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Die Gartenlaube (1866)/Heft 23

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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Keil
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Entstehungsdatum: 1866
Erscheinungsdatum: 1866
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[353] No. 23.
1866.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.

Wöchentlich bis 2 Bogen. Durch alle Buchhandlungen und Postämter vierteljährlich für 15 Ngr. zu beziehen.


Der Frankfurter Advent.
Historische Novelle von Bernd von Guseck.
(Fortsetzung.)


Spät kehrte endlich der Senator Hartinger heim; er trat in die Stube seiner Frau, wo schon die Lichter brannten, und Dorothea sah auf den ersten Blick, daß er blaß und niedergeschlagen war.

„Sie bringen eine unglückliche Nachricht, Vater!“ rief das Mädchen aufspringend.

Der Vater ließ sich auf einen Stuhl nieder, es schien ihm sehr schwer auf dem Herzen zu liegen.

„Ein Fallissement?“ fragte die Mutter besorgt.

„Ja! Eine Firma, auf die ich mein ganzes Vermögen gesetzt hätte, hat mir fallirt … erschrick nicht, Gertrud! Ich spreche nur bildlich. Kein Handelshaus – sondern … aber das begreifst Du nicht. Herr Custine, oder besser gesagt, der Bürger Custine hat uns eine Contribution auferlegt!“

„Weshalb denn?“ rief Dorothea mit aufblitzenden Augen. „Unter welchem Vorwande? Haben wir nicht Frieden mit Frankreich?“

„Den haben wir und haben ihn ehrlich gehalten!“ seufzte Hartinger. „Er schreibt aber, daß wir den Aristokraten, welche Frankreich verrathen, Vorschub geleistet und dadurch die Nation berechtigt haben, uns feindlich zu behandeln.“

„Das ist eine Lüge!“ warf Dorothea ein.

„Ich kann nicht glauben, daß diese falsche Beschuldigung wissentlich ausgesprochen ist,“ fuhr der Vater fort. „Er muß falsch berichtet sein! Was haben wir mit dem Kriege der französischen Nation zu schaffen? Wenn ein einziges Mitglied des Raths um die unglücklichen Emigranten, die hier versteckt gefunden worden sind, nur ein Wort gewußt hat, will ich nicht gesund vor Euch sitzen. Weiter schreibt Custine: Der König von Preußen und der römische Kaiser hätten viel Gelder in dieser Stadt, die Nation habe ihren Feinden Rache geschworen, und er fordere in ihrem Namen zur Vergütung des ihr zugefügten Schadens eine Contribution –“

„Eine Brandschatzung vielmehr!“ rief die Tochter.

„Wie viel soll es sein?“ fragte Frau Hartinger, welche durch die Nachricht doch aus der Seelenruhe aufgestört worden war, die sie auch beim Einmarsch der Franzosen bewahrt hatte.

„Zwei Millionen Gulden – binnen vierundzwanzig Stunden zu erlegen!“

Sie faltete sprachlos die Hände. „Und wären es nur zweihundert Gulden,“ rief Dorothea, „sie haben kein Recht dazu, kein anderes Recht, als das einer Räuberhorde. Was habt Ihr beschlossen?“

Der Rathsherr mußte sehr bedrückt sein, daß er sich herbeiließ, den Seinigen Mittheilungen zu machen, welche er ihnen sonst immer als für sein Amt ungeeignet vorenthielt. „Der Bürger der französischen Republik, Victor Neuwinger,“ sagte er mit Bitterkeit, „dahier commandirender General der französischen Armee, einer Armee von tausend Mann vielleicht, hat uns beauftragt, allsogleich unter Trommelschlag folgende Proclamation bekannt machen und aller Orten anheften zu lassen.“ Er zog das Schriftstück aus der Tasche und las es vor, oft durch Ausbrüche des Unwillens von seiner Tochter unterbrochen, während die Frau mit zitternd gefalteten Händen stumm zuhörte. Die Schrift besagte, daß die zur Strafe auferlegte Contribution nicht von den Bürgern und Einwohnern der freien Stadt und Republik Frankfurt am Main, noch weniger von den bürgerlichen Stadtcollegien und den nicht zu dem Hause Frauenstein und Limburg gehörigen bürgerlichen Magistratspersonen, sondern einzig und allein von den adeligen Patricierfamilien und den in der Stadt und deren Gebiet gelegenen fürstlichen oder herrschaftlichen Gütern und Besitzungen geleistet werden solle; jede andere Repartition werde er cassiren und nöthigenfalls Gewalt brauchen, um die Contribution in der ausgesprochenen Weise einzutreiben.

„Das trifft uns also auch?“ rief Frau Hartinger, die mit Anstrengung aller Seelenkräfte die Proclamation zu begreifen gestrebt hatte. „Frauenstein, nicht wahr? Nicht blos Limburg?“

In Frankfurt bestanden zwei adelige Geschlechtshäuser: zum alten Limburg und zum Frauenstein. Zu jenem gehörten die Patricier, welche, obgleich in der Bürgerschaft begriffen, dennoch fast durchgängig von uraltem Adel waren, ihre Ahnenregister hielten, nur in adelige Häuser heiratheten und, von ihren Einkünften lebend, keine Handlung trieben. Die zweite Gesellschaft, welche zum adeligen Geschlechtshause Frauenstein oder Braunfels gehörte, war nicht so streng geschlossen und die Familie Hartinger schon seit Jahrhunderten in dieselbe aufgenommen.

„Für das Wohl der Stadt, für das deutsche Vaterland dreifach so viele Millionen und nur vom Adel, mit Freuden gewiß!“ rief Dorothea. „Den Räubern keinen Kreuzer freiwillig! Was wird geschehen, Vater?“

„In der Stadt herrscht die größte Aufregung. Merkwürdig, daß gerade die gemeinen Leute, die Armen und Besitzlosen, die doch von der neuen Ordnung der Dinge in Frankreich eine Verbesserung ihrer Lage zu hoffen haben, am erbittertsten gegen die Franzosen sind, wie man uns berichtet hat. Ein Aufstand könnte [354] das schrecklichste Unglück über die Stadt bringen; der Rath hat also eine beruhigende Ansprache an die Bürgerschaft erlassen, daß von der geforderten Contribution noch nichts gegeben, sondern die Sache durch den Weg der fleißigsten und unablässigen Unterhandlungen zur glücklichen Hebung des zum Grunde liegenden Mißverständnisses geführt werden soll.“

„Und hoffen Sie Erfolg von diesen Unterhandlungen, Vater?“ fragte Dorothea.

„Ich hoffe es, mein Kind, ich selbst werde das Meinige dazu thun,“ erwiderte Hartinger, die Niedergeschlagenheit bezwingend, die ihn aus mehr als einer Ursache überfallen hatte. „Eine Deputation soll an Custine abgeschickt werden; auch ich bin dazu gewählt und nur nach Hause gekommen, um mich zu der Reise einzurichten. Der Rath ist noch beisammen.“

„Sie werden Euch in Mainz festhalten,“ sagte Frau Hartinger erschrocken.

„Das fürchte nicht. Custine ist falsch berichtet; wenn er von Männern, die er zum Theil dem Namen und der Gesinnung nach schon kennt, die Wahrheit erfährt, so wird er die übereilte Forderung gern zurücknehmen.“

„Wen soll er in Frankfurt kennen?“ rief die Tochter und sah den Vater prüfend an. „Durch wen?“

Der Vater vermied ihren Blick; er stand auf und sagte: „Wessen Horizont nicht durch die Ringmauern seines Wohnorts und alte Vorurtheile beschränkt ist, der wird auch außerhalb genannt. Willst Du mir beim Einpacken helfen, Trautche?“

„Und wenn es bei der Contribution bleibt,“ fragte Frau Gertrud besorgt, „wieviel wird auf uns kommen? Wer vertheilt das? Es wäre doch wohl gut, wenn die einheimischen Frankfurter dabei geschont würden; da sind ja genug fürstliche Paläste und Höfe, das Compostel und der Frohnhof, die dem Kurfürsten von Mainz gehören, der trierische, der cölnische, der hessen-darmstädtische Hof und was den Solms und den Schönborns gehört, die müßten Alles hergeben, denn auf die Fürsten ist es doch abgesehen, nicht auf uns Bürger. Was hast Du dabei noch zu lächeln, Dorche? Zum Lachen ist es wahrhaftig nicht, wenn wir zu Bettlern werden!“

Dorothea durfte ihren Gedanken nicht aussprechen. Ihre Mutter, welche sonst auf ihre patricische Abkunft so stolz war, rechnete sich auf einmal zu den Bürgern. „Es wird so schlimm nicht werden,“ sagte sie. „Wenn der Vater Recht hat …“

Daran zweifelte sie freilich selbst, und als der Vater, nachdem er seine Anstalten zur Abreise getroffen hatte, wieder nach dem Römer ging, wo der Rath sich gleichsam in Permanenz erklärt hatte, fragte sie ihn, ob er vielleicht wisse, wo jetzt die Preußen und Hessen ständen, „oder die Oesterreicher?“ setzte sie schnell hinzu, als sie bemerkte, daß bei der Erwähnung der Hessen ein unmuthiger Schatten über das Gesicht des Vaters flog.

„Ich weiß nichts und mag davon nichts wissen,“ erwiderte er. „Es wäre kein Wunder, wenn man mich persönlich des Einverständnisses mit dem Feinde verdächtigte, da sich der Junge in mein Haus gewagt hat.“

„Mit dem Feinde, sagen Sie?“ entgegnete Dorothea lebhaft. „Sind die deutschen Krieger unsere Feinde? Traurig genug, daß nicht schon bei dem ersten Schritt der Franzosen über die deutsche Grenze das Reich diesen den Krieg erklärt hat, daß nicht am ganzen Rhein die Sturmglocken ertönt sind. Deutschlands Feinde, unsere Feinde sind die Franzosen.“ Sie war hoch erglüht vor innerer Bewegung und ihr Auge funkelte. Die Mutter erschrak vor ihr.

„Du bist ein deutsches Mädchen,“ sagte der Vater, indem er sein Kind nun doch mit Wohlgefallen betrachtete. Es war eben der Zwiespalt in ihm, welcher sich schon beim Abschiede von seinem Neffen geäußert hatte. Die Wagschale neigte sich aber bald wieder auf die andere Seite, denn er setzte hinzu: „Hüte Dich jedoch vor dieser Exaltation, die Dich zu weit führt. Eine sicilianische Vesper kannst Du doch in Frankfurt nicht wünschen?“ Er küßte sie auf die Stirn. „Deutschlands Feinde sind die Franzosen nicht,“ fuhr er fort, „wenigstens nicht des deutschen Volks, dem sie Frieden verkündigt haben. Krieg den Palästen, Friede den Hütten! Auch den Palästen nur, so weit in ihnen volksverderbliche Elemente wohnen!“

Dorothea antwortete nichts darauf und der Vater entfernte sich. Die Mutter war in große Unruhe gerathen und kam immer wieder auf die Contribution und den wahrscheinlichen Antheil zurück, welcher bei der unerhörten Maßregel, die ganze Last den Vornehmen aufzubürden, auf ihren Mann fallen wurde. Wie beschämt hätte sie sich fühlen müssen, wenn sie gewußt hätte, daß Neuwinger’s Manifest bis zum ärmsten Handwerker hinab mit Verachtung aufgenommen worden war, daß in dem starken Gemeinsinne, welcher Frankfurts Bürgerschaft belebte, Keiner ein Vorrecht vor dem Andern haben und auch der Aermste zu der Brandschatzung sein Scherflein beitragen wollte, als eine Ehrensache!

„Was meinte denn der Vater mit der Vesper in Frankfurt, wovon er sprach?“ fragte Frau Hartinger.

„Auf der Insel Sicilien wurden einmal die Franzosen, die als Feinde dort hausten, zu einer bestimmten Stunde vom Volke angegriffen und getödtet; es war zur Vesperstunde, darum nannte man jene furchtbare Begebenheit die sicilianische Vesper.“

„Gott bewahre uns in Gnaden!“ sagte die Mutter. „Als ob wir über unsere Einquartierung herfallen wollten.“

Daran dachte wohl kein Mensch. Die Stimmung hatte sich beruhigt, man hoffte das Beste von der Deputation, welche nach Mainz abgegangen war, und vertrug sich einstweilen mit der Einquartierung ganz leidlich. General Neuwinger hatte nur gethan, was ihm befohlen war; er selbst war ein würdiger alter Krieger, dessen Gesicht im Gegensatz zu Houchard’s zerfetzten Zügen Vertrauen einflößte, auch hielt er gute Mannszucht. Die Nationalgarden forderten, näher betrachtet, eher die Lustigkeit, die im Frankfurter Blute liegt, als die Furcht heraus. Sie waren zum großen Theil noch gar nicht uniformirt, sondern trugen ihre eigenen, durch den Feldzug schon ziemlich zerlumpten Kleider, namentlich Hosen; der bereits landläufige Ausdruck der Sansculotten (Ohnehosen) paßte annähernd auf viele der ehrbaren Elsasser Spießbürger, welche jetzt in der blauen Nationaluniform mit rothen Klappen, im dreieckigen Hut mit tellergroßer dreifarbiger Kokarde und kleinem rothen Stutz, durch ihre mangelhafte Unterbekleidung dem zarten Geschlecht in Frankfurt Aergerniß oder Belustigung gaben. Sie bramarbasirten übrigens in den Wirthshäusern und auf den Straßen gewaltig, spielten, wie ein Zeitgenoß seinem Freunde schrieb, mit Königskronen und zogen auf Wache mit auf die Bajonnete gespießtem Fleisch und Brod. Die Linientruppen hatten ein ganz anderes Ansehen, durchaus soldatisch, obgleich auch in jener freien französischen Weise, welche gegen die steife deutsche Dressur abstach. Die Infanterie trug noch die weiße Uniform, welche natürlich nicht gleich durch neubeschaffte blaue ersetzt werden konnte, so daß noch 1806 unter Napoleon einzelne Regimenter in weißen Röcken erschienen. Nach den Regimentern waren die Umschläge der Röcke von verschiedener Farbe: noch waren die alten Regimenter, meist nach den Provinzen benannt, ungetrennt; erst im folgenden Jahre, 1793, wurden ihre Bataillone auseinandergerissen und je ein Linienbataillon mit zwei Nationalbataillonen zu einer „Halbbrigade“ verbunden, welche Verschmelzung Anfangs viel gegenseitigen Widerwillen fand und erst im Feuer der Schlachten vollständig gelang. Am meisten gefiel den Frankfurtern die Cavalerie, obgleich sie ihnen die Allee, ihre Hauptpromenade, zum Lagerplatz genommen hatte.

Es trug nicht wenig zu der angenehmen Stimmung, besonders der bedrohten Classen bei, daß im Laufe des Tages, noch ehe die Deputation von Mainz zurück war, der einstimmig gefaßte Beschluß des Magistrats bekannt wurde. Kein Bürger solle einen Pfennig seines Eigenthums verlieren; das Stadtärarium zahle das Blutgeld, falls es nicht erlassen werde, allein und verlange bei seiner jetzigen Armuth die Summe von den reichsten Einwohnern nur als ein verzinsliches Darlehen. „Heil dem Volke, das solche Führer hat!“ schrieb der erwähnte Zeitgenoß gerührt an seinen Freund, welchem er täglich Nachrichten versprochen hatte.




4.

Trotz der Entfernung von fünf Meilen kehrte die Deputation von Mainz zurück, ehe sie erwartet worden. Als der Ratsherr Hartinger seine Treppe hinaufstieg, sah ihm von oben das steinalte Gesicht seiner Amme entgegen und ihm fiel der Volksaberglaube ein, daß die Begegnung einer alten Frau als erste beim Ausgang oder bei der Heimkehr Unglück bedeute.

„Wie kommst Du so spät noch hierher?“ fragte er sie. Die Amme wohnte nicht bei ihm in dem schönen Hause auf der Zeil, sondern in dem andern, das er auf der Allerheiligengasse besaß.

[355] „Die Frau wollte mit mir reden – Sie wissen schon!“antwortete die Alte.

Er wußte allerdings, was sie meinte, und nahm sie mit sich in sein Zimmer. Da der Corridor von der Treppe schon sich theilte, links nach des Hausherrn, rechts nach der Frauen Bezirk, so hörten Letztere noch nichts von der Rückkehr, auf welche sie gespannt warteten, ohne sie jetzt schon zu hoffen.

„Nun?“ fragte Hartinger, als er mit der Alten in sein Zimmer getreten war und diese ihm den „Matin“ von der Schulter nahm.

„Sie wollte wissen, was Sie gegen die Heirath hätten, die sie sich in den Kopf gesetzt hat.“

„Und was hast Du ihr gesagt?“ fragte Hartinger unmuthig.

„Daß Sie Ihre Tochter doch nicht zwingen würden und daß Mamsell Dorche sich nichts aus ihm mache.“

„Weißt Du das?“ rief der Vater hoch erfreut.

„Sie mag gern mit ihm plaudern und lachen, aber weiter nichts –“

„Er aber!“ sagte der Vater.

Die alte Frau zuckte die Achseln. „Vaters Blut! Was er nicht soll!“ murmelte sie.

Hartinger schwieg eine Weile. „Es ist mir nur lieb, daß es so steht! Wenn Du Deiner Sache gewiß bist nämlich … Weißt Du,“ fuhr er plötzlich auf, „daß er seiner Mutter schrecklich ähnlich sehen kann? Ich hab’s neulich zum ersten Male bemerkt, als er – heftig wurde. Da sah er aus, als sei er ihr aus den Augen geschnitten, und ich mußte mir gleich ihr Bild ansehen!“

„Das hätten Sie schon längst in’s Feuer werfen sollen!“ murrte die Alte.

„Ist Doris bei meiner Frau? Sie war doch nicht dabei, als Du Rede stehen solltest?“

„Sie kam und ich ging. Aber drüben warten sie mit Schmerzen!“ Der Rathsherr entließ die alte Frau, welche sich auf den Heimweg machte, während er zu den Seinigen hinüberging. Ueber den eigenen Angelegenheiten hatte er momentan die öffentlichen vergessen, deren Rückwirkung auf jene sich noch gar nicht übersehen ließ.

„Schon zurück?“ sagte Frau Hartinger verwundert, und Dorothea glaubte in seinem Gesicht Gutes zu lesen.

„Wir sind unfreundlich empfangen und kurz abgefertigt worden,“ berichtete er jedoch. „Eine halbe Million hat er der Stadt erlassen, mehr war von ihm nicht zu erlangen, und ohne mich zu rühmen, kann ich sagen, daß Frankfurt mir diesen Erlaß hauptsächlich zu danken hat. Ich aber bin dafür wieder einem Freunde verpflichtet, der Custine’s Vertrauen besitzt und gewiß bei dessen Unkenntniß deutscher Verhältnisse vom besten Einfluß sein wird.“

„Stamm, nicht wahr?“ entgegnete Dorothea statt der sich noch verwundernden Mutter. „Heißt er Daniel Stamm?“

„Ja wohl. Kennst Du seinen Vornamen schon?“ fragte der Vater, angenehm berührt, indem er an die Behauptung der Amme über das Herz seines Kindes dachte und gleich Hoffnungen für seinen Lieblingsplan daran knüpfte.

„Ganz Frankfurt kennt diesen Vornamen und wird ihn so leicht nicht wieder vergessen!“ erwiderte Dorothea. „Er prangt als Bürge für den richtigen Wortlaut unter Custine’s neuestem Manifest!“

Hartinger kannte dies noch nicht; es war, während die Rathsdeputation in Mainz unterhandelte, zu Frankfurt öffentlich angeschlagen worden. Custine mißbilligte darin die allgemeine Beisteuer der von ihm verhängten Contribution, durch welche er nur die Begünstiger von Verräthern an den unverjährbaren Rechten der Völker habe strafen wollen, er beschuldigte den Magistrat der Ungerechtigkeit und Erpressung und wiederholte den Befehl, der in Neuwinger’s Proclamation ausgesprochen war. Als Dorothea den Kern des Manifestes ihrem Vater mitgetheilt hatte, sah ihn die Gattin trostlos an: „Es bleibt also dabei!“ stöhnte sie. „Denn eine halbe Million, Was will das sagen!“

Hartinger schien aber guten Muthes. „Kinder, lernt abwarten!“ sagte er. „Mit der Zeit wird sich Alles finden. Deine Sorgen, Trautche, werden zerstreut werden und Du, mein deutsches Mädchen, wirst besser über Manches denken lernen. Stamm’s Name unter dem Manifest verbürgt nur die Uebereinstimmung mit dem Original, nicht Stamm’s Uebereinstimmung mit dem Inhalt. Stamm ist ein Deutscher.“

„Ein Straßburger!“ versetzte Dorothea. „Straßburg gehört zu Frankreich. In hundert Jahren kann sich das Nationalgefühl wohl verlieren. Ich schelte Stamm nicht, aber Schande über die Abtrünnigen von heute!“

Der Vater wurde roth, und er wußte doch, daß seine Tochter ihn nicht dazu rechnete, sonst würde sie das nicht gegen ihn ausgesprochen haben. „Ja, in Mainz hört man Trauriges,“ sagte er. „Es ist schon die Rede davon, daß sie ganz französisch werden wollen, in Speier und Worms sollen schon statt der Bürgermeister Maires eingesetzt sein. Wir müssen darum jeden Schein einer feindseligen Gesinnung meiden und Alles wird gut werden. Eine zweite Deputation soll an Custine abgehen, ich habe die Ehre, dabei zu sein, abgelehnt, da ich mit Sicherheit weiß, daß sie leeres Stroh dreschen wird. Wegen unsers Antheils kannst Du ganz ruhig sein, Gertrud. Warte nur Alles ruhig ab.“

Ganz Frankfurt blieb nichts Anderes übrig, als abzuwarten. Eine Million war in der vom Rath beschlossenen Weise bei dem Reichthum der ersten Häuser leicht zusammenzubringen und mußte abgeliefert werden. Die halbe Million wurde aber nur unter der Bedingung erlassen, daß der Rath dem französischen Feldherrn das schwere Geschütz nebst Munition, welches in den Zeughäusern von Frankfurt vorhanden war, zur bessern Vertheidigung von Mainz ausliefere! Das Schreiben an die „Räthe des Volkes“ hielt diesen zugleich ein verstärktes Sündenregister gegen die französische Nation vor. Zu der ersten Anschuldigung kam noch die, falsche Assignate verfertigt und in Umlauf gesetzt, sowie den Druck einer verleumderischen Zeitung, welche den Geist der Deutschen gegen die französische Constitution aufgebracht, genehmigt zu haben. An einen bloßen Durchmarsch konnte kein Frankfurter mehr glauben; Houchard rückte zwar mit seiner Colonne in der Nacht zum 26. October aus, um weiter zu brandschatzen, aber General Neuwinger hatte sich für längeres Bleiben im „rothen Hause“ auf der Zeil einquartiert. Jene Brandschatzung begleitete, wie eine teuflische Ironie, ein überall verstreuter Aufruf „an die gedrückte Menschheit in Deutschland“! Wahrlich, die ohnmächtigen Regierungen auf dem rechten Rheinufer konnten sich, wie einer unserer ersten und freisinnigsten Geschichtsschreiber sagt, „bei Custine bedanken, daß er es übernahm, das Volk von revolutionären Anwandlungen zu heilen. Der Eindruck der Räuberei in Frankfurt war zu allgemein, als daß die pomphaften Proclamationen von Verbrüderung und Freiheit, von Abschüttelung der Despotie und Rückgabe der unveräußerlichen Menschenrechte sonderlich hätten verfangen können.“

Auch in Frankfurt predigten die Nationalgardisten auf offener Straße Freiheit und Menschenrechte. Nach den Proben, welche die Frankfurter schon von der französischen Großmuth gesehen, war es aber schwierig, sie zu bekehren. Mitten in einer solchen Predigt, welche ein zerlumpter Bürgersoldat aus Dachstein im elsasser Deutsch auf dem Platze Liebfrauenberg hielt, wo das adelige Haus Frauenstein, das Absteigequartier der Kaiser, stand, wirbelte auf einmal der Generalmarsch von der Hauptwache am Heumarkt durch alle Straßen. Der Dachsteiner brach in seinem Sermon, dem nur fremde Bauern und an der Ecke der Judengasse einige zusammengedrängte Hebräer gelauscht hatten, bei dem wohlbekannten Signal ab. „Das sind die Hessen, die Kaiserlichen!“ schrie das Volk, welches immer glaubt, was es wünscht.

„Es iesch der Feind, ‘s wird lätsch geh’!“ murrte der fortreitende Elsasser. „Aux armes!“

Es war der Feind, aber nur der Feind Frankfurts und der deutschen Rheinlande. Während die Franzosen mit Sack und Pack nach dem Alarmplatze auf dem Roßmarkt eilten, die Bataillone sich formirten und die Cavalerie auf der Allee schleunig sattelte, hielt General Custine mit frischen Truppen durch das Bockenheimer Thor seinen Einzug. Der Heumarkt hatte sich mit Menschen gefüllt, welche den Eroberer der Rheinstädte sehen wollten, den neuen Josua, vor welchem die Mauern eines zweiten Jericho gleichsam zusammengestürzt waren. Unangenehm war seine Erscheinung nicht, obgleich ein wildgewachsener Schnurrbart den ehrbaren Bürgern, welche nur an Husaren und Grenadieren, nicht aber an anderen Soldaten, am wenigsten an Officieren, einen Schnurrbart gewöhnt waren, sehr auffiel. Custine saß gut zu Pferde, er hatte den Hut mit den dreifarbigen Federn tief in die Stirn gedrückt und seine lebhaften Augen blitzten mit dem Ausdrucke der Schlauheit nach allen Seiten. Vor der Hauptwache war der Platz von Menschen frei gehalten; hier parirte Custine sein Pferd, sprach ein paar Worte zu einem Mann im rothen, bürgerlichen Rocke, der in seinem Gefolge [356] von zehn bis zwölf Officieren ritt, und wandte sich dann an das Volk, um die übermüthige Frage zu thun, welche ihm zu Mainz ein lebhaftes Hoch eingebracht hatte: „Habt Ihr den Kaiser Franz gesehen?“

Franz der Zweite war im vergangenen Sommer, am 14. Juli, dem Jahrestage des Bastillesturmes in Paris, zum römischen Kaiser in Frankfurt gekrönt worden, und einige Stimmen aus dem Volke antworteten auf die wunderliche Frage des französischen Generals natürlich: „Ja!“

„Nun, Ihr werdet keinen römischen Kaiser mehr hier sehen!“ rief Custine stolz und, ohne es zu ahnen, prophetisch, denn Franz der Zweite war der letzte deutsche Kaiser. Aber kein Vivat, kein Jubel antwortete ihm, wie in Mainz – die Frankfurter blieben stumm, Viele zuckten die Achseln und kehrten sich ab. Wenn Mirabeau’s bekanntes Wort in der Nationalversammlung: „Das Schweigen der Völker ist die Belehrung der Könige!“ eine Wahrheit enthält, so konnte General Custine, als er durch das schweigende Volk ritt, gründlich belehrt werden, daß hier die Saat auf harten Boden gefallen sei. Es stimmte ihn nicht günstiger für Frankfurt. Er führte nun seine Regimenter, zwei Linien- und zwei Nationalgardenregimenter, in die Stadt, deren neue Garnison sie bilden sollten, während die bisherige zu weitern Razzias, wie man heute sagen würde, in das Hessische, namentlich zur Wegnahme der einträglichen Nauheimer Saline, bestimmt war. Der Obergeneral ritt dann nach dem Römer, wo sich unterdessen der Rath versammelt hatte. Hier fand er zu seinem Erstaunen eine ganz andere Haltung, als er bis jetzt gewohnt war: seiner Willkür preisgegeben, behauptete der Magistrat den Muth und die Festigkeit, ihn durch wiederholte Vorstellungen um Rücknahme der Contribution zu bitten und seine letzte Forderung, das Geschütz betreffend, abzulehnen. Daß es sich mit der Pflicht der freien Stadt gegen Kaiser und Reich nicht vertrug, ihre Vierundzwanzigpfünder den Franzosen zur Vertheidigung der eroberten Reichsfestung Mainz zu leihen, mußte Custine, wenn er es auch nicht zugab, selbst einsehen; um so mehr erbitterte ihn der Widerstand. Er kündigte dem Rathe an, daß er sein Hauptquartier nach Frankfurt verlegt habe und seinen Befehlen in jeder Hinsicht Nachdruck geben werde. Als er ziemlich brüsk den Römer verlassen hatte, um, im rothen Hause, wo General Neuwinger gewohnt, sein Quartier zu nehmen, blieb der Rath noch zusammen und beschloß, eine Deputation nach Paris an den französischen Nationalconvent zu senden, um dort die Gerechtigkeit zu erlangen, welche der General der Republik versagte.

In der Stadt herrschte Bestürzung unter den Wohlhabenden, eine dumpfe Gährung in den ärmeren Classen. Mit steigender Angst warteten die Familien der Rathsherren auf deren Heimkehr, und jedes Trommel- oder Hornsignal, mit denen die Franzosen bis auf diesen Tag für die kleinste Dienstverrichtung lärmen, erregte Besorgniß vor Gewaltmaßregeln. Es war bekannt geworden, daß der Rath dem „Custinus“ die schweren Geschütze rund abgeschlagen, und hatte den freudigsten Beifall in allen Schichten der Bevölkerung gefunden, die Frage war nur, wie man die drei Zeughäuser vertheidigen solle. „Man muß nicht abwarten, bis man geprügelt wird, Meister!“ sagte der Hanauer Geselle, als dieser Zweifel in der Werkstatt geäußert wurde. „Wer zuerst ausschlägt, hat einen voraus.“

„Zum Feierabend geht Ihr mir heute nicht aus, hörst Du, Sperber? Du gar nicht!“ befahl der Meister.

Sperber ließ es aber doch darauf ankommen, und wie er vor die Hausthür trat, sah er aus dem Nachbarhause, das dem reichen Hartinger von der Zeil gehörte, die alte Frau kommen, welche hier die Schlüssel führte. Er hatte sie schon kennen gelernt und grüßte sie. „So spät noch? Einen französischen Liebsten suchen?“ neckte er sie.

„Will Er mir einen Gefallen thun?“ entgegnete sie. „Ich muß zu meiner Herrschaft – es hat ein Unglück gegeben, sie wissen’s noch nicht, mein Herr hat eben zu mir geschickt aus dem rothen Hause, ich soll’s ihnen glimpflich beibringen. Will Er mir einen Brief auf der Post bestellen, den ich geschrieben habe?“

(Fortsetzung folgt.)




Aus dem Schweizer Reiseleben.
Von H. A. Berlepsch.


Will man eine Vollblut-Caricatur aus der heiteren Zone des sommerlichen Touristenlebens zeichnen, so ist es fast zur stehenden Norm geworden, sein Müthchen an den blonden Söhnen Albions zu kühlen und eben jede auffallende Erscheinung dieser Art rundweg mit der Vermuthung zu erledigen: „Es wird wohl ein verrückter Engländer sein.“ Es hat seine Richtigkeit: in der großen Menge der Reisesüchtlinge, mit welcher die britische Insel unser europäisches Festland überfluthet, kommen höchst barocke Exemplare zum Vorschein, die sowohl durch die abweichende Art sich zu kleiden, als durch ihr dem deutschen Schollenbewohner ungewohntes Benehmen und die lässige Ungenirtheit, mit welcher sie ihre Ansichten, Bedürfnisse und Bequemlichkeitsansprüche in den Vordergrund schieben, ohne Rücksicht aus die sie umgebende Mitreisewelt zu nehmen, den Eindruck von Sonderlingen, Spleenköpfen oder Gesellschaftsflegeln machen. Aber noch lange nicht der vierte Theil sind Narren in dem Grade, wie man auf den ersten Blick glaubt, und auch andere Nationen schicken ihr Contingent origineller Käuze auf die Reise.

In England reist alle Welt, reist, wer Geld hat. Daß da, wo so viele auf den verschiedensten Stufen gesellschaftlicher und geistiger Bildung stehende Menschen durcheinander wimmeln, auch allerlei halb oder ganz im Gährungsprocesse der Speculation als Hefe zu Boden gesunkene oder als Gasblasen obenauf schwimmende Persönlichkeiten mit unterlaufen, ist natürlich. Diese sind es zumeist, die den Reise-Kladderadatsch illustriren. Dann aber auch ist ein guter Theil specifisch englischer Engländer, die es eben nicht für nöthig erachten, den Leuten unterwegs eine Convenienz-Komödie vorzuspielen und sich anders zu geben, als sie eben sind. Sie bringen ihre seit Jahren ihnen zur Natur gewordenen Gebräuche, Anschauungen und Ausdrucksformen mit herüber, und weil uns diese eben gerade abnorm vorkommen, so lachen wir darüber.

Auch in Deutschland fängt das Reisen an, Luxusartikel zu werden, und man sieht jetzt schon nicht minder ergötzliche Figuren in der Summe deutscher Wandervögel auftauchen, die dem beobachtenden Engländer jedenfalls ebenso komisch vorkommen mögen wie uns die transcanalischen Originale. Wenn bei dem Aufschwung, den Handel und Gewerbe erfreulicher Weise in allen Gauen Deutschlands nehmen, erst das Bedürfniß des Fremdeländersehens so in Saft und Blut des Deutschen übergegangen sein wird, wie beim weltmarktbedienenden Engländer, und wenn Jeder erst gelernt haben wird, den Ueberschuß seines Gefälligkeits-Dranges, seiner schüchternen Rücksichtsnehmerei und seines millionenumschlingenden, alle persönlichen Geheimnisse freiwillig offenbarenden Vertrauens abzustoßen, dann wird uns der praktisch reisende Ausländer in seiner Nüchternheit und in seinem unverkennbaren „Ich reise für mich und nicht für Andere“ – auch weniger auffallen.

Von solch’ einem urwüchsigen, personificirte „Ich bin Ich“ möge hier eine Wander-Erinnerung Platz finden, die diesmal aber in keinem „verrückten Engländer“, sondern in der Hülle eines vornehmen Russen sich geltend machte.

Die verstorbene Kaiserin von Rußland bereiste vor mehreren Jahren die Schweiz. Ihr leidender Zustand bedingte die größte Aufmerksamkeit und Rücksichtsnahme auf eine Menge kleiner Zufälle und Umstände. Schon Wochen lang war für sie und ihr aus etwa siebenzig Personen bestehendes Gefolge Wohnung in einigen der vornehmsten Hotels der Schweiz angesagt, in einem für längeren Aufenthalt, in anderen lediglich für die Durchreise. In einem derselben, in welchem sie zuerst in der Schweiz zu übernachten gedachte und dessen bedeutende Räumlichkeiten ausschließlich für diese kaiserliche Gesellschaft in Anspruch genommen waren, wurde mehrmals durch telegraphische Depesche die Ankunft der hohen Dame verschoben. Als sie dann wirklich das Hotel passirte, blieb sie jedoch nicht über Nacht in demselben, sondern nur wenige Stunden, mußte aber für ein Frühstück oder dergleichen eine scheinbar über alle Maßen kolossale Rechnung bezahlen. Wer mit den näheren Umständen genau vertraut war und die durch die wiederholte Verzögerung für mehrere Tage völlig brach gelegte Frequenz des sonst sehr belebten Gasthofes in der hohen Reisesaison in Betracht [357] zog, fand die in Form einer Rechnung erhobene Entschädigung nicht zu übermäßig. Aber bei der Reisewelt Rußlands, die sonst nicht gewöhnt ist zu geizen, hatte die dürre, nackte Zahl gewaltig Staub aufgeworfen und die Meinung in Curs gebracht: wer in der Schweiz reise, werde so lange gepreßt, als er noch einen Imperial in der Tasche habe. So wenigstens hatten es mir später der alte russische Herr, von dem sogleich näher die Rede sein soll, und sein jüngerer Begleiter mitgetheilt.

Es war Abend. Ich stieg in den erleuchteten Omnibus des Hotel N. N. auf dem Wege zu einer Berner Oberländer Tour, als ich gedachte beide Russen bereits im Wagen der Abfahrt harrend fand. Mein Alpenstock machte die Neugierde des jüngeren rege, und unter leichter Begrüßung fragte er, wozu eine solche Stange diene.

„Es ist ein Bergstock,“ erwiderte ich ihm, „wie sich derselben Alpenreisende, Gemsjäger etc. bedienen.“

„Ah! vous-êtes chasseur aux chamois?“ fragte er leuchtenden Auges.

„Dies nicht!“ entgegnete ich lächelnd, „ich gehe nur in’s Gebirge, eine Tour zu machen.“

„Ist das gefährlich?“

„Das läßt sich nicht so allgemein beantworten. Es giebt Thäler und Berge, großartige Felsenpartien und Gletscher, die jährlich von Tausenden und Tausenden besucht, erstiegen, überschritten werden, die Damen, Kinder begehen können, ohne die mindeste Furcht vor irgend welcher Gefahr hegen zu müssen, und es giebt deren wiederum, wo Schritt und Tritt fest, das Auge schwindelfrei, der Körper ausdauernd sein müssen.“

„Glauben Sie, daß ich eine Bergtour werde machen können?“

„Ich kenne Ihre Kräfte nicht, mein Herr, weiß nicht, ob Sie Fußgänger sind, deshalb kann ich Ihre Frage in dieser Allgemeinheit wieder nicht beantworten!“

„O ja, ich bin schon zu Fuß marschirt,“ erwiderte er mit einigem Selbstgefühl, und nannte mir irgend eine kurze, zwei- oder dreistündige, ebene Strecke in der Nähe von Petersburg, knüpfte aber sofort die Frage daran, ob er sich mir anschließen dürfe.

Bedingungsweise ging ich vorläufig auf seinen Wunsch ein. Der Wagen hielt, wir stiegen aus und verabredeten Rendez-vous beim Nachtessen. Ich war am Umkleiden auf meinem Zimmer, als ich einen Heidenlärm auf dem Corridor der gleichen Etage hörte und bald aus den verschiedenen Stimmen die des jungen Russen heraus erkannte. Der Kellner, welcher die beiden Herren (die ohne Bedienung reisten, um nach ihrer vorgefaßten Meinung nicht auch bis auf den letzten Franken ausgeplündert zu werden) auf’s Zimmer führen sollte, hatte sich, wie es scheint, eines ungewählten Ausdruckes bedient, als die Zimmer den beiden Russen nicht elegant, nicht comfortabel genug eingerichtet erschienen. Genug, als ich hinzukam und der Wirth und andere Leute herbeieilten, fand ich den alten General, wie er den leichenblassen Kellner an der Cravatte mit fester Faust gepackt hatte, wie einen Schelmen schüttelte und in einem gräßlichen Französisch zornglühend andonnerte, ob er sich erdreiste, ihn zu taxiren, wie viel er für einige Zimmer zahlen könne.

Der gewandte Wirth ebnete sofort durch sein äußerst höfliches Entgegenkommen die Differenz, indem er fragte, wie lange die Herrschaften zu bleiben gedächten. Als man ihm antwortete: „Bis zum nächsten Mittag,“ offerirte er sofort eine Reihe von Zimmern, welche für den nächsten Abend für einen Gesandten bestellt waren. Die Salons gefielen, der Sturm war besänftigt und der Hotelier wußte, mit wem er es zu thun hatte. Der Speisesaal zu ebener Erde war bereits leer, als ich hinabkam. Drei Couverts waren für uns in Bereitschaft. Ich hatte mir ein Gläschen Kirschwasser geben lassen; es stand noch unangerührt da, als die beiden Russen eintraten.

„Was trinken Sie da?“ fragte der ältere Herr, und ohne die Antwort abzuwarten oder mich darum zu begrüßen, nahm er mein Glas, probirte, d. h. warf dessen Inhalt mit einem Schluck hinab und fand ihn so vorzüglich, daß er sofort – eine Flasche von diesem starken Destillat bestellte. Der Kellner stutzte, ein Wink des Wirthes, und der Befehl wurde vollzogen.

Wir nahmen Platz. Der General präsidirte. Der jüngere Russe und ich saßen einander gegenüber.

„Weinkarte!“ Prüfenden Blickes überflog unser Tischpräsident dieselbe, nahm einen Bleistift und strich etwa so, wie man in einem Auctionskataloge die Titel der Bücher, auf die man zu bieten gedenkt, markirt, acht oder zehn Sorten an. „Ah, bière de Munic!“ Ebenfalls ein Strich.

Eine Flaschen-Colonne, die alle Aussicht versperrt haben würde, sollte aufgestellt werden. Der feine, industriöse Wirth hatte dies vorausgesehen und ließ ein Büffet-Tischchen zur Seite der alten „Excellenz“ etabliren, so daß Küche und Keller getrennt waren. Man servirte die Suppe. Suchenden, mißvergnügten Blickes sah sich der alte Herr um, der Wirth flog herbei. Er (der General) fand es höchst lästig, ein Souper einnehmen zu sollen in der Reihenfolge, wie es dem Koch beliebe; warum nicht ein Menu aufliege? man solle Alles, was man für uns in Bereitschaft habe, auf die Tafel stellen, er werde sich dann schon auswählen, was ihm behage. Auf mich, den er kaum durch die zufällige Begegnung, weder dem Stande, noch dem Namen nach, kannte, nahm er keine Rücksicht und behandelte mich so, als ob ich sein Gast sei und mit seinen Anordnungen vorliebzunehmen mich bequemen müsse. Das kategorische Auftreten des alten Kauzes machte mir Spaß, und in Voraussicht, daß es farbige Momente geben werde, trat ich auf den angeschlagenen Ton ein.

Jetzt schleppten alle disponiblen Kellner Fisch, Braten, Saucen, Entremets, Puddings, Compots, süße Platten, Salate, kurzum, was das Haus vermochte, herbei, so daß die breite Tafel, kaum Raum genug bot. Ein eleganter Speisezettel (menu) rapportirte über die aufgestellten Gänge. Nun aber ging es an ein Durcheinanderkauen der ungebundensten Art. Das, was wir einen „russischen Salat“ zu nennen pflegen, die Mischung kleingeschnittener, marinirter Fisch- und gebratener Fleischspeisen mit pikanten, sauer eingemachten Früchten, ist eine geordnete Verbindung verwandter Stoffe gegenüber dem, was unser Präsidirender aus seinem Teller zu vereinigen wußte. Zwischendurch schenkte er sich ein halbes Weinglas voll Kirschwasser ein, trank’s und löschte die brennende Wirkung des Aquavits mit – Bier ab. Dabei wurde er redselig, erzählte mir, höchst eifrig kauend, in russischer Sprache (von der ich kein Wort verstand, die mir jedoch mein vis-à-vis stets heiterern Humors lachend übersetzte) Dinge in ähnlicher Reihenfolge, wie er seine Mahlzeit einnahm.

Der alte Herr hatte als Oberst im Kaukasus commandirt, war sein Lebenlang kaum vom Pferd gekommen, kannte das Gebirge und die Strapazen in demselben aus langjährigen Erfahrungen und machte zum ersten Mal einen Ausflug in’s „Innere Europas“. Daher sein imperativer Ton, seine kosakisch-directe Handhabung der Cravatten-Justiz. Er probirte die Weine bunt durcheinander, wechselte die Gläser häufig und hatte von General Dufour und Wilhelm Tell gehört. Seiner dunklen Erinnerung nach mußte letzterer in der Eigenschaft als schweizerischer Commandeur bereits seinen Abschied genommen haben, als General Dufour das Commando übernahm. Auch die Schlacht im „jardin des Sarrasins“ oder „Mohren-Garten“ (er meinte den Kampf am Morgarten 1315 zwischen Herzog Leopold von Oesterreich und den Hirten der Waldstätte) war ihm nicht fremd, nur meinte er, es habe sich damals um ein Gefecht zwischen Mohren oder Beduinen und Schweizern gehandelt.

Die Quiproquos und der Humor des lebhaft bechernden alten Herrn wuchsen von Glas zu Glas; in uns fand er den freudigsten Widerhall seiner Stimmung, kurzum der Abend wurde prächtig. Aber die Kellner waren dem General nicht flink genug, oder vielmehr, da sie sein Russisch nicht verstanden, sahen sie ihm nicht an den Augen ab, was momentan sein Wunsch war. Er verlangte nach dem Wirthe.

„Ich weiß nicht, wie Ihre Leute heißen, Iwan oder Henri oder Feodor; deshalb bestellen Sie mir ein Paar Diener, die heute Abend ausschließlich für meine Bedürfnisse bestimmt sind, stellen Sie dieselben hinter meinen Stuhl und den Lohn dafür auf meine Rechnung.“

Zwei junge Kellner im schwarzen Frack mit der Serviette überm Arm mußten wie Ordonnanzen Posto fassen. Jetzt kam Appetit nach Champagner. Die Eiskessel wurden herbeigebracht, auch Gläser en grisaille (die mattgrauen weiten Schalengläser, deren man jetzt sich zum Champagner bedient). Die Fenster waren geöffnet.

Ein spöttischer Zug überflog das weinheitere Gesicht des Graukopfes. „Aus solchen Gläsern? Die sind gut für Handwerksburschen, wenn ihrer sechs die letzten Kopeken in den Taschen zusammensuchen, um eine Flasche bezahlen zu können. Ein Jeder [358] bildet sich ein, er habe etwas im Glase, und hat nichts. Ich habe heute auf einer Station Bier getrunken,“ sagte der General, die drei Champagnergläser, Stück für Stück ruhig zum Fenster hinauswerfend, „vortreffliches Bier, da hatte man schöne Gläser für Champagner (er meinte Bierschoppen ohne Henkel); giebt es solche hier nicht?“

Sofort holte man aus der Gesindestube einige solche Schoppengläser herüber. Hoch erfreut klatschte der alte Herr in die Hände.

„Wer von Euch versteht einzuschenken?“ fragte er die Ordonnanz-Kellner.

Die beiden jungen Bürschchen stotterten feuerroth Einiges.

„Ah, ich sehe schon, Ihr versteht’s nicht! Kann Niemand einschenken?“

Der vor einer Stunde oben auf dem Corridor geschüttelte Zimmerkellner, der, weiß der Himmel woher, einige Dutzend Brocken Russisch papageien konnte, war im Saal, faßte sich ein Herz und stellte sich, russisch antwortend.

Aufgerissenen Blickes maß ihn der alte Haudegen vom Scheitel bis zur Zehe. Der Groll wurmte noch. Endlich griff er, mechanisch tastend, nach dem Schoppenglase und hielt unter. Der Kork wurde ohne den mindesten Effect entfernt, das Glas fast ohne allen Schaum gefüllt. In einem langen, herzerquickenden, wahrhaft beneidenswerthen Zuge trank der Kaukasus-Ueberwinder fast bis zur Hälfte, daß ihm die Schärfe des Gases Wasser in die Augen trieb. Das war zu seiner Zufriedenheit gewesen. Er zog die Börse und gab dem servirenden, geschopfbeutelten Kellner einen halben Napoleon.

Jetzt hatte der Magen genug; eine ungeheuere Ladung. Mit verbindlicher Freundlichkeit fragte unser Präsidirender, ob wir noch zu essen gedächten, und auf unsere Verneinung schob er Alles, was ihm zunächst stand, zurück, so daß die Sardellensauce über den Kuchen hinabfloß, die offene Flasche Kirschwasser den Rest ihres Inhaltes auf die Kapaunen-Platte ausgluckte und die Biscuits den Salat garnirten. Entsetzt ob dieses Vandalismus sprangen die Kellner herzu, auch die beiden Servietten-Trabanten hinterm Stuhl. Dieser sorgsame Eifer erregte bei unserem Original eine so erschütternde Lachlust, daß ihm der Bauch hüpfte.

„O diese Thoren! Sehen Sie, was sie springen, um einem paar armseligen Gläsern oder Platten die Existenz zu retten. Auf meinem Gute würde kein Diener sich von der Stelle rühren, und wenn ich den Inhalt der ganzen Tafel hinabwürfe. Der Diener hat nie etwas von sich aus zu thun, sondern zu warten, bis der Herr befiehlt.“

Ich übergehe es, den Rest des an drolligen Scenen überreichen Abends vollends zu schildern, und lasse uns Alle ausschlafen. Ich hatte mein Frühstück eingenommen, einen großen Spaziergang gemacht und die Sonne fing an schon mittägigen Charakter zu entwickeln, als bei meiner Rückkehr mir der Kellner meldete, die Herren seien erwacht und hätten nach mir gefragt. Endlich nach langer Umstandskrämerei und beseitigtem Thee oder Kaffee waren wir soweit, einen Wagen besteigen und im Orte herumfahren zu können, um in einigen Magazinen derbe Schuhe, eine Blouse, Feldflasche, Bergstock und andere Touristen-Utensilien für meinen jüngeren, mir octroyirten Reisegenossen einzukaufen. Ich erwähne dieses Umstandes nur, um schließlich einer wiederholt zum Ausdruck gebrachten Marotte des alten Degens noch zu erwähnen. Bei unserem Umherfahren schauten uns die jähabfallenden Gipfel der Hochalpen und ihrer Vorberge fortwährend in den Wagen. Das veranlaßte den General zu der immer wiederkehrenden Frage: „Da hinauf wolle der junge Strandläufer? (so nannte er seinen Reisegefährten, einen vortrefflichen, gebildeten jungen Mann von Geist und Herz, der unsere Dichter in deutscher Sprache gelesen hatte und mit dem ich dann sechs genußvolle Wandertage verlebte) – Da hinauf? Auf diese Schneefelder, in diese Schluchten, in diese Einöden? Er kenne das Gebirge, er habe x Jahre im Kaukasus commandirt und wisse, was dazu gehöre. Das sei von einem solchen Stubenhocker Uebermuth, Unsinn, der bestraft werden müsse; er bitte mich dringend den verwegenen Menschen nicht zu schonen, ihn zu strapaziren, wenn er auch einen Arm oder ein Bein breche, das schade nichts; nur das Leben dürfe es nicht kosten (setzte er ganz ernst hinzu), so, so – müsse er zurückkommen, daß die Zehen zu den Schuhen heraussähen und die Fetzen von den Kleidern hingen,“ und dabei begleitete der dicke Mann seine Worte mit den lebhaftesten Geberden, „aber, wie gesagt, das Leben dürfe es nicht kosten.“ Eben so lachend und jubelnd wie am Abend vorher übersetzte mir der junge Reisefreund die Wünsche seines Begleiters.

Und als ich nach sechs Tagen mit ihm zurückkam, sein vornehm-blasses Milch-Gesichtchen eine prächtige braune, männliche Färbung angenommen hatte und die Augen noch Eins so frisch und lebhaft glänzten, während die abgestoßenen Schuhsohlen zur Genüge bekundeten, daß wir nicht jederzeit über weiche Alpenmatten gewandert waren, da schüttelte der „Commandeur aus dem Kaukasus“ den Kopf; es war ihm gar nicht recht, daß der Chirurg nicht einige Knöchelchen zu flicken hatte. Die Rechnung von einigen Hundert Franken für ein Abendessen und für einige Zimmer über Nacht erschien dem Alten so spottbillig, daß er noch vierzig Franken über die Summe für die Dienerschaft hinzulegte. –

Und weshalb wurde diese Anekdote so breit und umständlich erzählt? wird mancher Leser der Gartenlaube fragen. Um an einem drastischen Beispiele zu zeigen, daß in gar vielen Fällen die Herren Gastwirthe von Haus aus nicht so sorglose Plusmacher sein dürften, wenn sie nicht von den Reisenden selbst dazu verwöhnt würden. Unser Russe war protzig, fühlte sich Herr und zwar auch Herr einer strotzenden Reisecasse und konnte somit seine übermäßigen Ansprüche mit Gold aufwiegen. Aber wie Viele reisen, die ebenfalls ganz absonderliche Lieblingsgewohnheiten von Hause mitbringen, außerordentliche Ansprüche wie Excellenzen stellen, dann auch wie russische Nabobs behandelt werden (versteht sich auch in Ansehung der Nota), aber – über keinen Goldregen gebieten können! Dann – –?

Die Antwort gelegentlich in einer anderen Reise-Anekdote[WS 1], wenn der Gartenlauben-Gärtner es nämlich wünscht.




Aerztliche Winke für Jungfrauen und junge Frauen.
3. Ueber die Schönheit und Pflege der einzelnen Theile des weiblichen Körpers.


Ich sah im Traum die Wesen groß und klein,
Die, Schönste, Dich zu schmücken sich verbanden;
Sah ihn, der Dir zur Stirn sein Elfenbein
Zu bieten sich erlaubt, den Elephanten,
Den Wurm, von dess’ Gespinnst die Wimper stammt,
Die seid’ne, an dem Augenlid von Sammt,
Den Raben, der sein Schwarz den Lockenschlangen
Verlieh, das Veilchen, dess’ bescheid’ne Pracht
Dir aus des Auges süßem Sterne lacht,
Die Rosen, deren Abglanz Deine Wangen.
Im Meere sah ich sie, von der zur Lippe
Das holde Roth kam, die Korallenklippe,
Die Muscheln, d’raus die zarten Perlen rühren,
Die, feingereiht, Dein Kirschenmündchen zieren.
Den Weiher sah ich, der den Schwan gehegt,
Nach dessen Hals gebildet ward der Deine,
Den Marmorbruch, aus dessen Prachtgesteine
Die Büste kam, die stolz Dein Köpfchen trägt.
Und dankbar grüßt’ ich Alles freudig schnell,
Was seine Steuer gab zu Deinen Reizen.
Da trat vor mich ein rußiger Gesell;
Mit meinem Danke mahnt er mich zu geizen,
Da ja mein Blick die Stätte nicht geseh’n,
Die mit dem Schönsten Deiner Schönheit diene.
Ich schaute aus – und sah die Schmiede steh’n,
Wo man die Reifen schlug zu Deiner Crinoline.


„Ein runder Arm, ein schönes Auge, ein netter Fuß, ist Alles, was ich brauche,“ sagt Körner. Hat nun aber ein weibliches Wesen noch mehr Schönes an sich als dies, so dürfte das wohl auch nicht zu verschmähen sein. Wir wollen uns deshalb nicht abhalten lassen, auch den übrigen Theilen des weiblichen Körpers unsere Aufmerksamkeit zu schenken.

Am Kopfe verlangt ebenso der behaarte Schädel, wie das Gesicht mit seinen Sinnesapparaten und seinem Mienenspiele eine solche Fürsorge, die soviel als nur möglich der Schönheit dienen und sogar häßliche Gesichter verschönern kann – Das Haar bedarf, als eine der schönsten Zierden des weiblichen Geschlechts, einer nicht geringen Pflege, und, wie überhaupt Reinlichkeit die Seele [359] der Toilette und Gesundheit ist, so ist auch bei der Behandlung der Haare die erste Pflicht, den Haarboden (die behaarte Kopfhaut) und das Haar vollkommen rein zu halten. Es ist deshalb nothwendig, daß die Kopfhaut mit ihren Haaren wenigstens jede Woche einmal recht ordentlich abgewaschen werde, zumal wenn viel Oel oder Pomate benutzt wird. Zu diesem Behufe kämme und bürste man zuvörderst die Haare tüchtig durch und bearbeite dann erst den Haarboden mit einer mäßig steifen, in lauwarmes Wasser oder, wo viel Schuppen den Boden bedecken, in laues, mit etwas Spiritus oder Aether versetztes Seifenwasser getauchten Haarbürste. Nach dieser Reinigung müssen Haut und Haare gehörig mit einem leinenen (im Winter gewärmten) Tuche abgetrocknet und so lange bedeckt werden, bis sie trocken geworden sind; sodann bürstet man die Haare noch zu wiederholten Malen mit einer langhaarigen Bürste. Uebrigens müssen die gehörig entwirrten Haare jeden Tag einmal, wo möglich zwei Mal, nämlich des Morgens und Abends vor dem Schlafengehen, gut durchgekämmt werden (jedoch nicht gar zu lange), erst mit einem weiten und dann mit einem engen Kamme, der jedoch nicht zu stark auf die Kopfhaut aufgedrückt werden darf; sodann bürste man das Haar noch mit einer nicht zu scharfen Bürste. – Da die Natur will, daß das Haar mit einer fettigen Substanz überzogen sei, und deshalb Hauttalg absondernde, säckchenartige Apparate neben den Haarsäckchen im Haarboden angebracht hat, so ist das Einfetten, zumal trockener, spröder, struppiger, glanzloser Haare ganz unentbehrlich zur Schönerhaltung derselben. Haaröle (Oliven-, Mandel-, Macassar-, Provenceröl) und Haarsalben aus frischem gereinigtem Fette (Rindsmark) und Oel und einem frisch ausgepreßten Safte (der Aepfel, Orangen etc.) sind den Pomaten (besonders denen in Parfümeriehandlungen, die durch längeres Stehen ranzig gewordenes Fett enthalten) vorzuziehen; auffallender Wohlgeruch bleibe aber ja fern vom Haupthaare. Blondes Haar kann das Einölen weit leichter entbehren als schwarzes, ja nicht selten wird ersteres durch die Pomate in seiner Farbe verdorben und bekommt häßliche dunklere und hellere Streifen. – Schädlich ist dem Haare ebenso große Hitze wie Kälte und Nässe, festes Binden und Wickeln, allzu häufiges Verschneiden, Einstreichen scharfer Substanzen (in Pomaten), übertriebenes Einölen. Nasse und schwitzende Haare müssen stets gut abgetrocknet werden, zumal wenn man sie gleich nachher den Sonnenstrahlen aussetzen will. Bei starkem Ausgehen der Haare muß der Arzt zu Rathe gezogen werden, weil der Grund dazu ein sehr verschiedenartiger sein kann und also auch verschieden zu behandeln ist. – Da Art und Weise das Haar zu tragen großen Einfluß auf die Schönheit des Gesichts, besonders der Stirn (s. unten), ausübt, so würde ich jungen Damen rathen, sich nicht blos nach der Mode, sondern auch nach dem Rathe von Leuten mit Geschmack oder Kunstsinn zu frisiren. Alle haarwuchsfördernde Geheimmittel sind stets, oft sogar gefährliche Charlatanerieen.

Die Pflege der Gesichts-Haut hat die Aufgabe, der der Luft und dem Sonnenlichte ausgesetzten Haut Festigkeit, gleichzeitig aber auch Geschmeidigkeit, Weiche und Reinheit zu verschaffen. Zuvörderst wasche man sie nicht zu oft (nicht mehrmals des Tages) und schütze sie stets gegen große Hitze (Feuer, Sonnenstrahlen) und Kälte (besonders kalten Wind); auch lasse man Schweiß und überhaupt Nasses nicht darauf eintrocknen, sondern trockne sie gehörig ab, zumal vor dem in’s Freie Gehen; man reize dieselbe nicht widernatürlich durch Kratzen mit den Fingern und starkes Reiben beim Waschen (mit wollenen Lappen), durch reizende Seife, spirituöse Wässer, sehr kaltes, hartes Brunnenwasser; die dem Rauche ausgesetzte Haut wische man sofort mit einem leinenen Tuche ab. Ueberhaupt besteht eine Vorsicht, die der Haut sehr wohl thut, darin, sich vor dem Waschen das Gesicht mit einem reinen Handtuche oder mit Seidenpapier trocken abzuwischen. Bei sehr zarter, reizbarer Haut streiche man vor Schlafengehen, nachdem die Haut erst abgewischt und dann sanft mit schleimigem (Gurken-) Wasser gewaschen, ist, eine fette Substanz (Glycerin, Cold-cream, frischen ausgelassenen Rindstalg, Sahne) auf und reibe dieselbe dann des Morgens mit einem feinen Leinentuche sanft ab, ohne aber nachher zu waschen. Ebenso reibe man, wenn sich viel Staub, Rauch und Schweiß auf die Haut gelegt hat, das Gesicht vor dem Waschen mit lauem Wasser erst mit einer öligen Feuchtigkeit oder mit Eidotter sanft ab. Das Waschwasser darf nie eisigkalt, aber auch nie heiß, sondern von mäßiger Kühle sein, nicht aus Brunnen- oder Quell-, sondern aus Fluß-, Regen-, destillirtem oder ausgekochtem Brunnen-Wasser bestehen; einige Tropfen Benzoetinctur (geben ihm einen angenehmen Geruch. Von Seifen dürfen höchstens nur ganz milde, fettreiche und frisch bereitete in Gebrauch gezogen werden, jedoch ist’s besser ganz davon abzusehen. – Wie Mitesser und Blüthen wegzuschaffen sind, wurde früher (s. Gartenl. 1866, Nr. 14) gelehrt; gegen Sommersprossen giebt es kein Mittel, alle dagegen empfohlenen Geheimmittel sind, nicht selten gefährliche, Charlatanerien; man muß ihr Entstehen zu verhüten suchen (s. Gartenl. 1866, Nr. 14).

Falten und Runzeln in der Gesichtshaut noch junger Personen entstehen gar nicht selten blos durch üble Angewöhnungen im Mienenspiel (beim häufigen Lachen, Sprechen, Blinzeln, Horchen, Nachdenken, Essen, Gemüthsbewegungen) oder durch Herumgreifen mit der Hand im Gesichte, Aufstützen des Gesichts, Bekleidungsstücke (Hut- und Haubenbänder). – Die neunzigjährige Ninon de Lenclos will bis zum Tode ihren Teint frisch und ihre Haut zart, schwellend, jugendlich, durch kaltes Wasser und Abreibungen mit Flanell erhalten haben.

Die Stirn, welche von Lavater als das Thor der Seele und der Tempel der Schamhaftigkeit bezeichnet wurde, verdient unter allen Theilen des Gesichts eine ganz besondere Aufmerksamkeit. Vorzugsweise sind es die Haare, von deren regelmäßiger oder unregelmäßiger Umgrenzung die Schönheit der Stirn abhängig ist. Deshalb muß bei der Anordnung der Haare am Vorderkopfe darauf Rücksicht genommen werden, ob die Stirn niedrig oder hoch, schmal oder breit ist. Wer ein langes Gesicht hat, dem steht eine von Haaren sehr frei gelassene Stirn schlecht, ein kurzes Gesicht verlangt eine möglichst freie Stirn; eine sehr niedrige Stirn giebt dem Gesichte stets ein garstiges Ansehen. Daß die Stirnhaut einer richtigen Pflege (wie vorher die Gesichtshaut) bedarf, versteht sich wohl von selbst.

Die Augen, deren Pflege früher ausführlich angegeben wurde (s. Gartenl. 1866, Nr. 14) und deren Leiden sofort einem tüchtigen Augenarzte übergeben werden müssen, können in den Herzen der Männer viel Unglück anrichten, zumal wenn sich ihr Blick, ohne allzu schüchtern niedergeschlagen oder schmachtend zu sein, offen, ausdrucksvoll und sinnig zeigt. Das Auge darf, um schön zu sein, uns weder anglotzen noch anblinzeln, wohl aber mit einer geringen Seitenwendung des Kopfes ansehen. – Reinhalten des Auges, zumal von der Augenbutter im innern Augenwinkel, ist ein Haupterforderniß nicht blos für die Schönheit, sondern auch für das Wohl desselben, es muß auch Abends vor dem Schlafengehen, nicht blos früh geschehen; Thränen müssen stets sofort sanft ausgewischt werden, und so muß auch das Auge, wenn es dem Tabaksrauch oder Staub ausgesetzt war, sobald als nur möglich ausgewaschen werden, aber niemals mit allzu kaltem Wasser und stets mit weicher Leinwand. – Die Augenwimpern, welche man von jeher als unumgänglich nöthig zur vollkommenen Schönheit der Augen ansieht, müssen sorgfältig und sanft von der etwa am Rande der Augenlider anhaftenden wachsartigen Masse oder den Schüppchen gereinigt werden. Durch zeitweiliges Abschneiden ihrer Spitzen und Einölen läßt sich ihr Wachsthum unterstützen. – Die Augenbrauen, welche nicht zu dicht bei einander und nicht zu stark und lang sein dürfen, wenn sie der Schönheit des Gesichtes nicht schaden sollen (in diesen Fällen also abzuschneiden oder auszuziehen sind), müssen in ähnlicher Weise wie das Haupthaar gepflegt und, besonders wenn man geschwitzt hat, ordentlich gewaschen, sowie gebürstet werden (aber nicht gegen ihre Richtung).

Die Ohren, welche vor allen Dingen nicht durch die höchst abgeschmackte, von den Wilden stammende Mode des Tragens von Ohrgehängen verunstaltet werden sollten, verlangen, auch in ihrem Innern (Gehörgange mit Ohrenschmalz), die äußerste Reinlichkeit und Sauberkeit. Der Gehörgang ist durch Ohrlöffel und angefeuchtete Watte, die man mit einem Zängelchen faßt, zu reinigen. Besondere Beachtung verdient die Rinne hinter dem Ohre, da wo dieses am Kopfe anliegt; hier bilden sich gern nässende Ausschläge, die durch Bestreichen mit frischem ausgelassenen Rindstalg zu heben sind.

Die Nase, gewissermaßen der Ausläufer des Gehirns, ist es, durch welche der Charakter des menschlichen Antlitzes am entschiedensten bezeichnet wird; kein Thier hat eine eigentliche Nase. Nichts entstellt daher auch das menschliche Gesicht mehr, als Verlust, grobe Verunstaltungen und auffallende Veränderungen der [360] äußern Nase. Aber auch die Nasenhöhle, wenn sie nicht in Ordnung (verstopft, viel Schleim absondernd) ist, kann theils durch ihren Einfluß auf die Sprache, theils durch ihre Aussonderungen Veranlassung zum Mißfallen geben. So ist besonders das Reinigen derselben mit dem Finger, sowie alles heftige Schnäuzen der Nase vor Andern zu vermeiden; auch ist das Niesen gehörig zu überwachen. Bei hartnäckiger Verstopfung muß eine genaue ärztliche Untersuchung vorgenommen werden. An der Nasenhaut, besonders in den Falten an den Nasenflügeln, sind Mitesser und Blüthchen, wie früher angegeben wurde, zu entfernen. Eine Nase, welche unnatürlich nach einer Seite gewendet ist, ziehe man öfters nach der entgegengesetzten Seite; neigt sie sich nach rechts, so gewöhne man sich daran, sich nur mit der linken Hand zu schnäuzen; neigt sie sich nach links, so schnäuze man sich stets mit der rechten Hand.

Am Munde, – dem für die geistige Eigenthümlichkeit des Menschen bedeutungsvollsten Gebilde, welches beim Essen, Athmen, Sprechen, Singen und Küssen in Thätigkeit tritt, – sind die Lippen, die Mundwinkel, das Zahnfleisch und die Zähne wohl in Obacht zu nehmen. Vor allen Dingen darf aber kein übler Geruch aus dem Munde strömen, und das ist gerade beim weiblichen Geschlecht weit öfter der Fall, als die Damen, weil es ihnen Niemand sagt, glauben. Fast stets stammt dieser Geruch von faulenden Fleischspeiseresten, die zwischen oder ganz besonders in hohlen Zähnen sich verborgen haben. Darum entferne man diese Speisereste durch Zahnstocher und Zahnbürste und verhindere das Faulen derselben durch Putzen mit dem fäulnißwidrigen Spiritus (entweder in der Eau de Cologne oder mit Essigäther versetzt); hohle Zähne sind zu plombiren oder auszuziehen, jedenfalls öfters durch den Zahnarzt zu reinigen. – Die Lippen (von gehöriger Röthe) dürfen nicht zu feucht von Speichel (durch öfteres Belecken mit der Zunge), aber auch nicht trocken, aufgesprungen, rissig, schuppig, mit kleinen Hautpartikelchen besetzt (durch Abreißen mit den Zähnen) sein. Trockene Lippen bestreiche man mit feinem Fette (Lippenpomate aus weißem Wachs und Olivenöl, Cold-cream). Bei wenig entwickelten oder zusammengekniffenen Lippen hüte man sich, den Mund fest geschlossen zu halten und die Lippen einzuziehen, im Gegentheil halte man den Mund etwas geöffnet. Bei dicken, aufgeworfenen Lippen ziehe man die Lippen etwas ein und schließe den Mund. Ist der Mund sehr breit, dann ist sehr lebhaftes Sprechen und Lachen zu vermeiden; überhaupt sind alle Lippenbewegungen und Mundstellungen beim Essen, Trinken, Sprechen, Singen, Lachen sorgfältig zu überwachen, damit sie nicht unschön oder gar geräuschvoll ausfallen und selbst das hübscheste Gesicht verhäßlichen. Das Ausstochern der Zähne, wohl gar mit Fitschen und Matschen, in Gegenwart Anderer, mögen die Damen ja den rücksichtslosen Herren überlassen, die, sehr oft auf die widerwärtigste Weise, meist gleich nach der Suppe und noch lange Zeit nach dem Essen, im Munde herumstochern. – Die Mundwinkel sind stets im reinsten Zustande zu erhalten und (durch Bestreichen mit Glycerin, Cold-cream) vor Schrunden, Wundsein, Grinden zu bewahren. – Die Zähne, der schönste Schmuck des menschlichen Mundes und Gesichtes und ebenso für die Sprache, wie für die Verdauung (durch das gehörige Zerkauen fester Speisen) von größter Wichtigkeit, können bei der Jungfrau, wenn sie nicht schon in den Mädchenjahren ordentlich gepflegt wurden, nur unter den Händen des Zahnarztes insoweit wieder in Ordnung gebracht werden, daß sie wenigstens nicht abstoßen. Jedenfalls sind falsche Zähne garstigen Zahnlücken und häßlichen, schwarzgrünen Stümpfen weit vorzuziehen. Sind die Zähne noch gut, dann müssen sie durch öfteres Ausspülen des Mundes, Bürsten mit Zahnspiritus und Zahnpulver täglich gehörig gereinigt, sowie öfters von jedem gelblichen, graugrünlichen oder schwärzlichen Beschlage (durch Abschaben) sorgfältig befreit werden. Man bedenke, daß schöne Zähne selbst ein häßliches Gesicht und einen garstigen Mund zu verschönen im Stande sind, während ein schlechtes Zahnwerk auch das hübscheste Gesicht verschandelt. Einige Male des Jahres sollten auch die besten Zähne beim Zahnarzte die Revue passiren müssen, um Leiden derselben vorzubeugen. – Das Zahnfleisch wird frisch, roth und fest bleiben, wenn der Mund und die Zähne mit der größten Sorgfalt rein gehalten werden; besonders ist der Zahnstein am Halse der Zähne, welcher sich gewöhnlich zwischen Zahn und Zahnfleisch hineindrängt, baldigst zu entfernen. Das sanfte Reiben des Zahnfleisches mit Zahnspiritus, Kölnischem Wasser, Myrrhentinctur und dergl. belebt dasselbe.

Das Mienenspiel, wie überhaupt die Mimik des ganzen Kopfes, wobei auch der Hals als Träger des Hauptes in Betracht kommt, kann, wenn dabei die Grenzen der nöthigen und bedeutsamen Bewegung überschritten werden, einem weiblichen Wesen einen recht häßlichen, unweiblichen Charakter verleihen. So ist z. B. das Rückwärtsüberwerfen des Kopfes, vielleicht gar mit Rümpfen der Nase und Zusammenkneifen des Mundes, ganz widerwärtig; so wird auch das übermäßige Hin- und Herbewegen des Kopfes beim Sprechen stets unangenehm berühren etc. Am besten ist’s daher, man gewinnt einen wahrheitsliebenden, ehrlichen, sogenannten rücksichtslosen, groben Freund, von dem man sich auf jedes unliebenswürdige Gebahren, das uns eigen ist, aufmerksam machen läßt. Besonders rathe ich dies den weniger geistreichen Schönen. Am meisten ist das Lachen zu beherrschen. Es darf nie zu einem lauten, wiehernden und den ganzen Körper erschütternden Gelächter ausarten und nicht mit erzwungenem, widernatürlichem Verziehen des Mundes geschehen. Wer bei keiner Gelegenheit in ein herzliches Lachen auszubrechen vermag, ist gewöhnlich kein gemüthlicher, guter Mensch; am zu vielen Lachen erkennt man aber den Narren. Hat sich ein Mädchen entstellende Grimassen angewöhnt, dann lassen sich dieselben nicht durch Lächerlichmachen, sondern dadurch abgewöhnen, daß es mit Hülfe der Willenskraft während des Zählens bis zu einer bestimmten Zahl diese Grimassen unterdrückt. Täglich muß dieser Versuch ein paarmal wiederholt und mit der Zahl gestiegen werden. Bei fünfhundert ist das Uebel gewöhnlich besiegt.

Hals und Nacken, welche bei einem schönen weiblichen Körper niemals scharf abgesetzt von Brust und Rücken sind, sondern allmählich in den Rumpf übergehen, verlangen einen weißen reinen Teint und dürfen durch enge Brust- und Halsbekleidung nicht in ihrer Form und Bewegung beeinträchtigt werden. Gegen den Kropf hilft nur in äußerst wenigen Fällen der Gebrauch von Jod, und deshalb suche man dieses Uebel lieber dadurch zu verhüten, daß der Blutlauf nicht durch Beengung des Oberkörpers erschwert, im Gegentheil durch richtige Brustgymnastik gefördert werde.

Der Oberkörper, mit der Brust und dem Rücken, wird stets durch beengende Kleidungsstücke, zumal wenn diese nicht nur die Rippen, sondern auch die Arme und den Hals in ihrer Haltung und Bewegung geniren und die Taille sehr dünn machen, geradezu widerwärtig, weil unnatürlich. Er werde lieber dadurch, daß man bei zurückgezogenen Achseln und in die Hüfte eingestemmten Armen recht tief und langsam einathmet, erweitert. – Die Achselhöhlen sind des Schweißes wegen sehr rein zu halten (öfters mit warmem Seifenwasser zu waschen). Sollte dieser Schweiß stark und übel riechen, dann sind Schweißblätter von Leinwand oder weichem Handschuhleder zu tragen, die entweder eingethont oder mit einer Weinsäurelösung getränkt und dann getrocknet wurden; die Anwendung wohlriechender Stoffe läßt zu sehr die Absicht merken und verstimmt. – Im ausgeschnittenen Kleide zu erscheinen bei magerer, unschöner Büste mit vortretenden Schlüsselbeinen und Schulterblättern, eckigen, knochigen Achseln, tiefen Gruben über der Brust, ist ein großes Vergehen an Denen, die das mit ansehen müssen.

Der Unterkörper verträgt zu seiner schöneren Gestaltung eine mäßige Zusammenschnürung des Leibes, sowie eine dem naturgemäßen weiblichen Körperbaue entsprechende Breite und Rundung der Hüften und des Kreuzes. Jede unnatürliche Uebertreibung in dieser Hinsicht ist verächtlich. Auf eine anmuthige Haltung und Bewegung des Unterkörpers sollte mehr Werth gelegt werden, als dies zur Zeit geschieht.

Der Arm darf nur dann unbedeckt und mit auffallendem Schmucke getragen werden, wenn er es verdient, wenn er nämlich proportionirt dick und rund, weiß und glatt (unbehaart), mit Grübchen am Ellenbogen und von reinem Teint ist. Sonst trage man die Aermel möglichst lang. Ein zumal kostbares Armband kann ein schlimmer Schmuck sein, wenn es die Aufmerksamkeit auf einen Arm von fehlerhafter Bildung zieht.

Für die Hände, und ganz besonders, wenn sie unschön gestaltet sind, ist eine sorgfältige Pflege am unentbehrlichsten, da eine zarte, weiße Hand, selbst wenn sie besonders schöner Formen entbehrt, stets einen dem Auge wohlgefälligen Anblick gewährt. Als Erfordernisse zu einer wahrhaft schönen Hand, die übrigens zu den größten Seltenheiten gehört, werden betrachtet: Kleinheit, runde, gefällige Form mit proportionirt langen und dicken Fingern, [361] weiße, zarte und weiche Haut, schöne Nägel. Eine richtige Pflege der Hand verlangt: daß auf sie weder eine große Kälte, noch große Hitze und die Sonnenstrahlen einwirken; daß sie weder mit zu kaltem, noch zu warmem und hartem Wasser und mit zu reizender Seife (wohl aber mit Mandel- oder Haselnußkleie in Regen-, Fluß- oder Schneewasser) gewaschen werde; daß sie nach dem Waschen tüchtig abgetrocknet und nicht unmittelbar nach dem Waschen dem Einfluß der frischen Luft ausgesetzt werde; daß man sie öfters mit Fett (Mandelöl, frischem ausgelassenem Rindstalg, Glycerin, Coldcream, Spermaceti) oder rohem Eidotter einreibt und dann (des Nachts) in Handschuhe von weichem Leder steckt. Kastanienmehl (durch das Trocknen, Zerstoßen und Durchsieben geschälter wilder Kastanien erhalten), in Wasser durch Schütteln aufgelöst, soll der Haut der Hände einen bewundernswerthen Lustre verschaffen. (?) Erbällte Hände wasche man schon vor Eintritt der Kälte öfters mit spirituösen Wässern oder mit Ammoniak, reibe sie gleich danach tüchtig mit Fettem ein und stecke sie in weichlederne Handschuhe. Schuppige, rauhe, unebene, schwielige Stellen sind erst mit Spiritus zu waschen, dann mit Bimsstein behutsam abzureiben und schließlich tüchtig einzufetten und zu behandschuhen; auch öfteres Baden in Regenwasser, in dem man Weizenkleie hat aufwallen lassen, ist sehr dienlich. – Beim starken Schwitzen der Hand muß diese oft mit lauwarmem Wasser gewaschen, gehörig abgetrocknet und mit trockenem, feingepulvertem Kastanien-, Mandel- oder Veilchenwurzelmehl abgerieben werden. – Die Nägel, die durchaus nicht übermäßig lang, nicht die Fingerspitzen überragend, zu tragen sind, weil’s ganz unästhetisch ist und an eine Klaue erinnert, müssen stets mit einer recht scharfen Scheere schön rund, also besonders in den Seitenecken, abgeschnitten und unter den Rändern sorgfältig gereinigt werden. Die Nagelfeile ist nicht zu empfehlen. Um dem Nagel eine gefällige, mandelförmige und gewölbte Gestalt zu geben, drücke man die Fingerspitze von beiden Seiten her täglich mehrmals zusammen. Das Häutchen über der Nagelwurzel muß nach dem jedesmaligen Waschen mit dem Handtuche und Daumennagel zurückgeschoben oder, sitzt es zu fest auf, mit einem Messerchen abgehoben und abgeschnitten werden. Blinde, geriefte und höckerige Nägel schabe man mittels eines Stückchen Glases an den dickern Stellen täglich zweimal ab, bedecke sie dann mit einer Wachsplatte und frottire sie öfters mit Fettigem. Ueberhaupt läßt sich den Nägeln ein schöner Glanz geben, wenn sie täglich mit der Nagelbürste und etwas Seife gebürstet und Abends mit reinem Fette tüchtig eingerieben werden. Die sogen. Nietnägel (Abtrennungen kleiner Hautpartikelchen neben dem Nagel) sind ja nicht loszureißen, sondern so dicht als möglich an der Haut mit einer scharfen Scheere abzuschneiden.

Ein schöner Fuß gehört zu den Reizen, welche nur äußerst selten beim weiblichen Geschlechte zu finden sind und zwar deshalb, weil den Füßen in der ersten Jugend zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt wird. Zu enges und kurzes Schuhwerk kann aber niemals die Form des Fußes verschönern, sondern wird dieselbe im Gegentheil durch Bildung von Hühneraugen, Schwielen und Frostballen verschlechtern und zugleich auch auf den Gang, die Statur und Haltung des ganzen Körpers schlechten Einfluß ausüben. Die Schuhe müssen durchaus einbällig sein und genau passen, ohne den Fuß in irgend einer Weise zu geniren. Stiefelchen, die um die Knöchel herum gut sitzen, geben dem mit weißem Strumpfe bekleideten, hübsch auswärts und gerade aufgesetzten Fuße das netteste Ansehen. – Uebrigens sind die Füße durch öfteres warmes Baden und tägliches Abreiben mit einem feuchten Tuche vor dem Schlafengehen rein zu halten; allzu große Trockenheit und Sprödigkeit ist aber durch Fetteinreibungen zu mildern. Die Zehennägel sind auf ähnliche Weise, wenn auch nicht gar so sorgfältig, wie die Nägel der Finger, zu pflegen.

Strumpfbänder müssen stets über dem Knie befestigt werden, denn wenn sie tief unten und fest angelegt werden, schaden sie nicht nur der schönen Form der Wade, sondern stören auch den Blut- und Lymphlauf im Beine.

Von den geehrten Leserinnen meiner Aufsätze über weibliche Schönheit erbitte ich mir nun schließlich noch die Verzeihung wegen einiger kleinen Anzüglichkeiten und hoffe dieselbe in Betracht der vielen brauchbaren Winke, die ich im Interesse ihrer Schönheit gab, auch zu erhalten.
Bock.




Am Grabe eines braven Mannes.


Es ist Pfingstmorgen. Mild strahlt die schönste Maiensonne vom blauen Himmel hernieder und gießt ihr flüssiges Gold über das sprossende, schwellende Grün, in welchem Millionen Thautropfen funkeln. Ich habe alle Fenster weit geöffnet und herein dringt der Duft von tausend und abertausend Blüthen und Blumen, den ein lindes Lüftchen aus den Parks und Gärten jenseit der Genfer Vorstadt Eaux-Vives herüberträgt. Vor mir liegt die herrlichste Landschaft der Welt: links der blaue Spiegel des Leman, darüber sich erhebend die Rebenhügel von Cologny, weiter die waldigen Höhen des Voirons, rechts die schroffen Felsenwände des Salève, wie eine von Riesenhänden aufgeführte Mauer zum Himmel emporsteigend. Dort in gerader Richtung breitet sich die erhabene Alpenwelt Savoyens aus bis zu den Eisfeldern und Zacken der Montblanckette hin. Auch manche der näheren Berge, der Môle und die Höhen am Eingang des Sixterthals, sind noch in die winterliche Schneedecke gehüllt; aber es muß auch dort Frühling werden, und bald werden duftende Kräuter und Blumen jene Berghalden in üppige Weideplätze verwandeln, von denen das melodische Glockengeläute grasender Heerden dem Wanderer entgegentönt. Tiefer Frieden liegt über der erhabenen Landschaft, nur wie das Murmeln ferner Meereswellen dringt bis in diese großartige Natur das wilde Waffengeräusch, welches in diesem Augenblick die Welt drohend durchtobt. Von St. Peter und allen Kirchen der Stadt tönen die Festglocken, die fromme Menge eilt zu den Gotteshäusern – wer kann sich der feierlichen Stimmung entziehen?

Auch wir folgen ihr und wollen sie der Gedächtnißfeier eines Mannes weihen, den sie vor wenigen Tagen zu Grabe trugen an den blühenden Ufern des Genfer Sees, fern von feiner Heimath, aber im geheiligten Boden der Freiheit, eines Mannes, in dessen Herzen die Gottesidee der Freiheit und Humanität ihren geweihten Altar aufgeschlagen hatte. Eines Mannes wollen wir gedenken, dessen Bild von dem wirren, wüsten Treiben der Gegenwart sich abhebt wie eine erhabene Heldengestalt des Alterthums, eines Mannes, an dessen Namen sich einst die Flüchtlingshoffnungen einer Nation knüpften und dessen sich eine bessere Zukunft erinnern wird, erinnern muß, wenn sie gerecht sein will gegen ihre uneigennützigsten, lautersten, edelsten Verkündiger. Zu einer solchen Gedächtnißfeier aber ist des Domes „ehrwürdige Nacht“ zu eng: diese weite, blühende, verheißende Natur ist der rechte Tempel.

Es ist Ferdinand Flocon, von dem ich spreche, einer der edelsten Söhne Frankreichs, welchen das Vaterland in der Verbannung hinsterben ließ.

Als ich am 5. Mai Jules Barni, den berühmten Uebersetzer und Erläuterer unsers großen Gedankenrevolutionärs Kant, in seiner Wohnung am Quai du Montblanc zu Genf besuchte, um ihn um einige biographische Notizen und Mittheilungen über seinen persönlichen Verkehr mit seinem verstorbenen Freunde Charras zu bitten, fand ich den gemüthvollen Philosophen in schmerzlichster Bewegung und mit Thränen in den Augen. „Sie kommen, um mit mir über den Obersten Charras zu sprechen,“ sagte er, „und in diesem Augenblicke haben wir noch einen zweiten edeln Todten zu beweinen; da lesen Sie!“ Und damit reichte er mir ein eben angelangtes Telegramm, welches das an diesem Morgen in Lausanne erfolgte Hinscheiden seines Freundes Flocon meldete.

Zwei Tage später sammelte sich vor einem bescheidenen Landhaus dicht bei der waadtländischen Hauptstadt, welches den bezeichnenden Namen Persévérance führt, eine stille Schaar ernster Männer; mehr als fünfzehnhundert waren hier, welche die sterbliche Hülle des berühmten Verbannten, der dort gewohnt hatte, zu ihrer letzten, ewigen Ruhestätte auf dem Friedhofe de la Pontaise [362] geleiteten. Der Zug bestand aus Einheimischen aller Parteien, aus Schicksals- und Gesinnungsgenossen des Hingeschiedenen und aus Freunden, welche selbst aus fernen Gegenden Frankreichs herbeigeeilt waren. Eine Liedertafel, aus Deutschen in Lausanne gebildet, sang Goethe’s „Abendlied“ am Grabe, dann sprachen Victor Chauffour-Kestner, Charras’ Schwager und Mitstrebender, der Pariser Journalist Chassin, Professor Barni aus Genf, Etienne Arago und der Schweizer Robodey Worte der Anerkennung, der Liebe und des Schmerzes um den Todten. Et. Arago nannte sich den ältesten Freund Flocon’s und gab eine gedrängte, ergreifende Lebensskizze des ausgezeichneten Mannes, welcher wir einige Mittheilungen entnehmen, die das Wesen und Wirken des Verstorbenen besser charakterisiren, als eine pomphafte Lobrede. Ferd. Flocon, 1800 von wenig bemittelten Eltern in Paris geboren, war einer von den Franzosen, welche mit der größten Beharrlichkeit eine rein demokratische Entwickelung ihres Vaterlandes erstrebten. Noch sehr jung, nahm er den lebhaftesten Antheil an allen offenen und geheimen Kämpfen gegen die Restauration. Er bekleidete die bescheidene Stelle eines Stenographen in den Kammersitzungen, und dort hatte er Gelegenheit, praktische politische Vorstudien zu machen und das Wesen des parlamentarischen Lebens gründlich kennen zu lernen. Auch betheiligte er sich an der kleinen demokratischen Presse, welche, wenn auch mit der durch die Verhältnisse gebotenen größten Vorsicht, wesentlich zur politischen Aufklärung der Massen beitrug. Mit Begeisterung begrüßte der junge Mann die Julirevolution, allein seine Hoffnung, schon damals die Republik entstehen zu sehen, ging nicht in Erfüllung. 1844 begründete er, von drei Deputirten, welche sich offen zum Republikanismus bekannten, unterstützt, die unter dem Titel „Réforme“ so berühmt gewordene Zeitung. „Keinem französischen Demokraten,“ sagte Et. Arago, „sind die Opfer jeder Art unbekannt, welche die ‚Réforme‘, dieses von einem Tag zum andern lebende Blatt, von ihrem Hauptredacteur in Anspruch nahm. Ich habe ihn vier Jahre an der Arbeit gesehen, unaufhörlich, wie einen Taglöhner, und sich die schwersten Entbehrungen auferlegend, aber auch beständig voll Hoffnung für den entscheidenden Sieg der großen Grundsätze und dazu beitragend mit einem unbestreitbaren Talent, einer Lauterkeit der Ideen, der selbst Godefroy Cavaignac auf seinem Todbette feierlich Gerechtigkeit widerfahren ließ und welche Charras zu schätzen wußte.“

Der Sieg dieser großen Grundsätze blieb in der That nicht aus, wenn er auch nur ein vorübergehender sein sollte. Der 24. Februar 1848 brachte Frankreich die Republik und Flocon wurde mit in die provisorische Regierung berufen. Ein Zug, den Etienne Arago mittheilt, charakterisirt die großartige, wahrhaft antike Uneigennützigkeit des jetzt so hoch gestellten Mannes. Wenige Tage nach der Revolution wurde Flocon von einem heftigen Gichtanfall ergriffen, jener Krankheit, die ihn nie wieder ganz verlassen hat. Damals schrieb er mit fast gelähmter Hand an einen Freund: „Ich habe nicht Geld genug im Hause, ein Pfund Senf für Umschläge zu kaufen; wenn ich wieder gesund bin, werde ich die Redaction der ‚Réforme‘ wieder übernehmen müssen, um meiner Familie Brod zu verschaffen.“ Nach seiner Wiederherstellung wurde Flocon zum Minister des Ackerbaus ernannt; es giebt in jenem Ministerium noch heute Beamte, welche, wenn auch nur im vertrauten Kreise, um sich nicht die Folgen solcher Kühnheit zuzuziehen, Flocon’s Fähigkeit und Arbeitskraft rühmend anerkennen. Höher noch aber als diese steht seine Redlichkeit. „Ich weiß nicht,“ sagt Arago, „ob dieses Wort noch einen Sinn in französischer Sprache hat; damals aber besaß es einen solchen, und zwar einen sehr bestimmten und geachteten: Flocon wurde mit 121,866 Stimmen zum Abgeordneten von Paris erwählt.“ Es kamen die Juniereignisse und dann die immer entschiedener ihr Haupt erhebende Reaction; unter den Einflüssen dieser wurde er später nicht wieder gewählt. Der Mann, der die höchste Stellung im Staate bekleidet hatte, trat wieder zurück in die Reihen der journalistischen Freiheitskämpfer mit jenem einfachen Pflichtgefühl, welches ihn stets auszeichnete. Er war Redacteur eines Blattes im Elsaß, als ihn der Staatsstreich von 1851 in die Verbannung trieb. Zuerst lebte er in Genf, dann internirt in Zürich und während der letzten Jahre, nachdem ihm der Bundesrath seine rührende Bitte, wieder an den Genfer See, in die Nähe Frankreichs, zurückkehren zu dürfen, gewährt hatte, in Lausanne.

Arm und mittellos war er in die Schweiz gekommen. In Genf mußte er, welcher Frankreich während einer Revolution mit regiert hatte, seine Uhr verkaufen, um nicht geradezu Hunger zu leiden. Wie alle seine Collegen war er ärmer von seinem Amte abgetreten, als er es angetreten hatte. In Zürich fristeten ihm schlecht bezahlte Uebersetzungen das Leben. Damals schrieb ihm Lamartine: „Die Hälfte von dem, was ich noch besitze, gehört Ihnen.“ Flocon’s Antwort darauf lautete bezeichnend: „Alle meine Ueberzeugungen und den frischen Glauben meiner Jugend habe ich mir bewahrt; ich wollte, ich könnte das mit Ihnen theilen.“ Später sah er seine Lage noch durch fortwährende Kränklichkeit, und namentlich ein wachsendes Augenleiden, verschlimmert. Dennoch kam keine Klage über seine Lippen; mit stoischer Ruhe ertrug er seine Leiden, den Geist auf die großen Interessen der Menschheit gerichtet, das Herz voll Hoffnung für sie. Arago’s Worte über diese letzte Periode aus Flocon’s Leben mögen hier noch eine Stelle finden: „Denen, welche in Frankreich während harter Zeiten diesen rechtschaffenen Mann, diesen pflichtgetreuen Bürger, diesen ausharrenden Kämpfer zur Zielscheibe der jämmerlichsten, niedrigsten Angriffe auserwählten, wollen wir noch zurufen: ‚Ihr Verleumder der Bürgertugend, ihr Verspotter einfacher Sitten, geht nach Genf, Luzern, Zürich, Lausanne und fragt, wer dieser französische Verbannte war! Und man wird euch antworten: wenn dieser Franzose an uns vorüberging, ruhig, wie ein reines Gewissen, bescheiden, wie das wahre Verdienst, so grüßten wir ihn mit Hochachtung und lehrten dieses Gefühl unseren Kindern; denn Männer wie dieser da sind die Ehre der Menschheit und man muß sie als Beispiele hinstellen!‘“ Ja, als ein Beispiel verdient ein Charakter wie Flocon genannt zu werden in einer Zeit des Eigennutzes, der Heuchelei, der sich selbst aufgebenden Feigheit, für welche freilich die Geißel nicht mehr fern zu sein scheint.

Unsere deutschen Landsleute in Lausanne haben es, wie gesagt, sich nicht nehmen lassen, mitzuwirken bei der letzten Ehre, welche Flocon erwiesen wurde. Unter deutschem Gesang wurde seine sterbliche Hülle der Mutter Erde zurückgegeben. Die rein menschliche Theilnahme, die ja die deutsche Brust zumeist bewegt, trieb unsere Landsleute zu dieser Betheiligung an der einfachen Leichenfeier des edeln Verbannten. Aber sie hatten auch einen nationalen Grund dazu. Flocon gehörte zu jenen Franzosen, welche sich mit ernstem Streben dem deutschen Geistesleben, unserer Literatur und Wissenschaft zuwenden und deren Zahl fortwährend zunimmt. Welches Culturmoment für Frankreich in dieser Vermittlung mit der deutschen Ideenwelt, welche Gewähr für eine endliche wahrhafte Völkerverbrüderung darin liegt: das auseinander zu setzen, wäre ganz überflüssig. Schon in den zwanziger Jahren hatte Flocon eine kleine Sammlung von Gedichten Bürger’s, Körner’s und Kosegartens übersetzt und veröffentlicht, und während seiner Verbannung in der Schweiz beschäftigte er sich, soweit es seine Kränklichkeit zuließ, vorzugsweise mit Uebertragungen aus dem Deutschen.

Aus der Zeit meines ersten Aufenthalts in Genf, in der ersten Hälfte der fünfziger Jahre, erinnere ich mich noch eines ernsten, äußerst einfach, fast dürftig gekleideten Mannes, der oft Abends in einem Wirthschaftslocal der Vorstadt Plainpalais, wo damals eine Anzahl deutscher Literaten, Künstler und Flüchtlinge verkehrte, erschien und sich zu diesem Kreise gesellte. Aus einer kleinen Thonpfeife rauchend, lauschte er eifrig dem Gespräch, welches sich gewöhnlich um vaterländische, wissenschaftliche und literarische Stoffe und Zustände bewegte. Bisweilen gab auch er, in französischer Sprache, seine eigene Meinung ab, welche dann stets von seiner regen Theilnahme, seiner geistreichen Auffassung und seiner zunehmenden Bekanntschaft mit den behandelten Fragen glänzendes Zeugniß ablegte. Dieser Mann war Ferdinand Flocon, das ehemalige Mitglied der Pariser Februarregierung. Die Nachricht von seinem Tode hat mir die kleine gedrungene Gestalt mit dem einfachen, bescheidenen Aeußeren, mit den ernsten, energischen und dabei so wohlwollenden Zügen wieder lebhaft in’s Gedächtniß zurückgerufen. Mögen diese wenigen Zeilen dazu dienen, auch in weitern deutschen Kreisen einem edeln, reinen Charakter, einem warmen Freunde deutscher Bildung, einem aufrichtigen Demokraten, einem wahren, echten und darum seltenen Menschen ein wohlverdientes Andenken zu sichern.
W. L.



[363]
Eine Freistatt des wahren Menschenthums.
Amerikanisches Charakterbild.
Von A. Douai.


Wenn der Lebemann ausruft: „Ubi bene, ibi patria!“ (wo mir’s wohlgeht, da ist mein Vaterland); wenn der gelehrte Alterthumsforscher und der begeisterte Kunstliebhaber Rom und Athen über alle Städte des Erdenrundes stellen; wenn bald Paris, bald Berlin, bald London, bald Leipzig, bald Wien, München oder Florenz als Sammelpunkte der höchsten Intelligenz und des concentrirtesten Lebensgenusses gepriesen werden: so ist von allen Städten der Welt Boston in den Vereinigten Staaten von Nordamerika die einzige, wo der freie Mann sich am wohlsten, d. h. als vollkommen freier Mann, fühlen kann.

Boston ist in seiner Art einzig in der Welt. Es mit einer der obengenannten Städte vergleichen zu wollen, wäre unpassend, fast lächerlich. Zwar an Schönheit der Lage wird es von wenigen gleich großen oder größeren Städten erreicht oder übertroffen. Die eigentliche Stadt auf drei Hügeln einer Halbinsel, die nur durch einen langen schmalen Nacken mit dem Festlande zusammenhängt, hingestreckt und durch schmale Meeresarme beiderseits von zwei andern ganz ähnlich gebildeten Halbinseln mit hohen Hügeln getrennt, auf denen die Vorstädte South Boston und Charlestown malerisch hingegossen sind, während den Hintergrund des Festlandes die Städte Roxbury und Cambridge bilden, welche mit ihren Anhängseln von Städtchen meilenweit in die saftig grünen Hügelreihen der Bai von Massachusetts hinauf- und hineinschneiden – bietet der Ueberblick dieses Ganzen von jedem hohen Punkte der Gegend aus ein reizendes Gemälde. Aber dann kommt sogleich der oft trübe, nordische Himmel, das Klima, das an Rauhheit mit dem von St. Petersburg wetteifert, mit seinen Nebeln, schneidenden Nordwinden, die auf der eintausendsiebenhundert englische Meilen weiten Reise vom äußersten Labrador her alles Gift der Kälte in sich aufgesogen zu haben scheinen, mit seinen unglaublich schroffen Witterungsübergängen, die oft im Laufe eines Tages dreißig Grad Réaumur betragen, mit seinen schweren Gewittern und Regengüssen, welche nie dem von langer Trockenheit und Hitze erschöpften Körper Labung und frische Kühle bringen – kurz dieses abscheuliche Klima, das alle Wettergegensätze in sich vereinigt und hintereinander herjagt, hält von vorn herein jeden Versuch einer Zusammenstellung Bostons mit Rom oder Neapel oder Paris zurück. Außerdem fehlt natürlich in einer so neuen Stadt jene großartige Anhäufung herrlicher Kunstbauten, Gemälde- und Bildsäulensammlungen, vorzüglicher Schaubühnen und musikalischer Kräfte, endlich der reizenden Vergnügungsorte, welche die Hauptstädte und Culturmittelpunkte Europas auszeichnen und anziehend machen. Das Alles ist hier erst im Keime vorhanden, ja theilweise in der Caricatur.

In diesem Sinne nannte einer der edelsten und geistreichsten Bürger Bostons selber, der viel zu früh verstorbene George Sumner, des Senators ebenso ausgezeichneter Bruder, seine Vaterstadt „ein großes Dorf“. Er hatte an zehn Jahre in Europa gelebt und alles Große und Schöne, das es bietet, kennen gelernt und gewürdigt, wie wenige Angloamerikaner. Dennoch liebte er die Stadt, wie es alle gebildeten Bostoner thun, mit wahrhafter Zärtlichkeit.

In seiner äußeren Erscheinung gleicht Boston mehr als alle Städte Amerikas einer europäischen Stadt, natürlich zumeist einer von Altengland; im Bau seiner Häuser, in der Krümme seiner Straßen älteren Ursprungs, in der Dichtigkeit des Zusammenwohnens seiner Bevölkerung, in der sorgfältigen Polizei (es ist die einzige Großstadt der neuen Welt mit einer wirklich guten Polizei), in einer gewissen Spießbürgerlichkeit mancher von seinen eingeborenen Familien, kurz, in allen mehr äußerlichen Zügen trägt es ein ganz europäisches Gepräge und kommt vielleicht Edinburgh am Nächsten. Aber da hört auch alle Aehnlichkeit auf; in jeder anderen Hinsicht ist es unvergleichlich, einzig, eine vollkommene Ausnahme, zuerst darin, daß es hier keine Hütten giebt. Wer das wohlthuende Gefühl noch nie erlebt hat, sich in einer bitterlich kalten Winternacht mit dem Gedanken zu Bett legen zu können: „im ganzen Bereiche dieser Stadt von zweihunderttausend Einwohnern, ja im ganzen Bereiche des Staates, dessen Hauptstadt sie ist (Massachusetts, mit einer und einer Viertel Million Einwohner), braucht heute und das ganze Jahr hindurch kein Mensch zu frieren, zu hungern, oder irgendwie unverschuldete Noth zu leiden; es ist für Alle ausreichend und väterlich gesorgt“ – wer dieses himmlische Gefühl noch nie empfunden, der komme nach Boston; da kann er sich demselben ohne Selbsttäuschung ganz hingeben. Und wie ist da gesorgt für die im Kriege Aller gegen Alle zu kurz Kommenden! Nicht nach Art der hochmüthigen englischen Zwangs-Armenhäuser, nicht mit vornehm-kalter Hinwerfung von Almosen. Nein, die Gemeinde und die Bevölkerung erkennt sich als solidarisch verbindlich an, die Krebsschäden der bürgerlichen Gesellschaft gründlich zu heilen, die Quellen des Pauperismus, der Unsittlichkeit und des Verbrechens zu verstopfen und die allgemeine Bruderliebe zur Wahrheit zu machen. Jeder Bezirk der Stadt und des Landes hat seinen freiwilligen Armenpflege-Verein, aus den angesehensten und lebensklügsten Männern und Frauen bestehend, welcher unter seine Mitglieder die Aufgabe vertheilt, jedes Haus regelmäßig zu besuchen, die Bedürfnisse der Nothleidenden und wie ihnen am Gründlichsten abgeholfen werden kann, zu ermitteln und diese Abhülfe als einen der Menschheit schuldigen Zoll darzubringen. Der reiche Wohlthätige weiß, wem er seine Spenden einschicken muß, um sie an den rechten Bedürftigen zu bringen. Alle Bettelei (die überhaupt in Amerika nur an äußerst wenigen Plätzen vorkommt) ist von selbst dadurch verhütet, daß der Arbeitskraft Arbeitsnachweis, der Rathlosigkeit guter Rath, der Entbehrung die in jedem Falle passendste Wohlthat zuertheilt wird, wobei die moralische Einwirkung auf zu erzielende Selbstständigkeit, die moralische Hebung die Hauptsache bleibt. Keine unverschuldete Armuth mehr! Keine Bettelei mehr! Kein Verbrechen aus Noth mehr! Das sind echte Bostoner Wahrsprüche, die noch dazu im Stillen, ohne daß die Linke weiß, was die Rechte thut, geübt werden. Hier ist zum ersten Male in der Geschichte das Räthsel längst praktisch gelöst, wie man der verschämten Armuth hilft, die unverschämte beseitigt, wie man von jedem Saatkorn tausendfältige Frucht reift, wie man das Verbrechen mehr und mehr abschafft. Und nun, wenn es noch eine zweite solche Großstadt in der Welt giebt, oder noch ein zweites solches Land wie Massachusetts, so nenne man es!

Im Punkte der praktischen Nächstenliebe geschieht hier Unvergleichliches. Die Zartheit beim Wohlthun, die Weisheit in der Vertheilung der Aufgabe, wie dem Nächsten aufzuhelfen sei, endlich der Erfindungsgeist und die Wärme der Empfindung, mit welchen der Aufgabe Genüge geleistet wird, spotten aller Schilderung. Wir kannten unter Vielen ähnlichen Geistes einen Mann – warum seinen Namen vorenthalten? es ist Dr. Sam. G. Howe, der Stifter des ersten Blinden-, des ersten Taubstummen-, des ersten Blödsinnigen-Instituts und der Mitbegründer aller übrigen in Amerika, ein Mann, dessen ganzes Leben dem uneigennützigen Wohlthun, der Hebung der Menschheit gewidmet ist – ihn hatte eine Anzahl der reichsten Bostoner zu ihrem Großalmosenier ausersehen, ihm entweder große Summen zur Verfügung gestellt, oder Anweisungen auf ihre Beutel gestattet, weil er am weisesten die richtige Abhülfe für die Noth besonders interessanter Bedürftiger wußte. An ihn wandten sich oder wurden gewiesen die armen Erfinder, welche keine Mittel zur Verwirklichung ihrer Erfindungen, die verdienstvollen Gelehrten und Künstler, die keine Unterhaltungsquelle, die Philanthropen, die keinen Wirkungskreis hatten, kurz alle jene Männer und Frauen, welche Hülfe brauchten, um der Menschheit Dienste zu leisten. Und er wußte für Jeden Rath und Hülfe. Er verstand meisterhaft, mit den Mitteln Haus zu halten, irrende Geister auf den rechten Weg zu weisen, das Einzelne und Besondere dem Allgemeinen dienstbar zu machen, indeß er der Privatnoth abhalf. In allen philanthropischen Bestrebungen Amerikas war er tief interessirt, wie z. B. in der Antisclavereisache, am John Brown-Aufstande, in der Sanitäts-Commission. Sein Haus war und ist der Sammelpunkt der höchsten Intelligenzen und der interessantesten Menschen der neuen Welt; ihn segnen viele, viele Tausende. Dieses eine Beispiel von vielen genüge zur Andeutung des Geistes, der die Bostoner zum Abhub der Menschen macht.

[364]

Ansicht von Boston.
Nach der Natur aufgenommen

[365] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt. [366] Das ist aber nicht Alles, was sie auszeichnet. Boston ist eben der Repräsentant des Besten, was die neue Welt will, kann und übt. Keine Stadt der Welt hat so viel für Volksbildung, für Erziehung im Allgemeinen, für Schulen und Lehrer, für alle Bildungsmittel und Veredlungszwecke gethan, wie Boston. Auf jedes Schulkind der Stadt werden jährlich im Durchschnitt fast zwanzig Dollars Schulgeld aus öffentlichen Mitteln hergegeben, ganz ungerechnet die Summen, welche aus Privatbeuteln fließen. Die Schulhäuser sind Paläste, die Lehrergehalte sind höchst anständig, die Fürsorge für stete Hebung des Schulwesen ist über die weitesten Kreise verbreitet. Jeder Bostoner betrachtet die Schulen als die besten Versicherungsanstalten für den Himmel, wie gegen alles Unglück der Erde. Der Handwerker mit siebenhundert bis tausend Dollars Jahreseinkommen verwendet davon mindestens zwei- bis dreihundert Dollars auf die möglichst gute Schulung seiner Kinder, auf gute Bücher, Zeitungen, Vorlesungen und dergleichen mehr. Kein wohlhabender Mann stirbt, ohne ein verhältnißmäßig bedeutendes Legat für Erziehungsanstalten auszusetzen. Unterzeichnungslisten für alle Bildungszwecke ergeben immer mehr, als den dringendsten Bedarf. Aber mehr noch als diese alle Angloamerikaner auszeichnende Freigebigkeit wirkt die rege Selbstbetheiligung eines Jeden am allgemeinen Geistesfortschritt, das thätige, ermuthigende Beispiel der Werthschätzung geistiger Güter. Die Folgen sind unabsehbar. Boston hat, obwohl erst zweihundert vierunddreißig Jahre alt, vielleicht schon mehr bedeutende Männer und Frauen hervorgebracht, als irgend eine andere Stadt der modernen Welt. Nennen wir nur einige der hervorragendsten, wie Charles und George Sumner, Dr. Howe, Geo. Andrews, Theodor Parker, Lloyd Garrison, Wendell Philipps, Richard H. Dana, Edw. Everett, Ralph Waldo Emerson, James Russell Lowell, Oliver W. Holmes, George Ticknor, Horace Mann, blos unter den Männern dieses Jahrhunderts! Dieses Boston steckt gestopft voll Genies und Talenten höchsten Ranges, und da stets eine Hälfte seines jungen Nachwuchses auswandert, so streut es reichen Samen der Humanität über alle Gauen dieses Festlandes aus.

Die Hauptsache dabei ist aber doch immer wieder die Bildung der Massen. In Boston ist sie gleichmäßiger über alle Schichten der Bevölkerung verbreitet, als irgendwo – immer natürlich die eingewanderten Irländer und einige andere europäische Nationalitäten (besonders Belgier und Franzosen) ausgenommen – und auch diese erscheinen auf verhältnißmäßig gehobenem Standpunkte. Hier ist ein anderes sociales Problem der Gegenwart gelöst, an welchem Europa so schwer und convulsivisch arbeitet: der Pöbel ist abgeschafft.

Aber nicht minder ist die Aristokratie abgeschafft und das Menschenrecht sans phrase verwirklicht. Der reichste Bostoner hat wenigstens begriffen, daß er der Gesellschaft die Möglichkeit seines Reichthums verdankt, der vornehmste und bildungsstolzeste, daß er der Gesellschaft Capital und Zinseszins seiner Bildung und Bildungsgenüsse schuldet. Deshalb denn das merkwürdige Schauspiel, daß das aristokratische Stadtviertel Bostons, die Straßen, wo die Millionäre hausen, von jenen Straßen durchschnitten wird, wo die aus der Sclaverei entronnenen Neger zu Tausenden beisammen wohnen. Es ist wahr, diese Bostoner Nabobs haben aus Todesangst vor dem Verlust ihres Handels mit dem sclavenhaltenden Süden in den fünfziger Jahren ostentatiös die Auslieferung der flüchtigen Sclaven Anthony Burns, und Anthony Sims betrieben und durchgesetzt. Aber gleichzeitig beherbergten sie oder duldeten in ihrer nächsten Nachbarschaft Hunderte flüchtiger Sclaven, die hier wie in Abraham’s Schooße weilten. Und als der Unionskrieg ausbrach, strömten ihre Söhne schaarenweis zur Unionsfahne und gaben sich Sprößlinge der vornehmsten Familien dazu her, in den zuerst gebildeten Neger-Regimentern als Unter- und Oberofficiere zu dienen, ihre Töchter, um die Spitäler der Union mit freiwilligen Wärterinnen, die freigewordenen Sclaven mit Lehrerinnen zu versorgen.

Die Extreme berühren sich. Kein Wunder, daß in Boston dicht neben dem schlimmsten puritanischen Fanatismus, an welchem überhaupt ganz Neu-England krankt, der moderne religiöse Freisinn sich eingebürgert hat; daß dort der Knownothingismus entstanden ist, aber auch zugleich die aufrichtigste Werthschätzung deutscher Kunst und Wissenschaft. Beim Schillerfeste 1859 bestand die Zuhörerschaft von nahe viertausend Personen zu drei Viertheilen aus Yankees, welche den deutschen Reden des Abends mit vollem Verständniß zu folgen vermochten, und deutsche Bücher und Kunstwerke finden in Boston einen ausgezeichneten Markt.

Kurz, dieses Boston, diese Freistatt des wahren Menschenthums, diese erste Stadt der Welt an ideeellem Werthe, ist glücklicherweise – keine Erfindung, sondern eine Wirklichkeit, eine überraschende Entdeckung!

Wie stattlich und zugleich reizend Boston sich dem Auge darstellt, zeigt unser Bild, das indeß nur einen Theil der über drei Hügel verstreuten Stadt wiedergiebt. Wie ihre Lage überaus malerisch und prachtvoll, so ist sie nicht minder in mercantilischer Beziehung vortrefflich: sie hat Boston zum zweiten Seehandelsplatze der amerikanischen Union gemacht. In dessen befestigtem weitem und tiefem Hafen können fünfhundert große Schiffe bequem sich bergen, während jahraus, jahrein Tausende von Fahrzeugen aus und nach allen Meeren ein- und auslaufen. Als eine Specialität des Bostoner Verkehrs sei der große Eishandel erwähnt, welchen es namentlich mit Ostindien betreibt. Allein nach Calcutta gingen durch Bostons Vermittelung im Jahre 1856 über zwölftausend Tonnen nordamerikanischen Eises.

In der ersten Hälfte des siebenzehnten Jahrhunderts von englischen Einwanderern gegründet, zählt es heute über 140,000 Einwohner, mit den Orten seiner unmittelbaren Nachbarschaft, die zur Stadt gezählt werden müssen, an 200,000, von denen ziemlich die Hälfte Fremde sind. Daß Boston gewissermaßen die Wiege der amerikanischen Freiheit ist, wissen unsere Leser. Hier, in Bunkershill, das jetzt im Weichbilde der Stadt selbst liegt, wurde die erste Schlacht im großen Unabhängigkeitskriege geschlagen, hier auch einer der größten Söhne Amerikas, Benjamin Franklin, geboren.




Blätter und Blüthen.


Die geheimen Orden unserer Tage. Im neunzehnten Jahrhundert ist der Drang nach Oeffentlichkeit, Licht und Wahrheit entschiedener als in jedem früheren hervorgetreten. Im Großen und Ganzen haben daher geheime Orden, Verschwörungen und Complote bei weitem nicht mehr jene Bedeutung, welche sie in früheren Zeiten gehabt hatten. Leider giebt es aber noch immer finstere Winkel genug, welche guten Grund haben, keine Lichtstrahlen eindringen zu lassen, auch giebt es noch immer manche Regierungen, die eine freie und offene Erörterung der Verhältnisse nicht zulassen und daher ihre Gegner gewissermaßen zwingen, sich in den Schleier des Geheimnisses zu hüllen. Trotz dem allgemeinen Streben nach Oeffentlichkeit hat es daher auch im neunzehnten Jahrhundert mannigfaltige Verschwörungen gegeben, welche mehr oder weniger unter dem Einfluß geheimer Orden standen. Gegen Ende der Napoleonischen Herrschaft machte der sogenannte Tugendbund viel von sich reden. Bis auf den heutigen Tag sind zwar die geheimen Fäden, welche in demselben zusammenliefen, noch nicht vollständig zu Tage gekommen, weil die kurz nach 1815 eintretende Reaction den Führern des Tugendbundes die Nothwendigkeit auferlegte, das Geheimniß, welches bis dahin unverbrüchlich bewahrt worden war, auch später noch mehr oder weniger aufrecht zu erhalten. Einzelne Thatsachen, welche sich auf den Tugendbund beziehen, sind aber im Laufe der Jahre doch zu Tage getreten. Es unterliegt z. B. keinem Zweifel, daß General Scharnhorst eines der hervorragenden Mitglieder dieses Ordens war und daß im Frühlinge des Jahres 1813 sehr bedeutungsvolle Beschlüsse von dem Tugendbunde gefaßt worden sind. Damals war König Friedrich Wilhelm der Dritte von Preußen mit dem General York, welcher sich von den Franzosen losgesagt hatte, im höchsten Grade unzufrieden. Er wollte denselben vor ein Kriegsgericht stellen und erschießen lassen. Der Tugendbund war entschlossen, den Schritt, welchen General York gethan hatte, im Nothfalle mit Gewalt aufrecht zu erhalten und nicht zu dulden, daß der wackere General als Lohn für seine aufopfernde Vaterlandsliebe eine Kugel erhalte. Für den Fall, daß Friedrich Wilhelm der Dritte auf seiner ursprünglichen Ansicht beharrt, den General York vor ein Kriegsgericht gestellt und die Allianz mit Frankreich festgehalten hätte, war der Beschluß gefaßt, den König gefangen zu nehmen, auf dem Donjon der Festung Glatz festzusetzen und dann den Krieg gegen Frankreich auch ohne und gegen den Willen Friedrich Wilhelm’s des Dritten zu beginnen. Im letzten Augenblicke gab der König nach, so daß die vom Tugendbunde gefaßten Beschlüsse nicht zu Ausführung kommen brauchten. Ohne Zweifel erhielt jedoch Friedrich Wilhelm der Dritte einige Winke über die Absichten des Tugendbundes, und daher kam es, daß er alle diejenigen, welche im Verdachte standen, daran theilgenommen zu haben, theils verfolgen ließ, theils ungeachtet ihrer großen Verdienste um das Vaterland mehr oder weniger ignorirte.

In Italien begannen um dieselbe Zelt, wie in Deutschland die Tugendbündler, die Carbonari ihre geheime Wirksamkeit. Sie trugen viel dazu [367] bei, das französische Joch in Italien zu zertrümmern. Während aber der deutsche Tugendbund nach 1815 keine Lebensthätigkeit von einiger Bedeutung mehr kundgab, wirkten die Carbonari in Italien für die Einheit und die Freiheit Italiens fort. Den italienischen Carbonari sind wesentlich die Bewegungen beizumessen, welche in den Jahren 1819, 1820 und 1821 im österreichischen Theile Italiens, in Neapel und Piemont ausbrachen. Obgleich diese mit furchtbarer Grausamkeit niedergeworfen wurden, gelang es den italienischen Regenten doch niemals, die geheimen Verbindungen, welche im Lande bestanden, aufzulösen. Ein geheimer Verkehr zwischen den Gesinnungsgenossen in und außerhalb Italiens fand unausgesetzt statt. Die Schriften, welche Mazzini und seine Gesinnungsgenossen drucken ließen, wurden in Italien verbreitet, obgleich auf dem bloßen Besitze derselben die Todesstrafe stand. Auf der Oberfläche des politischen Lebens mochte scheinbar vollkommene Ruhe herrschen. Unter der Asche glimmte der Funke der Freiheit fort, welcher in den Jahren 1847, 1848 und 1849 von Neuem in lodernde Flammen ausbrach, 1859 und 1860 endlich große Erfolge errang und schwerlich eher ruhen wird, als bis Venetien und Rom mit Italien verbunden sein werden.

In Frankreich spielten unter den Bourbonen älterer und jüngerer Linie die geheimen Verbindungen eine bedeutende Rolle. Praktische Wirkungen konnten sie jedoch daselbst nur insofern hervorrufen, als sie mit mächtigen Volksdemonstrationen zusammentrafen. Die Julirevolution sowohl, als die Februarrevolution, waren unstreitig die Ergebnisse einer weitverbreiteten Unzufriedenheit des Volkes. Schwerlich würden sie aber so großartige Erfolge gehabt und zu einem so raschen Ende geführt haben, wenn nicht die Mitglieder geheimer Verbindungen in das planlose Treiben der Massen eine gewisse Ordnung und Organisation gebracht hätten. Wie es im gegenwärtigen Augenblicke mit den geheimen Verbindungen Frankreichs steht, ist schwer zu sagen. Die französische Polizei ist jetzt wachsamer, als zur Zeit Ludwig Philipp’s, Carl’s des Zehnten und Ludwig’s des Achtzehnten. Die furchtbaren Schläge, welche Napoleon der Dritte seit dem 2. December 1851 auf alle seine Gegner geführt, hat diese sehr vorsichtig gemacht. Bei der uns bevorstehenden nächsten Katastrophe wird es sich aber zeigen, daß auch die Napoleonische Herrschaft nicht im Stande war, alle geheimen Verbindungen auszurotten.

Wenn wir von geheimen Verbindungen reden, dürfen wir Freimaurer, Jesuiten und die sogenannte Camorra nicht unerwähnt lassen. Die Freimaurer haben in neuerer Zeit Staat und Kirche vollständig unberücksichtigt gelassen; sie wollen nur außerhalb der staatlichen und kirchlichen Verhältnisse wirken. Da aber in unsern Tagen Staat und Kirche die wichtigsten Interessen der Menschheit in sich vereinigen, haben die Freimaurer so ziemlich alle höhere Bedeutung verloren. Es mag für Viele angenehm sein, durch diesen Orden mit Männern von Rang, Stand und Vermögen in gewisse Beziehungen zu treten, für das Ganze, für die Menschheit erwächst daraus schwerlich ein erheblicher Vortheil. Einen ganz andern Charakter hat der geheime Orden der Jesuiten. Wir nennen ihn geheim, theils weil er noch immer in vielen Staaten Europa’s verboten ist, ohne freilich sich viel darum zu bekümmern, theils weil er auch da, wo er nicht verboten ist, die meisten seiner Operationen, wenigstens der großen Masse der Uneingeweihten gegenüber, mit dem Schleier des Geheimnisses verhüllt. Die Jesuiten können geradezu als die Gegenfüßler der Freimaurer bezeichnet werden. Staat und Kirche, welche die Letztern von ihren Verhandlungen ausschließen, bilden die eigentliche Domäne der Jesuiten, und während die Freimaurer eine gewisse Aufklärung zu verbreiten und die confessionellen Unterschiede zu verwischen bemüht sind, bildet der Aberglaube das Capital, von welchem die Jesuiten ihre Zinsen beziehen, und ist religiöse Verfolgungssucht das Mittel, mit dessen Hülfe sie Reichthümer sammeln und Herrschaft üben.

Neben den Jesuiten wird mit Recht die Camorra genannt, jene Verbrüderung, welche unter den Bourbonen in Neapel weit verzweigt war und ihre Abgaben von allen denjenigen erhob, welche sich vor ihren Mitgliedern fürchteten. Auf allen Märkten und Straßen fand sich, so oft ein Kauf abgeschlossen wurde, eine finster und unheimlich aussehende Person, welche die Hand ausstreckte. Gewöhnlich legten Käufer oder Verkäufer etwas in dieselbe, ohne ein Wort zu sagen. Die Abgabe wurde an die Camorra bezahlt, weil die Betheiligten fürchteten, falls sie sich dessen weigerten, könnte ihnen Unheil widerfahren; denn die Camorra war eine zahlreiche Verbrüderung und bestand aus Leuten ohne Gewissenhaftigkeit, aus Gaunern, Banditen und Dieben, deren Grimm Niemand erwecken wollte. In neuerer Zeit, seit Victor Emanuel über das Königreich Italien herrscht, hat sich ein neuer und besserer Geist im Schooße des italienischen Volkes geltend gemacht, neben welchem der geheime Orden der Camorra so wenig, wie der der Jesuiten, auf die Dauer bestehen kann. Die Camorra hat daher ihre praktische Bedeutung verloren und der Orden der Jesuiten besteht nur noch in denjenigen Theilen Italiens, welche nicht zum Reiche Victor Emanuel’s gehören.

Man sollte glauben, daß in dem republikanischen Amerika, im Lande der freien Presse, der freien Wahlen und überhaupt der Oeffentlichkeit, kein Boden für einen geheimen Orden zu finden sei. Dem ist aber nicht so; wo die Sclaverei so lange herrschte, wie im Süden der Vereinigten Staaten, wo der Kampf zwischen ihr und der Freiheit mit so großem Nachdrucke geführt wurde und gewissermaßen noch jetzt geführt wird, wie im Schooße der nordamerikanischen Union, da kann es an Leidenschaften nicht fehlen, welche eines verhüllenden Schleiers bedürfen. Furchtbare Leidenschaften und verhüllende Schleier machen aber die Grundbestandtheile der meisten geheimen Verbindungen aus.

In den Jahren 1856 bis 1860 tauchte in den Vereinigten Staaten der Orden des goldenen Cirkels auf, dessen Zweck darin bestand, die Herrschaft des Südens, der Sclavenhalter und der Aristokratie über den Norden, die freien Arbeiter und die große Masse des Volkes auszudehnen. Der Orden des goldenen Cirkels war es, welcher wesentlich dazu beitrug, die Rebellion des Südens einzuleiten und im Gange zu erhalten. Wahrscheinlich besteht derselbe heutzutage noch fort. Wie in den Jahren 1859 und 1860 ein unsichtbarer Hebel in allen Staaten des Südens bewirkte, daß um dieselbe Zeit fast aller Orten dieselben Maßregeln den Freunden der Freiheit der Union gegenüber ergriffen wurden, so sehen wir auch jetzt, daß aller Orten die frühern Anhänger der Rebellion und der Sclaverei zusammenwirken, um die erhabenen Grundsätze der Unabhängigkeitserklärung, wirkliche Freiheit, wirkliches Recht, nicht aufkommen zu lassen.

Wie in den Jahren 1859 und 1860 die Vorbereitungen zur Rebellion nicht blos der Ausdruck der öffentlichen Meinung, sondern die Folge einer geheimen Organisation waren, so ist die jetzt wieder neu gegründete Einmüthigkeit ohne Zweifel aus dieselbe Quelle zurückzuführen. Unmittelbar nach den Niederlagen, welche der Süden im April 1865 erlitt, war der Orden des goldnen Cirkels seinem Erlöschen nahe. Die Furcht, als Mitschuldiger des Mörders Wilkes John Booth[WS 2] angesehen zu werden, mochte manchem Ritter des goldnen Cirkels einige Angst einjagen. Die vollständige Straflosigkeit, welche der Präsident Johnson[WS 3] allen Rebellen angedeihen ließ, und seine Theorie der Reconstruction haben den wohlthätigen Schrecken verscheucht, welchen die Waffen der Union im Süden hervorgerufen hatten. Von Neuem befinden sich die Staaten, die früher das Schwert gegen die Union ergriffen hatten, im Zustande des Kampfes gegen den Norden, nur mit dem Unterschiede, daß sie diesen Kampf zur Zeit noch nicht wieder mit dem Schwerte in der Hand, sondern nur vermittels der Presse, der Volksversammlungen und der Abstimmungen führen. An diesem Kampfe nehmen nicht blos die Männer, sondern auch die Frauen, nicht blos die ehemaligen Soldaten, sondern auch die Geistlichen Theil, so sonderbar dieses auch erscheinen mag, da die Sclaverei einem geordneten Familienleben nicht minder, als dem Geiste christlicher Liebe und brüderlicher Gleichheit widerstrebt. Schwerlich würde der Süden nach so schweren Niederlagen, welche er erlitt, sobald schon wieder einen Kampf mit dem Norden gewagt haben, wenn nicht eine geheime Organisation von Neuem zu diesem Behufe in Thätigkeit getreten wäre.

Ueber die fenische Brüderschaft, die auch hierher zu zählen ist, haben die Leser der Gartenlaube bereits in Nr. 20 d. J. Näheres erfahren.

Geheime Verbindungen gehören immer zu den Krankheitserscheinungen eines Staates. Wo diese sich zeigen, sollte eine vorsichtige Regierung sich bemühen, deren Ursachen zu beseitigen. Die Ursache, welche die geheime Verbindung des goldnen Cirkels hervorrief, war die Sclaverei; sie ist jetzt in den Vereinigten Staaten Nordamerikas gesetzlich aufgehoben. Schwerlich wird sich, nachdem dieses geschehen, der Orden des goldnen Cirkels lange mehr behaupten können. Die Ursache der Entstehung der fenischen Brüderschaft ist die unleugbare Mißregierung, unter welcher Irland leidet. Die Ursache, welche die Entstehung des Jesuiten-Ordens hervorrief, war Aberglaube in Verbindung mit Herrschsucht und Fanatismus. So lange diese drei mächtigen Hebel nicht zerbrochen sind, wird es immer Jesuiten im Priester- oder im Laienrocke geben.
G. St.




Franz Deák. Unter den Führern der magyarischen Bewegung ist im Auslande kaum ein Name mehr genannt und mehr bekannt, als der des Leiters der gemäßigt liberalen Partei, Franz Deák; daher wird es sicher unsern Lesern interessant sein, über Persönlichkeit und Leben des unermüdlichen Patrioten aus einer mit den ungarischen Verhältnissen sehr vertrauten Feder im Nachstehenden einige Einzelheiten zu erfahren, die zur Charakteristik des bedeutenden Mannes beitragen.

Es kann nicht unsere Absicht sein, uns in eine Auseinandersetzung der politischen Verdienste Deák’s einzulassen; dies würde zu weit führen, liegt außerhalb der Tendenz dieser Blätter und ist überdies in den zahlreichen politischen Zeitschriften ausführlich zu finden. Nur dies sei uns erlaubt zu bemerken, daß diejenigen, welche ihn für einen Agitator halten, im Irrthume sind; Deák ist nichts weniger als dies. Er ist ein seinem Volke und Vaterlande innigst ergebener, weiser Politiker, der zu warten, der Einiges zu opfern versteht, um das Wichtigere zu retten und zu bewahren, wie der Steuermann oft kostbaren Ballast über Bord wirft, um das Schiff in den schützenden Hafen führen zu können. Er ist ganz eigentlich der Mann des Friedens; nichts desto weniger ist er in der Nationalitätsfrage durch und durch Magyare, der die Einheit und damit die Kraft und das Glück seines Vaterlandes in dessen möglichst ausgedehnter Magyarisirung sucht, gleichwohl aber ein entschiedener Gegner jeder andere Nationalitäten aufregenden Vergewaltigung ist.

Allein selbst gänzlich abgesehen von der hervorragendsten seiner Begabungen – von seinen eminenten politischen Fähigkeiten – bleibt noch so viel des Erwähnenswerthen an diesem merkwürdigen Manne, daß man kaum weiß, wo anzufangen, wo zu enden ist! Sein Glaubensbekenntniß ist in seinen unvergeßlichen, nie genug zu wiederholenden Worten enthalten: „Um frei zu sein, müssen wir zuerst gerecht sein! Wir fordern Gerechtigkeit von oben, wohlan, laßt sie uns zuerst nach unten üben!“ Demgemäß ist er bei jeder Gelegenheit der eifrige Vertreter der untern Volksclassen, für welche er sein unglaubliches Rednertalent freudig in die Wagschale legt. Dieses Talent ist aber so großartig, daß wir nicht anstehen zu behaupten, Deák sei einer der ersten Redner, nicht nur seines Vaterlandes, sondern der Welt. Was seine Reden charakterisirt, ist nicht jene mit Blitzesschnelle ergreifende, zauberhaft anziehende, glänzende, blumenreich dichterische Sprache, nicht jene glühende und sprühende Beredsamkeit, mit welcher Kossuth seine Erfolge erzielte, sondern eine sonnenklare, scharfe, fehlerlose Logik, ein ruhiger, fester, tiefer Ideengang und eine wohlthuende innere Wärme, welche sich über die ihrer Natur nach kältesten und trockensten Fragen ergießt. Bei ihm ist eben der kühl erwägende Verstand mit dem wärmsten, tiefstfühlenden Gemüthe gepaart, und davon trägt auch sein Aeußeres das deutlichste Gepräge. Niemand kann in dieses wohl und gesund aussehende, regelmäßige Gesicht mit den strahlend schönen, lebhaften Augen, der hohen Stirn, den heitern ruhigen Zügen blicken, ohne von der Reinheit dieser Seele überzeugt zu sein und sich unwiderstehlich zu dem Träger desselben hingezogen zu fühlen. Seine [368] Gestalt ist etwas über Mittelgröße und fängt an sich der Corpulenz zu nähern. Wie richtig Deák von seinen Landsleuten erkannt und gewürdigt wird, zeigte sich unwiderleglich, als bei einem Gastgebote einer der Koryphäen des Tages sich, das Glas in der Hand, erhob und, im Begriffe einen der von den Ungarn so sehr geliebten, endlosen Toaste auszubringen, mit den Worten anhob: „Ich bringe dies Glas auf die Gesundheit und das lange glückliche Leben des ehrenhaftesten, gerechtesten, weisesten unter den Magyaren, des Mannes, auf den das ganze Land voll Liebe, Vertrauen und Hoffnung emporblickt“ –, „Genug, genug! Wir wissen wer gemeint ist! Das kann nur Deák sein!“ ward er einstimmig unterbrochen, und „Eljen Deák Ferencz!“ brauste es einem Orcane gleich durch den Saal, daß die Fenster zitterten.

Daß ein solcher Mann nicht unbeobachtet durch das Leben schreitet, ist begreiflich; allein jedes gekrönte Haupt könnte sich höchlich befriedigt fühlen mit den ehrerbietigen und doch gar herzlichen Huldigungen, welche der bescheidene Mann des Volkes in so reichlichem Maße erhält. Zeigt er sich auf einem öffentlichen Spaziergange, so macht sein Erscheinen Epoche. Die vornehmsten Damen verlassen ihre Kutschen, eilen auf ihn zu und fühlen sich beglückt und in ihren eigenen Augen erhoben, dem „Deák bácsi“ die Hand drücken zu können. An dem Tage, als er seine berühmte Adreßrede hielt und Nachmittags im Stadtwäldchen, Pests reizendstem Spaziergange, erschien, verbreitete sich die Kunde von seiner Anwesenheit mit Blitzesschnelle unter den Lustwandelnden. Frauen und Mädchen der höchsten Aristokratie umringten ihn, alle wollten ihm die Hand schütteln, alle dankten dem verehrten Manne, viele vergossen Thränen der Rührung; und als der anspruchlose Patriot einen schlichten Omnibus bestieg, um nach Hause zu fahren, füllte sich derselbe im Nu mit den vornehmsten Damen, welche sich zu der Ehre drängten, in Gesellschaft des Gefeierten zur Stadt zurückzufahren. Eine noblere Fracht hat wohl selten ein Omnibus gehabt! Deák lebt und wird noch lange nach seinem Tode leben im Munde des Volkes; denn, wie um König Matthias und Kaiser Joseph den Zweiten, hat sich auch um ihn ein eigener Anekdotenkreis gebildet.

Er aber bleibt sich gleich! Einfach, ein zweiter Cincinnatus, lebt er auf seinem Gütchen im Zalaer Comitate, dem einzigen, welches er sich vorbehielt, als er seine übrigen Güter an seinen Bruder abtrat, der ihm dafür eine Leibrente zahlt. Sobald das Vaterland seiner bedarf, verläßt er seine geliebte ländliche Einsamkeit und eilt nach Pest, wo er in einem der ersten Hotels seine bleibende Wohnung hat, die dem Andrang der Besuchenden, der Rath- und Hülfesuchenden häufig zu klein wird. Er hört Jeden freundlich an, geht voll herzlicher Theilnahme in die Angelegenheit jedes Einzelnen ein, hat Rath, Trost und thätige Hülfe für Jeden, denn sein Wohlthätigkeitstrieb ist so stark, daß er durch denselben manchesmal über die vernünftig gesetzte Grenze gerissen, ja, bis zur Erschöpfung seiner nicht allzubedeutenden Mittel bewogen wird. In solchen ihn jedesmal lebhaft betrübenden Fällen, wo seine eigenen Kräfte zur Hebung einer großen Noth nicht ausreichen, nimmt er anstandslos seine Zuflucht zu den Börsen seiner bemittelten Freunde. So z. B. verdanken ihm die Kinder des vor einigen Jahren arm verstorbenen Dichters Vörösmarty, Sängers des in Ungarn allbekannten und allbeliebten „Szozat“, deren Vormundschaft er willig übernahm, ein Vermögen von über 100,000 Gulden, welches er durch Subscription für sie zusammenbrachte. In eigenthümlicher Weise aber ist er erfinderisch, Hülfsquellen für wohlthätige Zwecke zu eröffnen. Da mit seinen Bildnissen und Photographien ein begreiflicher Cultus getrieben wird, indem Jeder das Portrait des allgemein verehrten Mannes besitzen will und es auch thatsächlich in der ärmsten Hütte, wie im fürstlichen Palaste zu finden ist, so ist Deák den Bitten und Zumuthungen der Photographen und bildenden Künstler in oft belästigender Weise ausgesetzt. Doch giebt er sich willig zu allen diesen zahllosen Abconterfeiungen her unter der Bedingung, daß gewisse Procente des dadurch erzielten Reinertrages dem Blinden- und dem Waiseninstitute zufallen, worüber die Pester Stadtbehörde die Controle hat. Durch diese Verfügung sind den genannten beiden Wohlthätigkeitsanstalten bereits sehr erhebliche Summen zugegangen.

Ja, „Az ország nagyja!“ so grüßte ihn im vorigen Jahre der Kaiser bei einer zufälligen Begegnung im Stadtwäldchen – „der Große des Landes (Ungarn)“, und gewiß ziemt dies Prädicat dem Manne, dessen Treue, Redlichkeit, unerschütterliche, aber gleichwohl weise Vaterlandsliebe nicht, wie die Mächtigen der Erde pflegen, mit Gold, Rang und Würden belohnt werden kann. Die Bürgerkrone allein wäre die passende Zier für diese greise Stirn!




Das große neue Wasserwerk für London. Kein Land der Welt kann sich so großartiger und nützlicher Unternehmungen rühmen, wie England. Während bei uns noch so viele Geld- und Geisteskräfte durch politische Unruhen und Conflicte verbraucht werden, richtet England seine reichen Capitalien und Geisteskräfte ungehindert und frei auf Vervollkommnung socialer und gesundheitlicher, der Verkehrs- und Handelsverhältnisse. So liegt jetzt einer der großartigsten Pläne zur Versorgung Londons mit gutem und reinem Wasser vor. Es gilt nichts Geringeres, als einen Aquäduct von mehr als einhundert und siebenzig Meilen Länge, der sich von den Hügeln von Wales, Plinlimmon und Cader Idris bis vor London erstrecken soll. Jene Hügel liefern das Wasser zum Severn und zwei kleineren Flüssen, die für London in Anspruch genommen werden sollen. Die Terrainverhältnisse und das Wasser selbst sind ungemein günstig; letzteres ist als Gebirgswasser ungemein weich und rein und fließt in solcher Fülle, daß London täglich mit zweihundert Millionen Gallonen versorgt werden kann. Da die Hügel mit diesen Flüssen vierhundert und fünfzig Fuß über dem Hochwasser der Themse liegen, geben sie Gelegenheit, das Wasser in natürlichem Gefälle heranzuleiten. Es soll zunächst durch zwei Aquäducte je zwanzig Meilen lang in zwei Reservoirs geleitet werden; diese sollen dann vermittels zusammenlaufender Aquäducte vor acht Städten vorbei im Nordwesten Londons große Dienst-Reservoirs füllen. Von diesen aus werden zehn Meilen lange Röhren in die schon liegenden Röhren der jetzigen Wasser-Compagnien führen, von wo aus dann alle Theile Londons durch natürlichen Hochdruck ohne Pumpwerke mit dem besseren und gesünderen Wasser versorgt werden sollen. Die Kosten des ganzen Werkes sind auf siebenzig Millionen Thaler veranschlagt worden, für die Ausführung glaubt man sieben Jahre zu brauchen. Die Kosten erscheinen groß und werden wahrscheinlich noch überschritten werden; aber wenn der Nutzen an Gesundheit und sonstige Vortheile berechnet werden, wie man das nur in England versteht, wird auch dieses große Capital sich reichlich verzinsen.

So hat man bereits berechnet, daß dies neue Wasser wegen seiner Weichheit eine jährliche Ersparniß von mindestens zwei und einer halben Million Thaler verursachen werde und zwar hauptsächlich allein an Seife. Dies erklärt sich durch die von Rawlinson ermittelte Thatsache, die er selbst im Wesentlichen so mittheilt: „Wasser bis zu sechs Grad Härte ist weiches Wasser, darüber hinaus hartes Wasser. Die Härte fängt mit einem Gran doppelkohlensaurem oder Schwefelkalk in jeder Gallone Wasser an. Jeder Grad der Härte zerstört fünf Loth Seife in je hundert Gallonen Wasser, das zum Waschen gebraucht wird. Weiches Wasser ist daher ökonomisch werthvoller als hartes, und zwar in dem Verhältniß von zehn Loth Seife für je hundert Gallonen Wasser und für jeden Grad der Härte; d. h. also im Allgemeinen, je mehr Kalktheile das Wasser enthält, desto mehr Seife ist nöthig, um diese zu binden und zu fällen. Erst wenn die Seife dies gethan hat, übt sie ihre reinigende Kraft auf die Wäsche aus. Außerdem ist weiches Wasser aber auch viel gesünder, abgesehen davon, daß das Gebirgswasser, welches London versorgen soll, weit reiner ist, als alle Quellen, aus denen London bis jetzt getränkt wird. Endlich ist es bekannt, daß weiches Wasser nicht nur beim Waschen, sondern auch beim Kochen, namentlich bei der Zubereitung von Thee und Kaffee und von Hülsenfrüchten, sowie ganz besonders bei Verwandelung in Dampf große Ersparnisse verursacht.

Der Schöpfer dieses großen Planes, London mit Wasser zu versorgen, heißt J. F. Bateman, welcher schon Glasgow durch ein großartiges Bauwerk mit reinem und gutem Wasser versorgt hat.

Da man in London vor den größten Kosten und Hindernissen nicht zurückschreckt, wenn es öffentliches Wohl und das große Gut der Gesundheit gilt, läßt sich erwarten, daß es auch mit frischer Kraft und seinem bekannten Unternehmungsgeiste an Ausführung dieses Rieseswerkes gehen werde. Die großen Städte Deutschlands, welche zum Theil an viel schlechterem Wasser und geradezu vergifteten Brunnen leiden, können sich leider nicht einmal kleiner Unternehmungen gegen dieses zunehmende Uebel rühmen, so daß noch mancher sogenannte Labetrunk Tod und Verderben mit sich bringen wird.




Das plötzliche Erscheinen eines neuen Sternes. Das höchste Interesse unter den Astronomen erregt gegenwärtig ein Naturphänomen, dessen Seltenheit so groß ist, daß man das Auftreten desselben bisher nur nach Jahrhunderten zählen konnte. Am vergangenen 12. Mai sahen John Birmingham und Baxendell in England und fast gleichzeitig der französische Ingenieur Courbebaille in Rochefort im Sternbilde der nördlichen Krone einen Stern an einer Stelle, wo man bisher mit freiem Auge einen solchen nicht gesehen hatte. Die Helligkeit dieses Sternes war so groß, daß derselbe dem hellsten Sterne (Gemma) in dem genannten Sternbilde fast gleich kam. Allein diese Helligkeit des neuen Sternes nahm bereits in den darauf folgenden Tagen sehr schnell ab, so daß derselbe gegenwärtig schon wieder für das unbewaffnete Auge verschwunden ist. Eine Vergleichung des Ortes, welchen dieser merkwürdige Stern am Himmel einnimmt, mit dem großen, unter Professor Argelander’s Leitung zu Bonn angefertigten Sternenverzeichniß zeigt, daß sich bereits früher an jener Stelle ein ganz schwacher, nur mit sehr großen Fernröhren wahrnehmbarer Stern befunden hat, so daß also der besagte Stern streng genommen nicht zu den neu erschienenen, sondern nur zu den sogenannten veränderlichen Sternen zu rechnen ist, welche nicht zu allen Zeiten dieselbe Lichtmenge aussenden. Das Interesse an dieser seltenen Naturerscheinung wird aber gerade in gegenwärtiger Zeit ein ganz besonderes, wo man sich durch die sogenannte Spectral-Analyse im Besitze der Mittel befindet, lediglich aus der genauen Untersuchung des Lichtes der Himmelskörper Aufschluß über ihre Natur und physische Beschaffenheit zu erlangen. Auch über den gegenwärtig so plötzlich aufgeflammten Stern liegen bereits derartige Beobachtungen vor, aus denen hervorgeht, daß ein Theil seines Lichtes, wie bei unserer Sonne, von einem glühend flüssigen Kern, ein anderer Theil aber von einer glühenden Gasmasse ausgesandt wird, deren Temperatur beträchtlich höher sein muß, als die des glühenden Kernes. Gerade dieser Umstand ist es, welcher das Licht jenes neuen Sternes von dem Lichte unserer Sonne und dem aller übrigen bis jetzt spectralanalytisch untersuchten Fixsterne unterscheidet. Wir verdanken diese Beobachtungen, wie bereits so viele andere auf diesem Gebiete, den beiden englischen Naturforschern Huggins und Miller.

Berücksichtigt man nun, daß die Fixsterne selbstleuchtende Weltkörper sind, welche sowohl ihrer physicalischen, wie auch ihrer chemischen Beschaffenheit nach mit unserer Sonne im Wesentlichen übereinstimmen, so deutet das plötzliche Auflodern eines neuen Sternes auf eins der gewaltigsten und großartigsten Phänomene, welche überhaupt im Bereiche des für uns sichtbaren Universums vor sich gehen können. Wir müssen nach den angeführten Ergebnissen der Spectralanalyse annehmen, daß durch irgend welche Ursache auf einem bisher wenig oder gar nicht leuchtenden Himmelskörper plötzlich eine ungeheure Wärmeentwickelung stattfindet, die nothwendig auch mit einer gewaltigen Lichtentwickelung verbunden sein muß. Wir haben es demgemäß hier im eigentlichsten Sinne des Wortes mit einem Weltenbrande zu thun, und wenn je unsere Sonne durch einen ähnlichen Proceß plötzlich mehr als das Hundertfache ihrer gegenwärtigen Licht- und Wärmemenge auch nur auf die kurze Dauer weniger Tage aussenden würde, so wäre eine vollständige Vernichtung des gesammten organischen Lebens auf der Oberfläche unserer Erde die nothwendige Folge.





Verantwortlicher Redacteur Ernst Keil in Leipzig. – Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: Anekdoet
  2. John Wilkes Booth Mörder von Abraham Lincoln († 15. April 1865)
  3. Andrew Johnson Nachfolger von Abraham Lincoln als Präsident der Vereinigten Staaten