnende Mädchen. Nicht heimtückischer Ueberfall und Mord, nur offene Erhebung zum ehrlichen Kampfe wünschte sie, und daß es in Frankfurt dazu kommen könne, wenn die Franzosen sich mit Gewalt des bei der zweiten Forderung rund abgeschlagenen Geschützes bemächtigen wollten, war ihr nach allen Anzeichen unzweifelhaft.

Endlich wurde Stamm bei Frau Hartinger wieder gemeldet, er kam diesmal mit strahlendem Angesicht, und Dorothea mußte der Mutter beipflichten: er war wirklich ein schöner Mann.

„Freuen Sie sich!“ rief er noch auf der Schwelle. „Der Gatte, der Vater wird Ihnen zurückgegeben werden. Die Untersuchung ist niedergeschlagen.“ Dorothea’s Auge traf ihn bei diesem Worte so mächtig, daß er das seinige senken mußte, ihm war, als dränge ihr Blick bis auf den Grund seiner Seele und lasse sich nichts mit arglistigen Künsten verhüllen. Er fuhr aber schnell fort: „Noch heut wird Herr Hartinger mit den übrigen Männern [372] Frankfurts, die zum Unterpfande für gewissenhafte Erfüllung der auferlegten Pflicht dienen mußten, in Freiheit gesetzt werden. Ich werde aber auch ferner wachen, daß diesem Hause – mag die nächste Zeit noch so Furchtbares bringen – kein Leid widerfahre. Es ist ja das theuerste Interesse, welches mich an dasselbe knüpft. Ja, theures Mädchen, lassen Sie mich in diesem glücklichen Augenblicke Ihrer Frau Mutter Alles gestehen und auch um ihre Zustimmung bitten, wie ich schon das Wort Ihres Vaters habe, das mich unendlich beseligt.“

Die Mutter war durch diese plötzliche Eröffnung, besonders was ihren Gatten betraf, ganz aus der Fassung gekommen; was sie erwiderte, war ohne Zusammenhang. Sie sprach von „schmeichelhaft, großer Ehre, Ueberraschung“. Dorothea, in peinlichster Ungeduld, mußte das Wort für sie nehmen; gerade, wenn Stamm ihren Vater vor einem ungerechten und überstürzten Urtheilsspruch gerettet hatte, durfte er nicht getäuscht oder hingehalten werden.

„Herr Stamm,“ begann sie mit bebender Stimme, „wir sind Ihnen zu ewigem Danke verpflichtet, aber ich darf Sie nicht in Ungewißheit lassen, daß die Andeutungen, welche Sie … der Mutter ausgesprochen haben … zürnen Sie mir nicht, wenn ich Ihnen eine Hoffnung nicht bestätigen kann – mich trifft keine Schuld –“

„O geliebtes Mädchen, ich habe Ihr Zartgefühl verletzt, in soldatischer Frankheit Sie überrascht, verzeihen Sie mir! Berathen Sie sich mit dieser edlen Frau, sprechen Sie mit Ihrem Vater. Ich bestrafe mich für meine Unvorsichtigkeit, indem ich mich aus Ihrer himmlischen Nähe verbanne; ich werde mein Schicksal mit Geduld erwarten.“

Er sagte das so rührend, daß Thränen in das Auge der Mutter traten und sie ihm, als er raschen Abschied nahm, allerdings Hoffnungen machte, während Dorothea darüber unwillig wurde.

„Kind, Du böses Mädchen, was thust Du?“ rief die Mutter, von der Thür zurückkommend. „Willst Du ihn zu unserm Feinde machen, wenn der Vater und wir Alle noch in der Gewalt der Franzosen sind?“

„Glauben Sie ihm denn, Mama?“ entgegnete Dorothea, welche mehr und mehr den Gedanken, der ihr bei dem Blick in Stamm’s Augen aufgeblitzt war, zur Klarheit brachte. „Er ist schon so sehr Franzose, daß er uns Deutsche durch das plumpste Stücklein zu bethören wähnt. Warten wir doch ab, was der Vater über die gegen ihn angestellte Untersuchung sagen wird!“ Der Mutter wurde bei dieser neuen Anschauung der Dinge ganz schwindlig; sie konnte sich mit ihrer Tochter wie schon oft bei Meinungsverschiedenheiten, in keinen Ideenkampf einlassen.

Gegen Mittag große Freude! Hartinger kehrte wirklich zu den Seinigen zurück. Die Million war bezahlt, die Geiseln wurden in Freiheit gestellt, der Stadt blieb es überlassen, beim Nationalconvent in Paris wegen der noch rückständigen Summe der Contribution Schritte zu thun. Ueber sein eigenes Schicksal ließ sich Hartinger gegen Frau und Kind nicht aus; er konnte sich über die Behandlung nicht beschweren, von einer Anklage, wie ihm Dorothea sagte, wußte er nichts, verhört war er gar nicht worden, und als Stamm sein Retter genannt wurde, rief er ungeduldig: „Laßt mich damit zufrieden! Ich habe die ganze Wirthschaft satt!“

War er geheilt von seiner Vorliebe, die mit seinen sonstigen Ansichten über die eigene Stellung und deren Vorrechte, welchen er keineswegs zu entsagen gesonnen war, schon in manchen Conflict gerathen sein mußte? Diese Frage, die so nahe lag, hätte sich dem scharfen Verstande seiner Tochter aufdrängen müssen, wenn sie nicht für sich selbst hätte denken und sorgen müssen. Denn die Mutter, obschon sie für den Moment die verdrießliche Stimmung ihres Mannes scheute, kam doch sehr bald auf Stamm zurück, weil sie nach dessen Behauptung als gewiß annehmen mußte, daß sein Antrag bereits die Zusicherung des Vaters hatte. Hartinger war mit ihr allein, als sie ihn ohne Eingang danach fragte. Er fuhr heftig auf: „Das ist gelogen!“ rief er. „Willst Du sie ihm etwa geben? Wie steht es mit Doris?“ Ohne die Antwort abzuwarten, ging er gleich nach Dorothea’s Zimmer, der Frau gebieterisch winkend, daß sie zurückbleiben solle.

„Hast Du hinter meinem Rücken ein Liebesverständniß angeknüpft?“ war seine erste, barsche Frage, als er vor seiner Tochter stand.

„Vater!“ rief sie, und ihr Ton, noch mehr ihr Blick, gab ihm die Antwort, die er forderte.

„Herr Daniel Stamm, französischer Bürger und Adjutant des hohen Bürger-Generals, hat sich auf mich berufen, hat er das?“ fuhr der Vater fort. „Er hat Euch weis gemacht, meinen Kopf der Guillotine entzogen zu haben – eine Puppenkomödie! Mit Redensarten fängt man uns nicht, das habe ich ihm gesagt, wir wollen die Wechsel, die sie auf Freiheit und alle möglichen Erdengüter ausstellen, auch durch die That honorirt sehen!“

Dorothea athmete hoch auf. Aehnliche Worte hatte sie selbst schon an ihren Vater gerichtet, der sie von sich gewiesen hatte, so lange er nicht selbst von den Consequenzen des französischen Treibens betroffen worden war. Die Tochter konnte sich diesem demüthigenden Gedanken nicht verschließen. Wie hatte er sonst auch über Stamm gedacht! Jetzt, da er so verächtlich von ihm sprach, fühlte sie sich fast berufen, ihn wenigstens gegen den Verdacht gemeinster Absichten, deren ihn der Vater zieh, in Schutz zu nehmen.

„O schweig!“ rief Hartinger. „Wenn ich Dich enterbte, würdest Du in seinen Augen auf einmal häßlich sein, wie eine Eule. Du hast ihm also keine Hoffnung gemacht? Liebst ihn nicht, bist vielleicht einem Andern gut?“ Er sagte das mit einem Ausdruck, der wahrhaft besorgt klang, und gleichsam den Lippen abgezwungen, nannte er den Namen seines Neffen, wobei er der Tochter ängstlich in das Gesicht sah.

„Ich kann nicht falsch sein,“ erwiderte Dorothea erröthend, aber mit freiem Blick. „Wie sehr es auch der Wunsch meiner Eltern scheint, ich bin dem Vetter herzlich gut, aber wie ich der Mutter schon erklärt habe …“

Hartinger schloß sie heftig in die Arme. „Mein Wunsch!“ rief er, sie auf die Stirn küssend. „Gott soll mich vor der Sünde bewahren. Nein, Kind, bleibe ihm gut, liebe ihn wie … eine Schwester! Haltet treu zusammen, ihr Beiden, als Freunde euer Leben lang, auch wenn Du einen braven Mann geheirathet haben wirst.“ Er gerieth in eine so tiefe Bewegung, daß ihm die Stimme versagte. Welches Räthsel bei dem sonst so kalten, ruhigen Manne!

(Schluß folgt.)




Eine Kaiserburg in der Republik.
Von A. Corrodi.


Die Vorbereitungen des Krieges werden immer drohender und lauter, bald wird Ihr liebes Deutschland ein einziges großes Feldlager sein, und je mehr die immer noch still genährten Friedenshoffnungen schwinden, desto sehnsüchtiger blickt so Mancher nach einem ruhigen Asyle, wo er, wenn das grimme Waffenhandwerk zu blutiger Arbeit kommt, sich und die Seinigen vor den Schrecken der entfesselten Kriegsfurie in Sicherheit bergen könne. Und wem es Mittel und Lebensstellung erlauben, der wendet sich dann wohl zunächst nach unserer Schweiz, als dem am leichtesten zu erreichenden Port, um dort im Schutze der sichern Alpenveste die Tage der Noth draußen vorüberbrausen zu lassen. Solche Flüchtlinge werden für diesen Sommer den Schweizern einen Theil der sonstigen Touristenschwärme ersetzen müssen, und wenn sich die meisten jener Flüchtlinge auch in den großen Fremdencentren Zürich, Luzern, im Berner Oberlande zusammenfinden werden, gar Vielen wird es doch um minder heimgesuchte Landschaften zu thun sein. Ihnen wollen wir im Nachstehenden eine solche zeigen, die zwar kein See- und kein Alpenbild, doch des Schönen und auch geschichtlich Interessanten genug bietet. – Die Stadt Winterthur, eine der reichsten der Schweiz, ist allgemein bekannt. In ihrer Nähe im Süden zieht sich über langgedehnte Hügel und durch kühle Schluchten der Eschenbergerwald hin, das eigentliche Bijou des Winterthurers. Auch heut’ noch, trotzdem eine musterhafte Forstwirthschaft alle Thiere des Waldes, mit Ausnahme der befiederten, verscheucht

[373]

Schloß Kyburg.

[374] hat, weht ein Hauch der Poesie über diesen Hügeln und Schluchten: eine mächtige Heldengestalt steigt vor uns auf aus alten, verklungenen Zeiten und der fromme Bürger blickt dankerfüllt von der Höhe der Floraburg hinüber nach einem stolzen Schlosse, lüftet sein Käpplein und murmelt: „Heil Dir in Ewigkeit, o Rudolf von Habsburg, daß Du unserer Stadt im Jahre 1264 diesen Wald geschenkt hast! Amen!“

Es ist ein prächtig, brusterweiternd Auslugen von diesem Belvedere, genannt Floraburg, eintausend neunhundert und siebenzig Fuß überm mittelländischen und auch hoch genug über dem Eschenbergerwaldmeer, um dies fürstliche Geschenk des Habsburgers ziemlich umfassend überschauen zu können. Der schimmernde Alpenkranz, vom Säntis bis zu den Berner Riesen, steigt glorreich über den Hügeln des Zürichgaues empor, und in der Mitte des Bildes, über den näheren Waldschluchten, glitzern die Fenster, ragen die Thürme des stolzen Welfenschlosses, der Kyburg, aus dunklen Baummassen heraus. Auf, hinüber! Bleiben wir nicht auf schweigender Waldhöhe, es winkt Gastfreundschaft aus jenen Fenstern. Rasch hat uns das kühle, quellenreiche Tobel aufgenommen und hinter den Wipfeln versunken ist auch das Schloß. Ein vergnüglich Schlendern auf parklich herrlichem Waldweg führt uns durch die hochstämmige Einsamkeit, und bald mischt sich in das leise Flüstern der Tannen das kräftigere Rauschen des wilden Waldwassers, der Töß. Hinab den jähen Abhang reißt uns der Weg, in wilder Flucht zu Thal, und wenn wir endlich erathmend aufschauen – sieh, da thront sie herab, die schöne Burg, stolz und doch freundlich, ganz nahe über uns, jenseits des bleichen Kiesgeschiebes der Töß, die den Fuß des Schloßbergs bespült. Eine gedeckte Brücke führt uns hinüber, und da wir kein Fuhrwerk bei uns haben, wenden wir uns links in den Fußpfad, der in vielfachen Windungen bequem, bald durch prächtigen Wald, bald über sonnigfreie Stellen und durch Gebüsch, eine Viertelstunde aufwärts leitet. Immer mächtiger schaut das Schloß hinter den gewaltigen Linden empor, und was uns vom Thal aus in verkleinernder Verkürzung erschienen, das streckt nun, da wir auf gleicher Höhe stehen, imposant riesige Steinglieder. Der Eingang durch den Garten unter den vier herrlichen Linden ist lieblich, der Weg durch das Gitterthor an epheuumsponnener Mauer hin ahnungweckend, – da, am Hauptthor, klafft ein edles Doggenpaar hervor; aber da ist er auch schon, der Schloß- und Kriegsherr, Oberst Pfau von Winterthur, der die stürmenden Beschützer besänftigt und uns freundlich Willkommen bietet.

Unter seinem starken Schutze wandern wir getrost in den weiten Schloßhof ein. Rings ragen gewaltige Gebäudemassen, ein alter Brunnen rauscht uns entgegen, neben uns, urgebirglich, starrt der Römerthurm, der Vorzeit heil’ger Schauer weht uns an; doch, wie die Schwalben wohl auch an schauerlichen Gefängnissen ihre Nestlein bauen, so ist auch das Wohngebäude an diesen wilden Finsterling angebaut, und wenn wir nun hinaufsteigen und in die Wohnstube treten – o, diese Wohnstube! Der freundliche Comfort, der darin waltet, läßt uns nicht ahnen, daß wir in einem uralten Bau uns befinden; aber wenn wir in die Fensternischen treten, deren jede ein kleines Poetenwinklein für sich ausmacht, dann merken wir allerdings burghaft solides Mauerwerk und spüren, wo wir sind. Aus den nördlichen Fenstern fliegt der Blick über den weiten Wald, aus dem wir kommen, hinaus in’s Schwabenland, über weiteste Gebiete; drüben jedoch, in der südöstlichen Nische, dort setz dich hin und schau durch die Lindenzweige hinüber zum Glärnisch, der mit seinem blendenden Vrenelisgärtli scheinbar ganz nahe hereinwinkt. Das ist ein Winkelein, werth, daß man es (buchstäblich) besitze!

Aber, unser harrt noch ein weiter Gang, und mit süßem Ahnungsschauder sehen wir den liebenswürdigen Schloßherrn verschiedene gewichtige Schlüssel vom Ofen langen. Es beginnt die Wanderung, und der Hauptmann geht uns kühn voran. Kamen wir im Wohnzimmer in heimelige Häuslichkeit, so stehen in den Zimmern des oberen Stockwerkes Prachtstücke aus früheren Zeiten, wundervoll eingelegte Tische und Aufsätze, von denen eines, das reichste, der Diana von Poitiers, der Geliebten König Heinrich’s des Zweiten von Frankreich, gehört haben soll. Von da aus folgen wir dem kundigen Führer durch den „großen Gang“ am Taubenthürmchen vorbei nach dem Ritterhause, das im Laufe der Jahrhunderte mannigfache Veränderungen erlitten hat und zur Beherbergung der an das gräfliche Hoflager gekommenen Edlen bestimmt war. Viele Thüren reizen die Neugierde; vor einer derselben wird Halt gemacht. Sie geht auf, und in reichstem Farbenglanze strahlt uns der in eine Gemäldegalerie umgeschaffene Rittersaal entgegen! Es leuchten unsere Augen und nicht minder die des Schloßherrn, der hier, ausruhend von ernsten völker- und kriegsgeschichtlichen Studien, praktische Kunstgeschichte treibt, und (ich kann’s nicht verschweigen!) was ihm in irgend einer seiner Malerschulen noch fehlt, von der Thurmwarte aus draußen im weiten Reich, sei’s an der Donau oder am Rhein, mit einer wahren Polizeinase wittert, und als beneidenswerther Mann denn auch richtig holt und aufnagelt. Es ließe sich hier wehmüthig werden und eine Betrachtung über Kunst und Kunstbesitz überhaupt anfangen; glücklicherweise haben wir aber keine Zeit und keinen Platz und fangen darum frischweg an, die Galerie durchzugenießen, welche Meisterwerke der deutsch-niederländischen, italienischen, französischen und spanischen Schule enthält, sodaß die Sammlung nicht nur eine reiche Zier des Schlosses, sondern des ganzen Landes bildet. Glücklich der Mann, der’s hat und vermag, und Andere so liberal mitgenießen läßt!

Es ist ein glücklich Ruhen und Träumen in diesem alten Rittersaal und viel heimeliger als eine Treppe tiefer im alten Rüstsaal, wo uns beim Aufspringen der Thür zwei Phantome in kriegerischer Rüstung erschrecken, die an einem Tischchen mit Vorlesen und Zuhorchen beschäftigt sind. Der eine davon ist der Landvogt Lavater von Zürich. Noch zwei andere Figuren, ein Ausspäher in einer Nische und eine Schildwache an der hintern Treppe, lassen das düstere Gemach wohlbesetzt erscheinen, sind aber nicht im Stande uns von der Betrachtung der überaus kunstreich geschnitzten Möbel und der bewunderungswürdigen Gobelins zu verscheuchen, bis der freundliche Führer uns wieder die Treppe hinaufgeleitet, um uns, wie er lächelnd erklärt, zur Belohnung unserer Theilnahme über den „schwarzen Gang“ zum Tode zu führen. Wir folgen ihm ergeben und gelangen in der nordwestlichen Ecke der Burg in ein Thurmzimmer, wo, wenn nicht alte Erinnerungen an die Folterkammer, die darunter liegt, uns stören, sich wunderselig ausblicken läßt durch die Baumspitzen, welche an die Fensterchen langen, hinab in die tiefen, kühlen Waldschluchten. Es ist dies das „Gertrudzimmer“ im „grauen Thurm“, durch welchen ein gewundener, gewölbter Gang nach dem hinten angebrachten runden Ausfallspförtchen und von da in die Waldtiefen hinabführt. Durch diesen Gang soll der hochsinnige Graf Werner, als das Schloß vor dem übermächtigen Angriffe Kaiser Conrad des Zweiten nicht mehr zu halten war, entkommen sein, und soll Gertrud von Wart sich nach Winterthur geflüchtet haben, um von ihrem unglücklichen, des Königmordes angeklagten Gemahl Rudolf Abschied zu nehmen.

Neben den grauen Thurm angebaut steht die im Lauf der Zeiten vielfach geschändete und zerbaute romanische Bergcapelle, an deren Wänden in letzter Zeit mit sorgfältiger Bemühung höchst interessante Frescobilder unter der Tünche hervorgerettet worden sind, die wohl schon aus der ersten Hälfte des dreizehnten Jahrhunderts stammen. Auch die schauerliche Sage der eisernen Jungfrau spukt an dieser Capelle. Dagegen umschloß dieser geweihte Raum vor Zeiten Werthsachen, von denen der jetzige Schloßherr mit feierlichem und wohl glaubwürdigem Ernst versichert, daß er sie in hohen Ehren und festem Schutze bewahren würde, wenn sie noch da wären. Es sind dies nichts mehr und nichts minder als die Reichskleinodien und Reliquien, welche Kaiser Rudolf’s Sohn, Herzog Albrecht, erst nach der Kaiserkrönung Adolf’s von Nassau auslieferte, nach dessen Tode in der Schlacht von Gölheim sie dann wieder in seine Hände kamen und nach Kyburg zurückgebracht wurden. Nach Albrecht’s Ermordung wurden sie an seinen Nachfolger Heinrich den Siebenten übergeben. Da waren unter Anderem das Schwert und die Krone Caroli Magni nebst dem Krönungsornat, verschiedenen Sceptern und Reichsäpfeln und, was in dem „urchig“ reformirten Lande am schmerzlichsten als herber Verlust betrauert wird: ein Stockzahn Johannes des Täufers nebst übrigen Gliedern und Kleider-Fragmenten anderer Heiligen. Dafür aber hat der Vater des jetzigen Besitzers die Kaiserkrone, die einst als Thurmzierde den Römerthurm krönte und die seiner Zeit vor den langfingrigen Franzosen versteckt worden war, wieder auf ihre luftige Höhe sieghaft erhoben, sodaß doch etwas, wenn auch nicht in massivem Gold, an die alte Kaiserherrlichkeit erinnert. Der Willenthurm liegt dem Römerthurm gegenüber und vertheidigt mit diesem den Eingang durch das innere Thor.

[375] Ruhen wir nun von unserer genußreichen Wanderung auf dem reizenden Plätzchen hinter dem grauen Thurm über der Waldtiefe und versenken uns in Erinnerung an Gründung und Schicksal dieser stolzen großen Burg, so müssen wir in graue Vorzeit uns zurückziehen. Da war denn auch die Kyburg ein Vertheidigungspunkt der alten Römer, wie der Mörtel und der Steinverband an den untern Theilen der Ringmauer und des viereckigen Thurmes beurkunden. Zum festen Punkt ist dieser Platz von der Natur überhaupt wie geschaffen, da er nur von der Südseite, von der flachen Hügelebene her, wirksam belagert werden konnte, dagegen von den drei übrigen Seiten durch tiefe und steile Abhänge wirksam geschützt ist. Starke Gräben schützten auch die zugängliche Südseite. Solid, echt römisch solid ist der noch stehende Theil der Ringmauer zwischen dem Wohngebäude und dem Ritterhause, nämlich zwölf bis vierzehn Fuß. Aber trotzdem steht zu vermuthen, daß das Castrum zwischen 407 und 412 in die Hände der Alemannen fiel und von einem ihrer Häuptlinge als Wohnsitz erkoren wurde. Im Laufe der Zeiten ward die Kyburg noch mehrere Male belagert, genommen und zerstört. So im Jahr 1027 durch Kaiser Conrad den Zweiten nach dreimonatlicher Belagerung; fünfzig Jahre später im Welfen- und Ghibellinenkampf nahm und zerstörte es theilweise der mächtige Abt Ulrich von St. Gallen, der Freund Heinrich’s des Vierten.

Aber der glänzendste Name, der sich an Kyburg heftet, ist Rudolf von Habsburg, der hier, als Neffe des mächtigen Grafen Hartmann von Kyburg, zum Oefteren seinen Aufenthalt nahm und von hier aus manch’ fröhlich Reiterstücklein mit Freiherrn Lütolf von Regensberg ausfocht, von hier aus auch zur Belagerung von Basel zog, wo ihn die Kunde seiner Erwählung zum deutschen Kaiser traf. Er war es auch, der die Reichskleinodien hierher brachte, die auch noch sein ältester Sohn, der nachmalige Kaiser Albrecht, hier in Verwahrung ließ. Von großer Bedeutung aber für das benachbarte Winterthur war es, daß Graf Rudolf die Ansprüche der Winterthurer, die vom Grafen Hartmann dem Aelteren an die Kirche von Straßburg verschenkt worden waren, prüfte und ihnen durch den Stadtrechtsbrief vom 22. Juni 1264 umfassende Rechte und Freiheiten ertheilte und sie durch diese That der Klugheit und Großmuth eng an das Haus Habsburg fesselte. Damals geschah auch die Schenkung des Eschenberger Waldes. Dafür kämpften dann die dankbaren Winterthurer für den nun zum deutschen König gewordenen Rudolf und standen in der fürchterlichen Feldschlacht auf dem Marchfelde gegen Rudolf’s Gegner, Ottokar von Böhmen, heldenmüthig in den vordersten Reihen (1278). Für diese Treue erhielten sie neue Gunstbezeigungen und den zweiten Löwen in ihr Panner und Wappen.

Später ward Kyburg im Namen Oesterreichs von Vögten verwaltet und blieb noch lange ein Hauptstützpunkt desselben in Helvetien. In den Kriegen der Eidgenossen gegen Oesterreich hatte auch Kyburg manche harte Bedrängniß zu erleiden und wurde, als Oesterreichs Macht in den oberen Landen sank, zuerst an Johannes von Bonstetten und neun Jahre später an die Grafen Donat und Diethelm von Toggenburg verpfändet, bis endlich Schloß und Grafschaft an Zürich fielen, das es durch Landvögte verwalten ließ, unter denen namentlich Ritter Schwarzmaurer, Felix Brennwald und Hans Rudolph Lavater, dessen Contrafactur im Rüstsaal sitzt, sich auszeichneten. Die Bildnisse von dreizehn dieser Landvögte erstand in jüngster Zeit Oberst Pfau von einem Bewohner des Dorfes Kyburg und schmückte damit das heimelige Gertrudzimmer. Es ist überhaupt hier der Ort, zu erwähnen, daß dies berühmte Schloß jetzt in den besten Händen sich befindet, von dem alterthums- und geschichtskundigen Besitzer in allen seinen Theilen genau erforscht und umfassend restaurirt wurde, so daß es nun zu einem herrlichen, beneidenswerthen Sitz geworden ist, freilich nicht, ohne daß es noch Anno 1830 in seinen Grundvesten erzittert wäre, als einige Fabrikanten die stolze Welfenburg den Berg hinabstürzen und unten an der Töß in der reizenden Gestalt einer Fabrik wieder aufbauen wollten. Aber die Würgengel mußten abziehen, indem einige Männer von Winterthur, darunter der Vater Pfau’s, das Schloß vom Staat ankauften. Dreißig Jahre lang saß dann (von 1835 bis 1865) der polnische Graf Sobansky auf dieser Burg, die er gekauft hatte, bis dann im letzten Jahre Oberst Pfau in deren Besitz gelangte, wie es denn historisch billig ist, daß ein Epigone jener tapferen Winterthurer Kriegsleute vom Marchfelde das mütterliche Haus des großmüthigen Habsburgers erhalte und in Ehren halte, wobei herzlich zu wünschen, daß er diesen herrlichen Sitz noch recht lange bewohnen, erforschen und zieren möge.

Die einsame Kyburg ist jetzt zu einem wahren Wallfahrtsort geworden und kein kleiner Genuß ist’s, in dem in der Galerie aufliegenden Fremdenbuche zu blättern, wohin wir nun aus dem lieblichen Schatten am Gertrudthurm zur Abschiedspflichterfüllung ebenfalls aufbrechen wollen.




Zwei fürstliche Geheimnisse neuerer Zeit.
II.


Im Jahrgang 1863 der Gartenlaube (Nr. 19 u. 20) führten wir unsere Leser vor „ein geheimnißvolles Grab“ auf dem Stadtberge bei Hildburghausen. Wir erzählten ihnen von einem von aller Welt abgeschlossenen Menschenpaar, das um das Jahr 1807 mit nicht gewöhnlichem äußeren Glanz in Hildburghausen angefahren kam, mit großen Ansprüchen, aber in äußerster Zurückgezogenheit, erst in einem Gasthofe, dann in Privatwohnungen lebte, bis es etwa drei Jahre später nach dem anderthalb Stunden von Hildburghausen an der Straße von da nach Coburg gelegenen Dorfe Eishausen übersiedelte und dort das geräumige Schloß des herzoglichen Domainengutes bezog. Wir schilderten ferner, mit welch’ augenscheinlicher Aengstlichkeit der Herr, welcher Graf Vavel de Versay genannt wurde, die Dame, die man, weil man sie für seine Gemahlin hielt, als „die Gräfin“ bezeichnete, jedem Auge, selbst noch in der Dorfeinsamkeit, entzog; wie diese Dame mehr und mehr als die Hauptperson, als die Ursache des so streng bewachten Geheimnisses erschien; wie ihr stets die neuesten Pariser Moden zu Gebote standen; wie selbst der „Graf“ stets in äußerster Ehrerbietung vor ihr erschien, während man ihre geistige Bildung nach Allem, was über ihren tagtäglichen Zeitvertreib verlautete, absichtlich niedergehalten haben mußte, und wie das schöne Weib im Jahre 1837 starb, ohne daß der Schleier des Geheimnisses gelüftet worden wäre. Selbst der Tod der „Gräfin“ vermochte nunmehr nichts an den Gewohnheiten des „gnädigen Herrn“ zu ändern: er blieb der Abgeschlossene von der Menschheit, aber im Geist, im wiederholten Studium der „Classiker von vier Nationen“, und durch die Tagesblätter desto reger mit ihr fortlebend, bis auch ihn 1845 der Hügel deckte.

Wir haben als Hauptquelle zu jenem Artikel von 1863 außer eigenen Forschungen (d. V. wohnte Jahre lang in Hildburghausen und längere Zeit sogar in nächster Nähe des „geheimnißvollen Grabes“, das noch von den Nachkommen der letzten Diener „des Grafen“ gepflegt wird) den ausführlichen Bericht in Bülau’s „Geheimen Geschichten und räthselhaften Menschen“ benutzt, als dessen Verfasser uns der Director der Musterschule zu Frankfurt a. M., Dr. Kühner, genannt ist. Seine Darstellung ist so pietätvoll gehalten, daß sie gern jeden unwürdigen Verdacht gegen die Stellung des Geheimnißvollen zurückweist, und seine Behauptungen sind so entschieden und allezeit so gut belegt, daß man kaum einen Zweifel dagegen hegen kann. Da wir nun in jenem frühern Artikel vieles, die Möglichkeit einer dereinstigen Aufdeckung des Schleiers Andeutende aus Mangel an Raum zurücklegen mußten, so fühlen wir uns, durch einzelne neuere Winke angeregt, nunmehr verpflichtet, das damals gegebene Versprechen, „in einem nachträglichen Artikel alles bis jetzt über dieses unheimliche Geheimniß Ermittelte treulich zu berichten“, nach Möglichkeit zu erfüllen.

Lange ehe in Folge des Todes des Grafen und der dadurch in der Tagespresse wiedererweckten Fama über das allgemeine Theilnahme erregende Geheimniß ein Blick in die Vergangenheit der beiden Hauptpersonen eröffnet worden war, hatten einzelne Anzeichen und Angaben den Ursprung desselben nach Frankreich verwiesen. [376] Nach diesen Anzeichen mußte es von nicht geringem Interesse sein, denselben geheimnißvollen Kreis von eigentlich drei Personen, – denn neben dem Grafen und der Gräfin gehört auch der Kammerdiener, der zugleich zu gewissen Zeiten auch als Kutscher fungirte, zu den bis an ihr Ende vor der Welt im Dunkel Gebliebenen – wenige Jahre vor dessen Erscheinen in Hildburghausen ganz in derselben äußern Gestalt und zurückgezogenen Haltung in Ingelfingen zu finden.

Um das Jahr 1803 oder 1804, erzählt Dr. Kühner, erschien in dem Städtchen Ingelfingen im Würtembergischen ein Unbekannter, der sich Graf oder Baron nannte, und lebte daselbst einige Zeit in räthselhafter Dunkelheit. Er hatte eine Miethwohnung bezogen, zugleich mit einer Dame, die er selbst seine Gemahlin genannt haben soll, oder die man wenigstens allgemein dafür hielt. Die vornehme Einfachheit seiner Lebensweise ließ den hohen Rang, seine Zurückgezogenheit von der Welt ließ reiche Welterfahrung durchblicken. Er hatte eigene Equipage; sein einziger Diener, der zugleich Kutscher war, theilte die Abgeschiedenheit seines Herrn und zeigte in seiner noblen Haltung eine weit über seinen Stand gehende Bildung. Eine weibliche Dienerin war unter der Verpflichtung der Verschwiegenheit angenommen worden; sie durfte nur zu gewissen Stunden die Wohnung der Fremden betreten. In die Nähe der Dame aber ist selbst diese Dienerin nie gekommen. Der Graf war das einzige menschliche Wesen, mit welchem die Unbekannte in Berührung kam. Niemand in Ingelfingen hat sie gesprochen, oder auch nur sprechen hören. Wenn sie Tritte auf der Treppe hörte, flüchtete sie in ihr innerstes Gemach, das sie hinter sich verschloß. Sie soll viel geweint haben. Wenn sie am Arme ihres Gemahls spazieren ging, oder wenn sie mit ihm ausfuhr, war sie verschleiert, oder trug eine grüne Brille; doch wollten damals Personen, die sie sahen, behaupten, daß sie eine auffallende Aehnlichkeit mit der Tochter Ludwig’s des Sechszehnten zeige.

Der Graf mied nicht allen Umgang. Er kam z. B. öfters zu dem Apotheker, in dessen Hause er wohnte, interessirte sich für dessen chemische Arbeiten und sprach mit ihm einsichtsvoll über medicinische Gegenstände. Die Wenigen, die mit dem Grafen in nähere Berührung kamen, priesen mit Entzücken die Liebenswürdigkeit seines Charakters, sein edles, gemüthvolles Wesen, seine wissenschaftliche Bildung, seine tiefen Kenntnisse politischer Verhältnisse und bedeutender Personen.

Man erinnerte sich, daß er einst auf die Frage, ob er Kinder habe, mit tiefer Wehmuth antwortete: „Wenn ich so glücklich wäre!“ – Und doch war damals der Graf ein blühender Mann, höchstens ein Vierziger, und die Dame, die er begleitete, stand in der ersten Jugendblüthe!

Der Graf interessirte sich sehr für die politischen Gesinnungen der Vornehmen in Ingelfingen; er selbst zeigte Sympathie für die rechtmäßige Dynastie in Frankreich. Zeitungen in verschiedenen Sprachen hielt er für seine Person; von fernen Posten kamen häufige Briefe an ihn. Zu Ingelfingen war man allgemein der Meinung, daß er ein französischer Prinz sei; Viele hielten ihn für den Herzog von Angoulême selbst.

Eines Morgens waren die Unbekannten plötzlich verschwunden; für einige Bekannte hatte der Graf werthvolle Geschenke zurückgelassen. Gleich darauf kam die Nachricht, daß der Herzog von Enghien auf badischem Gebiet aufgegriffen und nach Paris abgeführt worden sei (März 1804). Man war in Ingelfingen allgemein der Meinung, daß der Graf, von diesem Vorfall zeitig benachrichtigt, sich einem ähnlichen Schicksale durch die Flucht habe entziehen wollen. Einige Monate später aber las man im Schwäbischen Mercur die Nachricht von dem Tode eines französischen Emigranten von Bedeutung, der sich einige Zeit in Ingelfingen aufgehalten habe.

Die Beschreibung des angeblich Verstorbenen paßte Zug für Zug auf den Grafen Vavel. Die Ingelfinger hielten jedoch ihren Unbekannten für todt, und er war fast vergessen, als im Jahre 1845 die öffentlichen Nachrichten über den Geheimnißvollen in Eishausen in den wenigen noch Lebenden die Erinnerung an ihn wieder weckten.

So weit die Mittheilung aus Ingelfingen.

Dr. Kühner findet nun die Vermuthung naheliegend, daß der Zeitungsartikel von dem Tode des Emigranten fingirt war und die Absicht hatte, die Spur des Unbekannten von der Erde zu verwischen. Außer allem Zweifel findet er es, daß dasselbe Geheimniß, welches den Augen der Ingelfinger entschwunden war, drei oder vier Jahre später von einem Grafen Vavel de Versay in Hildburghausen eingeführt wurde. Es ist dieselbe einsiedlerische Dame mit Schleier und grüner Brille, es ist derselbe seltsame Diener, der zugleich Kutscher war, und der Graf Vavel scheint nach Allem der aus dem Grabe erstandene Mann von Ingelfingen; die Beschreibung seiner äußeren Erscheinung und seiner Lebensweise, wie wir sie von Ingelfingen erhielten, spricht für die Identität der Person.

War der Geheimnißvolle von Ingelfingen wirklich gestorben, – so schließt Dr. Kühner diese Ingelfinger Episode seiner Mittheilung – so war es ein Mann, der die Rolle jenes Geheimnißvollen in demselben Augenblick aufnahm, als sie dem Sterbenden aus der Hand fiel, und sie bis zu seinem eigenen Tode fortspielte.

Diese Frage der Identität, die hier ziemlich müßig erscheinen mag, wird sich noch von hoher Bedeutung zeigen.

Der dichteste Schleier des Eishäuser Geheimnisses lag auf der Geldquelle. Nach der Angabe der Post betrug die jährliche Einnahme des Grafen etwa zwölftausend Gulden. Nach den Ermittelungen der Behörden (nach seinem Tode) soll sie nur siebentausend Gulden betragen haben. Jedenfalls standen ihm die Mittel nach seinem Bedürfniß zu Gebote, das nicht immer ein gleiches sein konnte. Wie sehr er selbst auf die Verheimlichung dieser Geldquelle bedacht war, dafür zeugt der wichtige Umstand, daß er die letzte ihm angemeldete Geldsendung, im Vorgefühl seines nahen Todes, zurückschrieb. Wäre nach seinem Tode noch eine solche Sendung angelangt, so würde sie in die Hände des Gerichts gekommen sein. Mit solch’ eiserner Consequenz bewahrte der Greis sein Geheimniß.

Und in die Hand eines solchen Mannes war das Schicksal eines hülflosen weiblichen Wesens gelegt. Als die „Gräfin“ (1810) nach Eishausen kam, schätzten die wenigen Menschen, die sie einmal im Freien an des Grafen Seite oder am Fenster des Schlosses sahen, sie auf ungefähr achtzehn Jahre. Indeß war eine Täuschung in dieser Beziehung leicht möglich, da die Gräfin nur von wenigen Personen und zwar nur aus ziemlicher Entfernung, oder im raschen Vorbeifahren im Wagen oder tief verschleiert gesehen worden ist.

Der sicherste Beweis gegen alle Hypothesen, welche eine geheime, wohl mit Entführung und schwereren Verbrechen verbundene Liebesgeschichte aus diesem Dunkel herauserklären wollten, ist der eine Umstand, daß der hochgebildete Graf es vermochte, das arme Weib in der tiefsten Unwissenheit neben sich geistig vegetiren zu lassen. Und wäre die Selbstsucht in dem Manne bis zum äußersten Grade ausgebildet gewesen, um des eigenen Genusses am geliebten Wesen willen würde er dafür gesorgt haben, der schönen Blume den höheren Reiz geistigen Duftes zu verleihen.

Nein! Die „Gräfin“ war eine Gefangene. Daraus erklärt sich ihre ganze Behandlung oder vielmehr Mißhandlung. Von sichtbaren Spuren dieser Gefangenschaft erzählt man sich dort noch heute. In dem Garten, hoch am Stadtberg bei Hildburghausen, in welchem das arme Weib begraben liegt, steht ein freundliches, großes Garten- oder kleines Wohnhaus. Der Graf hatte das Grundstück gekauft und verbrachte im Sommer bisweilen einige Tage dort. Der prächtige Blick in’s farbenreiche Thal mit den buschigen Werrakrümmungen, der freundlichen Stadt, den Dörfern und ihren Fluren und dem Thüringer Waldkranz am fernen Himmelsrand mochte der immer hinter hohe Gartenzäune oder die Vorhänge ihres einsamen Schloßfensters Verbannten wohlthun, und darum bat sie, auf dem Fleckchen Erde, wo sie einige Male glücklich war, begraben zu werden. In diesem Hause, wie auch in Eishausen, sollen die Riegel an der Schlafkammer der „Gräfin“ von außen angebracht gewesen sein. Auch der Zaun um den Garten in Eishausen – oder vielmehr das umzäunte Stück Wiese, weiter war es nichts – spricht dafür, denn um jede Annäherung an die acht Fuß hohe Breterwand von innen unmöglich zu machen, war dieselbe ringsum mehrere Fuß dick mit Dornenwerk aller Art verwahrt. Gegen jede Annäherung von außen wachte der Graf selbst, der das Fenster im Schloß nicht eher verließ, bis die Gefangene in das Haus zurückgeleitet worden war. Der Graf war für alle Fälle auch mit Schießwaffen versehen.

Und dieser Garten! Wer für ein geliebtes Wesen ein [377] Stückchen Land zur Lust im Freien pflegt, wird es so anmuthig wie möglich herrichten. In diesem sogenannten Garten war nichts zu finden, als zwischen der hohen, öden Dornenhecke die alte Wiesenfläche mit einem schnurgeraden Wege vom verschlossenen Eingang bis zu einer durchsichtigen Laube in der Mitte des Wiesenstücks. Kein Blumenbeet, kein lauschiges Plätzchen, – nichts, als der schnurgerade Kiesweg zum Auf- und Abwandeln, ausschließlich dem gesundheitsgemäßen Athmen frischer Luft gewidmet und doppelt bewacht, durch die Dienerin – die beim Auf- und Zusperren der Garten- und der Schloßthür der Gräfin den Rücken zukehren mußte, um sie nicht zu sehen! – vor der Thür und den Grafen am Fenster.

„Nicht ein einziges Mal durfte das arme Geschöpf frei und allein die Treppe herunter und in den nur etwa vierzig Schritt vom Schloß entfernten Garten gehen, nicht ein einziges Mal frei und allein mit irgend einem Menschen sprechen, nicht ein einziges Mal allein spazieren fahren, – Tag und Nacht ließ der eine, der einzige Mann, an den ihr ganzes Leben gekettet war, sie nicht aus den Augen; er allein bediente sie sogar beim Essen, und er allein hat den letzten Seufzer der Sterbenden belauscht!

Und wie das schwache Weib mit Gewalt, so war auch der alte Kammerdiener und Kutscher an die Person des Grafen gefesselt, – und dies muß unsere Verwunderung um so mehr erregen, als dieser, wenn er aus dem unnatürlichen Zwang sich befreien wollte, ja jeden Augenblick hätte entfliehen können. Was band oder bannte ihn so fest an den Grafen? Sollte es nur die lange Gewohnheit und die, was Lebensbedürfnisse betrifft, angenehme dienstliche Stellung gewesen sein – oder war es eine Mitschuld, ein schwer zu verantwortendes Mitwissen eines gefährlichen Geheimnisses? Wir wissen wenigstens, daß er viel an Gewissensunruhe litt. Er bat einst den Pfarrer, ihm heimlich beichten und von ihm das heil. Abendmahl empfangen zu dürfen; der Pfarrer stieß sich an die Verheimlichung dieses Acts und wies ihn ab. Auf dem Sterbebette flehte er um geistlichen Zuspruch – aber nun stand der Graf zwischen ihm und seinem letzten Wunsch – er mußte einsam sterben und seine Gewissenslast mit in das Grab nehmen.

Das Geheimniß war abermals gerettet. Man hat Zweifel gegen das Gefangenschaftsverhältniß der Dame erhoben, indem man annahm, daß sie, wenn sie wirklich gewollt, doch irgend einmal Gelegenheit zur Flucht oder zum Hülferuf hätte finden können. Dem gegenüber steht die totale Hülflosigkeit derselben, der ungepflegte Geist, die körperliche Zartheit und Unbehülflichkeit und – die lange, lange Gewohnheit, abgesehen von der strengen und entschlossenen Männlichkeit des Grafen, die sie mit Furcht erfüllen mußte, mit Zittern und Zagen, schon bei dem Gedanken an eine Flucht. Und wohin sollte sie fliehen, die im fremden Lande keine Seele kannte, vielleicht seit ihrer Kindheit frei mit keinem Menschen gesprochen hatte, von den Verhältnissen der Welt sicherlich gerade nur so weit unterrichtet war, als es für die Sicherheit des Wächters zuträglich erschien?

Dazu darf man nicht vergessen, daß bis zum Tode der Gräfin ein Verdacht gegen den Grafen, daß er der Wächter eines Geheimnisses sei, durchaus nicht gehegt wurde. Die Dame galt für seine Gemahlin, von der ängstlichen Bewachung derselben war noch keine Kunde aus dem Schloß herausgetragen worden, alle Diener hielten das tiefste Schweigen und waren nur voll Lobes über den gegen alle der Hülfe würdigen Personen, Anstalten etc. glänzend wohlthätigen Herrn. Allerdings zerbrach sich das Volk den Kopf über die Zurückgezogenheit der Frau Gräfin, aber man nahm lieber zu dem Wunderlichsten seine Zuflucht, um einen Erklärungsgrund für diese seltsame Geschichte zu finden, als daß man sich zu einem Zweifel in die rechtliche Stellung beider Personen erkühnt hätte. Man erzählte sich nämlich, daß das Gesicht der Dame durch einen Schweinsrüssel entstellt sei. Ein Coburger Friseur wollte die verschleierte Dame einmal frisirt und, als zufällig dabei sich der Schleier verschob, das Ungeheuerliche mit seinen eigenen Augen gesehen haben. Das schöne Gesicht der Gräfin, das Andere mit derselben Bestimmtheit gesehen haben wollten, wurde für eine Maske erklärt, wie man denn sogar nicht einmal an ihren Tod glauben wollte, sondern behauptete, es habe eine Wachsfigur im Sarge gelegen, während sie selbst nächtlicherweile vom Schlosse fortgeschafft worden sei.

Erst als nach dem Tode der Dame der Graf dem Ortsgeistlichen und dem Gericht erklärte, daß sie nicht seine Gemahlin, sondern nur „seine Lebensgefährtin“ gewesen und Sophie Botta geheißen, aus Westphalen gebürtig, ledigen und bürgerlichen Standes und achtundfünfzig (man schätzte sie höchstens auf fünfundvierzig) Jahre alt gewesen, wurde die Fama lebendig. Dennoch war die Achtung vor dem „Wohlthäter des Landes“ so groß, daß sie erst laut wurde, als er gestorben war.

Wie dann das Volk sich die Geschichte zurecht legte, ist wohl erzählenswerth. Es hieß: Der sogenannte Herr Graf sei eigentlich ein Arzt oder Chirurg, in den sich eine französische Königstochter verliebt habe. Beide seien aus Frankreich entflohen und der Mann habe seine Frau unter vielen Entbehrungen an verschiedenen Orten Deutschlands als Chirurg ernährt; zwei Kinder, die sie gehabt, wären rasch nacheinander gestorben. Auch in Neuseß bei Coburg hätten sie einige Zeit gewohnt. Da sei einmal der König von Frankreich durch Coburg gereist und habe seine Tochter zu sich in den Gasthof kommen lassen, und dabei sei eine Versöhnung zwischen Vater und Tochter zu Stande gekommen und auch dem Mann habe er seinen Fehltritt verziehen. Er habe die Ehe nicht getrennt, auch versprochen, Beide heimlich zu unterstützen, damit sie ein standesmäßiges Leben führen könnten, nur müßten sie in aller Heimlichkeit miteinander leben und Niemand auf der Welt dürfe erfahren, wer ihr Vater sei.

Es sieht recht wunderlich aus, was das Volk sich zusammengedichtet, und doch liegt’s vielleicht näher an der Wahrheit als manche andere Hypothese, welche gelehrter Scharfsinn über dem Dunkel aufgebaut.

Daß des „Grafen“ Abgeschlossenheit keine freiwillige war, hat er selbst später offen ausgesprochen.[1] „Meine Zurückgezogenheit war lange eine gezwungene, in letzter Zeit aber war sie freiwillig.“ – „Wenn ein Mann etwas früher gestorben wäre, so würde ich in die Welt zurückgekehrt sein.“ – Ueber seine Lebensgefährtin äußerte er: „Sie war eine arme Waise, die Alles, was sie besaß, mir verdankte, aber mir das tausendfach vergolten hat.“ – „Meine Verbindung mit ihr hatte etwas Romantisches, einer Entführung Aehnliches.“ – Und der Kammerdiener sagte einmal: „Sie hat kein Vermögen, aber – sie ist die Herrin über Alles.“

Wie stimmt aber dazu folgende Aeußerung des Grafen nach der gerichtlichen Versiegelung ihres Nachlasses: „Sie hat seit dreißig Jahren keinen Heller auszugeben Gelegenheit gehabt, zeichnete ihre Wäsche nur mit Bleistift auf, konnte auch an Niemand schreiben, da sie keine Bekannten hatte. … Ich habe immer, wie mit religiöser Scheu, ihre vielen Kommoden betrachtet, nie sie berührt; ich wußte nicht, wie viel schöne, ihr aufgedrungene Sachen sie enthielten.

Hier artet denn doch der Widerspruch bis zur offenbaren Unwahrheit aus! Sie hat seit dreißig Jahren an Niemanden geschrieben, weil sie Niemanden hat – und doch werden ihr schöne Sachen aufgedrungen, und zwar weiß der Graf nicht einmal, wie viel, er, der über jeden Athemzug der armen Eingesperrten wacht!

Nach dieser Probe von Rechtfertigung verdient nun auch Das behandelt zu werden, was er als Nachlaß in die Hände des Gerichts fallen und dadurch der Oeffentlichkeit zukommen ließ; – vielleicht weniger jedoch das, was er in einer Unterredung dem als Arzt und Schriftsteller berühmten Obermedicinalrath Carl Hohnbaum in Hildburghausen mittheilte. Der damals fast siebzigjährige Einsiedler war von Tod und Nachlaßversiegelung seiner Lebensgefährtin so angegriffen, daß er gerade diesen Arzt holen ließ, nicht um ärztlichen, sondern um menschlichen Rath zu empfangen. Aus dieser Unterredung sind folgende Bemerkungen des Grafen von Gewicht. Es entfielen ihm Andeutungen, daß er die Glieder der Bourbonischen Familie genau gekannt, daß er bei einer Gesandtschaft in Paris und auch in London gewesen sei, daß er in Paris mit Lafayette und Benjamin Constant verkehrt habe, am Hofe in Weimar mit Livländern und Kurländern zusammengetroffen, in Jena zur Zeit Schiller’s gewesen und dort Loder genau gekannt habe. Auch einer Reise nach Wien zum Kaiser Alexander erwähnte er: „Denken Sie, damals war die Dame schon bei mir; ich mußte unaufhaltsam mit Courierpferden reisen; [378] die Dame konnte ich nicht verlassen, sie mußte mich begleiten, und Niemand durfte ihr Dasein ahnen.“ Ferner: „Ich wollte für die Kranke Sie als Arzt rufen lassen, doch sie wollte das nicht; auch hätte sie Opfer von Ihnen verlangt“ – „Sie wissen gar nicht, welche Verantwortung Sie auf sich genommen hätten, wenn ich Sie zu dieser Dame geführt hätte!“ – – Und in welchem Zustand traf Hohnbaum den seit mehr als dreißig Jahren von der Welt Geschiedenen? Er fand ihn zwar zu Bette liegend, „aber mit ungebrochener Willenskraft, das Aeußerste zu wagen für die Bewahrung seines Geheimnisses, und den geistigen Blick so frei und beweglich, wie der eines Mannes, der eben erst von dem dichtesten Marktgewühl des politischen und wissenschaftlichen Lebens heimkommt.“ –

Wir eilen dem Schlusse zu und müssen gestehen, daß hier das Schicksal einen glücklichen Griff gethan, als es einen so hochbegabten und eisernen Geist zum Wächter eines großen politischen Geheimnisses setzte. Etwas Anderes ist nicht anzunehmen, und Alles, was der Graf in seinem Nachlaß finden ließ, gehört, wie sicherlich auch Vieles, was er im Leben brieflich und mündlich in wohl oft traulichster Form hingab, zu seinem Apparat absichtlicher Täuschung und kluger Abführung von der wahren Spur.

Unter den nachgelassenen Papieren des Grafen befand sich nämlich ein Reisepaß, der auf den Namen Leonardus Cornelius van der Valck lautete, und ein Taufzeugniß mit demselben Namen. Auf die öffentliche Aufforderung des Hildburghäuser Kreisgerichts an die unbekannten Verwandten des Verstorbenen, die Hinterlassenschaft desselben, die an Immobilien (Häuser und Gärten bei Hildburghausen), Mobilien und baarem Gelde fünfzehntausendeinhundert Gulden betrug, in Empfang zu nehmen, wußte sich ein Herr van der Valck aus Holland als Verwandter zu legitimiren und erhielt, allerdings angeblich erst mit Hülfe diplomatischer Vermittelung der holländischen Gesandtschaft bei dem Gouvernement in Meiningen, die Erbschaft ausgehändigt.

War aber wirklich der Mann, welcher vierzig Jahre lang als Vavel de Versay lebte, jener van der Valck? Hat der Mann nicht etwa mit beiden Namen die Welt irre geführt? Wird er doch in einem Briefe der Gräfin an ihn, dem einzigen Schriftstück, das von ihr existirte und das er selbst für authentisch erklärt, Ludwig genannt, nicht Cornelius oder Leonardus. – Zwar schien aus einer Reihe von Briefen hervorzugehen, daß die Verwandten des Herrn van der Valck von Holland her mit dem Geheimnißvollen im Schloß bis zu seinem Tode in Correspondenz gestanden, – sie selbst hielten ihn wohl für diesen van der Valck, aber ob er es auch war? Gesehen hat ihn im Leben keiner seiner Verwandten, ja sie wußten nicht einmal etwas von der Existenz einer Dame im Schloß. – Oder sollte, als der Emigrirte von Ingelfingen todt gesagt wurde, ebenderselbe sich die Papiere eines Leonardus Cornelius van der Valck zu verschaffen gewußt und, mit den Verhältnissen desselben bekannt, den Verwandten in Holland geschrieben haben, daß er fortan als Vavel de Versay in tiefster Verborgenheit fortleben wolle? – Sollte Das den schweren Druck auf dem Gewissen des Kammerdieners verschuldet haben? –

Dr. Kühner, dem wir leider in dem Abschnitte seiner Mittheilungen, welcher „die gerichtlichen Erörterungen und den Versuch einer Kritik derselben“ enthält, hier nicht in’s Einzelne folgen können, weshalb wir diejenigen Leser, welche von diesem Geheimniß sich besonders angezogen fühlen, auf diese geistreiche und warme Arbeit selbst hinverweisen, Dr. Kühner nimmt für jeden Fall, ob wir den Gesandtschaftssecretär von der Valck oder einen Unbekannten vor uns haben, an, daß er nicht der Held des unentwickelten Dramas gewesen sei, sondern nur der Diener.

Wer war aber die Hauptperson dieses Dramas, die Dame? Auch für sie bringt der Nachlaß einen neuen Schleier: eine Anzahl 1798 und 1799 geschriebener Briefe einer Frau Angés Berthelmy geborene Daniels aus Mans, in der man die „Lebensgefährtin“ des Grafen wieder finden wollte. Wohin kommen wir nun aber mit dem vom Grafen für sie angegebenen Namen Sophie Botta? – Nach einer damals in der Augsburger Allgemeinen Zeitung veröffentlichten Correspondenz aus Heidelberg lebte allerdings Ausgangs der neunziger Jahre eine geborne Daniels, verehelichte Berthelmy in Frankreich, die, aus Köln stammend und mit einer gräflichen Familie Foy in Paris verwandt, längere Zeit in Rheinbaiern wohnte, wo eine Tochter derselben noch jetzt leben soll. Berthelmy soll ein französischer General gewesen sein. Aber was fangen wir wieder damit an? Die Verschleierung des Ganzen wird dadurch eine immer verwickeltere.

Gehen wir zu der, nach Dr. Kühner’s Ansicht, statthaftesten Annahme zurück, daß der Unbekannte die Gefangenschaft einer Dame von großer politischer Bedeutung bewacht habe, so finden wir das doppelte Opfer nicht nur so bedeutender Summen, sondern auch eines ganzen Manneslebens erklärlich. Wie wir aber oben bei der Frage stehen blieben: Wer war der Mann? – so bleibt uns hier die Frage unbeantwortet: Wer war die Dame?

Sicherlich ist es ein beachtenswerthes Zusammenstimmen, daß schon 1803 oder 1804 in Ingelfingen im Antlitz der Dame Aehnlichkeit mit der Tochter Ludwig’s des Sechszehnten herausgefunden wurde, daß, wohl zwanzig Jahre später, ein Meininger Geheimrath (der früher genannte Herr v. B.) dieselbe Aehnlichkeit entdeckte, daß, ohne von Beidem das Geringste zu wissen, der Pfarrer zu Eishausen durch das Lilien-Siegel auf dieselbe Vermuthung geleitet wird und daß später, nach der Dame Tod, dasselbe Siegel häufiger, also unbesorgter, auf den Briefen an die Wittwe des Pfarrers erscheint. Nehmen wir hierzu das Lilienzeichen auf mehreren Hemden der „Gräfin“ und die Aeußerung des Grafen: „Ich würde den ganzen Nachlaß der Dame zum Besten der Armen überlassen haben, mit Ausnahme von einigen Hemden und Roben“, – so finden wir nicht nur das respectvolle Benehmen des Herrn vor der Dame, sondern auch die Wichtigkeit erklärt, die er auf die Wahrung seines Geheimnisses durch volle vierzig Jahre gelegt. Dazu kommt noch, daß im Jahre 1824 oder 1825 eine französische Zeitung (sie wurde Dr. Kühner von einem zuverlässigen Manne mitgetheilt, der sich damals in Geschäften des Königs von Würtemberg in Paris befand) die mysteriöse Notiz enthielt: man habe in einem verborgenen Winkel von Thüringen die Spur einer längst verschwundenen französischen Prinzessin entdeckt, möge aber wohl Grund haben, diese Spur nicht zu verfolgen. Uebrigens würde auch das Alter der Dame, wie der Graf es angab (58 Jahre bei ihrem Tode 1837), mit dem der Tochter Ludwig’s des Sechszehnten zusammenstimmen.

Wenn auch Dr. Kühner die Nüchternheit seiner Kritik durch diese Verfolgung von Spuren bis zu einem Königsthron für gefährdet hält, so giebt ihm die geheime Geschichte der Höfe das beste Recht dazu. Es wäre gar nicht so romanhaft, eine echte Königstochter von der Revolution zur Seite geschleudert und später durch eine untergeschobene Herzogin von Angoulême ersetzt zu sehen. Auch für die Annahme einer Prinzessin Condé könnten einige Aeußerungen des Grafen sprechen; dagegen steht der Angabe in einem historischen Romane von Georg Hesekiel („Graf d’Anethan d’Entragues“, 3. Bd., 5. Capitel), daß die Unbekannte eine Tochter des Herzogs von Enghien gewesen sei, die Zeit entgegen, denn das unglückliche Opfer Napoleonischer Rache vermählte sich erst 1802 mit der Prinzessin Charlotte von Rohan-Rochefort, während die Gefangene von Eishausen damals schon zehn bis fünfzehn, oder gar zwanzig Jahre alt sein mußte.

Wird je Licht in dieses Dunkel kommen? Man möchte daran zweifeln, nachdem so oft die Herrschergeschlechter auf Frankreichs Thron gewechselt, die Macht der Bourbonen gebrochen, Furcht und Scheu vor ihnen geschwunden und doch noch kein Bekenntniß an den Tag gekommen ist. Nahe liegt allerdings der Gedanke Dr. Kühner’s, daß der Unbekannte in seinem langen Leben in dem stets unzugänglichen Schlosse zu Eishausen es wohl nicht versäumt habe, über oder unter der Erde, in Wänden oder unter den Dielen, verborgene Behälter anzulegen, in welchen auch für den Fall einer plötzlichen Ueberrumpelung, und selbst für den Fall seines plötzlichen Todes die Documente seines Geheimnisses (Briefe, Petschafte, bezeichnende Schmucksachen etc.) vollkommen gesichert sein konnten.

Bis jetzt ist dort keinerlei Nachforschung geschehen; das Schloß dient in allen Räumen zur Aufbewahrung von Getreide, so daß nicht einmal das Beschreiten der Zimmer möglich ist.

Aber auch die Möglichkeit eines anderen Schlüssels zu dem Geheimniß ist noch der Bemerkung und einer Nachforschung werth. Dr. Kühner verwirft zwar mit aller Entschiedenheit die Annahme, daß der Graf, um sich den ruhigen Aufenthalt im Hildburghäuser Lande zu sichern, der Herzogin Charlotte (der Leser kennt sie aus unserm Artikel über die „Bettenburg“) sein Geheimniß anvertraut oder wenigstens erklärende Papiere mitgetheilt habe. Aus Hildburghausen, und zwar von ebenfalls sehr glaubwürdigem Munde,

[379] wird mir aber ebenso entschieden versichert, daß dies dennoch geschehen sei. Darüber ließe sich Gewißheit erlangen, und zwar in Altenburg. Es ist nämlich anzunehmen, daß die geistreiche Fürstin, wenn ihr überhaupt eine solche Mittheilung gemacht worden ist, allerdings wohl Verschwiegenheit genug hatte, um das Geheimniß weder mündlich noch brieflich weiter zu tragen, aber das ist psychologisch anzunehmen, daß sie ihrem Tagebuch wenigstens eine Notiz darüber anvertraut habe. Die edle Fürstin schlummert unter ihrer hohen Grabsäule auf dem Friedhof zu Hildburghausen, ihre Nachkommen sind nach Altenburg gezogen, wohin auch das fürstliche Privatarchiv und sonstige Familienpapiere mit ausgewandert sind. Es wird also dort Sache der betreffenden Personen sein, sich der Mühe des Nachforschens nach dem Schlüssel zu einem solchen Geheimniß zu unterziehen, aber auch das Resultat dann der Oeffentlichkeit mitzutheilen.
Friedr. Hofmann.




Eine Katastrophe des Londoner Geldmarkts.


Freitag, der 11. Mai des Jahres 1866, wird in der Geschichte der Londoner City und des englischen Handels lange ein ominöses Gedächtniß bewahren. Es war ein Tag panischen Schreckens, chaotischer Verwirrung, wilder regelloser Furcht und Verzweiflung, desgleichen, der allgemeinen Behauptung zufolge selbst die berühmten „ältesten Bewohner“ der Metropole nie vorher erlebt hatten. Wer London kennt, weiß, daß auch zu gewöhnlicher Zeiten das mächtige Getriebe, das endlose Gedränge, die athemlose Hast des die Gassen, Straßen und Plätze in der Nähe der Bank von England durchwogenden Verkehrslebens eine halb beängstigende, halb berauschende Wirkung ausüben. Aber in dem scheinbaren Chaos herrscht bei alledem Regel und Ordnung, die Geschäfte gehen ihren Gang und in den grübelnden Mienen, den ernsten besorgten Gesichtern, die aus dem Menschengewühl auftauchen, spiegelt sich dem Londonkundigen eben weiter nichts als der alltägliche Reflex jener unvermeidlichen Fluctuationen des Welthandels, der ringsum seine aufgeregten Wellen schlägt und, während er die befrachteten Schiffe der Glücklichen dem sichern Hafen zuführt, den Besitz Anderer ungewiß umherschleudert zwischen Furcht und Hoffnung. An jenem ominösen Freitage aber schien ein dunkles Zauberwort die ganze City mit seinem Bann getroffen zu haben. Wilde, wirre Menschenmassen, zu dichten Knäueln geballt, füllten die Umgegend der Bank und wogten anscheinend ohne Ziel durcheinander. Schreck und Bestürzung schienen allgemein. War die Bank von England mit allen ihren Schätzen über Nacht durch ein Erdbeben verschlungen? Bedrohte eine plötzlich gelandete französische Invasionsarmee London mit der so oft verheißenen großen Plünderung? Weder das eine noch das andere. Die Bank stand unerschütterlich fest da wie immer; zwischen den Napoleonischen Eroberungsplänen und den englischen Küsten flossen nach wie vor die stürmischen Fluthen des Canals. Aber der Schicksalsschlag selbst so unerhörter Ereignisse hätte kaum einen mächtigeren Eindruck hervorbringen können, als die Katastrophe, welche an diesem Tage die Handelswelt von London und England in ihren Grundvesten erschütterte: der Bankerott des großen Bankierhauses Overend, Gurney und Comp.

Die erste Meldung dieses Bankerotts war uns schon am Abend des vorhergehenden Tages bekannt geworden. Da sie jedoch kurz vor dem Schluß der Geschäftsstunden, zwischen drei und vier Uhr erfolgt war, hatte ihre Wirkung nach außen hin sich nur in verhältnißmäßig geringem Maße geäußert. Der officielle Beginn des Bankgeschäfts in der City ist um zehn Uhr Vormittags und die Scenen, welche seitdem bis tief in den Abend jenes ominösen Freitags hinein sich innerhalb des engen Raumes zwischen Mansionhouse, Bank, Börse und Lombardstreet abspielten, waren geradezu unbeschreiblich. Ein Meer von Köpfen füllte den von jenen Centren des geschäftlichen Verkehrs umgebenen Platz, einen Platz obendrein, an dem die größte Verkehrsstraße der Welt, die Straße von Charing-Croß nach London-Bridge, entlang läuft. Der meilenlange Zug der Cabs, Lastwagen und Omnibusse war beinahe völlig gehemmt; nach allen Seiten hallte es wie dumpfe Meeresbrandung unheimlich von Tausenden von Stimmen wieder; wildes Gedränge hierhin und dorthin, ängstliche, bestürzte, verzweifelte Gesichter überall, anscheinend nirgends ein Ausweg. … Doch ja, dort wogt ein Strom nach dem Haupteingang der Bank von England, hier ein andrer nach Birchin-Lane (einer von der Börse nach Lombardstreet zuführenden Gasse), ein dritter dort von dem Mansionhouse nach Lombardstreet selbst, der Straße, wo Overend, Gurney und Comp. mitten in der Reihe der angesehensten Bankhäuser noch gestern Morgen florirten. Was der Zudrang nach der Bank bedeutet, ist unschwer zu errathen. Man will Geld erheben, auf Schatzobligationen, auf Depositenwechsel, auf Bankzettel, auf Sicherheitspapiere aller Art; denn kein Haus ist schon mehr sicher vor Verdacht, da Overend, Gurney und Comp. gefallen sind, und auf alle Banken hat schon ein Sturm der von panischem Schrecken erfüllten Depositoren begonnen. Wie wird die Bank von England selbst so plötzliche ungeheure Ansprüche auf ihre Ressourcen aushalten? Vorläufig scheint es im Allgemeinen zur Zufriedenheit der Applicanten. Denn mit etwas weniger verzweifelten Gesichtern sieht man viele von diesen das Bankgebäude verlassen und sich in verschiedenen Richtungen zerstreuen.

Lombardstreet ist eine enge Straße, zu beiden Seiten von hohen stattlichen Bankpalästen überschattet. Die Thüren der Banken stehen weit geöffnet, aber Straße und Trottoir sind so hoffnungslos überfluthet von Menschenwogen, daß der Zugang beinahe unmöglich scheint. Drängend, rufend, kreischend, bahnen die vor Schreck halb wahnsinnigen Creditoren und Creditorinnen sich ihren Weg. Hier sieht man eine Gestalt ohnmächtig zurücktaumeln, dort Andre mit Ellenbogen und Fäusten ihren Platz behaupten. Im Innern der Banksäle aber ist das Gedränge ebenso groß wie draußen, und die Eindringlinge werden lange zu warten haben, ehe an die Zahlung ihrer Cheques und Depositenwechsel die Reihe kommt. Andere haben diese peinliche Geduldsprobe überstanden. Mit Reisetaschen und Ledersäckchen beladen, aber offenbar von einer schweren Last befreit, sieht man sie die Banken verlassen. Indeß sie mögen sich in Acht nehmen, denn wer bürgt ihnen dafür, daß sie die aus der Bankcasse geretteten Schätze aus diesem Gedränge bergen? Für die Londoner Diebe ist dieser ominöse Freitag ein reicher Erntetag; Hunderte, Tausende von Pfunden wandern in diesem wilden Gewühl in ihre Hände.

Doch wir nähern uns endlich dem strudelnden Centrum des Maelstroms. Dort ist die Ecke von Birchin-Lane und Lombardstreet und dort an der Ecke erhebt sich das „Cornerhouse“ (Eckhaus), wie es familiär in dem Geschäftsdialect der City genannt wurde, das Haus Overend und Gurney, viele Jahre lang nächst der Bank von England das größte Centrum der englischen Bankgeschäfte, heute der verhängnißvolle Mittelpunkt zahlloser sorgender, neugieriger Blicke, Fragen, Speculationen. Was hat dies Haus von Stein und Mörtel mit dem Zusammensturz der Firma zu thun? Es steht noch gerade so stolz und fest da wie sonst. Der einzige bemerkbare Unterschied ist, daß die Läden und die Thüren geschlossen sind, und wilde Menschenfluthen, dergleichen man früher nie in seiner Nähe sah, umbranden seine Gitter und Mauern.

Sie lehren nichts. Doch die menschliche Natur bleibt sich immer gleich, und die Befriedigung, die locale Geburtsstätte eines mächtigen Ereignisses mit Augen zu sehen, diese Befriedigung sich versagen, war mehr, als man von dem schau- und sensationslustigen Londoner Volk erwarten durfte. Auch waren es gewiß nicht neugierige Blicke allein, welche das Bild des Corner-Hauses einsogen; wohl Mancher schaute wehmüthig daran hinauf als

Nach dem Grabe
Seiner Habe

und bedachte im Stillen, was aus dem Ruin noch zu retten sein werde für die Zukunft.

Unter solchen und ähnlichen Scenen verfloß der erste Tag nach dem Bankerotte von Overend und Gurney, der gewitterschwüle ominöse 11. Mai des Jahres 1866. Er verfloß wie alle Tage; aber Jedermann in der City war fortwährend auf das Schlimmste gefaßt, ja das ganze Gebäude der englischen Handelswelt schien so vollständig aus den Fugen gerissen, daß die um Mittag verbreitete Nachricht von den Bankerotten der English Joint-Stock-Bank und des großen Contractgeschäftes für Eisenbahnbauten, Peto und Betto, Bankerotte von denen der eine ein Capital von [380] einer Million, der andere ein Capital von vier Millionen Pfund Sterling involvirten, beinahe spurlos an der auf’s Tiefste niedergedrückten Stimmung des Geldmarktes vorüberging. Eine Reaction zum Bessern brachte während der Nachmittagsstunden das von der Stock-Exchange verbreitete, vorläufig noch grundlose Gerücht hervor, daß die Bank von England durch die Regierung ermächtigt worden, Banknoten zum Betrage von fünf bis zehn Millionen über den in ihren Koffern befindlichen Gold- und Silberwerth zu emittiren. Ueberdies widerstanden die übrigen Privatbanken und Joint-Stock-Banks dem Sturm auf ihre Ressourcen mit staunenswerthem Erfolge. Mehrere derselben hielten, in der rühmlichen Absicht dem panischen Schrecken zu steuern, ihre Thüren zwei Stunden über die gewöhnliche Geschäftszeit offen. Allein trotz alledem war die Ansicht, daß nichts als ein schleuniges Einschreiten der Regierung, als die Suspension der Bank-Charter-Acte von 1844, vor weitverbreitetem Ruin retten könne, allgemein. Die Staatspapiere (Consols) waren vier Procent gefallen, die Bank von England hatte ihren Discontosatz auf neun Procent erhöht, die Actien mancher auf das System „beschränkter Haftbarkeit“ (Limited Liability) gegründeten Compagnien waren unter Anerbietung von Prämien zum Verkauf ausgeboten worden, man wußte endlich, daß die Reserve der Bank von England an diesem einzigen Tage durch Anlehen und Geldleistungen um den enormen Betrag von vier Millionen vermindert, daß das noch disponible Capital jener Hauptquelle des nationalen Credits auf drei Millionen zusammengeschmolzen sei. Noch ein Tag wie dieser, und ein allgemeiner Stillstand aller Geschäfte schien unvermeidlich. England, der europäische Continent, Indien, die Colonien, alle Nationen der civilisirten Welt mußten, tiefer als bereits geschehen, in den Strudel einer so unerhörten Katastrophe verwickelt werden und von unberechenbarer Bedeutung war die rasche Benutzung der kostbaren Zeit.

Ehe wir jedoch die praktischen Consequenzen dieser Erwägungen berühren, müssen wir einen Blick auf die Ursachen werfen, welche ein Haus, wie das Overend-Gurney’sche, einen solchen Hauptpfeiler des Credits von England, zum Falle bringen konnten. Thatsache ist, daß man in wohlunterrichteten Kreisen schon lange vor der Katastrophe über den Zustand der Geschäfte des Hauses Zweifel geäußert hatte. Seine Actien waren allmählich gesunken und standen bereits während der letzten Wochen des April wenig über Pari. Aber nichtsdestoweniger hatten die Namen Overend und Gurney noch immer einen magischen Klang in der Kaufmannswelt bewahrt, und wie wenig nicht blos das größere Publicum, sondern die gesammte handeltreibende Genossenschaft auf den Bankerott vorbereitet war, wird durch nichts schlagender bewiesen, als durch den ungeheuern Eindruck, welchen das factische Eintreten der Katastrophe hervorbrachte. Die Gurneys, eine der angesehensten Quäkerfamilien Englands (dieselbe, welcher die durch ihre philanthropischen Bemühungen berühmte Mrs. Fry angehörte), hatten seit beinahe hundert Jahren unter den wohlhabendsten englischen Kaufmannshäusern in erster Reihe gestanden. Sie besaßen, seit dem Ende des achtzehnten Jahrhunderts, ein großes, noch jetzt bestehendes Bankhaus in Norwich, ein Haus, dessen Geschäfte dem vor Kurzem verstorbenen Haupttheilhaber, Mr. Hudson Gurney, beiläufig ein Vermögen von beinahe zwei Millionen Pfund Sterling abgeworfen hatten. Das Londoner Haus Overend, Gurney und Comp., unter Mitwirkung eines ehemaligen Gesellschafters des Hauses in Norwich, vor etwa siebenzig Jahren etablirt, war seinerseits allmählich zu dem Range des mächtigsten englischen Discontirhauses emporgestiegen, hatte, wie Jedermann bekannt, seine sämmtlichen Theilhaber zu kolossal reichen Leuten gemacht und alle Handelskrisen unsers Jahrhunderts, die Krisen von 1825, von 1847 und 1857 ebenso unerschüttert überstanden, wie die Bank von England selbst. In der That, keine andere Bank als die Bank von England konnte an nationalem Ansehen, an Fülle der Mittel und des Credits, an Großartigkeit der Operationen mit Overend, Gurney und Comp. einen Vergleich aushalten. Bankiers und Depositoren vertrauten ihnen mit ebensoviel Zuversicht Capitalien zur Benutzung an, wie die Bank. Wechsel und kaufmännische Werthpapiere, von Overend, Gurney und Comp. acceptirt und girirt, fanden überall bereitwillige Käufer. Der Werth der alljährlich von der Firma discontirten Wechsel, der bewilligten Vorschüsse und Darlehen stieg hoch in die Millionen hinauf, ihr jährlicher Gewinn erreichte viele Jahre lang die erstaunliche Durchschnittssumme von einmalhundert und fünfzig bis zweimalhunderttausend Pfund Sterling. Wenn diese wohlbekannten Thatsachen auch dem Außenstehenden den besten Beweis lieferten für die Stabilität und gesunde Geschäftsführung des Hauses, so wurde in der Kaufmannswelt einstimmig zugegeben, daß durch keine andere Firma eine weisere Mitte eingehalten werde zwischen Vorsicht und Unternehmungsgeist, daß die große Masse ihrer Vorschüsse und Darlehen nicht zu Gunsten vager weitaussehender Speculationen, sondern zur Beförderung laufender mercantiler Geschäfte auf Garantien geleistet wurden, deren Geldwerth nöthigenfalls jeden Augenblick zu realisiren war; kurz, daß sie mit preiswürdiger Consequenz die Sicherheit verhältnißmäßig kleiner Gewinne, deren Ertrag trotzdem die oben erwähnte ungeheure Totalsumme erreichten, dem Risico großer Profite und waghalsiger Unternehmungen vorzogen, welche während der periodischen commerciellen Krisen so manche weniger solide Häuser zum Falle gebracht hatten.

Zu Anfang der sechsziger Jahre erlitt die Firma eine Reihe von Verlusten, die eine weniger vorsichtige Geschäftsführung erkennen ließen und ihren Credit etwas erschütterten. Auf die dahin schlagenden Verhandlungen im Detail einzugehen, ist hier nicht der Ort. Es genügt, zu constatiren, daß im Laufe des vorigen Jahres beschlossen wurde, die Firma nach Art anderer großer Häuser aus einem Privatgeschäft in eine Compagnie nach dem Princip „beschränkter Haftbarkeit“ umzuwandeln, und daß, als dies geschah, der Glaube an die Solidität und den Werth ihres Geschäftes noch so fest war, daß die Actionäre der projectirten Compagnie sich ohne Zögern zu der Zahlung von fünfmalhunderttausend Pfund Sterling für den sogenannten Goodwill, d. h. die Uebernahme der Kundschaft des alten Hauses, bereit fanden. Hier und da freilich erklärten warnende Stimmen die in Aussicht stehende Umwandlung für ein böses Omen; allein diese Stimmen verhallten ohne Wirkung. Man riß sich um die Actien, die schon wenige Monate nach der Gründung der Compagnie auf neun Procent über Pari stiegen; die Depositen flossen zu Tausenden und Hunderttausenden ein, und zu Anfang des laufenden Jahres hatten sie die kolossale Totalsumme von fünfzehn bis zwanzig Millionen Pfund erreicht. Mit einem solchen Capital und mit entsprechendem Credit schienen die Prospecte über alle Maßen glänzend, und nach Allem, was man hörte, waren Depositoren und Actionäre derselben Ansicht. Aber die Compagnie hatte den Höhepunkt ihres Erfolges erstiegen und ein Schlag nach dem andern, Betrügereien von Unternehmern, Bankerotte unterstützter Firmen etc., suchte sie während der ersten Monate des neuen Jahres in kurzen Zwischenräumen heim. Jeder neue Verlust führte selbstverständlich zu Discussionen an der Actienbörse. Die neun Procent über Pari sanken auf sieben, sechs, vier, zwei, ein Procent nieder – zu Ende April endlich überschritten die Notirungen die abwärtsführende, verhängnißvolle Linie unter Pari. Inzwischen hatten auch die drohenden Complicationen der festländischen Verhältnisse den englischen Geldmarkt in eine fieberhafte Aufregung versetzt. Die Bank von England hatte ihren Discontosatz auf acht Procent erhöht, das Geld wurde knapper und knapper, das allgemeine Mißtrauen intensiver. Kaum bemerkten die Depositoren und Actionäre von Overend, Gurney und Compagnie die Ueberschreitung jener verhängnißvollen Linie unter Pari, als ein von Tag zu Tag erneuerter Sturm auf die Ressourcen der Compagnie begann. Ein Depositor nach dem andern zog sein Geld aus dem Geschäft, ein Actionär nach dem andern bot seine Actien unter dem ursprünglichen Werthe feil. Die dringende Haltung der Actienverkäufer beschleunigte wiederum die abwärts führende Tendenz der Notirungen und theilte das herrschende Mißtrauen auch den noch festgebliebenen Actionären und Depositoren mit … Und so konnte denn endlich die Compagnie den an sie gestellten Ansprüchen nicht mehr genügen und die große Katastrophe vom 10. und 11. Mai brach überwältigend, unaufhaltsam herein.

Ob eine günstigere äußere Weltlage den Bankerott der Compagnie hätte verhüten können, ist eine Frage, worüber wir uns kein Urtheil anmaßen. Nach den bis jetzt bekannt gewordenen Thatsachen ist es erwiesen, daß die Compagnie an zwei ernstlichen Schäden litt. Sie hatte erstens, um ihre Kundschaft durch die Lockspeise außerordentlicher Gewinne zu vermehren, die sichere Geschäftsmethode des alten Hauses mit weit aussehenden Finanzspeculationen vertauscht, von denen sich allerdings im Laufe der Jahre große Gewinne erwarten ließen, die aber in Fällen der Noth keine augenblicklich realisirbare Garantien darboten. Statt laufende mercantile [381] Geschäfte zu unterstützen, hatte sie die Hauptmasse ihres Capitals an Unternehmer von Eisenbahn-, Canal- und Dockbauten, Gaswerken, Wasserleitungen und städtischen Verbesserungen aller Art vorgeschossen und die Bewahrung einer genügenden Reserve der Chance des stetigen Zuflusses neuer Capitalien und Depositen überlassen. Als daher die Krise kam, reichten die vorhandenen Capitalien für die Bedürfnisse des Augenblicks nicht aus und die Bank von England weigerte sich, auf die ihr gebotenen unrealisirbaren Garantien ein Darlehen zu machen, welches dem Bankerott hätte vorbeugen können.

Ein wo möglich noch schlimmerer Uebelstand war die Erbschaft einer von der alten Firma in die neue Compagnie hinübergenommenen Schuld von zwei Millionen achtmalhunderttausend

Vor dem Londoner Bankhause Overend Gurney und Comp. am 11. Mai 1866.

Pfund Sterling. Zur Deckung derselben waren freilich Garantien, deren Werth auf mehr als drei Millionen Pfund berechnet wurde, an das neue Geschäft übergegangen. Doch allem Anschein nach bestanden diese Garantien, selbst wenn der angegebene Nominalwerth mit ihrem Realwerth übereinstimmte, in für den Augenblick unrealisirbaren Capitalien – ja, seitens der Directoren ist schon jetzt halb und halb das Eingeständniß erfolgt, daß jene Schuldenlast der wahre Alp gewesen, welcher auf den Geschicken der Compagnie gelastet habe. Man kann daher kaum umhin, den Scharfsinn jener Unglücksvögel zu bewundern, da sie die Metamorphose des alten Hauses in die neue Compagnie als ein übles Omen auslegten.

Wie dem indeß auch sei, von falschem Spiel spricht vorläufig die öffentliche Meinung die gefallene Compagnie frei. Uebertriebenes Vertrauen auf den Namen des alten Hauses, Mangel an Vorsicht und ein Zusammenwirken widriger Verhältnisse scheinen den Bankerott herbeigeführt zu haben. Der härteste Verlust wird die Directoren, zum Theil Mitglieder der alten Firma, und die Actionäre treffen. Die Depositoren werden, so versichert man, ihre Capitalien ohne Abzug zurückerhalten. Ja, Dank der kaum glaublichen Zähigkeit einer tiefgewurzelten Tradition, ist noch im gegenwärtigen Moment der Glaube an die Namen Overend, Gurney und Comp. so mächtig, daß seitens eines einflußreichen Meetings von Gläubigern Schritte geschehen sind, den Proceß in dem Bankerottgerichtshofe zu sistiren und das Geschäft durch Zuschuß frischer Capitalien unter der alten Firma wiederherzustellen.

Unendlich viel wichtiger, als die Lösung dieser Probleme, ist übrigens die Frage: wie den zerstörenden Wirkungen des Overend-Gurney’schen Bankerotts auf die englischen Handelsverhältnisse überhaupt zu begegnen sei. Der im Laufe des 11. Mai zur Geltung gelangten Ueberzeugung, daß nichts als die Suspension der Bank-Charter-Acte einem allgemeinen Bankerott vorzubeugen vermöge, wurde bereits Erwähnung gethan, und noch am Abend desselben Tages ermächtigte die Regierung die Bank von England zur Ausgabe von Banknoten über die von der Bank-Charter-Acte festgesetzte Grenze. Dieser Schritt hat das völlig erschütterte Vertrauen theilweise hergestellt, aber andererseits ist damit auch der Werth des Goldes und die Schwierigkeit, Credit und Capitalien zur Führung der Geschäfte aufzutreiben, unendlich gestiegen. Obgleich der Discontosatz der Bank selbst auf zehn Procent stehen geblieben ist, gewährt sie doch höchstens auf Bürgschaft der besten kaufmännischen Wechsel oder der von der Nation garantirten Staatspapiere (Consols), und selbst auf diese nur mit ängstlicher Vorsicht, ihre Darlehen. In allen andern Discontirhäusern steht der Discontosatz auf elf bis zwölf Procent. Ein Bankerott ist überdies in kurzen [382] Zwischenräumen dem andern gefolgt, so daß die Summe der seit dem 11. Mai fallirten Banken (von kleineren Geschäftshäusern zu schweigen) gegenwärtig die Gesammtzahl von einem halben Dutzend erreicht hat. Die auf dem Continent verbreitete irrige Ansicht, als sei die Suspension der Bank-Charter-Acte identisch mit der Einstellung von Baarzahlungen durch die Bank von England, und die demgemäß erhobenen Forderungen continentaler Gläubiger, in klingender Münze bezahlt zu werden, vermehren die Verwirrung. So fürchtet man denn von Tag zu Tag neue Bankerotte und, wenn unter so gefährlichen Conjuncturen, wie jetzt leider immer wahrscheinlicher wird, ein großer continentaler Krieg zum Ausbruch kommen sollte, ist kaum abzusehen, welche weiteren Calamitäten der Zusammensturz des großen Hauses Overend, Gurney und Comp. für England zur Folge haben wird.

London, Anfang Juni 1866.




Eine Stunde an meinem Bienenstande.


„Nun reite mir auch einmal Dein Steckenpferd vor, alter Junge,“ sagte ein lieber Jugend- und Universitätsfreund, mit dem ich nach manchem langen Jahr wieder einmal in meiner Behausung beim Frühstück beisammen gesessen hatte. „Du bist weit und breit als Bienenvater berühmt, wie ich höre,“ fuhr er fort, „und so möchte ich auch wohl einmal einen Blick in den merkwürdigen Thierstaat thun, obschon mir die einzige Bekanntschaft, die ich jemals mit Deinen Lieblingen machte, nicht eben in angenehmer Erinnerung steht; denn noch jetzt spüre ich im Geiste den Schmerz und die Geschwulst, welche mir einst der Stachel einer Deiner einigen Hautflügler zugefügt hat.“

Eine solche Aufforderung, seine Leib- und Lieblingsleidenschaft in das gehörige Licht zu stellen, läßt sich Niemand zwei Mal sagen, am wenigsten ein eifriger Bienenzüchter, wie ich es seit länger denn zehn Jahren war. Wir machten uns denn nach meinem Bienenstand auf den Weg.

Zunächst ward dem Freunde eine Bienenhaube mit Drahtgeflecht und Augengläsern über den Kopf gestülpt und eine leinene Blouse übergezogen; die brennende Cigarre dampfte im Munde, die Hände waren mit dicken Wollhandschuhen verwahrt. So führte ich den maskirten, geharnischten und gepanzerten Freund, ein prächtiges Seitenstück zu Falstaff’s „sieben steifleinenen Kerlen“, meinem Bienenpavillon zu, wies ihm den passendsten Platz an, von wo aus er das äußere Treiben mehrerer recht volkreicher Bienenstöcke genau in’s Auge fassen konnte, und hieß ihn seine volle Aufmerksamkeit auf jene kleinen Breter vor den schmalen, länglichen Oeffnungen (Fluglöcher) in den Wänden des Pavillons richten, an denen es am lebendigsten herging.

„Nun sieh,“ sprach ich, „wie sich das drängt von innen aus dem Dunkel an’s Licht, vom Lichte zum Dunkel! Zu Hunderten fliegt das muntere Völkchen in jeder Secunde ab und zu. Ist’s nicht eine wahre Lust, das anzuschauen? Aber was für ein prächtiger Tag ist auch heute für das Bienenleben! Nach dem gestrigen sanften Gewitterregen haben sich die Kelche aller Blüthen mit süßem Nektar überreich gefüllt; jetzt gilt’s sie zu entleeren und in wenigen Tagen vielleicht, außer dem Nothbedarf für’s ganze Jahr, auch noch weiteren Vorrath zu beschaffen. Was heute versäumt wird, ist morgen vielleicht nicht mehr nachzuholen; der günstigen Tage sind etwa nur wenige beschieden, darum rasch und frisch an’s Werk! – Was für ein wunderbar schnellwechselndes Schauspiel auf dem Flugbrete des Baues in jedem Augenblicke! Da stürzen einige Bienen recht plump und schwer aus der Luft auf das Flugbret herab; sie scheinen ganz ermattet von der Mühsal eines vermuthlich weiten Weges; man sieht’s ganz deutlich, sie athmen tief und schwer, wie ein Mensch der unter einer drückenden Bürde daherkeucht, und wollen sich erholen, bevor sie in den dunkeln Bau schlüpfen. Das soll uns gar nicht wundern, denn in der That sind diese Bienlein sehr beschwert von süßem Honigseim, den sie hier und da sammelnd in sich aufsogen und, von unzähligen Gefahren umringt und bedroht, nun endlich heimbringen und in sichern Vorrathskammern aufspeichern wollen.

Dort kommen wieder andere an, nicht weniger schwer beladen, – dazu gar wunderlich bepudert und buntfarbig behost. Echte Essenkehrer, fürwahr! oder Müllerburschen, denen man es auf’s Haar ansehen kann, wo sie sich umgetrieben und angerieben haben! Das sind die nicht minder fleißigen Blumenstaubsammlerinnen, mit weißen, gelben, braunen, schwarzen Höschen angethan, je nachdem sie im Schooße der Feuerlilie oder des Mohns, dem Kelche der Esparsette oder des Geisblattes sich herumgewälzt haben, damit der zarte Blumenstaub sich an die feinen Borsten ihres Leibes setze, von wo er mit den Vorderfüßen abgestreift und in den Grübchen der Hinterbeine in Form kleiner Kügelchen festgedrückt wird. Auch sie eilen in’s Dunkel ihrer Wohnung, um sich von hülfreichen Genossinnen ihrer Bürde entledigen zu lassen, von der ein Theil, sogleich mit Honig gemengt, zum Futter für die Nachkommenschaft und das Volk verwendet, der andere ebenfalls verwahrlich niedergelegt wird.

Zwischen den Ankömmlingen stürzen in wilder Eile und pfeilgerader Richtung die Abziehenden wieder hervor, als ging’s auf Leben und Tod! Dort, ein wenig seitwärts auf dem Flugbrete producirt sich unseren Blicken eine andere kleine Familienscene, die wir recht aufmerksam belauschen wollen. Da sind drei, vier Bienen, sie haben eine fünfte in der Mitte und scheinen diese hin- und herzuzerren. Hat man etwa Arges mit ihr im Sinne? soll ein Strafact an ihr vollführt werden? will man ihr etwa gar an’s Leben? Weit gefehlt! Die Biene in der Mitte, um welche sich die andern so eifrig bethun, daß man fast Böses argwöhnen könnte, ist eine junge Biene, die eben zum ersten Male von der Sonne beschienen wird und im Begriffe steht, ihren ersten Ausflug in die Welt zu machen; die um sie beschäftigten Bienen aber sind alte, die dem Kiekindiewelt leckend, streichelnd, zupfend, bürstend vor dem Abfluge die Toilette machen, just so wie eine saubere Mutter ihrem kleinen Herzblättchen, ehe sie es aus dem Hause auf die Straße entläßt, zuvor immer erst noch die Haare streicht, die Falten des Kleidchens glättet, das Hütchen rückt und das Schuhband festbindet.

Aber was ist das und was will es bedeuten? Da laufen auf dem Flugbrete eine Anzahl Bienen so ruhelos hin und her, jeder ankommenden Biene stürzen sie entgegen, von manchen wenden sie sich alsbald wieder weg, andern begegnen sie mit offenbarer Feindseligkeit; einigen Bienen gestatten sie den Eingang in die Wohnung gern und willig, andern wehren sie ihn, wehren ihn mit aller Macht ihrer Widerstandsfähigkeit. Diese Bienen sind die stets kampfbereite und todesmuthige Schutzwacht des ganzen Volkes, eine echte rechte Spartanerschaar, welche jeden ungeladenen Gast, jeden Schmarotzer, der da mit zehren will, wo er doch nicht mitgesammelt hat, jeden Näscher, Dieb und Räuber, auf Leben und Tod bekämpft und dabei des eigenen Lebens weder schont noch achtet, wenn damit nur Ruhe und Frieden des stammverwandten Volkes erkauft, Sicherheit und Heiligkeit des eigenen Heerdes gewahrt und geschirmt werden. Hier stürzt sich eben eine solche Wachtbiene auf einen Feind, der den Versuch macht, in fremdes Eigenthum einzudringen, und sich zu nahe herangewagt hat. Sie hat ihn entweder aus seinem ängstlichen Anfluge, aus der Unsicherheit seines Gebahrens, oder auch am fremdartigen Geruche als Feind ihres Stammes erkannt, darum stürzt sie sich wie ein erzürnter Adler, dem man seine Brut rauben will, voll Wuth auf ihn. Sie packen sich, sie umstricken sich, rollen im Knäuel auf den Erdboden. Wie sie sich im Staube wälzen, Kopf oben, Kopf unten! Endlich löst sich der Knäuel; die eine von beiden hat obgesiegt, sie hat im Ringkampfe der Gegnerin Blöße erspäht und ihr den Giftdolch, den Stachel, bis in’s Herz gebohrt, und diese verendet nach wenigen Zuckungen; oder es ist ihr gelungen, einen Flügel der Gegnerin mit ihrem Gebisse zu fassen, ihn zu verdrehen oder zu zerstören; die Gegnerin ist fortan flugunfähig, kann sich nie wieder in die Luft erheben, sie ist dem jämmerlichsten Hungertode geweiht.

Wie bei Tage, so bei Nacht, steht eine solche Bienenschaar an der Pforte Wacht, denn auch von nächtlichen Feinden hat das Volk Ueberrumpelung zu befürchten. Da ist ein kleiner Nachtschmetterling, [383] Wachsmotte genannt, einer der furchtbarsten Feinde eines Bienenvolkes. Unverdrossen liegt er Tage lang außen an der Bienenwohnung still und ruhig auf der Lauer, bis es ihm etwa in einem unbewachten Augenblicke glückt, in den Bau zu schlüpfen. Nicht, daß ihn selbst nach den süßen Schätzen der Bienen gelüstete, er sucht vielmehr nur eine Brutstätte für seine Nachkommenschaft. Aus seinen Eiern, die er an den Wachsbau legt, schlüpfen bald Maden, welche auf dem Boden der Waben ihre Minen nach allen Richtungen graben, die Zellen mit ihrem Gespinnst überziehen, die darin sitzende Brut lebendig begraben und, wenn in Menge vorhanden, wohl solche Uebermacht über das Bienenvolk erlangen, daß dieses mit allen Anstrengungen und Opfern sich ihrer nicht mehr entledigen kann, die Abwehr endlich muthlos aufgiebt, dem Zerstörer seiner Wohnung das Feld räumt und auszieht.

Nun wieder einen Blick zurück zum Flugloche des Bienenvolkes, an dem es trotz alles Getümmels der Bienlein, trotz alles Drängens nach außen und nach innen doch so ordentlich hergeht, keins dem andern den Weg versperrt, alle Glieder der großen Familie einander nicht blos friedlich Platz machen, sondern sich auch so unverdrossen und ohne Treiber in ihrem Wirken und Schaffen helfen und unterstützen! Wir gewahren da mitten unter den ab- und zufliegenden Bienen, die sich durch das Flugloch drängen, eine Anzahl anderer, welche auf ihrem Platze festgebannt scheinen, ihre Flügel aber in unaufhörlich schwirrender Bewegung erhalten. Sind das etwa Mauthner oder Grenzjäger, die, dem Einschmuggeln fremder, unversteuerter Producte in’s eigene Land zu wehren, hier auf Posten stehen? Nicht doch! Es sind dies die angestellten Windmacher des ganzen Volkes, wohlverstanden! nicht Windbeutel. Es sind die Pfauenschweifwedler, die lebendigen Ventilatoren oder Fächler, welche durch die Vibration ihrer Flügel im Stocke einen gelinden Zugwind hervorbringen, ihm dadurch frische Luft zuführen, der verbrauchten Abgang verschaffen und die Hitze im Innern des Stockes mäßigen.“

Mein Freund, dem in seiner Vermummung das Gefühl der Sicherheit gewachsen war, da ihm trotz alles Summens und Brummens des stechlustigen Volkes um seine Ohren doch nicht eine einzige Biene ein Leid zugefügt, hatte zwar eine rege Theilnahme an Allem gezeigt, was er hier sah und von mir vernahm, äußerte aber doch, er glaube, nun das ganze Volk in seiner Thätigkeit und genug gesehen zu haben, und schlug vor, uns vom Bienenstande zurückzuziehen. Mir war dieser Wunsch sehr einleuchtend, denn dem Aermsten rieselte unter seiner Capuze der Schweiß in dicken Tropfen von der Stirn über die Wangen in den Bart, und das mußte er freilich geduldig ertragen, so lange er sich nicht entpuppen konnte. Allein ihm blieb noch Manches zu schauen übrig. „Freund,“ erwiderte ich daher, „Geduld! ein wenig Geduld noch! Du hast bis jetzt zwar viele Bienen gesehen, aber bei weitem nicht alle, die nothwendig zur Gesammtheit eines normalen Volkes gehören. Du hast eben nur Arbeitsbienen in ihrer wunderbaren Thätigkeit beobachtet, die Biene, von welcher eigentlich der ganze Pulsschlag der vor Deinen Augen entwickelten Thätigkeit ausgeht, die Königin oder den Weisel, die Mutter dieses großen, wenigstens sechszigtausend Bienen zählenden Volkes, die unbeschränkte Alleinherrscherin in diesem bewundernswürdigen kleinen Staatshaushalte, sie hast Du nicht gesehen. Und wenn Du auch Jahr und Tag an ein Flugbret Dich stelltest, so bekämst Du sie doch wohl nicht zu Gesicht, denn sie verbirgt sich, wenige Ausflüge in ihrem Leben abgerechnet, im Innern ihres Palastes als eine rechte „Frau im Zimmer“, und auch da ist sie von einer so starken Schaar von Zofen und Leibwächtern umlagert, daß es eines recht geübten Auges und einer genauen Kenntniß ihrer Gestalt bedarf, um ihrer in dem dichten Haufen ansichtig zu werden. Außerdem gehören aber zum Hofstaate dieser Königin noch andere Bienenwesen, die Drohnen oder männlichen Bienen, die im Grunde eine sehr untergeordnete Rolle spielen im Haushalte der Bienen, wenn man es nicht als etwas Großes betrachten will, daß von vielen Hunderten der Drohnen nur eine einzige, und diese sogar oft nicht einmal von demselben Volke, von der Königin der höchsten Liebesgunst gewürdigt wird, welche die Drohne noch dazu mit dem alsbaldigen Verluste des Lebens büßen muß.

Königin und Drohnen hast Du also noch nicht gesehen und zudem hast Du auch nicht die entfernteste Ahnung von dem Stücke im Leben der Bienen, das hinter den Coulissen spielt. Um eine richtige Vorstellung hiervon zu erlangen, mußt Du nothwendig auch einen Blick in das Innere des Stockes thun. Hast Du das äußere Treiben der Bienen mit Theilnahme betrachtet, so wird Dich dieser Einblick in das Innere ihres Haushaltes nicht minder befriedigen. Mit meiner Erklärung will sich mich schon kurz fassen. Also noch einige Minuten geduldig ausharren!“

Der Freund willigte ein und wurde von mir in den kleinen Salon meines Bienenpavillons geführt, den die von drei Seiten ihn umschließenden achtzehn Bienenwohnungen bilden. An den Glasfenstern, mit denen sie versehen sind und welche nach innen zu schon einigermaßen den Einblick in’s Innere der Wohnungen gestatten, begann es bald von unzähligen Bienen zu wimmeln, die das einströmende Tageslicht dahin lockte. Mit Behutsamkeit öffnete ich eine Wohnung (Beute), brachte die erschrockenen und zu ernstlicher Abwehr einer geargwöhnten Gefahr bereiten Bienen durch Einblasen von ein paar Zügen Tabakrauch erst zur Ruhe und nahm darauf den ganzen Bau, Rahmen um Rahmen, auseinander.

Meinem armen Begleiter wurde bei dieser Operation wieder sehr bänglich zu Muthe, vielleicht weniger sein- als meinetwillen. Jetzt war ich aber im schönsten Fahrwasser mit meinen Erklärungen. An der einen Wabe konnte ich den künstlichen Bau der Tausende von niedlichen Zellen zeigen, an denen die fleißigen Handwerksleute im Augenblicke meines Eingriffes erst ihre Arbeit eingestellt hatten. In einer andern Wabe erglänzten die kaum eingetragenen frischen Honigtröpflein in den kleinen, so künstlich nach oben gerichteten Zellenfäßchen, in denen sich der Honig erst durch Verdunstung, größerer Haltbarkeit wegen, verdichten muß, bevor er versiegelt wird. Eine dritte Wabe zeigte einen wohl verspündeten und versiegelten Vorrath an Honig. Hier präsentirte sich die Nachkommenschaft, vom frisch gelegten Ei an, in allen Stadien, Arbeitsbienen- und Drohnenlarven, bis zum völlig entwickelten Insect, das vor unsern Augen den Deckel seines Sarges sprengte und sich zu neuem Leben an’s Licht emporarbeitete. Dort endlich auf einer dicht von Bienen belagerten Wabe entdeckte mein spähendes Auge die Königin, die sich, bald in den Bienenhaufen schlüpfend, bald von der einen Wandseite der Wabe nach der andern aalgleich entweichend, unsern Blicken eiligst zu entziehen alle Anstrengungen machte. Vergebliche Mühe! Ich faßte rasch und sanft das schmucke, schlanke Thierchen mit Daumen und Zeigefinger, hob es von der Wabe ab und setzte es, getrennt von seinem Volke, auf einen schwarzen Papierbogen, damit mein Freund die unglaublich fruchtbare Mutter eines zahllosen Geschlechtes ganz genau betrachten konnte. Aengstlich kroch das Thierchen auf dem glatten Bogen eine Minute lang hin und her, ohne einen Versuch zu machen, davonfliegen zu wollen. Dabei ließ es in der kurzen Zeit wenigstens ein Dutzend hellglänzende Eier auf das Papier fallen, ein Beweis, daß es gar nicht zu hoch gegriffen ist, wenn man die Zahl der von einer jungen kräftigen Königin zur Zeit der stärksten Eierlage täglich abgesetzten Eier bis auf dreitausend veranschlagt.

Ein eigenthümlicher Klageton, welchen das Bienenvolk jetzt ausstieß, und eine ängstliche Unruhe, die sich seiner bemächtigte, belehrten mich, daß es sich seiner Verwaisung bewußt geworden sei und daß jener Klageton dem Verluste seiner geliebten Mutter gelte. Demnach war es hohe Zeit, sie ihm wiederzugeben. Ebenso sanft, wie sie entnommen worden, gab ich sie ihren Kindern zurück, deren Jubel in fröhlichem Aufsummen alsbald sich kundgab.

Nichts erübrigte, als das Volk mit seinem ganzen Hab und Gut wieder mit aller Schonung in seine Wohnung einzustellen. So geschah es. Wir verließen den Pavillon; ich enthülsete meinen Freund, der einige Zeit brauchte, sich von seinem Schwitzbade zu erholen und wieder zu sich selbst zu kommen, aber, so schien mir’s, wenigstens mit einer Ahnung von dem unsäglichen Reize meines Steckenpferdes von mir schied.
L. Hake.



[384]
Blätter und Blüthen.


Der Präsident Johnson als Privatmann. Die nachstehenden Einzelheiten über das Privatleben des gegenwärtigen Präsidenten der Vereinigten Staaten von Nordamerika (der sich bekanntlich vom bescheidenen Schneidergesellen zum Oberhaupte eines der bedeutendsten Reiche der Erde emporgeschwungen hat), die wir amerikanischen Mittheilungen entnehmen, dürften dem Leser nicht uninteressant erscheinen.

Der Präsident Johnson steht vom 1. October bis zum 1. April regelmäßig um sieben Uhr, und vom 1. April bis zum 1. October regelmäßig um sechs Uhr auf, gleichviel, um welche Stunde er sich zur Ruhe begeben hat. Sein Zimmer ist von der höchsten Einfachheit; eine dicke silberne Uhr, – vulgo ‚Zwiebel‘ – die er bereits als Schneidergeselle besessen, dient ihm noch heute zum Zeitweiser; er hängt dieselbe, ehe er sich niederlegt, stets mit eigenen Händen sehr sorgfältig zu Häupten seines Lagers auf. Herr Johnson begiebt sich zunächst in ein kleines Badecabinet, das sich neben seinem Zimmer befindet, denn er ist ein großer Verehrer von kalten Waschungen, die er denn auch im weitesten Umfange vornimmt; nächstdem verwendet er viel Sorgfalt auf seine Zähne, welche noch sehr schön sind, und auf seine Nägel. Seine Toilette ist stets in einer halben Stunde vollendet. Hierauf verfügt er sich in sein Arbeitscabinet, wo er von acht bis zehn Uhr eingeschlossen bleibt, die Zeitungen liest und jene bemerkenswerthen Botschaften verfaßt, die oft so viel Aufsehen machen und die er zuweilen, vor ihrer Veröffentlichung, seinen Freunden – den „Radicalen“ – mittheilt. Bevor der Präsident sein Arbeitszimmer betritt, setzt ein Diener eine großmächtige Kaffeekanne auf den Schreibtisch; Herr Johnson hat eine ganz ausgesprochene Vorliebe für den schwarzen Kaffee und vertilgt davon mit vielem Behagen während des Arbeitens eine ganz gewaltige Menge, aber immer ohne Zucker. Kein lebendes Wesen darf dies Arbeitscabinet betreten, so lange Herr Johnson sich darin aufhält; die einzige Ausnahme von dieser sehr streng gehandhabten Regel macht ein großer, schwarzer Kater, der erklärte Günstling des Präsidenten, welcher schnurrend und spinnend auf dem Schreibtische, links neben dem Schreibzeuge, seinen gewohnten Platz gravitätisch einnimmt.

Von zehn bis elf Uhr des Morgens hält sich der Präsident in seinem Salon auf und empfängt daselbst Besucher, Bittsteller, Deputationen etc. Um elf Uhr nimmt er mit seiner Familie ein sehr anspruchsloses Frühstück ein, das gewöhnlich aus den allereinfachsten Speisen besteht. Bei Tische ist er sehr heiter und führt in der Regel ganz allein das Wort. Um zwölf Uhr präsidirt er dem Ministerrathe oder empfängt fremde Gesandte und bedeutende Persönlichkeiten, die um Audienz nachgesucht haben. Um drei Uhr macht er einen Spaziergang, entweder in den schönen, umfangreichen Gärten, die das „weiße Haus“ (die Residenz der Präsidenten) umgeben, oder in der Stadt Washington; er nimmt in der Regel einen sehr lebhaften Geschwindschritt an, den man beinahe einen kurzen Trab nennen könnte, und man versichert, daß er es im Wettlauf mit jeder neuen Atalante aufnehmen würde. Leider aber hat er an der linken Fußzehe ein Hühnerauge, das ihm große Schmerzen verursacht; aus diesem Grunde wird sein linker Stiefel stets breiter und größer gemacht, als der rechte; dies sieht sehr sonderbar aus. Auf seinem Spaziergange raucht Herr Johnson fortwährend; seitdem er aber Präsident ist, kaut er keinen Tabak mehr, eine Gewohnheit, der er in frühern Zeiten sehr hold war. Seine Cigarren, vortrefflichster Qualität natürlich, werden ihm durch das bekannte Haus Susini stets direct aus der Havanna geliefert.

Um vier Uhr setzt sich der Präsident zu Tische, nachdem er zuvor durch ein tüchtiges Glas Whisky seinen Appetit angeregt hat; während des Mahles theilen ihm seine nächsten und vertrautesten Freunde die bedeutendsten und amüsantesten Tagesneuigkeiten mit; er lacht gern und ist ein großer Freund witziger Anekdoten. Seine Mäßigkeit ist fast sprüchwörtlich geworden; er ißt sehr wenig Fleisch, ganz besonders aber niemals Schweinefleisch, seitdem von Trichinen die Rede ist. Seekrabben und gebackene Austern hält er in hoher Achtung, für Reiskuchen aber hat er eine leidenschaftliche Vorliebe. Um fünf Uhr ist das Mahl in der Regel beendet; es werden nun verschiedene feine Weine aufgetragen, von denen der Präsident jedoch wenig trinkt, dagegen beschließt er sein Diner regelmäßig mit einer abermaligen ziemlich starken Ration schwarzen Kaffees. Unmittelbar nach aufgehobener Tafel zieht sich Herr Johnson wieder in sein Arbeitszimmer zurück, liest die Abendjournale, die Berichte vom Congreß und überläßt sich sodann der Lectüre seiner Lieblingsschriftsteller, unter denen Plutarch – selbstverständlich in Uebersetzung – obenan steht. Um acht Uhr geht Herr Johnson wieder in den Salon, trinkt mit seiner Familie den Thee und begiebt sich um neun Uhr abermals in sein Arbeitscabinet, wo ihn wie am Morgen von Neuem die traditionelle Kaffeekanne und der bevorzugte Hauskater erwarten. Da er von dieser Stunde an keinen Menschen mehr vor sich läßt, so giebt er sich ganz seiner Bequemlichkeit hin und arbeitet entweder in Hemdärmeln oder in einem großblumigen Schlafrocke. Um Mitternacht überläßt er sich der Ruhe, nachdem er zuvor in seinem Badezimmer. die üblichen Waschungen vorgenommen hat. Sein Schlaf ist ruhig, wie sein Gewissen, man hat ihn nie schnarchen hören und er selbst versichert, daß er niemals träume. Nach sechs Stunden Schlafs fühlt er sich vollkommen kräftig und gestärkt, um sein thätiges Dasein von Neuem zu beginnen. Er ist fast niemals krank; fühlt er sich einmal unpäßlich, so curirt er sich auf eigene Faust und nach seiner Manier, duldet aber nie einen Arzt in seiner Nähe. Gegen die Damen ist der Präsident sehr liebenswürdig und zuvorkommend, in seiner Jugend soll er sogar große Erfolge gehabt haben; heute aber, sei es seiner vielen Geschäfte wegen oder aus Respect vor seiner hohen Stellung, begnügt er sich damit, dem schönen Geschlecht seine Huldigungen aus der Ferne zu Füßen zu legen. – Herr Johnson ist ein zärtlicher und vortrefflicher Gatte und Vater; von immer gleicher und heiterer Laune, ist er freundlich und gut gegen seine Umgebungen und hat ein stets offenes, theilnehmendes Herz für alle seine Freunde.




„Denkt an den armen Müller!“ – Unsere Leser werden bei diesem Mahnruf unwillkürlich an den armen Deutschen, Namens Müller, denken, der im vorigen Jahre in England hingerichtet wurde wegen eines Mordes, von dessen Thäterschaft derselbe bis zum letzten Augenblick sich standhaft frei sprach und für welche später sogar der wahre Verbrecher an den Tag gekommen sein soll, aber nur um sofort wieder unter den sich überstürzenden Zeitereignissen zu verschwinden. Noch heute schwebt über jener Hinrichtung ein schwarzer Schatten, den am wenigsten die Aussage des Geistlichen, daß der Unglückliche ihm noch im Moment vor dem Tode seine Schuld gestanden, zu zerstreuen vermochte. Schaden wenigstens dürfte der englischen Justiz, wie überhaupt jeder, welche noch über die Todesstrafe verfügt, es nicht, wenn vor jedem Todesurtheil jene an die Spitze unserer Mittheilung gesetzte Mahnung auch an sie gerichtet würde. – Ehre den Richtern, welche diesen Spruch sich vor jeder solcher ernsten Handlung zurufen ließen, nicht nur als eine Mahnung an dasselbe Gericht, das einst einen Justizmord begangen hatte, sondern auch zur Sühne für den Armen, welchem diese das Leben geraubt und dessen Andenken in so erschütternder Weise erhalten wurde. Dies geschah im alten Venedig.

Ein Deutscher, welcher in den Jahren von 1790–1795, also in der letzten Zeit der Republik Venedig, hier lebte, hinterließ uns eine treffliche Schilderung von der milden und gewissenhaften Handhabung der Criminaljustiz in allen Fällen, die nicht Staatsverbrechen angingen und wo der Rechtsspruch auf Tod lauten mußte. Kein Verbrecher, sagt er, kann mit dem Tode bestraft werden, wenn er nicht seiner That vollkommen überwiesen ist. Sollte aber im äußersten Fall für den Schuldigen keine Rettung mehr übrig sein, so wird doch noch den Richtern, ehe sie das Todes-Urtheil aussprechen, zugerufen: „Denkt an den armen Müller!“ – Dieser Müller, ein Deutscher und seines Handwerks ein Bäcker, war einer Mordthat wegen angeklagt, und da ausnehmend viele Scheingründe, welche in Ansehung der Zeit, des Ortes, des Mordinstruments etc. das Gepräge der vollen Wahrheit an der Stirn zu tragen schienen, gegen ihn sprachen, wurde er zum Tode verurtheilt, der Galgen für ihn zwischen den beiden Säulen auf der Piazzetta erhöht und er mit dem Strang hingerichtet. Bald darnach aber kam seine Unschuld an den Tag, und seit dieser alten traurigen Begebenheit fällte das Criminalgericht kein Todesurtheil mehr, ohne daß es jene laute Mahnung gehört hätte: „Denkt an den armen Müller!“




Rossini als Spaßvogel. Der geistreiche alte Maestro ist ein sehr heiterer Gesellschafter und sein Salon hallt oft vom allgemeinen Gelächter wieder, denn er liebt einen guten Witz außerordentlich und sinnt manchmal selbst die amüsantesten Possenstreiche aus. Eines Tages kam ein Landsmann, ein armer Teufel von Italiener, ein Posaunist, zu Rossini und bat diesen, ihm einen Platz im Opernorchester zu verschaffen.

Rossini versprach’s, vergaß aber dennoch seinen Schützling. Der Posaunenbläser dachte, man zweifele vielleicht an seinem Talent, und bat daher den Componisten, ihm etwas vorblasen zu dürfen. Eines Abends, als eine intime Gesellschaft bei dem Maestro versammelt war, stellte dieser sich es als höchst ergötzlich vor, seinen Freunden den seltenen Genuß eines Posaunensolo’s zu verschaffen, und ließ den Musiker kommen.

Der eilte höchst vergnügt herbei und bereitete sich zu seinem Solo vor. Er bläst die Backen mächtig auf, strengt alle Kraft seiner Lunge an, aber kein Ton kommt aus dem Instrument. Jetzt plagt er sich, daß er kirschbraun im Gesicht wird und wie ein Bild des wüthenden Aeolus aussieht – Alles vergebens. Er strengt sich schweißtriefend noch einmal so an, daß ihm die Augen ganz zum Kopf heraustreten, da kommt endlich ein Ton aus dem Instrument wie der heisere Schrei einer Ente und – eine förmliche Garbe von weißem Teig vorn zu der weiten Mündung des Instruments heraus gleich einer Rakete.

Die Posaune gab anstatt der Töne – Macaroni von sich. Alles lachte bis zu Thränen, Rossini hielt sich die Seiten; der arme Künstler, der nicht wußte, wie ihm geschah, stammelte in höchster Verwirrung seine Entschuldigungen.

„Mein Freund,“ sagte Rossini zu ihm, „beruhigen Sie sich; ich wollte nur sehen, ob Sie ein echt italienisches Talent besäßen.“

Er selbst hatte den Macaroniteig in die Posaune gestopft; zur Entschädigung dafür verschaffte er dem armen Musiker den ersehnten Platz.




Grausige Gesellschaft. Am 30. Mai dieses Jahres lagen in einem Saale des Leipziger Sectionssaales die Leichen von nicht weniger als sechsundzwanzig Selbstmördern. An einem Tage sechsundzwanzig Selbstmörder! Dabei ist wohl zu berücksichtigen, daß diese grausige Gesellschaft sich nur aus einem kleinen Bezirke recrutirt hatte und vielleicht eine eben so große Anzahl nicht an die Anatomie abgeliefert, sondern still begraben worden ist. Sachsen und Dänemark – das ist jetzt statistisch nachgewiesen – liefern die meisten Selbstmörder.




Erklärung. Herr Buchhändler Gerhard in New-York, Verleger der „Amerikanischen Gartenlaube“, hat mehrere meiner Novellen, u. A. auch die in Wien 1864 erschienene Novelle „Ein kleines Kind“ (Verlag von C. Schönewerk), nachgedruckt, ohne von mir die Erlaubniß dazu erlangt zu haben. Gleichwohl hat derselbe gegen mir befreundete, in den Vereinigten Staaten lebende Personen erklärt, er habe mir den Abdruck honorirt. Es ist dies eine Unwahrheit. Herr Gerhard hat bei mir weder jemals wegen Gestattung des Abdrucks angefragt, noch mir ein Honorar gezahlt. Gesetze gegen den Nachdruck existiren in Nordamerika nicht. Es bleibt demnach nur übrig, gegen solches buchhändlerisches Freibeuterthum, welches das Eigenthum des Schriftstellers nimmt, wo es dasselbe findet, die Instanz der öffentlichen Meinung in der Union anzurufen, was hierdurch geschehen sein soll.

Gera, im Juni 1866.
Karl Wartenburg.



Verantwortlicher Redacteur Ernst Keil in Leipzig. – Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.

  1. Wir haben im Artikel von 1863 von dem seltsamen Briefwechsel erzählt, welchen der Graf mit dem ehrwürdigen Pfarrer von Eishausen anknüpfte und den er nach dessen Tode mit der Wittwe des Pfarrers, die nach Hildburghausen gezogen war, fortsetzte. Diesem Briefwechsel verdankt man die meisten der hier mitgetheilten Selbstgeständnisse des Unbekannten.