Die Gartenlaube (1866)/Heft 8

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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Keil
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Entstehungsdatum: 1866
Erscheinungsdatum: 1866
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[113] No. 8.
1866.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.

Wöchentlich bis 2 Bogen. Durch alle Buchhandlungen und Postämter vierteljährlich für 15 Ngr. zu beziehen.


Goldelse.
Von E. Marlitt.
(Fortsetzung.)


Elisabeth schritt durch das Dorf nach Lindhof zu ihren gewöhnlichen Musikübungen, die trotz der Ankunft des Herrn Walde nicht abgesagt worden waren. Mit der Rückkehr des Besitzers hatte das Schloß eine ganz andere Physiognomie angenommen. Sämmtliche Fenster im Erdgeschoß an der Südseite, die so lange verschwiegen und geheimnißvoll hinter den weißen Läden gesteckt hatten, spiegelten ihre lange glänzende Reihe im Sonnenlicht. In den Räumen selbst wurde gewaltig gelärmt und hantirt, gesäubert und gelüftet. Eine Glasthür, die das Innere eines großen Saales zeigte, stand weit offen; auf einer der Stufen, die hinunter nach dem Garten führten, lag ein schneeweißes Windspiel; den schlanken Leib unbeweglich hingestreckt auf den sonnenbeschienenen, heißen Stein und die Schnauze auf die Vorderpfoten gelegt, blinzelte es Elisabeth an, als sei sie eine alte Bekannte. An einem offenen Fenster ordnete der Gärtner einen Blumentisch, und der alte Hausverwalter Lorenz schritt eben mit dem Blick eines Untersuchungsrichters durch das Zimmer.

Es war auffallend, daß sämmtliche Menschen, die dem jungen Mädchen im Hause begegneten, wie durch einen Zauberschlag einen völlig anderen Gesichtsausdruck angenommen hatten. War ein Sturmwind durch die schwüle Atmosphäre gebraust und hatte einen neuen Odem in die Räume gehaucht, so daß die Stimmen heller klangen und die gedrückten Menschengestalten sich erfrischt und elastisch aufrichteten? … Selbst der alte Lorenz, dessen Gesichtsmuskeln stets so schlaff und grämlich herabhingen, als ob sie Bleigewichten nachgeben müßten, hatte heute einen wahren Sonnenschein in den Augen, obgleich er einen Augenblick auf die Staubausklopfer erbost war; auch klang seine Stimme so laut, daß Elisabeth überrascht aufsah, denn sie kannte den alten Mann ja nur, wie er geräuschlos, auf den Zehen in das Zimmer der Damen trat und lächelnd, mit möglichst unterdrückter Stimme, seine Meldungen machte.

Erstaunt über dies urplötzlich aufgeblühte neue Leben und Treiben wandte sich Elisabeth nach dem Flügel, den die Damen bewohnten. Hier herrschte jedoch die tiefste Stille. In der Wohnung der Baronin hingen sämmtliche Rouleaux dicht und schwer hinter den Scheiben. Kein Laut drang durch die Thüren, an denen Elisabeth vorbei mußte. Die Luft des schmalen Corridors war mit dem durchdringenden Geruch starker Baldriantropfen gemischt, und als endlich am untersten Ende des Ganges eine Thür geöffnet wurde, erblickte Elisabeth wohl ein menschliches Haupt, aber in welcher Verfassung! Es war die alte Kammerjungfer der Baronin, die vermuthlich sehen wollte, wer so vermessen sei, die feierliche Ruhe des Corridors zu unterbrechen. Die Haube saß schief auf den falschen Locken, von denen das eine Paket bedenkliche Anstalten machte, herunterzufallen. Die Gesichtszüge sahen verstört aus und zwei cirkelrunde, feuerrothe Flecken auf den hervorstehenden Backenknochen zeugten entweder von Fieberhitze oder einer großen, geistigen Erregung. Sie erwiderte Elisabeth’s Gruß kurz und mürrisch und verschwand schnell wieder hinter der leise zugemachten Thür.

Als Elisabeth Fräulein von Walde’s Zimmer betrat – auf ihr mehrmaliges Klopfen war kein „Herein“ erfolgt – da meinte sie, hier spiele der letzte Act des geheimnißvollen Dramas, das in den Räumen der Baronin begonnen hatte. Nicht allein die Rouleaux, sondern auch die dicken, seidenen Vorhänge waren dicht zugezogen. Die tiefe Dunkelheit und Stille hielten sie ab, einzutreten, und eben wollte sie die Thür wieder schließen, als Helene mit schwacher Stimme sie hereinrief. Die junge Dame lag in einem Fauteuil im Hintergrund des Zimmers; sie hatte den Kopf in ein weißes Kissen gedrückt und Elisabeth konnte hören, wie ihr leise die Zähne zusammenschlugen.

„Ach, liebes Kind,“ sagte sie und legte ihre feuchtkalten Hände auf den Arm des jungen Mädchens, „ich habe Nervenzufälle gehabt. Niemand von meiner Umgebung hat es gemerkt, daß ich so unwohl hier liege, und da war ich so fürchterlich allein in dem finsteren Zimmer … Bitte, öffnen Sie die Fenster weit – ich brauche Luft, warme Gottesluft.“

Elisabeth erfüllte sogleich ihren Wunsch, und als das Tageslicht auf das blasse Gesicht der Kranken fiel, sah das junge Mädchen, daß sie heftig geweint hatte.

Die eindringenden Sonnenstrahlen erweckten mehr Leben und Bewegung in dem Zimmer, als Elisabeth geahnt hatte; sie schrak heftig zusammen, als es plötzlich in einer Ecke laut aufkreischte. Dort wiegte sich ein Kakadu mit schneeweißem Gefieder und emporgesträubter gelber Krone auf einem Ring.

„Gott, wie fürchterlich!“ seufzte Helene und drückte die schmalen Hände an beide Ohren. „Das abscheuliche Thier zerreißt mir noch die Nerven.“

Elisabeth’s Blick haftete erstaunt auf dem kleinen Fremdling und glitt dann durch das Zimmer, das aussah wie ein Bazar. Auf allen Tischen und Stühlen lagen reiche Stoffe, Shawls, kostbar gebundene Bücher und die verschiedenartigsten Toilettengegenstände. Fräulein von Walde fing Elisabeth’s Blick auf und sagte kurz, mit abgewandtem Gesicht: „Lauter Geschenke meines Bruders, der gestern unerwartet zurückgekehrt ist.“

[114] Wie kalt klang ihre Stimme, als sie dies sagte! Auch nicht der leiseste Anflug von Freude war in den verweinten Zügen zu entdecken; aus den sonst so sanften Rehaugen sprachen unverhohlen Groll und Bitterkeit.

Elisabeth bückte sich schweigend und hob ein prachtvolles Camellienbouquet auf, das halb verschmachtet am Boden lag.

„Ach ja“ sagte Helene und richtete sich empor, während ein schwaches Roth über ihr Gesicht flog, „das ist der heutige Morgengruß meines Bruders; es ist vom Tisch herabgefallen und vergessen worden … Bitte, stecken Sie es dort in die Vase.“

„Die armen Blüthen,“ sagte Elisabeth halblaut, indem sie die welken braunen Ränder an den weißen Blumenblättern betrachtete, „sie haben auch nicht geahnt, als sie ihre Knospe öffneten, daß sie in einer so kalten Region würden athmen müssen.“

Helene blickte betroffen und forschend zu dem jungen Mädchen auf und ihr Auge sah einen Moment aus, als schmelze es in Reue. „Stellen Sie die Blumen in das offene Fenster; dort haben sie Luft und die wird ihnen gut thun,“ flüsterte sie hastig. „O, mein Gott!“ rief sie, in das Polster zurücksinkend. „Er ist ja gewiß ein vortrefflicher Mensch … aber sein Erscheinen zerreißt die Harmonie eines beglückenden Zusammenlebens!“

Elisabeth sah mit einem fast ungläubigen Ausdruck auf die junge Dame, wie sie so dalag, die gerungenen Hände emporgehoben und die starren Augen nach der Zimmerdecke gerichtet, als habe ihr das Geschick die furchtbarste Prüfung auferlegt … Fehlte dem jungen Mädchen schon gestern jegliches Verständniß für Helenens Handlungsweise, so stand es jetzt geradezu fassungslos vor diesem unbegreiflichen Charakter … Wo war so urplötzlich jenes heiße Dankgefühl geblieben, das aus jedem Worte sprach, sobald Helene des fernen Bruders gedachte? Hatte ein einziger Moment die ganze schwesterliche Zärtlichkeit, die ihr Herz zu erfüllen schien, spurlos verflüchtigen können, so daß sie jetzt beklagte, was nach ihren früheren Aeußerungen doch ein glückliches Ereigniß für sie sein mußte? … Und wenn auch der Heimgekehrte nicht mit dem Kreis sympathisirte, in welchem sie sich allein beglückt fühlte, selbst wenn er ihre liebsten Wünsche durchkreuzte, war es trotzdem möglich, daß sofort Kälte und Groll zwischen zwei Wesen treten konnten, die das Geschick eng aneinander gekettet hatte und die sich um so inniger angehören mußten, als das eine so schutzbedürftig war und das andere so allein stand in der Welt? … Elisabeth fühlte plötzlich ein tiefes Erbarmen für den Mann, der ferne Meere durchschifft, fremde Länder einsam durchstreift hatte und nun nach langem Umherirren blos als störendes Element am eigenen Heerd begrüßt wurde. Allem Anschein nach hatte er nur den einen warmen Punkt, die Liebe zu der Schwester, in seinem stolzen Herzen; wie tief mußte es ihn dann verwunden, daß gerade sie kein freundliches Willkommen für ihn hatte und ihr Herz kalt von ihm abwandte!

In dem Augenblicke wurde die Thür heftig aufgestoßen, und eine weibliche Gestalt erschien auf der Schwelle. Es kostete Elisabeth Mühe, sich zu überzeugen, daß diese Erscheinung in äußerst vernachlässigter Toilette und alle Zeichen großer Aufregung an sich tragend die Baronin Lessen war. Das spärliche, sonst stets mit fast peinlicher Sorgfalt geordnete Haar fiel aus einer Morgenhaube auf die Stirn, die, gewöhnlich so blaß und elfenbeinartig, jetzt eine dunkle Röthe überflammte. Aus den Augen war das stereotype, stolze Selbstbewußtsein gewichen, und wie unbedeutend erschienen sie jetzt, als sie scheu und erschreckt in das Zimmer blickten!

„Ach, Helene!“ rief sie angstvoll, ohne Elisabeth zu bemerken und mit ungewohnt raschen Schritten ihre corpulente Gestalt vorwärts bewegend, „Rudolph hat soeben den unglücklichen Linke auf sein Zimmer befohlen … Er wüthet und tobt so laut gegen den armen Menschen, daß es über den Hof bis in mein Schlafzimmer schallt … Gott, ich fühle mich ja so elend … der heutige Morgen hat mich so angegriffen, daß ich mich kaum auf den Füßen halten kann; aber ich konnte diese Ungerechtigkeiten nicht länger mit anhören und flüchtete hierher … Und diese feilen Seelen, diese Dienerschaft, die während Rudolph’s Abwesenheit nicht mit den Augen zu blinzeln gewagt, da steht sie frech unter den Fenstern und belacht schadenfroh das Unglück, das über einen treuen Diener hereinbricht … Es stürzt Alles zusammen, was ich mühsam im Dienste des Herrn und zum Heil des Hauses aufgerichtet habe. … Und daß Emil gerade in Odenberg sein muß! … Wie beklagenswerth und verlassen sind wir, theure Helene!“

Sie schlang ihre Arme um den Hals der jungen Dame, die sich bestürzt und leichenblaß erhoben hatte. Diesen Moment benutzte Elisabeth, um aus dem Zimmer zu schlüpfen.

Als sie den Corridor betrat, der in das Vestibül mündete, schallte ihr lautes Sprechen entgegen. Es war eine tiefe, klangreiche Männerstimme, welche sich dann und wann in heftiger Erregung steigerte, nie aber, selbst nicht im höchsten Affect, eine Spur von Schärfe annahm. Obwohl sie kein Wort verstehen konnte, so bebte sie doch schon allein bei dem Klang der Stimme, es lag etwas Unerbittliches, Eisernes in der Art und Weise, wie die einzelnen Sätze markirt wurden.

Der Schall in dem langen Corridor täuschte. Elisabeth wußte nicht, von welcher Seite die Stimme kam, und lief deshalb vorwärts, um schnell in’s Freie gelangen zu können. Aber schon nach wenig Schritten hörte sie, als stände sie neben dem Sprechenden, die Worte: „Sie verlassen Lindhof bis morgen Abend.“

„Gnädiger Herr –“ wurde geantwortet.

„Es war mein letztes Wort, gehen Sie!“ klang es gebieterisch, und in demselben Augenblick sah sich Elisabeth zu ihrem Schrecken neben einer weit offenen Flügelthür. Eine hohe Männergestalt stand, die linke Hand auf den Rücken gelegt und mit der rechten auf die Thür zeigend, mitten im Zimmer. Ein Paar sprühende, dunkle Augen begegneten ihrem Blick, den sie tief betroffen abwandte, indem sie schnell nach dem Vestibüle und hinaus in den Garten eilte … Ihr war, als verfolge sie dieser Blick, aus dem eine empörte Seele flammte, und treibe sie rastlos weiter.

Als die Familie Ferber beim Abendbrod zusammensaß, erzählte der Vater lebhaft angeregt, daß er heute im Forsthause die Bekanntschaft des Herrn von Walde gemacht habe.

„Nun, und wie hat er Dir gefallen?“ fragte seine Frau.

„Ja, das ist eine Frage, liebes Kind, die ich Dir vielleicht erst in einem Jahr beantworten könnte, vorausgesetzt, daß ich täglich Gelegenheit hätte, mit dem Gutsherrn zu verkehren, und da fragte es sich noch sehr, ob ich wirklich im Stande sein würde, ein Endurtheil zusammenzufassen … Mir ist der Mann dadurch interessant geworden, daß man fortwährend angeregt wird, darüber nachzudenken, ob er das wirklich ist, was er scheint, nämlich eine völlig kalte, leidenschaftslose Natur … Er kam zu meinem Bruder, um Näheres über den Vorfall zwischen seinem Verwalter und der armen Taglöhnerswittwe zu hören, weil man ihm irriger Weise gesagt hatte, daß Sabine die Mißhandlung selbst mit angesehen hätte. Sie wurde hereingerufen und mußte erzählen, wie sie die Schneider gefunden habe. Er fragte nach dem kleinsten Umstand, aber immer kurz, bestimmt. Welchen Eindruck Sabinens Bericht ihm machte, darüber blieb man völlig im Dunkeln, so undurchdringlich war sein Blick; nicht die leiseste Bewegung in seinen Zügen verrieth die Richtung seiner Gedanken … Er kommt direct aus Spanien. Aus den wenigen Aeußerungen, zu denen er sich herbeiließ, konnte man entnehmen, daß ihm brieflich durch irgend einen Freund das Unwesen auf seinem Gut mitgetheilt worden war, worauf er sofort die Rückreise nach Thüringen angetreten hatte.“

„Und seine äußere Erscheinung?“ fragte Frau Ferber.

„Gefällt mir, obgleich mir so viel Zurückweisung und Unnahbarkeit in Haltung und Bewegungen fast noch nie bei einem Menschen vorgekommen ist. Ich begreife vollkommen, daß man ihn für unbegrenzt hochmüthig hält, und doch kann ich mir andererseits wieder nicht einreden, daß hinter den merkwürdig geistvollen Gesichtszügen ein so thörichter Wahn Grund und Boden habe. Sein Gesicht hat stets den Ausdruck kalter Ruhe, dessen ich gedachte; nur zwischen den Augenbrauen liegt ein, ich mochte sagen, unbewachter Zug; der flüchtige Beobachter würde ihn höchst wahrscheinlich finster nennen, ich aber finde ihn melancholisch, schwermütig.“

Elisabeth hörte dieser Schilderung nachdenklich zu. Sie hatte bereits die Erfahrung gemacht, daß jene kalte Ruhe auf Momente bedeutend aus dem Geleise weichen konnte, und erzählte dem Vater die Scene, deren Zeugin sie gewesen war.


8.

Kaum eine Woche war seit jenem Abend vergangen. Diese wenigen Tage aber hatten einen gewaltigen Umschwung im Lindhofer Schlosse hervorgebracht, wie man hörte. Der entlassene Verwalter war bereits durch einen neuen ersetzt, dem jedoch sehr [115] enge Grenzen gesteckt waren, indem der Gutsherr sich selbst die Oberaufsicht vorbehielt. Einige Taglöhner, die man eigenmächtig verabschiedet hatte, weil sie dem Ortsgeistlichen anhingen und der Bibelstunde im Schlosse einige Mal untreu geworden waren der dringenden Arbeit wegen, oder auch, weil sie vom Candidaten Möhring das Wort Gottes nicht hören wollten, arbeiteten wieder nach wie vor auf dem Gute. Gestern, als am Sonntage, hatte Herr von Walde in Begleitung der Baronin Lessen und der kleinen Bella dem Gottesdienst in der Dorfkirche zu Lindhof beigewohnt. Herr Candidat Möhring war zum Erstaunen der Gemeinde als Zuhörer neben der Orgel erschienen – und Mittags hatte der würdige Dorfpfarrer im Herrschaftshause gespeist. … Doctor Fels kam jeden Tag nach Lindhof; denn Fräulein von Walde war krank. Das war jedenfalls der Grund, weshalb Elisabeth bisher keine Aufforderung erhalten hatte, wieder zur Stunde zu kommen, und auch die Ursache, meinte der Oberförster, daß die Baronin Lessen der ‚Verbannung nach Sibirien‘ entgangen sei; „denn,“ sagte er, „Herr von Walde wird kein solcher Barbar sein, die kranke Schwester noch kränker zu machen, indem er ihr den liebsten Umgang raubt, und wenn das auch nicht gerade die Baronin ist, so hören doch mit ihrer Entfernung selbstverständlich auch die öfteren und langen Besuche ihres Sohnes auf.“ Das war boshaft, „aber unumstößlich richtig calculirt,“ wie er hinzufügte.

Im Dorfe wußte man, daß es auf dem Gute furchtbare Stürme gegeben hatte, bis die Luft rein geworden war. Herr von Walde hatte die drei ersten Tage nach seiner Ankunft allein auf seinem Zimmer gegessen und sämmtliche Briefchen der Baronin, mit denen die alte Kammerfrau zu allen Tageszeiten vor seiner Thür gesehen worden war, zurückgewiesen, bis endlich das heftige Unwohlsein seiner Schwester ihn mit der Cousine im Krankenzimmer zusammengeführt hatte. Seit jenem Tag war der Verkehr scheinbar wieder im Geleise, wenn auch die Bedienten erzählten, daß bei Tische fast kein Wort gesprochen werde. Herr von Hollfeld war auch einmal herübergekommen, um den Heimgekehrten zu begrüßen; man wollte aber bemerkt haben, daß er nach sehr kurzem Aufenthalt mit einem bedenklich langen Gesicht wieder heimgeritten war.

An einem trüben, regnerischen Augusttage war Elisabeth von Fräulein von Walde ersucht worden, doch auf eine halbe Stunde in’s Schloß zu kommen. Die junge Dame war nicht allein, als die erstere eintrat. Im Fenster saß Herr von Walde. Die hohe Gestalt in einen Fauteuil zurückgelehnt, berührte sein Kopf leicht die hellbekleidete Wand, wodurch das dunkle Braun seines Haares auffallend hervortrat. Seine Rechte hing, die Cigarre zwischen den Fingern haltend, nachlässig vom Fenstersims herab, während er die Linke gehoben hielt, als habe er soeben gesprochen. Seine Nachbarin, die Baronin Lessen, hielt den Oberkörper vorwärts gebeugt und schien seinen Worten mit einem äußerst verbindlichen Lächeln zu lauschen, obgleich die Rede augenscheinlich nicht an sie selbst, sondern an Helene gerichtet war; sie saß ihm ziemlich nahe und hatte eine Häkelarbeit in der Hand, im Ganzen sah die Gruppe sehr friedfertig aus. Auf einer Chaise longue lag Fräulein von Walde. Ein weiter Schlafrock umhüllte die kleine Gestalt und die schönen, braunen Locken waren unter ein Morgenhäubchen gesteckt, dessen rosa Bänder die krankhafte Blässe ihres Gesichtes noch mehr hervorhoben. Auf ihrem ausgestreckten Finger saß der Kakadu; sie hielt ihn von Zeit zu Zeit liebkosend an ihre Wange. Das „abscheuliche Thier“ hieß jetzt Liebchen, durfte schreien, so viel es wollte, und wurde höchstens durch ein mitleidiges: „Was ärgert denn mein Herzchen?“ zu beschwichtigen gesucht – also auch hier Versöhnung und vollkommener Friede.

Bei Elisabeth’s Eintreten winkte Helene ihr freundlich mit der Hand entgegen; es entging jedoch dem jungen Mädchen nicht, daß sie mit einer leichten Verlegenheit zu kämpfen hatte.

„Lieber Rudolph,“ sagte sie, indem sie Elisabeth bei der Hand nahm, „Du siehst hier die liebenswürdige Künstlerin, der ich manche genußreiche Stunde verdanke… Fräulein Ferber – von ihrem Onkel und bereits auch in der Umgegend Gold-Elschen genannt – spielt so hinreißend, daß ich sie bitten will, uns heute den trüben, grauen Himmel vergessen zu machen. Sie sehen, liebes Kind,“ wandte sie sich an Elisabeth, „daß ich noch unfähig bin, Ihnen am Clavier Gesellschaft zu leisten; wollen Sie die Freundlichkeit haben, etwas allein zu spielen?“

„Von Herzen gern,“ erwiderte Elisabeth, „aber ich werde sehr ängstlich sein; denn Sie haben mir selbst zwei unbesiegbare Mächte entgegengestellt, die Wolken da draußen und das günstige Vorurtheil, das Sie soeben für mein Spiel geweckt haben.“

„Darf ich mich jetzt auf eine Stunde beurlauben?“ fragte die Baronin, indem sie ihre Arbeit zusammenlegte und sich erhob. „Ich möchte mit Bella ein wenig ausfahren, das arme Ding ist so lange nicht an die Luft gekommen.“

„Nun, ich meine, die kann sie hier stets aus der ersten Hand haben, wenn sie sich die Mühe nimmt, den Kopf zum Fenster hinauszustecken,“ sagte Herr von Walde trocken, während er die Asche von seiner Cigarre abstreifte.

„Mein Gott, ist es Dir unangenehm, Rudolph, wenn ich fahre? … Ich bleibe auf der Stelle zu Hause, wenn –“

„Ich wüßte in der That nicht, weshalb ich Dich abhalten sollte: Fahre so oft und so viel es Dir beliebt,“ war die gleichmüthige Antwort.

Die Baronin preßte die Lippen zusammen und wandte sich zu Helene. „Also bleibt es dabei, daß der Kaffee auf meinem Zimmer getrunken wird? … Sehr lange bleibe ich doch nicht draußen, des Sprühregens halber; ich bin pünktlich in einer Stunde zurück und werde es mir nicht nehmen lassen, Dich, liebste Helene, selbst in mein Zimmer zu fahren.“

„Das wirst Du Dir doch wohl nehmen lassen müssen, Cousine,“ sagte Herr von Walde. „Es ist mein Amt seit vielen Jahren, und ich will nicht hoffen, daß meine Schwester glaubt, ich sei während meiner Abwesenheit zu ungeschickt geworden.“

„Gewiß nicht, lieber Rudolph … ich bin Dir sehr dankbar, wenn Du so freundlich sein willst!“ rief lebhaft Helene, während ihr Blick ängstlich zwischen den Beiden hin und her flog. Die Baronin hatte jedoch ihren Aerger bereits tapfer niedergekämpft. Mit dem verbindlichsten Lächeln auf den Lippen reichte sie Herrn von Walde die Hand, küßte Helene auf die Wange und rauschte mit einem: „Nun denn, auf Wiedersehen“ zur Thür hinaus.

Während dieser kurzen Verhandlung beobachtete Elisabeth die Gesichtszüge des Mannes, dessen Blick und Stimme ihr neulich einen so tiefen Eindruck gemacht… Hatte sich doch der Schrecken – denn das war ohne Zweifel einzig und allein jene mächtig angeregte Empfindung gewesen – soeben wiederholt, als sie, in die Thür tretend, Herrn von Walde unerwartet sich gegenüber sah… Wie ruhig blickte heute sein Auge, aus welchem damals Funken zu sprühen schienen; ja, es wurde sogar eisig kalt, als es auf dem Gesicht der Baronin haftete. Die obere Partie seines Kopfes, die ohnehin in ihren Linien etwas ungemein Strenges hatte, erschien durch diesen Ausdruck der Augen geradezu eisern. Ein schöngepflegter, kastanienbrauner Bart; umgab Lippen und Wangen und floß in weichen Wellen vom Kinn herab auf die Brust… Herr von Walde sah nicht jung aus, und wenn auch seine schlanke Gestalt viel Elasticität bewahrt hatte, so gaben doch die unbeschreibliche Beherrschung und Ruhe in Haltung und Geberden seinem ganzen Auftreten jene Respect einflößende Würde, wie sie nur dem reiferen Mann eigen sein kann.

Als die Baronin das Zimmer verlassen hatte, öffnete Elisabeth den Flügel.

„Nein, nein, keine Noten!“ rief Helene hinüber, als sie sah, daß das junge Mädchen unter den Musikalien suchte und wählte. „Wir wollen Ihre eigenen Gedanken hören, bitte, spielen Sie aus dem Stegreif.“

Elisabeth setzte sich ohne Zögern nieder. Bald hatte sie in der That die Außenwelt vergessen. Ein Melodieenreichthum quoll in ihr auf, der ihre Seele hoch empor trug. In solchen Momenten empfand sie stets beseligt, daß sie vor Tausenden anderer Sterblicher begnadet sei, denn sie hatte die Macht, der leisesten Regung ihres Herzens Ausdruck verleihen zu können. Die Klarheit ihrer ganzen inneren Welt spiegelte sich in den Klängen wieder: nie noch hatte sie nach der verkörpernden Melodie ihrer Empfindung suchen müssen, sie lag fertig in ihrem Innern wie das Gefühl selbst… Heute aber mischte sich etwas in die Töne, was sie nicht begreifen konnte; es hatte durchaus keine eigene Stimme; sie hätte es um keinen Preis verfolgen und erfassen können, denn es flog nur wie ein neuer, unbekannter Hauch über die Tonwellen. Es war ihr, als wandelten Schmerz und Freude nicht mehr nebeneinander, sondern flössen in Eins zusammen… Dies Suchen nach dem Wesen jenes unfaßbaren Klanges ließ sie aber immer tiefer in ihre Gefühlswelt hinabsteigen. Das [116] ganze, süße Geheimniß einer reinen, keuschen Mädchenseele entfaltete sich allmählich vor den Zuhörern, sie blickten in einen Wunderbrunnen, aus dessen Tiefe die äußere Erscheinung des jungen Mädchens doppelt verklärt wieder auftauchte; denn es war ja eine unlösbare Harmonie in ihrem äußeren und inneren Menschen.

Der letzte, leise Accord war verklungen. An Helenens Wimpern hingen zwei schwere Thränen, die Blässe ihres Gesichts war fast geisterhaft geworden. Sie blickte nach ihrem Bruder, aber er hatte das Gesicht abgewendet und sah hinaus in den Garten. Als er sich endlich umdrehte, waren seine Züge ruhig wie immer, nur eine leichte Röthe färbte seine Stirn, die Cigarre war seinen Fingern entglitten und lag auf dem Boden. Er sagte Elisabeth, die sich inzwischen erhoben hatte, nicht ein Wort über ihr Spiel. Helene, der dies Schweigen sichtbar peinlich wurde, erschöpfte sich in Lobeserhebungen, um dem jungen Mädchen die Kälte und Indolenz ihres Bruders vergessen oder wenigstens weniger fühlbar zu machen.

„War das wieder einmal genial!“ rief sie. „Die Leute in B. hatten sicher keine Ahnung von dem goldenen Liederquell in Elschens Brust, sonst hätten sie wohl das liebe Mädchen nicht in die Thüringer Wälder auswandern lassen.“

„Sie haben bis jetzt in B. gelebt?“ fragte Herr von Walde, das Auge auf Elisabeth richtend; sie sah einen Augenblick hinein, das Eis war geschmolzen, ein seltsamer Schimmer tauchte dafür auf.

„Ja,“ antwortete sie einfach.

„Aus einer großen, schönen Stadt, die alle erdenklichen Genüsse und Annehmlichkeiten bietet, plötzlich in den stillen Wald, auf einen einsamen Berg versetzt zu werden, das ist ein unliebsamer Tausch… Sie waren natürlich trostlos über diese Veränderung?“

„Ich betrachtete sie als ein unverdientes Glück,“ war die unbefangene Antwort.

„Wie? … Sonderbar… Ich meine man greift sonst nicht nach der Distel, wenn man die Rose haben kann.“

„Ueber Ihre Meinungen habe ich begreiflicher Weise kein Urtheil.“

„Ganz recht, weil Sie mich nicht kennen … jene Ansicht ist jedoch eine ganz allgemeine.“

„In ihrer Anwendung aber ist sie einseitig.“

„Nun denn, ich will Ihre Geschmacksrichtung, mit der Sie unter Ihren Altersgenossinnen wohl schwerlich eine gleichgestimmte Seele finden dürften, nicht weiter anfechten… In Ihrem Interesse will ich jedoch glauben, daß es Ihnen nicht ebenso leicht geworden ist, Ihre Freunde zu verlassen.“

„Sehr leicht sogar; denn – ich hatte keine.“

„Ist das möglich?“ rief Fräulein von Walde. „Sie hatten mit Niemand Verkehr?“

„O ja; aber das waren Leute, die mich bezahlten.“

„Sie gaben Unterricht?“ fragte Herr von Walde.

„Ja.“

„Aber hatten Sie nie das Bedürfniß eine Freundin zu besitzen?“ rief Helene lebhaft.

„Niemals, denn ich habe eine Mutter,“ erwiderte Elisabeth[WS 1] mit einem Tone tiefen Gefühls.

„Glückliches Kind!“ murmelte Jene und senkte den Kopf.

Elisabeth fühlte, daß sie hier eine wunde Stelle in Helenens Herzens berührt habe. Es that ihr leid, und sie wünschte lebhaft, den Eindruck zu verwischen. Herr von Walde schien diese Gedanken auf ihrem Gesicht zu lesen; denn ohne auf Helenens Verstimmung zu achten, frug er: „Und war es der Thüringer Wald ganz besonders, wo Sie zu leben wünschten?“

„Ja.“

„Und warum?“

„Weil mir schon in meiner frühesten Kindheit erzählt wurde, daß wir aus den Thüringer Bergen stammen.“

„Ah, aus dem Geschlecht der Gnadewitze?“

„So hieß früher meine Mutter – ich bin eine Ferber,“ antwortete Elisabeth bestimmt.

„Sie sagen das mit einem solchen Nachdruck, als ob Sie Gott dankten, daß Sie jenen Namen nicht zu führen brauchen?“

„Ich bin auch froh darüber.“

„Hm … er hat seiner Zeit einen bedeutenden Klang gehabt.“

„Aber keinen reinen.“

„Ei, was wollen Sie? … An allen Höfen hat er so gut gegolten wie unverfälschtes Gold; denn er war sehr alt, und vorzüglich die letzten seiner Träger sind deshalb stets mit den höchsten Würden überhäuft worden.“

„Verzeihen Sie, aber dafür habe ich ganz und gar kein Verständniß, daß …“ sie hielt erröthend inne.

„Nun? … Sie haben den Satz angefangen, und ich bestehe darauf, auch sein Ende wissen zu wollen.“

„Nun, daß Sünden belohnt werden, weil sie alt sind, erwiderte sie zögernd.

„Gemach, man sagt von mehreren Ahnen der Gnadewitze, daß sie sich brav und tapfer gezeigt haben.“

„Das mag sein, aber es liegt auch ein Unrecht in dem Gedanken, daß dies Verdienst noch nach Jahrhunderten ausgebeutet werden darf von solchen, die nicht brav und tapfer sind.“

„Sollen große Thaten nicht fortwirken?“

„Gewiß, aber wenn wir es verschmähen, ihnen nachzueifern, dann sind wir auch nicht würdig, ihre guten Folgen zu genießen,“ gab Elisabeth mit Entschiedenheit zur Antwort.

Ein Wagen rollte donnernd in die Einfahrt. Herr von Walde runzelte die Stirn und strich mit der Hand über die Augen, als sei er unsanft aus einem Traum geweckt worden. Gleich darauf öffnete sich die Thür, und die Baronin trat ein. Sie hatte, gleich Bella, die heute mit dem Anstand einer erwachsenen jungen Dame neben der Mama herschritt, Hut und Mantille noch nicht abgelegt.

„Da wären wir glücklich wieder!“ rief sie. „Ist das eine abscheuliche Luft heute! Ich habe es tausend Mal bereut, mich hinaus gewagt zu haben, und werde wahrscheinlich für meine mütterliche Fürsorge mit einem tüchtigen Schnupfen büßen müssen… Bella möchte gern selbst sehen, wie es Dir geht, liebe Helene; ich habe mir deshalb erlaubt, sie mit herein zu nehmen.“

Die Kleine ging geraden Schrittes auf das Ruhebett los. Sie schien Elisabeth nicht zu bemerken, die dicht daneben saß, und streifte sie so hart, als sie sich bückte, um Helenens Hand zu küssen, daß ein Knopf ihres Mantels die leichte Garnirung an Elisabeth’s Kleid faßte und zerriß. Bella hob den Kopf und schielte seitwärts auf den Schaden, den sie angerichtet; dann drehte sie sich um und ging hinüber zu Herrn von Walde, um ihm die Hand zu geben.

„Nun,“ sagte dieser, indem er seine Hand zurückzog, „hast Du keine Entschuldigung für Deine Ungeschicklichkeit?“

Sie erwiderte kein Wort und retirirte neben die Mama, auf deren Wangen die zwei verhängnißvollen rothen Flecken erschienen. Der Blick, den sie Elisabeth zuwarf, zeigte indeß, daß ihr Unwille nicht dem ungezogenen Töchterchen galt.

„Nun, Kind, kannst Du nicht reden?“ fragte Herr von Walde nochmals, indem er sich erhob.

„Fräulein Ferber saß aber auch so nahe,“ entschuldigte die Baronin an Stelle der hartnäckig schweigenden Bella.

„In der That, ich hätte fortrücken sollen… Das Unglück ist ja auch gar nicht so groß,“ sagte Elisabeth ängstlich und griff mit einem anmuthigen Lächeln nach Bella’s Hand. Die Kleine aber that, als sähe sie diese Bewegung nicht, und steckte beide Hände unter den Mantel.

Ohne ein Wort zu sagen, schritt Herr von Walde auf sie zu, faßte sie am Arme und führte sie direct zur Thür, die er öffnete „Du gehst jetzt augenblicklich hinüber in Dein Zimmer,“ gebot er, „und kommst mir nicht eher wieder vor die Augen, als bis ich es wünsche.“

Die Baronin war innerlich außer sich. Ihre Züge arbeiteten einen Augenblick heftig; aber was konnte sie thun? Sie hatte keinerlei Waffen gegen die Gewaltthätigkeit und Barbarei dieses Mannes, der hier Gebieter war und jetzt mit einer so empörenden Ruhe seinen Platz wieder einnahm, als sei er sich der Grausamkeit seiner Handlung nicht im Entferntesten bewußt. Endlich siegte die Klugheit der Dame.

„Ich hoffe, lieber Rudolph,“ sagte sie, ihre Stimme bebte ein wenig, „Du wirst Bella die kleine Unart nicht nachtragen… Ich bitte Dich, nimm ein wenig Rücksicht, ihre Gouvernante ist gar zu tölpelhaft.“

„Miß Mertens? … Nun, der mag es bei ihrer angeborenen Sanftmuth und ihrem feinen Tact unsägliche Ueberwindung kosten, Bella so zu erziehen, wie sie sich eben gezeigt hat!“

(Fortsetzung folgt.)

Anmerkung (Wikisource)

  1. Vorlage: Helene
[117]
Ein Opfer deutscher Fürstenwillkür.


Schiller besucht Schubart im Kerker.


Auf dem hohen Asperg, der alten Würtemberger Zwingfeste, saß ein Gefangener in seiner dunkeln Zelle, durch deren vergitterte Fenster kaum eine Handbreit des blauen Himmels drang. Seine Physiognomie kündigte eine sanguinische Künstlernatur an; er war ein angehender Dreißiger, kräftig und untersetzt, mit geistvollen Zügen, hoher Stirn, glänzenden Augen und vollen, sinnlichen Lippen, wie geschaffen, um den Becher der Lust bis zum Grunde zu leeren, ein Trinklied im Kreise froher Zecher zu singen oder unter blühenden Rosen ein schönes Mädchen zu küssen. Hinter ihm lag ein vielbewegtes Leben, reich an Abenteuern, an stürmischer Begeisterung [118] und wilder Verzweiflung, an hohen Gedanken und niedrigen Verirrungen, an inneren Krämpfen und Ringen zwischen dem guten Genius und dem bösen Dämon in der eigenen Brust.

Jetzt lag er hier, in dem rauchgeschwärzten Kerker, auf halb verfaultem Stroh in tiefster Einsamkeit, fern von dem tröstenden Anblick und der Gesellschaft der ihm unentbehrlichen Menschen, gefoltert von Langweile, Hunger, Frost, Körperleiden und Seelenangst. Schlaflos wälzte er sich auf dem traurigen Lager und dachte an das arme, sanfte Weib, das er so schwer betrübt, an seine Kinder, die er so innig geliebt, und Thränen der bittersten Reue flossen über seine blassen, von der Kerkerluft gebleichten Wangen.

„Gefangener Mann, ein armer Mann!“ seufzte er tief.

Der Seufzer aber wurde zum Lied, das er mit dem spitzen Dorn seiner Schuhschnalle in die schwarze Wand seines Kerkers kratzte.

„Gefangener Mann, ein armer Mann!
Durch’s schwarze Eisengitter
Starr’ ich den fernen Himmel an
Und wein’ und seufze bitter,
– – – – – – – – –
– – – – – – – – –
Mich drängt der hohen Freiheit Ruf;
Ich fühl’s, daß Gott nur Sclaven
Und Teufel für die Kette schuf,
Um sie damit zu strafen.“

So sang der unglückliche Dichter Christian Friedrich Daniel Schubart in seinem Gefängnisse auf dem Asperg, wo ihn die Willkür des Tyrannen ohne Schuld und Urtheil festhielt.

Er war am 26. März 1739 zu Obersontheim in dem liederreichen Schwaben geboren und in Aalen erzogen, wo sein strenger Vater, das Amt eines Schullehrers und Musikdirectors bekleidete. Bis zu seinem siebenten Jahre galt er für dumm und beschränkt, aber plötzlich war sein Geist erwacht. Auf einmal zeigte der Knabe ein bedeutendes Talent, besonders für Musik, und machte die überraschendsten Fortschritte. Nachdem er die gelehrten Schulen zu Nördlingen und Nürnberg besucht, sollte er auf die Universität nach Jena gehen, aber die Stürme des eben begonnenen siebenjährigen Krieges hinderten ihn am Weiterreisen, so. daß er vorläufig in Erlangen blieb. Hier führte er ein lustiges und wildes Studentenleben; statt der Hörsäle besuchte er die Kneipe und den Fechtsaal, und wo es am tollsten herging, war gewiß der eben so gutmüthige wie leichtsinnige Schubart zu finden. Die gewöhnlichen Folgen blieben nicht aus; seine Ausschweifungen zerrütteten seine Gesundheit, seine Gläubiger warfen ihn in’s Gefängniß und der strenge Vater rief den verlorenen Sohn nach Hause zurück.

Schubart gelobte Besserung und bereitete sich für den geistlichen Stand vor, zu dem ihm indeß jeder innere Beruf fehlte, obgleich seine hinreißende Beredsamkeit ihn vorzugsweise zum Kanzelredner zu bestimmen schien. Da die Beförderung allzulange auf sich warten ließ, so nahm er vorläufig die Stelle eines Präceptors in dem Ulmischen Städtchen Geislingen an, wo er sich mit der Tochter des dortigen Oberzollers Bühler verheirathete. Bald war ihm seine Stellung unerträglich. Das ewige Einerlei des Unterrichts von Schülern, die zum Theil der niedrigsten Volksclasse angehörten, und die ihm aufgebürdeten, entehrenden Nebenbeschäftigungen ekelten ihn an; sein Gehalt, das er noch dazu mit dem alten, dienstunfähigen Schulmeister theilen mußte, konnte selbst den bescheidensten Ansprüchen nicht genügen. Dazu kam noch die ganze Beschränktheit der kleinen Stadt und häusliche Zerwürfnisse mit der Familie seiner jungen Frau, die an dem Leben und Treiben des genialen Mannes vielfach Anstoß nehmen mußte.

Um sich zu zerstreuen, besuchte er das Wirthshaus, wo er beim Weine seiner übersprudelnden Laune bald in Versen, bald in Prosa freien Lauf ließ. Da konnte es freilich nicht an Aergerniß bei den Frommen des Städtchens und besonders bei der ihm vorgesetzten Geistlichkeit fehlen. Fortwährend regnete es Verweise, Ermahnungen, Strafpredigten auf das leichtsinnige Haupt des armen Schullehrers, der die Würde seines Amtes so wenig beobachtete. Der Aufenthalt in Geislingen wurde ihm unter diesen Verhältnissen zur wahren Hölle und er sehnte sich weit fort. Nur ein Trost, eine Freundin war ihm geblieben, die himmlische Muse, welche ihm in seiner ärmlichen Schulstube zuweilen erschien und sein düsteres, verworrenes Leben mit ihren goldenen Strahlen erhellte und verklärte.

Seine Lieder blieben nicht unbekannt und warben ihm Freunde, zu denen Wieland und Haug zählten. Letzterer eröffnete dem unglücklichen Schullehrer und Dichter die Aussicht auf die Stelle eines Organisten in der neuen Residenz des Herzogs, in Ludwigsburg; Schubart griff danach mit beiden Händen, leider zu seinem eigenen Verderben. Mit den besten Vorsätzen kam er nach dem würtembergischen Versailles, wo damals das üppigste und ausschweifendste Hofleben herrschte. Vergebens suchte sich der neue Organist im richtigen Gefühle seiner Schwäche durch das Lesen der Michaelis’schen Bibelübersetzung und Gellert’s Moral zu schützen; die Verführung war zu groß. Liebenswürdige Roués und schöne Hofdamen zogen den geistreichen Mann in ihre Kreise, indem sie sich an seinem Witz, seinem geselligen und poetischen Talent, namentlich aber an seinem genialen Flügelspiel, ergötzten. Französische Tänzer, italienische Sänger und Sängerinnen fesselten und entzückten den geborenen Künstler. Bald sah er ein verschwenderisch ausgestattetes Ballet, von dem berühmten Noverre in Scene gesetzt, bald hörte er eine glänzende Oper von Jowelli componirt und dirigirt, worin die reizende Cesari und der herrliche Aprili die ersten Partien sangen, während im Orchester sie die bezaubernde Violine eines Lolli begleitete. Dann schwärmte er wieder bei einem Bacchanal, wo die Frivolität sich mit allen Reizen des Geistes schmückte, oder eilte zu einem Rendezvous mit einer schönen Schülerin, der er abwechselnd in Musik und Liebe Unterricht ertheilte.

So lebte dieser neue Tannhäuser in dem Venusberg zu Ludwigsburg, verfallen den bösen Geistern eines sittenlosen und ausschweifenden Hofes. Seine schlichte, in bürgerlicher Zucht und Sitte aufgewachsene Frau bat ihn vergebens, sich von dem Treiben des „vergoldeten Lasters“ fern zu halten. Als aber alle ihre Vorstellungen und Warnungen nichts fruchteten, beschloß sie auf Anrathen ihrer dem Dichter feindlichen Familie, Schubart zu verlassen und mit ihren beiden Kindern in das Haus ihrer Eltern zurückzukehren. Seinen Bitten und Beschwörungen gelang es, sie wieder zu versöhnen und nach Ludwigsburg zurückzuführen. Bald jedoch waren die ihr gegebenen Versprechungen von dem Leichtsinnigen vergessen, und von Neuem stürzte er sich mit Ungestüm in den Strudel der wildesten Lust.

Wieder war es ein Geistlicher, der hochmüthige Special Zilling, der ihm den Aufenthalt in Ludwigsburg verleidete. Der stolze, bigotte Pfaffe, welcher einen so hohen Begriff von seiner Amtswürde hatte, daß der eigene Bruder als Küster ihm mit einer tiefen Verbeugung den Amtsrock umhängen mußte, ärgerte sich meist, daß Schubart’s ausgezeichnetes Orgelspiel die Kirche mit Zuhörern füllte, während seine langweilige Predigt sie leerte. Leicht wurde es ihm, sich an dem untergebenen Organisten zu rächen, indem er ihn wegen seines sittenlosen Lebenswandels vor dem geistlichen Gericht anklagte und in den Thurm brachte. Aber noch mehr, als seine Gegner, arbeitete Schubart selbst an seinem Verderben, als er, seinem angeborenen Hang zur Satire folgend, ein Spottgedicht auf einen angesehenen Hofmann veröffentlichte und die Litanei in frivolen Versen parodirte.

Das Maß war voll und der Unverbesserliche wurde aus seinem Amte gejagt. Längere Zeit führte er ein geniales Vagabundenleben, von Stadt zu Stadt, von Dorf zu Dorf umherirrend, bald hungernd und durstend, bald an der Tafel vornehmer Gönner schwelgend, die er durch sein bezauberndes Flügelspiel entzückte. An dem Hofe des kunstsinnigen Carl Theodor von der Pfalz fand er gastliche Aufnahme; von Neuem eröffnete sich ihm die Aussicht auf eine feste Anstellung aber durch einen Tadel auf die Mannheimer Akademie, dieses Schooßkind des Kurfürsten, verscherzte er wiederum sein Glück. In seiner Rathlosigkeit folgte er dem bairischen Gesandten nach München, wo er gegen eine Versorgung sich zum Katholicismus bekehren wollte. Aber die über ihn eingezogenen Erkundigungen lauteten so ungünstig, daß man den Neophyten laufen ließ.

Auf’s Neue ergriff er den Wanderstab und zog nach Augsburg, wo er im Wirthshause die Aufmerksamkeit der Gäste durch seinen Geist und seine hinreißende Beredsamkeit auf sich lenkte. Er wurde bald bekannt und ein unternehmender Buchhändler machte ihm Anerbietungen. Schubart versuchte zuerst einen Roman, den er nicht vollendete; darauf gab er eine Zeitschrift heraus, die „deutsche Chronik“, welche sofort bei ihrem Erscheinen das größte Aufsehen erregte. Er war zum Journalisten geboren und brauchte nur seine beim Wein gesprochenen und improvisirten Worte niederzuschreiben [119] oder zu dictiren, um die größte Wirkung hervorzubringen. Hätte Schubart um meine Zeit in Frankreich gelebt, so wäre er vielleicht ein so bedeutender Redner wie Mirabeau geworden, in Deutschland wurde er ein Zeitungsschreiber.

In seinem vielgelesenen Blatte erhob er muthvoll die Fahne der Freiheit, kämpfte er mit den Waffen des Spottes und der Begeisterung gegen katholische und protestantische Jesuiten, gegen geistlichen und politischen Despotismus, für Aufklärung, Toleranz, voll Liebe zum Vaterlande. Jetzt erst hatte er den eigentlichen Schwerpunkt gefunden, den ihm allein zusagenden Wirkungskreis, aus einem armen Schulmeister für Kinder war er der Lehrer des Volkes geworden. Seine Erfolge wirkten auch günstig auf seine Sittlichkeit und sein Familienleben zurück. Alle liebenswürdigen und guten Eigenschaften des zwar leichtsinnigen, aber gemüthvollen Mannes entwickelten sich und blühten in dem geeigneten Boden des bürgerlichen Lebens auf.

Doch das Schicksal wurde nicht müde, ihn zu verfolgen und zu prüfen. Da der Bürgermeister von Augsburg dem Erscheinen des Blattes Hindernisse in den Weg legte, so wanderte Schubart nach dem nahen Ulm, wo seine Zeitschrift ihren Höhepunkt der Verbreitung erreichte und er selbst an der Seite seiner Frau und der indeß herangewachsenen Kinder die glücklichsten Tage verlebte. Sein Name wurde in ganz Deutschland mit Achtung genannt, sein in der That großes Talent fand immer mehr Anerkennung und sein Charakter gewann mit jedem Tage an Festigkeit und Zuverlässigkeit. Natürlich fehlte es dem witzigen Journalisten, dem Vorkämpfer für Recht und Freiheit nicht an offenen und geheimen Gegnern, obgleich er die ohnehin so engen Schranken der damaligen Preßgesetzgebung niemals überschritten hatte.

Plötzlich wurde Schubart, durch Bubenlist auf Würtembergisches Gebiet gelockt, auf Befehl des Herzogs von den gemeinen Schergen der Gewalt verhaftet und auf den hohen Asperg gebracht, wo er zehn Jahre widerrechtlich von demselben Tyrannen gefangen gehalten wurde, vor dem ein größerer Dichter, Friedrich Schiller, noch zur rechten Zeit entfloh. Vergebens verwendeten sich die ersten Männer Deutschlands für die Freilassung des Unglücklichen; Herzog Carl blieb unerbittlich, da er, damals in seinem pädagogischen Stadium, den gefangenen Dichter erziehen und bessern wollte.

Sein Werkzeug war der bekannte Oberst Rieger, die widerlichste Erscheinung eines militärischen Pietisten, ein Frommer im Soldatenrock, zugleich mit der irdischen und himmlischen Fuchtel bewaffnet, in der einen Hand die Bibel und in der andern die Kriegsartikel, ein doppelter Despot und eitler Narr dazu. Seinen Quälereien und Torturen war es endlich gelungen, den Geist des Gefangenen zu verdüstern, seinen Muth zu brechen und seine Seele mit den Schreckbildern der Hölle zu erfüllen. Die Einsamkeit des Kerkers, Krankheit des Körpers und das Bewußtsein früherer Schuld unterstützten die Bemühungen des militärischen und geistlichen Zuchtmeisters, so daß Schubart selbst mit der Zeit ein Pietist aus Verzweiflung wurde. Seine Belehrung schaffte ihm manche Erleichterung; er durfte jetzt Bücher lesen, die ihm bis dahin vorenthalten waren, sein geliebtes Clavier wieder spielen und Besuche empfangen; ja sein Peiniger wurde förmlich stolz auf seinen berühmten Gefangenen, den er wie ein Wunderthier den Fremden auf Asperg zeigte. Er ließ sich von ihm bei seinem Geburtstage ansingen, klatschte dem in einem Festspiel auftretenden „Prologus“ Beifall und rief laut „da capo! als dieser ihn mit den Worten: „Edler Rieger!“ anredete. Wenn aber Schubart nach seiner Meinung in der Kirche nicht andächtig und eifrig betete, oder der halbverrückte Rieger eine Anwandlung seines so häufigen üblen Humors hatte, so ließ er ihn seine Ungnade schmerzlich genug empfinden, indem er ihn durch Entziehung der kleinen Freiheiten peinigte und mit wahnsinnigen Strafreden und Schmähungen überhäufte.

Eines Tages erschien der spätere und mildere Commandant bei seinem Gefangenen in Begleitung eines jungen Mannes, welcher die Uniform eines Militärchirurgen trug. Der Fremde war hoch aufgeschossen; das feine, zarte Gesicht voll Sommersprossen, die Haare röthlichblond, die hervorragende Nase stark gebogen, aber von der hohen Stirn und aus den strahlenden Augen leuchtete der Himmelsstrahl des Genius. Der Commandant stellte den Unbekannten als einen Dr. Fischer dem Arrestanten vor und forderte den Letzteren auf, eine vor längerer Zeit von ihm verfaßte Recension über die damals erschienenen „Räuber“ von Schiller vorzulesen, da der eingeführte Herr gern das Urtheil Schubart’s über das neue Stück hören wollte. Dieser ließ sich nicht bitten und las seine Kritik, welche mit dem Wunsche schloß, den Dichter der Räuber persönlich kennen zu lernen.

„Da steht er vor Ihnen!“ rief der Commandant lachend, indem er auf den Fremden deutete.

Schiller?“ fragte Schubart überrascht und noch immer zweifelnd.

„Ich bin es selbst und gekommen, um meinen berühmten Landsmann zu sehen.“

Lautlos stürzte der Gefangene in die Arme des jungen Dichters, den er weinend an sein für alles Große und Schöne mächtig schlagendes Herz drückte.

Mit seinen Thränen taufte der Johannes der neuen Poesie den dichterischen Heiland seines Volkes, der das Evangelium der Freiheit und Menschenliebe verkündigte.

Einige Wochen darauf schrieb er an seine Gattin aus dem Gefängnisse: „Schiller ist ein großer Kerl, ich lieb’ ihn heiß, grüß ihn!“ Später dichtete er seine Ode an Schiller:

„Dank Dir Schiller, für die Wonne,
Die Deinem Gesang entquoll!
Meines Berges Genius, der Riese,
Ein Schätzer hohen Sangs,
Lauscht Dir, daß der Kolbe von Stahl
Entsank seiner wolkigen Rechte!“

Schubart’s Geist und Schicksal blieben nicht ohne Einfluß auf das fernere Leben Schiller’s. Als dieser in dunkler Nacht das elterliche Haus verließ und vor dem Tyrannen floh, um sich die Freiheit der Poesie zu wahren, umschwebte ihn das Bild des gefangenen Dichters auf dem Asperge, und wenn auf seinen späteren Wanderungen der Versucher an ihn herantrat, die Verführung ihm ihre weichen Arme entgegenstreckte, da erschien ihm wohl der unglückliche Tannhäuser und warnte ihn:

„Daß ihn Laura’s Zauberblick
Nicht lockt’ in der Wollust Lache.“

Mit prophetischem Mund aber verkündigte der neidlose Schubart:

„Dein Schiller wird es thun.
Gott gab ihm Sonnenblick,
Und Cherubs Donnerflug,
Und starken Arm, zu schnellen
Pfeile des Rächers vom tönenden Bogen.“

Endlich öffneten sich auch für den armen Schubart die Pforten seines Kerkers, nachdem er zehn Jahre und vier Monate ohne allen Grund gefangen gehalten wurde. Der Herzog empfing den Dichter in gnädiger Audienz und ernannte ihn gleichsam zur Entschädigung zum Hofdichter und Director des Schauspiels und der Oper. Aber die Zeit der Jugend, wo ihn das Theater lockte, war vorüber; dagegen widmete er sich mit ungebrochener Kraft der wieder aufgenommenen „Deutschen Chronik“. Mit seinem Scharfblick erkannte er die Größe und Bedeutung der eben ausgebrochenen französischen Revolution. „Die Sonne des Jahrhunderts,“ prophezeite er, „wird untergehen vom wallenden Dampfe der Leichen verfinstert, aber aus dem allgemeinen Brande, aus dem Schutte der Zerstörung wird Europa aufsteigen in neuer Gestalt.“

Nur einen Blick durfte er in das gelobte Land der Freiheit thun, nur noch kurze Zeit das Glück an der Seite seiner in schwerster Prüfung bewährten Gattin, umringt von seinen Kindern und Enkeln, genießen. Die lange Kerkerhaft und die schweren Körper- und Seelenleiden, wie namentlich auch seine Verirrungen, hatten seine Gesundheit zerstört. Vier Jahre nach seiner Freilassung starb er am 10. October 1791 und wurde auf dem äußern Spitalkirchhofe, dem sogenannten Hoppebau, begraben. Kein Denkmal bezeichnet die Stätte, wo der Dichter der „Fürstengruft“, der Sänger „Friedrich’s des Einzigen“, der „Deutsche Chronikenschreiber“ liegt. Eine schauerliche Sage aber erzählt, daß Schubart lebendig begraben und bei Oeffnung des Sarges auf dem Bauche liegend, mit blutig gekratzten Nägeln gefunden worden sei. Wie sein „ewiger Jude“ konnte der Geist des gefangenen Dichters noch im Grabe nicht die Ruhe finden, indem er, von heftigem Freiheitsdrang beseelt, seinen Sarg zu sprengen suchte. So lebt Schubart im Andenken seines Volkes, das noch heute seine Lieder singt, vor allen den rührenden Abschiedssang:

„Auf, auf, ihr Brüder, und seid stark,
Der Abschiedstag ist da!“

Max Ring.
[120]
Die amerikanische Hausfrau.
Ein Lebensbild von A. Douai.


Die Leserinnen der Gartenlaube wissen gewiß schon etwas davon, daß die Stellung der amerikanischen Hausfrau von der der deutschen nicht unbedeutend verschieden ist, und möchten darüber ein Weiteres erfahren. Sie werden es also sicher verzeihen, wenn wir, um das Bild ihrer hiesigen Schwestern abzurunden und auszumalen, sie dabei etwas länger aufhalten, als sie sonst in einem Zuge zu lesen gewöhnt sind.

Die äußere Erscheinung der Frauen bietet noch den geringsten Unterschied zwischen beiden Welttheilen. Hüben wie drüben hat die tyrannischste aller Tyranninnen, die Pariser Mode, sie in ihre Fesseln geschlagen, in dem freien Amerika sogar noch mehr als irgendwo in Europa. Die neuesten Kleidertrachten werden in Amerika allgemeiner verbreitet als in Deutschland, wo nur in den Großstädten und nur in den wohlhabendsten Kreisen gewissenhaft allen Launen dieser Tyrannin nachgelebt wird, während in dem ganzen Bereiche der Union, die äußersten Hinterwälder und Prärien ausgenommen, von der Millionärin bis zum ärmsten irischen Dienstmädchen herab, alle Frauen, die nur irgend können und dürfen, den pünktlichsten Götzendienst der „Fashion“ mitmachen. Das kostet natürlich viel, umsomehr, als die Amerikanerin solid genug denkt, um Seidenstoffe und Merinos und Wollmusline den baumwollenen und gemischten, überhaupt die theuersten den billigen Zeugen entschieden vorzuziehen, die lebhaften Farben den unscheinbaren, die geschmackvolleren Putzsachen den bescheidenen und einen vollen Kleiderschrank einem leeren, und da sie gegen Diamanten und Edelsteine durchaus kein Vorurtheil nährt – kurz im Punkte des Kleiderluxus schlechterdings liberal gesinnt ist. In diesem Punkte also stehen die amerikanischen Frauen „auf der Höhe der Zeit“; sie machen präcis den „Weltfortschritt“ mit, sie „bleiben auf dem Laufenden“ mit dem Neuesten in der Wissenschaft und Kunst, den „alten Adam nicht etwa auszuziehen“, sondern die junge Eva immer frisch anzuziehen; sie verbrauchen ohne alle Frage an Pariser Schnickschnack und modischen Kinkerlitzchen allein ebensoviel, wie alle Modedamen von ganz Europa zusammengenommen. Wenn also ein Amerikaner seine Frau und seine erwachsenen Töchter ganz gewöhnlich mit „Theure!“ anredet, so liegt diesem zärtlichen Ausdruck ganz gewiß etwas von dem Bewußtsein mit zu Grunde, wie theuer ihm die bloße Außenseite derselben zu stehen kommt. Und wenn der Angloamerikaner so blutwenig vom Knauser an sich hat, so ist dies theilweise wenigstens ein Verdienst der Frauen, welche ihm dieses garstige Laster gründlich abgewöhnen.

„Folgen wir ihnen in ihre Wohnungen, so finden wir auch hier bis in die bescheidensten Lebenslagen herab dem Schönheitssinne hingebend Rechnung getragen. Ein ganzes Haus für eine Familie allein gehört, wie in England, zum Anstand, zum Lebensgenuß, zu den Unentbehrlichkeiten. Junge Ehepaare, ohne Kindersegen, gehen gewöhnlich „boarden“, d. h. in ein anständiges Kosthaus, wo sie, je nach den Umständen, zwei bis vier Räume einnehmen; allein sobald als irgend möglich muß, wenn erst Kinder da sind, ein eigenes Haus gemiethet werden, wovon anfänglich vielleicht bei beschränkteren Mitteln einige Zimmer an ledige Männer oder Frauen weiter vermiethet werden; denn Kinder können im Kosthause nicht untergebracht werden und ebensowenig kann man einen Theil eines anständigen Hauses bekommen, wenn man Kinder hat. Dieses Haus muß vor allen Dingen durchaus mit Teppichen, womöglich Brüsseler, belegt, die Fenster müssen mit Vorhängen und Rouleaux verdunkelt werden, obwohl die Jalousien nirgends fehlen und fast immer möglichst geschlossen bleiben; die Zimmer müssen mit Mahagoni-, Rosenholz- oder Palissander-Möbeln, mit Spiegeln und Bildern in Goldrahmen verziert und die Betten müssen auf soliden, zweischläfrigen Bettstellen, guten Matratzen mit doppelten Laken und einer Stepp- oder einer gewirkten Wollendecke und einem Kopfkissen von Federn hergestellt sein. Damit und mit einem sehr bescheidenen Vorrath von Küchengeschirr und Tischservice ist die Ausstattung vollständig, wenn nicht etwa die Hausfrau musikalisch ist und ein Piano verlangt, in welchem Falle die Kosten der ersten häuslichen Einrichtung von tausend bis tausend zweihundert Dollars auf tausend fünfhundert bis tausend achthundert steigen, während die Jahresmiethe zwischen zwei- bis sechshundert Dollars im Durchschnitt kostet. Ein Dienstbote wird nun bald unentbehrlich, wenn so viele Räumlichkeiten in sauberster Ordnung gehalten werden sollen, was weitere einhundert bis zweihundert Dollars Kosten im Gefolge hat. Dies wenigstens sind die Preise in Großstädten, in kleineren und auf dem Lande darf die Einrichtung ungleich bescheidener sein, ist aber selten ohne Rücksicht auf Schönheit, Nettigkeit und Bequemlichkeit getroffen.

Man sieht, daß die Angloamerikanerin weiß, was sie sich selbst schuldig ist. Sehen wir nun, wieviel sie ihrem Manne schuldig zu sein glaubt. Ist keine Dienstmagd im Hause so versteht sich’s von selber, daß der zärtliche Gatte früh zuerst aufsteht, das Feuer im Kochofen anzündet, das Kaffee- oder Theewasser ansetzt, alsdann die Einkäufe für den Tag besorgt, wenn er sie nicht schon des Abends vorher besorgt hatte, und bei seiner Rückkehr vom Bäcker, Krämer und Fleischer das Frühstück fertig findet, wofern er’s nicht selbst fertig machen muß. Beim Frühstück wird ein halbes Stündchen harmlos verplaudert und die noch nasse Morgenzeitung, wenigstens in den Hauptsachen, der Gattin vorgelesen. Dann eilt der Gatte in’s Geschäft, welches in den Städten fast immer von der Wohnung sehr weit entfernt ist, und zu Hause waltet indessen die züchtige Hausfrau, die Mutter der Kinder, und herrschet weise im häuslichen Kreise. Jeden Montag wird die Wäsche der Woche gewaschen, wobei die Waschmaschine gute Dienste thut, wenn’s sein kann, auch noch getrocknet und mit dem Bügeleisen geplättet. Dies ist die eigentliche Hauptarbeit der Woche; denn auf reine und blendend weiße Wäsche hält der Amerikaner viel, und das Stärken und Plätten ist mühsam. Desto weniger Zeit erfordert die Befriedigung des in Europa so gebieterischen Magens. Zu einer halben Stunde ist alle Vorbereitung zur Hauptmahlzeit, die gewöhnlich bei der Nachhausekunft des Gatten, gegen Abend, stattfindet, vollauf beendet. Suppe giebt es nicht. Das Beefsteak oder Schöps-Rippenstück ist im Handumdrehen nothdürftig gebraten, der Kohl oder das getrocknete Obst im heißen Wasser abgekocht und ohne weitere Zuthat aufgetragen; das Kaffeewasser ist ebenfalls bald heiß, einen süßen Nachtisch liefert der Bäcker. Kurz, eine solche Mahlzeit ist in der Regel geschwinder bereitet, als verzehrt und – verdaut. Noch ein wenig Aufwasch, und die Hausfrau hat das Tagewerk beendet, indeß der Vater die Kinder zu Bette schafft, worauf sie Beide den langen Abend beisammen hinbringen.

Denn ein Wirthshausleben des Ehemanns wäre in einer anständigen Familie unerhört, unverzeihlich und von der Frau schlechterdings nicht zu dulden. Von Ausbessern der Wäsche und Kleider ist nicht viel die Rede; lieber wird das Schadhafte, da es ohnehin nicht auf lange Dauer berechnet war, weggeworfen, verkauft oder verschenkt; es ist schon alles Mögliche, wenn die Frau die Wäsche und Kinderkleider mit Hülfe einer Nähmaschine neu fertig macht. Die Angloamerikanerin belohnt also ihren Ehemann für alle seine großen, dem Hauswesen gebrachten Opfer nicht mit dem, was sie kocht, backt und bratet, überhaupt nicht mit dem, was sie macht, sondern mit dem, was sie ist.

Ja, was ist sie denn? Nun wohl; erstens ist sie in der Regel hübsch, ja sehr oft schön, ein in Amerika freilich sehr vergängliches Eigenthum. Zweitens ist sie sauber und treibt die Achtung vor sich selbst soweit, daß sie ihrem Gatten fast nie im Negligé sichtbar wird, sondern Haar-, Haut- und Kleiderpflege schon am Frühstückstische fertig hat, also vollends vor der Außenwelt jederzeit die ganze Würde des Hauswesens vertreten kann. Drittens ist sie eine zärtliche, fast überzärtliche Mutter für die Kinder, nur daß sie, wenn sie zufällig in der Stadt wohnt, deren nie mehr als drei, höchstens vier sich gefallen läßt, anders ist es allerdings oft auf dem Lande. Viertens ist sie in der Regel so gescheidt und gebildet wie er, wenn sie ihn darin nicht etwa übertrifft. Erstens nimmt sie ihrem Manne den Haupttheil der Sorge um die Kindererziehung ab – gleichviel wie dieselbe auch sonst bestellt sein möge – und der Mann begnügt sich bei seiner aufzehrenden Gewerbsthätigkeit dabei gern mit Zahlung der dafür auflaufenden, oft sehr ansehnlichen Kosten. Sechstens sucht sie ihm das Hauswesen so nett, gefällig und anziehend wie möglich zu machen, damit er ja keinen Vorwand zum Vergnügen außer dem [121] Hause finde, und wenn er ausgeht, so begleitet sie ihn überall hin, wo es nur thunlich.

Das ist gewiß etwas, wird unsere deutsche Leserin sagen. Aber mehr: wieviel sie auch immer von ihm verlangen möge, so lange es ihm gut geht, so zufrieden ist sie, mit ihm die bescheidenste Existenz zu theilen, wenn er im Geschäfte Unglück hat. Hatte sie vorher kaum gefragt, woher er nur das viele Geld nehme, welches seine Hauswirthschaft beansprucht; hatte sie seine geschäftlichen Sorgen auch vorher nie getheilt, ja, um die Art seines Gelderwerbs sich gar nicht gekümmert: von nun an wird sie seine Rathgeberin, Freundin, Helferin, schränkt sich ein, thut für ihn Fürsprache, eröffnet ihm Hülfsquellen, opfert für ihn, was irgend entbehrlich, und wird ihm so ein Engel in der Noth. Muß er, um seine zerrütteten Vermögensumstände wieder aufzubessern, in den fernen Westen, oder nach Californien, geduldig bleibt sie daheim, nimmt mit den spärlichen Geldsendungen fürlieb, die ihr von ihm zukommen, ernährt sich und ihre Kinder gar oft selbst, oder unterwirft sich den Beschränkungen, welche ein längeres Verweilen bei wohlhabenden Verwandten ihr auferlegt, damit er mit ungehemmter Kraft sein Glück neu aufbauen könne. Und obwohl in der Zwischenzeit bis zur Wiedervereinigung mit ihm zahlreiche Versuchungen zur Untreue an sie herantreten mögen, wie selten ist der Fall, daß sie denselben erliegt! Es giebt im Osten Zehntausende solcher Strohwittwen mit Männern im fernen Westen, und doch, wie wenig Fälle der Untreue kommen zur allgemeineren Kenntniß, und das in einem Lande, wo die privatesten Angelegenheiten so häufig den Weg in die hundertäugigen Zeitungen finden!

Ueberhaupt ist die Amerikanerin, wenn sie Wittwe, Strohwittwe, oder geschieden, oder durch Untreue oder Verlumpung des Mannes auf ihren eigenen Witz angewiesen wird, bei Weitem weniger hülflos als eine Europäerin in gleicher Lage. Theils sorgen beiderseitige Verwandte, Bekannte, überhaupt der großartige Wohlthätigkeitssinn des Angloamerikaners dafür, daß sie sich selbst weiterhelfen könne; theils erleichtert ihr diese Aufgabe die herrschende Gewerbfreiheit und die behäbige Natur der Verhältnisse; theils entfaltet sie selbst eine Energie und einen Mittelreichthum, wie keine andere Frau. Sie wird Putzmacherin, Gewürzhändlerin, Buchhalterin, studirte Aerztin für Frauen und Kinder, Postmeisterin, Schriftstellerin, Künstlerin, Lehrerin, Kosthaushalterin, Matrone in öffentlichen Anstalten, Fabrikantin, Leihbibliothekarin, Krankenwärterin, Kirchensängerin, Clavierlehrerin, Schauspielerin – kurz, tausenderlei, wozu manche Europäerin nicht wohl im Stande wäre.

Wir erinnern uns einer Frau Paxton, welche ihren Mann, einen Schiffscapitän, auf einer Seereise um das Cap Horn begleitete, von ihm Navigationskunde lernte und, als er auf halbem Wege starb, das Schiff unter den schwierigsten Umständen, selbst einer Meuterei der Matrosen zum Trotz, in den Hafen von San Francisco steuerte. Eine ganze Anzahl Frauen, von denen die Miß Edmonds schon in diesen Blättern erwähnt worden ist, haben im Unionskriege als Spioninnen und Officiere ausgezeichnete Dienste gethan, während tausend andere zur Krankenpflege in den Hospitälern, zum Unterricht der aus der Sclaverei entronnenen Neger und zu andern patriotischen Berufsarten herbeieilten. Die Frau Jane Swißhelm begründete zu einer Zeit und in einer Gegend, wo höchste Gefahr damit verbunden war, in Wisconsin, eine abolitionistische, Weiberrechts-freundliche und sonst radicale Zeitung, erhielt sie allen Anfechtungen zum Trotz jahrelang mit großem Erfolg und widmete sich schließlich nach Ausbruch des Krieges dem Hospitaldienste und der Sammlung von Beiträgen für Verwundete. Die Miß Peabody hat ihr ganzes Leben der Verbesserung des Schulwesens geweiht, und ihre Schwester, die Frau des berühmten Horace Mann, des amerikanischen Schul-Reformators, der Lebensbeschreibung ihres Gatten und der Verbreitung seiner Grundsätze und Erfahrungen. Zahlreiche renommirte Erziehungsanstalten werden von Frauen geleitet, und nicht minder sind es die großen Kosthäuser der Fabriken von Lawrence und Lowell in Massachusetts, in denen Mädchen und Frauen zu Tausenden arbeiten und dabei ein anständiges, der Bildung und Ehrbarkeit gewidmetes Leben führen. Drei Viertel aller Lehrer an den Volks- und anderen Schulen der Union sind Frauen, allerdings kaum zum Vortheile des Unterrichts und der Erziehung, und von den Schriftstellern, Künstlern und Fachverwandten sind es immerhin Hunderte. Die Kosthäuser des Landes, in welchen ein so großer Theil der ledigen Bevölkerung lebt, sind fast alle im Besitz von Frauen (Wittwen und Strohwittwen), und die Anzahl der Berufsarten, in welche sie um lohnender Beschäftigung willen Bresche legen, nimmt noch immer zu. Wie lange wird es noch dauern, und die Frauen haben sich das Stimmrecht errungen, sind Bürgerinnen geworden und helfen die Geschicke des Landes mittels der Gesetzgebung mit bestimmen!

Denn schon gegenwärtig ist ihr Einfluß auf die Politik außerordentlich groß. Ohne ihre lebhafte Antheilnahme daran wäre schwerlich die Abschaffung der Sclaverei so glatt von statten gegangen, als sie einmal zur Verhandlung kam, wäre schwerlich die Mehrheit des Volkes so rasch für eine freisinnigere Auffassung dieser und anderer wichtiger Nationalfragen vorbereitet worden. Sie hielten zwar nicht, wie die Männer, große politische Versammlungen zu diesem Zwecke ab, aber sie begleiteten ihre Gatten in dieselben und halfen sie enthusiasmiren; sie unterstützten die freisinnigen Zeitungen, die Sammlungen für die Verwundeten im Kriege, sie brachten die riesigen Sanitary-Fairs (Bazars zum Besten des Sanitätswesens im Kriege) zu Stande, welche der Nationalsache so großen Vorschub leisteten. Sie brachten ungeheure Opfer an Allem, was ihnen theuer war, und bekehrten Hunderttausende von Männern und Jünglingen zum Radicalismus. Sie sind die Vorkämpferinnen für alle Bildungs- und Erziehungszwecke, für die Sache der Menschenveredlung gegenüber der Rohheit und Barbarei – sie sind das Salz Amerikas!

Und weil die protestantische Kirche und Geistlichkeit hier zu Lande auf Seiten des Fortschritts stehen und gute Bundesgenossen gegen die Aristokratie der Sclavenhalter-Barone und aller aufstrebenden Aristokratie sind, sowie gegen die verkommene und verdummte Einwanderer-Bevölkerung von Irländern und manchen andern Europäern, die politischen Werkzeuge und lenksamen Massen der Rückschrittler, so erklärt sich, weshalb die protestantischen Geistlichen einen so bedeutenden Einfluß auf die Frauen und durch sie auf die Männer ausüben. Die Angloamerikanerin hat begriffen, oder sie ahnt wenigstens, daß ihre bevorzugte Stellung gegenüber der der Europäerin auf dem fortschreitenden Siege der Bildung und Humanität über die eingewanderte wie eingeborene Rohheit und Barbarei beruht, und sie schätzt Kirche und Geistlichkeit als Helfer bei der Entwilderung und Gesittung des Landes und leistet ihnen ungemeinen Vorschub.

Deswegen also besonders – nicht blos aus alter, süßer Gewohnheit – geht sie sonntäglich dreimal, mindestens einmal, und außerdem auch Wochentags in die Kirche, nimmt dahin auch Ehemann und Kinder mit, schwärmt für ihren Prediger, sieht ihn häufig bei sich, sucht seine Stellung so einträglich und so einflußreich wie möglich zu machen und unterstützt alle Zwecke ihrer Kirche. Der Ehemann und der Jüngling sind in der Regel kirchlich aus Sucht nach Ehrbarkeit und zum Vortheile ihres Geschäftes; die Ehefrau und Jungfrau sind es aus inniger Ueberzeugung, sogar aus Frömmigkeit. Wenn dieser große Einfluß der Geistlichkeit auch seine sehr schädlichen Seiten hat, so erlauben unsere Leserinnen diesmal sie zu übergehen.

Durch das Beispiel der deutschen Frauen im Lande lernen übrigens die Angloamerikanerinnen mehr und mehr auch das Wirthschaften im europäischen Sinne. Sie legen mehr und mehr ihre Abneigung gegen weibliche Handarbeiten und vervollkommnete Kochkunst ab und eignen sich Sparsamkeit und Häuslichkeit in höherem Grade an. Dazu tragen nicht minder die häufigeren Reisen nach Europa bei. Auch ist die amerikanische Farmerin, wenngleich sie die Kühe nicht selbst melkt und alle schwereren und unsauberen Arbeiten den Ehemännern und Gehülfen überläßt, doch eine gute Wirthin und vervollkommnet sich durch Lesen guter Zeitschriften möglichst in der Kunst der Haushaltung, weshalb alle Ackerbau-Zeitungen eine besondere Abtheilung für die Frauen, gefüllt mit Recepten, Rathschlägen und Fingerzeigen wirthschaftlicher und erzieherischer Art, neben gesunder Unterhaltungslectüre, bieten. Kurz, die Amerikanerin ist immer mit an der Spitze der Fortschrittsbewegung und äußerst selten der starren Gewohnheit, dem alten Schlendrian verfallen.

Daher wird unsern Leserinnen das, was wir zum Schluß mittheilen wollen, nun weniger auffallen. Soeben hat ein Schiff den Hafen von New-York verlassen, welches mit achthundert Frauen, d. h. Mädchen und jungen Wittwen, beladen ist, welche nach Californien und Oregon gehen, um Männer zu suchen, oder, wenn das [122] nicht gelingt, anderweit ihr Glück zu machen. Der Unternehmer, ein achtbarer Bürger von Oregon, handelt im Auftrage zahlloser lediger Männer der Küsten des stillen Meeres, wo das Verhältniß der Frauen zu den Männern wie 1 zu 10 ist, indem er nach Neuengland kommt, sich an die 300,000 Frauen wendet, welche dort über die Männerzahl überschießen, und sie zu gemeinsamer Auswanderung einladet. Die öffentliche Meinung ist ganz zu Gunsten des Unternehmens, und die ehrbarsten Mädchen, zum Theil aus den besten Familien, machen die Reise mit. Hoffen wir, daß das Schiff mit seiner hoffnungsvollen Fracht wohlbehalten den Hafen der Reise und die Mädchen den der Ehe erreichen und daß noch viele Schiffe mit ähnlicher Bestimmung diesem ersten folgen!




Das Thurmzimmer.
Geistergeschichte aus Herder’s Leben.
Von Levin Schücking.
(Fortsetzung.)


Der Graf fühlte in der That sein Herz sehr freudig aufschlagen bei der Ueberraschung, welche ihm Prinzessin Sidonie bereitet hatte. Nicht im Entferntesten hatte er geahnt, daß die theure Seelenfreundin so außerordentlich schön sei. Hatte man sie ihm nicht geschildert als groß und stark und ein wenig Mannweib in ihrer Erscheinung? Das war ja die schrecklichste Verleumdung! Wie imposant und wie anziehend doch in ihrer würdevollen weiblichen Hoheit stand sie vor ihm!

Er ergriff ihre Hand und drückte sie an seine Lippen; sie entzog ihm diese Hand sehr rasch wieder.

„Aber wie ist es möglich, daß mir dieses ungeahnte Seligkeit wird?“ fuhr er fort,“ ist es nicht ein Traum …“

„Es ist einfach erklärt, Herr Graf! Den Plan, den ich entwarf und Ihnen mittheilte, um auf eine nachdrückliche Weise dem Bräutigam meiner Freundin das Gewissen aufzumahnen, äußerte ich behutsam und wie tröstend der letzteren. Meine Freundin warf ihn mit Entrüstung weit, weit von sich. Ich mußte diesen Plan sofort fallen lassen, wenn ich ihn auszuführen gedachte mit Caroline Flachsland’s Hülfe. Sie fand ein solches Spiel ihrer und ihres Bräutigams unwürdig; Und doch war ich täglicher Zeuge ihres Leidens, und doch sah ich täglich ihr Herz bluten im Kampfe mit der kranken Empfindlichkeit eines eitlen Mannes, der ihr nur halbe Gefühle widmete und das Recht auf ganze und volle gegeben hatte; der in diesem Kampfe sich selbst und noch viel mehr sie quälte. Es mußte etwas für Beide geschehen und so entschloß ich mich selbst zu thun, was die Freundin stolz von sich abwies. Ich mußte auf den Rath meines Arztes das Bad besuchen. Ich wählte das Ihnen nahe Eilsen. Ich lebte eine kurze Zeit da in völliger Verborgenheit … das Uebrige wissen Sie!!

„Mein Gott!, Prinzessin, welcher Edelmuth, welcher Heroismus … für eine Freundin so viel zu wagen!“

„War es ein großes Wagniß? Es blieb jeder menschlichen Seele unbekannt …“

„Und doch … o könnte ich hoffen,“ rief der Graf aus, „daß der Gedanke, die Ausführung Ihres kühnen Vorsatzes werde Sie in die Nähe Ihres treuesten, liebendsten Freundes führen, bei Ihnen in die Wagschale des Entschlusses gefallen, Prinzessin, dann wäre ich der glücklichste Mann …“

„Gewiß, gewiß,“ unterbrach ihn die Dame kalt und immer in derselben kühlen Zurückhaltung verharrend, „der Gedanke, Sie zu sehen, Graf, übte nicht geringen Einfluß auf meinen Schritt.“

„Ich möchte Ihnen zu Füßen fallen vor Entzücken, Prinzessin … Sidonie …“ rief der Graf aus, nach ihren beiden Händen fassend, als ob er die verführerische Gestalt an sich ziehen wolle.

Sie trat abermals einen Schritt zurück. „Es war ja nöthig, daß ich kam,“ fuhr sie mit einer gewissen ironischen Betonung fort, „denn so viel tiefe Sehnsucht nach meinem Anblick, so viel glühende Gefühle Ihre Briefe an Prinzessin Sidonie auch aushauchten, Sie selbst kamen ja nicht. Es hinderten Sie die Jagden oder ein grausames Katarrhleiden, oder mannigfache und beklagenswerthe Abhaltungen ähnlicher Art. Ja, das Leben ist für einen heldenmüthigen Mann, der einmal ein paar Tage seinem eigensten Innern leben möchte, entsetzlich grausam; er hat mit der festesten Energie die Rücksichten, die ihn banden, von sich abgeschleudert, er athmet endlich frei auf und will die Pilgerfahrt zur Geliebten antreten: siehe da, er hat nicht daran gedacht, daß morgen der erste Jagdtag ist, daß übermorgen der Tag, an welchem er jährlich sich zur Ader zu lassen pflegt – und all seine schönsten Hoffnungen liegen verwelkt und entblättert zu Boden! Arme gebundene Sterbliche – arme Männer!“

„Prinzessin“ sage der Graf betroffen, „ich glaube …“

„Sie glauben, Sie wären nie gekommen; gewiß, auch ich glaube das, und darum kam ich selbst.“

„Und das unendliche Glück, das Sie mir dadurch gewährten, entschädigt mich tausendfach für die Herbheit der Vorwürfe, die ich aus Ihrem Munde, von Ihren holdseligen, rosigen Lippen höre! Aber glauben Sie mir, Sie thun mir Unrecht – bitteres Unrecht!“

„Man thut den Männern nie Unrecht, wenn man ihnen die Schuld giebt, daß die Frauen leiden!“

„Sie hätten gelitten, durch mich, Prinzessin? … ich wäre untröstlich …“

„Ja, ich habe gelitten! Seit einem halben Jahre, wo ich Ihnen zuerst unbekannter Weise schrieb, um Sie zu trösten wegen des Verlustes Ihrer Gattin, an der ich mit so viel Freundschaft hing – seit diesem halben Jahre haben Sie mir immer zärtlicher Ihre Gefühle ausgesprochen. Wir haben uns in immer höher gespannteren Empfindungen ergangen. Aber eine Frau erfaßt ein solches Verhältniß mit andern Gefühlen, als ein Mann. Eine Frau fühlt dabei, was sie spricht, ein Mann kokettirt damit. Die Frau klammert sich mit ihrem ganzen Sein an den Freund, dessen Seelenleben sich ihr darzubringen scheint; ein Mann behält sich ganz für sich und spiegelt sich in den Ergüssen nicht seines Herzens, sondern seines Kopfes. Und so entsteht zwischen ihrem Weh und Schmerz ein innerer Kampf und Herzenskummer. Und an dem habe auch ich gelitten, gelitten gerade so, wie meine Freundin Caroline; seit dem Tage, wo mir die Ahnung ward, daß ich es mit dem geistreichsten Manne unserer Zeit zu thun habe, der in einer romanhaften Verbindung mit einer Frau nur dem krankhaften Gang der Zeit nachgehe, dem eitlen Drang, in schwärmerischen Gefühlsausschüttungen sich das Leben des eigenen Gemüths gegenständlich zu machen und darin die Schönheit der eigenen Seele zu bewundern. Ihr wollt Euch Alle nur einen Spiegel schaffen, der recht schön und verklärt die Züge Eures inneren Menschen zurückwirft; Narciß hat viele, viele Nachahmer …“

Der Graf, der sehr unangenehm überrascht und mit einem unbeschreiblichen Mienenspiel diese zornige Strafrede hingenommen hatte, begann bei diesen Worten der Prinzessin zu lächeln:

„Narciß … Prinzessin,“ rief er aus, „sehen Sie mein braunes Soldatengesicht und meinen grauen Bart an … und dann schelten Sie mich noch einen Narciß!“

Die Prinzessin wollte fortfahren, als plötzlich an die äußere Thür geklopft wurde.

„Gott, dieser unselige Herder,“ rief der Graf erschrocken, „er verliert die Geduld, der Mensch ist rein außer sich …“

„Herder soll mich nicht sehen,“ sagte die Prinzessin gebieterisch, „senden Sie ihn fort, Niemand soll mich sehen!“

„Aber er besteht so heftig darauf, ich bin völlig außer Stande, ihn zu beruhigen … was beginn’ ich mit ihm?“ sagte der Graf in größter Unruhe.

„Er wird Ihnen freilich unangenehme Dinge bereiten,“ versetzte die Prinzessin kühl und mit einem empörenden Mangel an Theilnahme für des Grafen Verlegenheit. „Solch ein Dichter hält sich jedem Fürsten ebenbürtig; er wird mit Eclat Ihren Dienst verlassen, er wird in seinen Schriften gegen Sie auftreten …“

„Und Sie, Sie drohen mir damit, Sie, die doch allein die Ursache, die Veranstalterin …“

„Nun, das ist Frauenlogik,“ fiel die Prinzessin lächelnd ein, „Sie dürfen sich nicht darüber wundern; die Verantwortung überlasse ich Ihnen. Gehen Sie nur, Herder zu beruhigen, für den Augenblick mindestens, und ihn abzuhalten, daß er nicht hier eindringt [123] und mich sieht; ich verlange das auf’s Strengste von Ihnen, Erlaucht!“

Die Erlaucht ging in heftigster Erregung hinaus. Draußen, auf dem Corridor, fand er Herder, eben so erregt auf- und abschreitend.

„Mein lieber Herder, Sie sehen mich auf’s Furchtbarste überrascht,“ flüsterte er ihm zu, „Sie sollten mystificirt werden, und nun bin ich’s, ärger als Sie …“

„Werde ich meine Braut jetzt sehen, Erlaucht?“ fragte Herder laut und heftig.

Der Graf fiel dem zornigen Mann in’s Wort. „Nein, nein, hören Sie mich zu Ende; die Dame, die Sie sahen, ist gar nicht Demoiselle Flachsland …“

„Und wer ist sie?“

„Es ist mir unmöglich, Ihnen ihren Namen zu nennen, aber …“

Ein bitteres Lächeln, welches den vollsten Unglauben an diese Worte ausdrückte, flog über Herder’s Züge.

„Es ändert nichts an meinem entschiedenen Willen und Verlangen!“ unterbrach er mit zorniger Bestimmtheit den Grafen.

„Willen, Verlangen!“ rief der Graf nun seinerseits außer sich gerathend aus. „Herr, ich sage Ihnen, hier in meinem Lande, in meinem Schlosse habe nur ich zu wollen, zu verlangen und zu gebieten. Ich befehle Ihnen auf’s Strengste, das Weitere abzuwarten; ich bitte Sie, lieber Hofprediger,“ setzte er dann plötzlich wieder milde und wie seines Zornes sich schämend hinzu, „haben Sie Geduld, Geduld, nur noch kurze Zeit; ich bin bald wieder bei Ihnen!“

Damit wandte er sich ab und eilte in das Zimmer der Prinzessin zurück, die Thüren sorgsam hinter sich schließend.

Die Prinzessin war indeß an’s Fenster getreten.

„Ich sehe,“ sagte sie, als der Graf sich ihr näherte, „es ist da draußen Alles zur Jagd bereit. Ich darf also Ihre Augenblicke nicht lange mehr in Anspruch nehmen …“

„Und Sie glauben, ich würde heute dieser Jagd folgen, Prinzessin,“ heute, wo diese himmlische Erscheinung mich hier fesselt und …“

„O gewiß,“ fiel die Prinzessin ein; „warum sollten Sie nicht? Ich habe nur Weniges noch zu sagen, und dann bin ich mit meinen Vorwürfen zu Ende.“

„Mit Ihren furchtbar ungerechten Vorwürfen, angebetete Sidonie … wenn Sie in mein Herz sehen könnten, das in so warmer, treuer, ehrlicher Gluth für Sie schlägt …“

„So würde ich dasselbe sehen, was in so vielen Männerherzen von heute ist, dasselbe, was in Herder’s Herzen ist für seine Caroline! Glauben Sie, ich hätte, indem ich hier erschien und als eine mahnende Gestalt aus dem Reich des geheimnißvollen Jenseits an Herder’s Auge vorüberschritt, dabei nur die Wirkung auf Ihren Hofprediger beabsichtigt? O nein, um ihn hätte Prinzessin Sidonie niemals eine so auffallende, seltsame, excentrische Handlung begangen. Das, was Sie, Graf, in mir erregt, trieb mich dazu; Ihretwegen allein konnte ich etwas thun, was kühle Menschen unweiblich, thöricht, compromittirend nennen werden. Sie wollte ich zur Einkehr in Ihr Inneres zwingen, Sie sollten sich sagen, wer der ist, an dem wir uns am schwersten im Leben versündigen. Es ist der, dem wir Gefühle vorspiegeln, die wir nicht wahrhaft und voll empfinden. Der, dessen Seele wir an uns rissen, um sie dann mit einer kühlen, idealen Freundschaft abzuspeisen, mit poetischen Ueberschwenglichkeiten, an denen keine gesund fühlende Natur ein Genüge findet. Der, in dem wir den Sturm erregen, ohne das Wort sprechen zu wollen, das den Sturm beschwichtigt; dem wir das Glück vorspiegeln, um ihm eine Tantalusqual daraus zu machen, in dessen Innern wir die Sehnsucht, das Verlangen, den Drang tiefster und rückhaltlosester Hingabe hegen, schüren, zur Flamme auflohen lassen, nur um an dieser Flamme unsere Eitelkeit zu wärmen. Das ist ein frevles Spiel mit einem Menschenherzen. Ein Weib, das dieses verruchte Spiel treibt, nennt man eine Kokette; den Mann aber, der es thut …“

„Einen koketten Narciß!“ rief der Graf sich von der Mercuriale aufrichtend, mit etwas gezwungenem Lächeln aus, „hätte ich je geahnt, daß ich in meinem ehrwürdigen Alter noch diesen Namen bekommen würde! Nein, Sie sind zu grausam, zu schonungslos, Sidonie, beim gerechten Gott, wenn Sie wüßten, wie ehrlich, „wie treu, wie ernst und tief meine Empfindung für Sie ist, wie ich auf Erden kein größeres Glück finden könnte, als wenn ich noch wagen dürfte, Erhörung zu hoffen, sobald ich …“

„O, fahren Sie nicht fort, fahren Sie nicht fort, nicht so war’s gemeint,“ unterbrach sie ihn hastig, „aber denken Sie denn wirklich anders? Soll ich Ihnen zeigen, wie Sie nicht allein gegen mich eine andere Sprache führen, als Ihr Herz sie Ihnen in voller Wahrheit dictirt, sondern auch schuld sind, daß andere Frauen durch eine solche Sprache unglücklich gemacht werden? Wollen Sie einen Beweis, daß Sie leichtsinnig, unredlich denken?“

„Einen Beweis? Und welchen könnten Sie mir geben? Ich verstehe Sie gar nicht!“

„Einen schlagenden Beweis! Es ist ein vorwurfsfreies zartfühlendes und gebildetes Mädchen an unserer Hofbühne angestellt, ich scheue mich nicht auszusprechen, daß ich, seit ich sie durch Caroline Flachland kennen lernte, ihr meine ganze Theilnahme zugewendet habe. Sie war in diesem Sommer in Eilsen. Dort hat einer Ihrer Officiere sie kennen lernen, ihr zu gefallen gewußt, durch eine ähnliche Sprache, wie Sie solche gegen Prinzessin Sidonie führten, ihr Herz gewonnen, die ganze Seele des unglücklichen Mädchens an sich gerissen. Statt nun jedoch mit Ernst darauf zu bestehen, daß jener Mann die Hoffnungen erfülle, die er geweckt, was thun Sie? Sie halten ihn ab, sie zu erfüllen; Sie verweigern ihm die Einwilligung; Sie geben ihm den schönsten Vorwand, sich der Lösung seines Worts zu entziehen, und verführen ihn, das betrogene Mädchen mit schönseligen Ergüssen sehnsüchtiger Schwermuth und mondscheinblauen Gefühlen für die volle, warme, ehrliche Hingabe ihres Herzens zu bezahlen! Das thun Sie, Graf Wilhelm, und ich frage Sie, ob Sie darin handeln wie ein redlicher, vorurtheilsloser, nur das Recht und das Gewissen zu Rathe ziehender Mann? Antworten Sie mir, mein erlauchter Graf!“

Graf Wilhelm konnte nicht umhin, sich zu gestehen, daß er ein wenig geschlagen sei.

„Aber bedenken Sie, Prinzessin, einer meiner Officiere und – eine Schauspielerin!“ fiel er ein.

„Einer Ihrer Officiere und – meine Freundin! behaupten Sie, daß die Partie zu ungleich sei?“

„Das sei fern von mir,“ antwortete der Graf eifrig, „und von dem Gesichtspunkte aus, unter dem Sie die Sache darstellen. …“

„Geben Sie die Einwilligung. Wohl, ich danke Ihnen; aber ich bitte Sie, dies sofort und schriftlich zu thun. Es liegt mir daran, meinen Schützling bald möglichst beruhigen zu können. Wollen Sie geruhen, Erlaucht?“

Sie trat zu dem Tische in der Ecke, auf dem Schreibmaterialien lagen.

„Was nicht, wenn Sie es wünschen, Sidonie?“ sagte der Graf. „Ich glaube, die Dame heißt Sponheim.“

„Antonie Sponheim!“ antwortete die Prinzessin.

Er folgte ihr zu dem Schreibtische und warf auf einen Bogen weißen Papiers die Worte:

„Ich gewähre Ihnen meine Einwilligung zu Ihrer Verbindung mit Demoiselle Antonie Sponheim.

Wilhelm, regierender Reichsgraf zu Schaumburg-Lippe.
An den Rittmeister Baron Fauriel.“

Die Prinzessin nahm das Papier und steckte es zu sich.

„Und nun müssen Sie zur Jagd aufbrechen, Erlaucht,“ sagte sie.

„Nimmermehr!“

„Doch, ich wünsche es!“

„Nur dies verlangen Sie nicht!“

„Doch, doch, ich bestehe darauf.“

„Und wenn Sie darauf bestehen, ich vermag es nicht … ich möchte von diesem Augenblick an nie in meinem Leben wieder von Ihrer Seite weichen!“

„Erlaucht, ich fordere es von Ihnen, daß Sie gehen, Sie sind es mir schuldig; welch’ Aufsehen würde es machen, wie würde die Aufmerksamkeit aller Ihrer Diener auf mich gelenkt, wie würde die Medisance, die Verleumdung freies Spiel gewinnen, wenn …“

„Sie haben vielleicht Recht, Sidonie,“ unterbrach sie der Graf, „aber vielleicht würde es einen Ausweg geben…“

„Welchen?“ Graf Wilhelm sah ein wenig zögernd und ängstlich in ihr Auge und suchte ihre Hand zu erfassen.

[124] „Wenn,“ sagte er dann, „ich Prinzessin Sidonie meinem Hofe als meine Braut vorstellen dürfte!“

Sie zog erschrocken und beunruhigt die Hand zurück.

„Um Gotteswillen, nach diesem Schritte, den ich bei Ihnen gethan, kann ich nie mehr die Ihre werden, das müssen Sie begreifen, nein! Und nun ein letztes Wort. Sie sehen, Sie sind von Herder’s Empfindlichkeit, von seinem Zorn, von seinem Verlangen sich zu rächen bedroht. Sein Ehrgeiz ist auf’s Aeußerste verletzt. Nicht allein die Könige, auch die Schriftsteller haben lange Arme. Nun wohl, wenn Sie jetzt augenblicklich gehen, Graf, und zur Jagd ausziehen, so verspreche ich Ihnen dagegen, Herder vollständig beruhigen und mit Ihnen aussöhnen zu wollen … vollständig! Ich werde mich darauf nach Eilsen zurückbegeben. Und nun fort, Graf, gehen Sie. Adieu, Adieu!“

„Wer kann da anders, als gehorchen, wenn solch’ ein stolzer Mund gebietet?“ versetzte der Graf, „ich gehe, aber auf kurze Zeit nur trennen wir uns, Sidonie. Noch an diesem Abende werde ich Sie in Eilsen wiedersehen und Sie das grausame Wort widerrufen lassen, das Sie eben sprachen.“

Sie lächelte, sie erlaubte ihm gnädig, ihre beiden Hände zu küssen, und dann ging er.

„Senden Sie mir Herder!“ rief sie ihm nach.

(Schluß folgt.)




Der Entenfang auf Sylt.


Wir erwachten zum ersten Male auf Sylt, wir, d. h. eine kleine Jagdgesellschaft, welche die im Herbst dort hausenden Unmassen von Vögeln von Hamburg aus zu einem Streifzuge nach dem friesischen Eilande gelockt hatten. Auf das Herrlichste glänzten die Strahlen der aufsteigenden Sonne im Wattenmeere wider und wir eilten, uns nach der Südspitze der Insel zu begeben, welche heute den Schauplatz unserer Waidmannsthaten bilden sollte.

Hier betraten wir zuerst die öden Dünen, die sandigen Hügelketten, welche uns in ihrer eigenthümlichen Schönheit, wie ein Reisender sehr richtig sagt, trotz ihrer Kleinheit und ihres lockeren, beweglichen Inhalts an die Schweizer Alpen erinnern, mit denen sie besonders hinsichtlich der Formen und Farben manche Aehnlichkeit zeigen. Grabesstille bedeckt die Berge und Schluchten dieser Sandwelt, kein lebendes Wesen treffen wir hier an, kein Geräusch stört die Ruhe dieser Einöde, und nur von fern her dringen der Ruf einer Möve und das Brausen der Brandung zu unsern Ohren; nur dumpf hallt der von uns abgefeuerte Schuß von den locker zusammengefügten sandigen Hügelabfällen wieder: alles Leben scheint hier erstorben zu sein, und selbst die Spuren unserer Fußtritte verrathen nicht lange, daß hier ein Wanderer geweilt, denn gar bald sind sie von dem Winde verweht. Das einzige Grün, auf welchem unser Auge ausruhen kann, nachdem es ermüdet worden ist durch die im Sonnenstrahl glänzende weiße Sandmasse, bietet uns der dürftige Sandhafer dar.

Der düstere Eindruck, welchen diese Einöde unwillkürlich auf uns macht, wird jedoch gemildert, wenn wir unsere Blicke weiter schweifen lassen. Nach Osten hin überschauen wir das schmale, stille Wattenmeer, dessen flache Sandbänke nur wenig hervortreten und, in dunklen Farben schillernd, von dem blauen Meeresspiegel abstechen, während am Horizont Wasser und Himmel ineinander verschwimmen, sodaß Eines von dem Andern nicht zu unterscheiden ist. Westlich braust die freie, offene Nordsee und erglänzt im Wiederschein der untergehenden Sonne in allen matten Regenbogenfarben, bis sich der strahlenlose Sonnenkörper unsern Augen entzieht und das Meer von den zartesten Tinten nur noch angehaucht zu sein scheint. Wenn aber der Sturm über diese Flächen dahinsaust, dann erregt er nicht blos das schäumende Meer, sondern wirbelt auch den lockeren Dünensand hoch auf. Zwei in den brennendsten Farben glänzende, fast blendende Regenbogen spannten sich während des Sturmes, den zu beobachten wir Gelegenheit hatten, über den tiefschwarzen Himmel, mit welchem sich die aufgeregte Wassermasse vereinigen zu wollen schien. Woge auf Woge wälzte sich mit riesiger Schnelle heran, eine stürzte sich mit ihrem Schaumkopf über die andere, als ob sie nicht schnell genug den Strand in ihrem Strudel begraben könnten, bis sie sich endlich mit donnerndem Gedröhn am Lande brachen und uns mit ihrem weißen Salzschaum, welcher die ganze Luft erfüllte, benetzten. Bei solchen Sturmfluthen schützten nur die sandigen Dünen die Insel vor gänzlicher Ueberschwemmung; solche Sturmfluthen aber werden nach Ansicht der Bewohner doch noch einmal das ganze Eiland verschlingen, wie sie einzelne Theile desselben schon verschlungen haben.

So öde die schützenden Dünen sind, so belebt ist der Strand der Ostküste. Von dem hier herrschenden Leben und Treiben macht sich schwerlich Jemand einen Begriff, der dasselbe im Herbst nicht beobachtet hat. Die während dieser Jahreszeit hier lebenden Vögel können nicht nach Hunderttausenden, sondern nur nach Millionen geschätzt werden. Die fünf Meilen lange Küste ist auf wohl zehn Minuten Entfernung vom Lande mit unzähligen Massen von Enten und Gänsen besetzt, deren Gequak und Geschnatter, besonders des Abends, weithin vernehmbar ist. Wir haben uns öfters das Vergnügen gemacht, am Strande unsere Gewehre abzufeuern, um die Vögel aufzuscheuchen. Mit einem Geräusch, welches nur mit dem Sausen eines plötzlich sich erhebenden heftigen Windstoßes verglichen werden kann, erhob sich eine gewaltige Wolke von Vögeln, welche selbst in dieser Entfernung scheinbar noch einen Raum, wie das Alsterbassin in Hamburg, einnahm, und dennoch war zwischen diesen gewaltigen Vogelmassen nicht eine einzige Lücke zu bemerken, sie saßen noch ebenso dicht, wie vorher. Und trotz dieser Unmenge ist es doch kaum möglich, Enten und Gänse zu jagen, weil sie, allzu scheu und vorsichtig, sich nur äußerst selten dem Lande auf Schußweite nähern und außerdem noch durch den Schlick des Strandes geschützt sind, welcher es unmöglich macht, sich schußgerecht zu nähern, selbst wenn man es darauf ankommen läßt, sich bis an die Brust in’s Wasser zu begeben.

Wir hatten gleich am ersten Tage Gelegenheit, diese trügerische Schlickmasse mehr als genügend kennen zu lernen. Von verschiedenen Seiten waren wir ernstlich davor gewarnt worden, uns ohne Führer zu weit in’s Meer hinein zu wagen; was bedurfte es mehr, um uns zu dem Versuch zu veranlassen, uns wenn irgend möglich an die lockende Jagdbeute heranzuschleichen? Kaum aber hatten wir uns auf etwa hundert Schritt vom trockenen Land entfernt, in eine Tiefe, in welcher uns das Wasser kaum bis an die Waden reichte, als der Maler unserer Partie, der Zeichner der beigegebenen Abbildung, welcher die Spitze des Zuges bildete, plötzlich Halt machte. In der Meinung, daß er vielleicht ein besonderes Wild, vielleicht gar einen Seehund, entdeckt habe, folgten wir seinem Beispiele und standen wie angewurzelt, die Flinte fest angedrückt und den Finger am Hahn, jeden Augenblick zum Schuß bereit. Die Bewegungen des Künstlers belehrten uns aber bald eines Besseren. Er war in den Schlick gerathen und sank tiefer und tiefer ein, bis ihm endlich das Wasser bis an die Brust stand. Die Lage war für uns kritisch genug, aber trotz alledem brachen wir Andern doch in ein helles Gelächter aus, denn mit krampfhaft über dem Kopf gehaltenem Gewehr glich der Arme mit seinem grauen Ueberrock in der drolligsten Aehnlichkeit einer alten abgestorbenen Weide, deren einzig übrig gebliebener Ast als Wahrzeichen vergangener besserer Tage in die Luft hinausragt. Glücklicherweise waren wir in eine der minder tiefen und deshalb weniger gefährlichen Stellen gerathen, und so kam der eingesunkene Maler noch mit einem nicht gerade reinlichen Schwimmbad und unserm spöttischen Hohngelächter davon.

Außer den Enten und Gänsen ist der Strand aber auch von Hunderttausenden anderer Vögel bewohnt, deren Leben und Treiben zu beobachten das größte Vergnügen gewährt. Das Hin- und Herfliegen, Laufen und Schwimmen, das Rufen und Locken der verschiedenen Arten, das gellende Geschrei der alten und der eben erst flügge gewordenen jungen Möven, welche spielend die Luft durchschneiden und uns ihre herrlich schimmernde, weiße Brust in den verschiedensten Drehungen und Wendungen zukehren; der helle, wie kihwitt klingende Ruf der reizenden, rothschnäbligen Austernfischer, sowie das eigenthümlich sanfte, melancholische „Tüit“ der kleinen Strandläufer – all dieses lebendige und geschäftige Treiben am [125] Strande macht einen ungewöhnlichen Eindruck auf den Beschauer, welcher Sinn und Auge für die Vogelwelt hat. Um einen ungefähren Begriff davon zu geben, wie massenhaft alle diese Vögel dort vorkommen, will ich nur bemerken, daß einer unserer Gefährten auf einen einzigen Schuß einunddreißig Stück kleine Strandläufer erlegte, ungerechnet die, welche, uns noch sichtbar, weiter seewärts niederfielen und deren Zahl gewiß auch auf zwanzig angegeben werden darf. Der Schwarm, zwischen welchen der glückliche Jäger schoß, zählte eben nach Tausenden.

Vogelkoje auf der Insel Sylt.

Welchen Massen von Vögeln man aber auch längs der ganzen Ostküste begegnet, so wollen diese doch nichts besagen gegen den anziehendsten Punkt der ganzen Insel: die Umgebung der Vogelkoje. Hier, wo der Gebrauch des Feuergewehrs verboten ist, glauben sich die klugen Thiere sicher, und hier ist der ganze Strand, die ganze Schlickmasse, das ganze Meer mit Vögeln bedeckt. Hier, und nur hier, sieht man die Enten, zu Tausenden in einem Schwarm vereint, in schußgerechter Entfernung; hier trifft man alle oben genannten Vögel, mit alleiniger Ausnahme der Gänse, in unschätzbaren Massen an; hier begegnet man endlich auch nicht selten dem Seeadler und dem Habicht, welche Beide hier reichliche Nahrung finden und vor der gefahrdrohenden Waffe des Menschen gesichert sind.

Die Einrichtung der Vogelkoje selbst ist ebenso einfach wie sinnreich. Den Mittelpunkt derselben bildet ein ziemlich großer Süßwasserteich, welcher nach dem Meere hin durch einen Damm geschützt und nach der Landseite durch die Dünen begrenzt wird. Von diesem Teich zweigen sich nach den verschiedenen Himmelsgegenden vier Gräben ab, welche mit Netzen überspannt und vorn ziemlich breit sind, nach hinten aber sich immer mehr verengern. Längs dieser Gräben ziehen sich aus Weiden- und Schilfgeflecht errichtete fächerartige Wände, die es dem Wärter gestatten, hinter ihnen wegzugehen, ohne von den auf dem Wasser befindlichen Vögeln gesehen zu werden. Die ganze übrige Fläche ist dicht mit Buschwerk, verkrüppelten Weiden und Erlen, welche nur von wenigen schmalen Gängen durchschnitten werden, bepflanzt, sodaß der inmitten befindliche Teich ein lauschiges Plätzchen für die sich niederlassen wollenden Enten abgiebt und von diesen auch stets zu Tausenden besucht wird. Das beigegebene Bild überhebt mich, meiner Ansicht nach, jeder weiteren Erklärung.

Ein Besuch der Vogelkoje, zu welchem man, nebenbei bemerkt, nicht so leicht Erlaubniß erhält, ist wirklich der Mühe werth. Die wilde Umgebung, die alten grauen, verkümmerten Bäume, deren Aeste ein wirres Gestrüpp bilden, und die unheimliche Stille, welche in der Koje trotz der massenhaft aus- und einfliegenden Enten [126] herrscht, machen einen eigenthümlichen Eindruck auf den Beschauer. Hier wird kein Rollen eines Wagens vernommen, von den öden Dünen dringt kein Geräusch herüber und von einer Brandung des Meeres ist an der Ostküste nicht die Rede. Kein lautes Wort wird hier gewechselt, und selbst der uns beim Eintritt empfangende Hund des Entenfängers schlägt nicht an, sondern bleibt ebenso stumm wie sein Herr. Hier vernimmt man nichts, als den zeitweiligen Ruf eines Vogels und das durch Ab- und Zufliegen von Enten hervorgebrachte Geräusch. Das einzige Wort, welches wir von unserm Führer, dem alten Fänger, zu hören bekommen, ist das Gebot eines möglichst geräuschlosen Verhaltens. Hieraus giebt er uns einen Wink ihm zu folgen und zeigt uns den Fang.

Derselbe geschieht folgendermaßen. Der Wärter begiebt sich hinter die ihn verdeckende Wand mit einem Topf brennenden Torfs in der Hand, damit er von den Enten nicht gerochen werden kann, zu dem je nach dem herrschenden Wind die beste Ausbeute versprechenden Graben und wirft vor dessen Einmündung in den Teich etwas Futter in das Wasser. Dadurch gelockt kommen die abgerichteten und nicht flugfähigen Enten herbeigeschwommen und ziehen fast regelmäßig mehrere ihrer wild lebenden Schwestern zu deren Verderben mit sich nach der Nahrung verheißenden Stelle. Kaum haben diese sich aber in den breiten, unverdächtig aussehenden Graben bis zu der Stelle begeben, wo die Netze beginnen, so tritt der Fänger hinter der ihn verbergenden Wand hervor. Erschreckt fliegen die getäuschten Vögel empor, um sich der drohenden Gefahr durch die Flucht zu entziehen; doch das übergespannte Netz hemmt ihren Flug, und da auch der Rückzug nach dem offenen Teich durch den an der Mündung stehenden Mann scheinbar abgesperrt ist, suchen sie sich nach der andern Seite hin zu retten und schwimmen weiter und weiter in den immer dichter umsponnenen Graben hinein, bis sie endlich in den letzten engen Netzen festsitzen. Der Fänger hakt nun diese los, dreht den darin befindlichen Wildenten den Hals um und wirft sie in eine dazu bestimmte Hütte, wo sie ihren letzten Athem aushauchen. Die Zahl der auf solche Weise in Sylt gefangenen Enten mag sich täglich durchschnittlich auf vierhundert, jährlich auf dreißigtausend Stück belaufen, da der Fang nur während des Herbstes betrieben wird. Am einträglichsten ist derselbe bei stürmischem, trockenem Wetter, gegen welches die Enten auf dem Teiche Zuflucht suchen, während an regnerischen Tagen fast gar nichts gefangen wird. Die Vögel werden dann durch das Triefen der über die Gräben gespannten Netze auf letztere aufmerksam gemacht. Die für gewöhnlich in die Koje einfallenden Arten sind Krickenten, Pfeifenten und Spießenten, sonst auch die Stockenten und selten die Knäck- und Löffelenten. Die auf der Insel ziemlich häufig vorkommenden Brand- und nordischen Eiderenten sind, so viel ich in Erfahrung bringen konnte, nie in der Koje gesehen worden. –

Jagd, Fang und andere Freuden, sowie der Umgang mit den freundlichen und liebenswürdigen Bewohnern hatten uns allmählich den Aufenthalt auf der Insel sehr angenehm gemacht, da aber der Entenfang von Tag zu Tag schlechter ausfiel, so entschlossen wir uns zur Abreise und traten dieselbe in Gesellschaft eines Hamburger Kaufmanns und einer aus Zigeunern bestehenden Künstlergesellschaft an – um leider erst nach unendlichen Schwierigkeiten und Hindernissen wieder auf das Festland zu gelangen.
Th.




Aus dem Tagebuch eines hypochondrischen Laien.[1]
II.
3. Die Folgen der Hypochondrie.


Der geneigte Leser, wenn er sich in den im ersten Abschnitte unsers Artikels angeführten Quellen gespiegelt und, in einer oder einigen derselben das Bild seines Gemüthszustands erkannt hat, dürfte zunächst nun die Angabe der Mittel erwarten, die er anzuwenden habe, um schnell und sicher von seinem erkannten Uebel zu genesen. Der Verfasser glaubte aber, wohlmeinend, einen Abschnitt über die Folgen voranschicken zu müssen, um durch das abschreckende Bild derselben den Leidenden für die Anwendung der Mittel ernstlicher geneigt und für die Wirkung leichter empfänglich zu machen.

Erste Folge. Die Hypochondrie, wenn man sie einwurzeln und erstarken läßt, zerstört selbst eine eiserne Gesundheit: – Das Thier bedarf, um zu gedeihen, nur guter und genügender Nahrung, der Mensch neben dieser auch Heiterkeit des Gemüths. Ja, durch diese erhält schmale, ärmliche Kost einen solchen Kraftzusatz, daß man den heitern Armen oft in strotzender Gesundheit sieht, während der Begüterte durch seine Hypochondrie hinwelkt. Ist die körperliche Beschaffenheit auch eine befriedigende, so ist doch immer ein günstiges Verhältniß zwischen den consumirten und den wieder neu zufließenden Kräften erforderlich, wenn der Lebenssaft nicht abnehmen und der Körper zerstört werden soll. Durch die fortwährende Verstimmung des Gemüths geht aber nicht nur der Genuß gänzlich verloren, den die Nahrung gewähren muß, wenn sie wahrhaft gedeihlich wirken soll, sondern die zur Verdauung nöthige körperliche Ruhe ist zugleich auch keine vollkommene, wenn sie nicht durch Gemüthsruhe unterstützt wird. Das fortwährend beschäftigte Denkvermögen entzieht den Verdauungswerkzeugen die nöthigen Kräfte und zerstört den Körper des Hypochondristen noch sicherer und schneller, als den des arbeitenden Denkers, der sich in freudiger Thätigkeit keine Erholung vergönnt. Mangelt dem Gemüthskranken daneben auch noch gar die gesunde Nahrung, so geht er um so schneller seinem Ende entgegen, als er meistens auch der gesunden, belebenden Luft entbehrt, indem er, menschenscheu, sich im Hause eine freiwillige Gefangenschaft auflegt. Hat die Hypochondrie aber gar einen körperlichen Grund, so muß die Ursache, das leibliche Uebel, immer mit der Wirkung, der Hypochondrie zunehmen, so muß der Leib immer siecher werden, so ist Lebensverkürzung unausbleiblich; denn an dem Wahne des Hypochondristen bewährt sich das Dichterwort:

„Er bringt die Mutter um, die ihn gezeugt.“[2]

Zweite Folge. Die Hypochondrie, wenn man sie einwurzeln und erstarken läßt, macht für jeden Beruf unfähig und bringt also auch materiellen Nachtheil. – Der günstige Erfolg einer jeden Berufsthätigkeit liegt in den drei Haupt-Factoren: Sachkenntniß, Fleiß und Berufsfreudigkeit. Keiner von diesen ist entbehrlich; die Hauptzauberkraft jedoch liegt in der Freudigkeit. Ohne Freudigkeit ist wahrhafter Fleiß undenkbar und Sachkenntniß ein einrostendes Werkzeug. Wie dem Schwermüthigen aber überhaupt die Freudigkeit fehlt, so fehlt sie ihm auch insbesondere in seiner geschäftlichen Thätigkeit. „Schwermuth ist Krankheit, und Krankheit verabsäumt jeden Dienst, zu welchem Gesundheit verpflichtet ist.“[3]

Gehört der Gemüthskranke dem Handelsstande an, so ergreift er höchstens das noch mit Lust, was großen Gewinn abwirft, und beraubt sich dadurch der großen Summe, die aus vielen kleinen entsteht; so wird ihm die Freundlichkeit und Aufmerksamkeit schwer, wodurch Kunden gewonnen und gefesselt werden; so entgeht ihm in seiner Schlaffheit mancher Vortheil, den Andere bei innerer Freudigkeit erkennen und benützen. Gehört er einem wissenschaftlichen Stande an, so ist die Schwermuth seinem Berufe ein noch größeres Hinderniß; denn rein geistige Beschäftigung, unausgesetzte und anstrengende, ist, ohne Freudigkeit, mit gutem Erfolg noch weniger möglich. Ohne sie gleicht der Geist einem Uhrwerke, in welchem die bewegende Feder zerbrochen ist: man kann die Zeiger dennoch vorwärts rücken, ein wahres, lebendiges, inneres Weiterschreiten aber ist nicht möglich. Der Erfolg in jedem wissenschaftlichen Berufe also kann, ohne Freudigkeit, nur ein dürftiger sein, und dürftig, wie der Erfolg, ist dann auch der äußere Lohn, der mit den Leistungen, wenn auch nicht allezeit höher, jedenfalls doch immer rückwärts schreitet. Und welcher andern Art noch der Beruf immerhin sein mag, trübe Gemüthsstimmung muß unfähig für denselben machen, und als natürliche Folge „kommt endlich die Armuth, wie ein Wanderer, und der Mangel, wie ein gewappneter Mann.“[4]

[127] Dritte Folge. Trübe Gemüthsstimmung, wenn man sie einwurzeln und erstarken läßt, wirkt verstimmend auch auf die Umgebung, und von dieser gesteigert wieder zurück. – Dem härtesten und strengsten Herrscher ist leichter zu genügen, als einem launischen Menschen, dem durch das schwarze Glas der Schwermüthigkeit Alles in anderer Farbe und das Unangenehme in anderer Größe erscheint. Ungerecht und hart wird er gegen seine Untergebenen; denn er rügt und bestraft nicht blos wirkliche, sondern auch eingebildete Vergehungen, und zwar auch die wirklichen nicht nach ihrer wahrhaften, sondern nach ihrer eingebildeten Größe. Halten sie gleichwohl bei ihm aus, so wenden sie doch ihr Herz von ihm ab. Entschädigt er sie für erlittenes Unrecht, so zeigt er sich schwach und verliert an Ehrfurcht. Giebt er das Gefühl der Reue nicht zu erkennen, so drückt ihn die Last bösen Bewußtseins. In beiden Fällen wird die Folge seiner Verstimmung zu einer neuen Ursache derselben, ein Wechsel, der sich so lange wiederholt, bis die Schwermuth den vollendetsten und unglücklichsten Tyrannen gebildet hat.

Und da die Schwermüthigkeit im Zusammentreffen mit dem Frohsinn eine Disharmonie erzeugt, wie Töne zu einem falschen Accorde verbunden, so ist das Loos der nächsten Angehörigen des Hypochondristen nicht günstiger, als das seiner Untergebenen, wenn sie ihrem Temperamente nach von dem leidenden Familienhaupte verschieden sind. Ein heiteres Gesicht, ein munteres Lachen, ein fröhlicher Gesang, kurz jeder Ausdruck innerer Zufriedenheit verletzt den Schwermüthigen, ist ihm eine Verhöhnung seines Zustands, macht ihn bitter und hart selbst gegen die Blutsfreunde, die er liebt, und indem er so am eigenen Fleische nagt, verscheucht er den Frohsinn endlich selbst von des Kindes unbewölkter Stirn und umgiebt sich von allen Seiten mit so düsterm Gewölk, daß ihm kein heiterer Sonnenstrahl mehr daraus hervorbricht.

Vierte Folge. Trübe Gemüthsstimmung, wenn man sie einwurzeln und erstarken läßt, läßt kein warmes Interesse an Leid und Freud’ Anderer zu und macht den Menschen daher werthlos für die Welt. – Der Selbstsüchtige schadet der Welt: er will sie für sich ausbeuten, er sieht nur sich als Zweck, alles Andere als Mittel an. Der Wohlwollende ist eine der Säulen, welche die Welt tragen. Wie die majestätische Sonne will er, mit edler Selbstverleugnung, nur Licht und Wärme um sich her verbreiten; nicht aber aus dem Mittelpunkt will er das Ganze beherrschen, sondern als nützliches Theilchen dem großen Ganzen sich anschließen. Der, welcher an trüber Gemüthsstimmung leidet, kann zwischen Beiden nur in der Mitte stehen: er will nicht schaden, kann aber auch nicht nützen. Wenn sein Herz auch das weichste und fühlendste wäre, der Fernblick nach dem, was nur Andere betrifft, das zarte Gefühl für Wonne und Schmerz, welche die Menschheit oder einen Theil derselben, eine Nation, einen Umkreis, einen Ort betreffen: dieser Fernblick und dieses zarte Gefühl, die es dem Menschen möglich machen, für weitere Sphären zu schaffen, die seinen Namen in weite Fernen tragen und von dort selbst ihm Liebe und Ruhm zuführen – diese beiden Erfordernisse des Wohlwollens gehen dem Schwermüthigen ab. Hat er für sein persönliches Wohl kein wahres, warmes Interesse, wie soll er das viel Umfassendere für Gemeinwohl haben? Widrig, nachsichtslos, unfreundlich, wie er gegen Andere ist, fehlen ihm selbst die unentbehrlichsten Eigenschaften zur Geselligkeit. Welchen Werth aber hätte ein Glied, das sich nicht irgendwo einem andern anreiht in der Kette, zu welcher es gehört? Sie schließt sich ohne dasselbe, und das einzelne Glied wird als unbrauchbar von ihr ausgestoßen.

Fünfte Folge. Trübe Gemüthsstimmung, wenn man sie einwurzeln und erstarken läßt, setzt den Menschen einer falschen, ungünstigen Beurtheilung aus. – Nur der Allwissende vermag in den Falten des Herzens zu lesen, der Mensch bildet sein Urtheil nach dem, wie die Dinge seinem Auge erscheinen; dem menschlichen Auge erscheint aber Vieles anders, als es in der Wirklichkeit ist. Nach einer zufälligen äußern Aehnlichkeit wirft der Mensch zwei wesentlich verschiedene Dinge wie Gegenstände von gleicher Art zusammen. Bei seiner oberflächlichen Anschauung entgeht ihm, bei gleicher Handlungsweise, die Verschiedenheit der Beweggründe; bei gleichen Wegen schließt er auch auf gleiches Ziel. Wie Gesichter werden daher auch oft Gemüthsarten mit einander verwechselt, und wer darum für sein wahres Selbst gehalten sein will, der enttäuscht seine Beschauer und giebt sich ihnen zu erkennen. Trübe Gemüthsstimmung bindet nun aber dem innern Menschen eine Larve vor, die ihn, bei oberflächlicher Anschauung, mit Andern leicht verwechseln läßt, und zwar so, daß er durch die Verwechselung niemals gewinnt, meistens aber verliert. Sein Trübsinn scheucht ihn von munterer Gesellschaft weg, die Welt aber beschuldigt ihn des Stolzes. Oder er flieht sie zwar nicht, trägt aber wenig oder gar nicht zur allgemeinen Unterhaltung bei und man flüstert sich von ihm zu: „Wie dumm! Wie unwissend!“ Man hält ihn für geizig, weil er sich selten ein Vergnügen gestattet; für ungenügsam, weil man ihm innere Unzufriedenheit anmerkt; für tadelsüchtig und zänkisch, weil Niemand es ihm recht machen kann; für neidisch, weil er sich nicht mit Glücklichen freut, und für herzlos, weil er nicht mit Betrübten weint, ja für lieblos selbst gegen die Seinigen, weil er auch gegen sie fast immer kalt, fast niemals zärtlich ist. Jedes einzelne Urtheil über ihn kann ein falsches sein und ist es auch oft. So lange er sich jedoch nicht in seiner wahren Gestalt zeigen kann, wird er höchstens von seiner nächsten Umgebung erkannt. Er verdient vielleicht die Achtung und Liebe Aller, wird sich derselben aber nicht erfreuen.

Sechste Folge. Die Hypochondrie führt endlich oft zu Lebensüberdruß und endet dadurch bei Vielen mit Selbstmord. – Wenn die Gesundheit eines Menschen zerstört ist, seine Vermögensumstände rückwärts gehen, selbst innerhalb der Familie ihn kein freundliches Gesicht mehr anlächelt, er keinen Werth für die Welt und diese keinen Werth für ihn hat; wenn dazu endlich noch das trübe Gefühl kommt, von Wenigen nur verstanden, von den Meisten aber verkannt zu werden: was vermöchte einem solchen Menschen dann noch Freude am Leben zu gewähren? Es ist ihm eine Bürde, die er, je eher, desto lieber, abwerfen möchte. Er ist ein Wesen, das mit dem Erdendasein gebrochen, das dessen Lust nicht mehr kennt und für dessen Schmerz kein wahres Gefühl mehr hat; eine lebendig umherwandelnde Leiche; ein Geist, der seine körperliche Hülle nur noch wie ein leicht übergeworfenes Gewand trägt; ein Morgenschatten, der als solcher noch mit jeder Stunde abnimmt.

Hat der Unglückliche bei diesem Zustande noch sittliche Kraft genug, so fürchtet er Hand an sich zu legen, so wartet er, bis ihm von höherer Hand seine Bürde abgenommen wird. Fehlt ihm aber auch zugleich jenes Kleinod, so schwindet ihm endlich der letzte Rest von Kraft, sein wirkliches oder vermeintes Mißgeschick zu ertragen, so schließt er den schmählichen, feigen Tauschhandel eines kurzen, freiwilligen, größern Schmerzes für einen ihm von anderer Hand auf ungewisse Dauer auferlegten kleinern, so wird er zur Schande seines Namens und zum Kummer seiner Angehörigen die Parze seines eigenen Lebensfadens. Ein unglücklicher Augenblick giebt die unglückliche Idee ein, und diese Idee wird dann so unwiderstehlich anziehend, wie jenes Unthier, dem sein Opfer selbst in den Rachen laufen soll.

Daß das Land der Nebel – nach Andern der Berechnung – zugleich vorzüglich auch das Land der Selbstmorde ist und daß nicht blos dieser als solcher, sondern auch jede Art desselben epidemische Jahre hat: diese beiden Erscheinungen bewähren, daß sich der Unglückliche selbst oft über den Grund seines tragischen Endes täuscht.


4. Von den Mitteln gegen Hypochondrie.


Welcher Art aber auch die Quelle dieses Uebels sei, so lange es nicht seinen höchsten Gipfel erreicht hat, ist es auf die eine oder andere Weise heilbar. Ein höchst wirksames Mittel ist durch den vorigen Abschnitt bereits angegeben; denn durch Nichts wird der Mensch ernstlicher und nachdrücklicher gemahnt, gegen ein Uebel anzukämpfen, als dadurch, daß ihm die ganze mögliche Größe vorgehalten wird, zu welcher es heranwachsen kann.

Erstes Mittel ist demnach: Bedenke die nachtheiligen und gefährlichen Folgen dieses Uebels. – Vor manchem Unglück bliebe der Mensch ja bewahrt, wenn er bei seinem Thun wirklich immer die Folgen bedächte; warum sollte es hier, wo so viel von der Willenskraft geschehen kann, anders sein? Wer daher das verlorene Glück eines heiteren Gemüthes wiederfinden und festhalten möchte, der kann den vorhergehenden Abschnitt nicht oft genug zu seiner Lectüre machen. Er lese ihn, so oft sich die trübe Stimmung seiner bemächtigen will. Er lese ihn in fortwährendem Vergleich mit seinem Zustand, und wenn er mit Betrübniß finden sollte, daß sich manche der angedeuteten Folgen schon bei ihm eingestellt, so möge er sich darum [128] nicht aufgeben, sondern sich freuen, daß er noch weit genug von dem wirklichen Abgrund steht, daß ihm umzukehren noch möglich ist.

Zweites Mittel. Wende eine hohe Sorgfalt auf die Erhaltung, oder, wenn sie schon gestört wäre, auf die Wiederherstellung deiner Gesundheit! – Bereits im ersten Capitel ist es gesagt worden: Nur in einem gesunden Körper kann eine gesunde Seele – ein heiteres Gemüth wohnen; wir müssen hier wieder darauf zurückkommen. Wer an trüber Gemüthsstimmung leidet, sich aber einer leidlichen Gesundheit zu erfreuen hat, der pflegt seinen Körper so wenig zu beachten, daß durch allerlei Vernachlässigungen endlich krankhafte Zustände entstehen, wovon er früher nichts gewußt, deren Ursprung er nicht aufzufinden vermag und die nunmehr seine trübe Stimmung um ein Bedeutendes vermehren. Wenn zu einer heitern Stimmung aber auch mehr als ein gesunder Körper erforderlich ist; wenn dieser ungünstige Verhältnisse auch nicht in günstige umwandeln kann, so ist er doch den Fortschritten der Hypochondrie ein mächtiges Hinderniß. Wenn auch nur von diesem Gesichtspunkte aus betrachtet, wird nicht daran gezweifelt werden können, daß für den Körper weit mehr geschehen müsse, als das, wozu der Erhaltungstrieb schon von selbst drängt.

Doppelte Sorgfalt aber hat derjenige seinem Körper zuzuwenden, der seine Gesundheit schon geschwächt sieht; denn bevor er die Wiederherstellung derselben bewirkt hat, darf er auch von der günstigsten Umgestaltung äußerer Verhältnisse das Glück einer vollkommen heiteren Stimmung nicht hoffen. Er versäume es daher aus doppelten Gründen nicht, zur rechten Zeit ärztlichen Rath zu suchen. Nicht daß er etwa seinen Körper förmlich unter medicinische Aufsicht stelle – dies würde gerade eine nachtheilige Aengstlichkeit erzeugen – sondern daß er der Kunst gestatte, der Natur zu Hülfe zu kommen, und sie sofort wieder verabschiede, wenn sie ihm ihre Dienste geleistet hat.

Die Sorge für die Erhaltung der Gesundheit macht aber, insbesondere zur Erzielung einer heitern Gemüthsstimmung, die Beobachtung mehrerer Regeln nothwendig, die wir daher der Begründung des zweiten Mittels nachfolgen lassen.

Erste Regel. Prüfe und beobachte dich, um zu erforschen, was deinem Körper nachtheilig ist, und dies dann auch sorgfältig zu vermeiden. – Was den Unterleib sehr und lange belästigt, das ist dem Körper kein dienliches Nahrungsmittel, das ist geradezu Gift für einen Menschen von trüber Gemüthsstimmung. Wer darum Rücksicht in dieser Beziehung fordern kann, der fordere sie und halte sich an Speisen, denen seine Verdauungswerkzeuge gewachsen sind, bis er es dahin gebracht hat, daß der Magen nicht mehr ihn, sondern er den Magen beherrsche. Wer aber aus diesem oder jenem Grunde auf solche Rücksicht verzichten muß, der thue mindestens, was an ihm liegt: der genieße nur höchst mäßig, was ihm doch nicht zuträglich ist. Mäßigkeit ist überhaupt Jedem anzurathen, der an trüber Stimmung leidet. Wer Genüsse nicht opfern mag, die er wiederholt an sich als schädlich erkannt hat, der verdient, daß er für seine ungezähmte Begierde leide, und er leidet doppelt – durch Selbstvorwurf.

Während aber für Wahl und Maß der Speisen auf die eigene Beobachtung angewiesen werden muß, auf das, was eine leichte Verdauung und eine regelmäßige Absonderung zuläßt, kann, hinsichtlich der Getränke, für den, welcher an trüber Gemüthsstimmung leidet, als feststehend angesehen werden, daß alle geistigen und gewürzhaften Getränke sammt und sonders das Blut verderben und das förderndste Mittel für Schwermüthigkeit sind. Die Lebenserhaltung erfordert weder nach dem Aufstehen den Kaffee, noch nach der Mahlzeit den Rebensaft. Wasser ist dem Menschen von der Natur als Getränk angewiesen; dieses nach Bedürfniß genossen – denn im Uebermaß verdünnt es die Magensäfte zu sehr – schließt alle Wirkungen in sich, die man von künstlichen Getränken vergebens erwartet. Wer sich darauf allein nicht zu beschränken vermag, der trinke mindestens nur das, was den Magen nicht für seine Functionen unfähig macht und das Blut nicht in seinem naturgemäßen Umlaufe stört.




Blätter und Blüthen.


Die Pflege der Zähne. Man kann unserer Generation nicht den Vorwurf machen, daß sie ihren Zähnen gegenüber die nöthige Rücksicht vergesse und dieselben ohne Gegenstrebung und Widerstand dem Verderben preisgebe; von wie geringen Erfolgen diese Rücksichtnahme aber begleitet ist, darüber giebt uns die tägliche Erfahrung sprechendes Zeugniß. Trotz aller Anpreisungen, mit denen die unverschämteste Reclame sich breit macht und den Zähnen Schutz und Dauer garantirt, sehen wir die Salons unserer Zahnärzte überfüllt von ungeduldig harrenden Kranken, welche als letztes Rettungsmittel von unsäglichem Leid den „ehernen Balsam“ ersehnen, oder welche von der bildenden Kunst einen Ersatz für den verloren gegangenen Besitz in Anspruch nehmen. Ja, man darf sagen, daß in dem Maße, in welchem die sogenannte Pflege der Zähne durch allerlei künstliche Mittel und Proceduren eine allgemein verbreitete geworden, auch die Zahnleiden an Häufigkeit zugenommen haben.

„Nicht durch mehr oder weniger scharfe, mehr oder weniger wohlriechende Substanzen sorgen wir für die Pflege unserer Zähne, sondern nur dadurch, daß wir dieselben unausgesetzt nach Grundsätzen behandeln, welche einer vernünftigen Lebensordnung im Allgemeinen und einer wissenschaftlichen Zahndiätetik insbesondere angepaßt sind. Eine vortreffliche Belehrung über eine solche rationelle Behandlung der Zähne giebt Dr. Süersens „Anleitung zur Pflege der Zähne und des Mundes“, eine Schrift, welche von dem Central-Verein deutscher Zahnärzte mit dem ersten Preise gekrönt worden ist. Das Schriftchen ist in einem so allgemein verständlichen Tone gehalten, so präcis zusammengefaßt, so frei von jedem gelehrten und überflüssigen Beiwerke, daß es keine Leserin zurückschrecken dürfte, und auch der empfindlichsten Geduld keine harte Probe zumuthet, zumal da es sich um Gegenstände handelt, welche mit der Gesundheit und Schönheit in nächster Verbindung stehen. Alles, was das naturgemäße Verfahren zur Pflege und Verschönerung der Zähne betrifft, Alles, was ihre Erhaltung fördern kann, wenn sie gefährdet sind, ja auch, was ihnen Ersatz vermittelt, wenn ein unerbittliches Geschick sie geraubt hat, findet sich hier in klarer und schöner Form zusammengestellt und zwar durchweg mit dem Stempel der Wahrheit und Wissenschaftlichkeit gekennzeichnet. Unsere populäre Diätetik hat es in neuester Zeit zu einer ziemlich reichen Literatur gebracht wir wüßten aber unter den uns bekannt gewordenen Werken nur wenige zu nennen, welche in so knapper Ausdehnung eine solche Fülle furchtbarer Belehrung spendeten, wie Süersen’s Schrift. Wir geben uns der Hoffnung hin, daß keine Leserin es verabsäumen wolle, derselben einen Platz auf demjenigen Tische zuzuweisen, an dem sie am meisten verkehrt (sei es Näh-, Schreib- oder Toilettentisch), aber auch ihrem Inhalt einen Platz in ihrem Gedächtnisse, und sind der Ueberzeugung, daß uns manche holde Lippe, noch holder durch den Glanz geretteter Zähne, für die empfangene Anregung im Stillen segnen wird.
Sanitätsrath Dr. L. Posner.




Eine englische Predigt. In eine Dissentergemeinde auf dem Lande war vor Kurzem ein Geistlicher eben mitten in einer Predigt über das ewige Leben begriffen, als er die zufällige Anwesenheit des alten Lord Anglesey bemerkte. Plötzlich wandte er sich direct an den Lord und sprach: „Mylord, nehmen wir an, Sie seien gestorben; der Todesengel hat sich Ihrer Seele bemächtigt und dieselbe an die Schwelle der Himmelspforte gebracht. Aber es kann nicht Jeder, der will, in’s Paradies eintreten, die Thür, welche dahin führt, ist sehr eng und überdies sehr streng bewacht.

‚Oeffnet,‘ ruft der Todesengel, welcher gern so schnell wie möglich für Ew. Gnaden einen guten Platz im Himmel erlangen möchte, ‚öffnet doch!‘

‚Für wen?‘ fragt St. Petrus.

‚Für den edlen Grafen von Anglesey.‘

‚Wer ist er?‘

‚Ehemaliger Officier in der Armee des Herzogs von York.‘

‚Aber Petrus erwidert: Als solcher steht er nicht auf unserer Liste.‘

‚Er war aber doch Oberbefehlshaber der Artillerie.‘

‚Das ist möglich, wir kennen ihn aber nicht.‘

‚Er war zweimal Lordlieutenant von Irland.‘

‚Ich bestreite es nicht, aber er ist uns unbekannt.‘

‚Er befehligte die Cavalerie bei Waterloo.‘

‚Ich wiederhole es, wir kennen ihn nicht.‘

‚Er war aber doch lange Zeit Präsident der Bibelgesellschaft.‘

‚Ach!‘ rief der Apostel, ‚das ist etwas Anderes, dann mag er eintreten; sein Name steht wirklich auf dem Register der Gesegneten und Auserwählten!‘“




Noch einmal der Untergang des Dampfers „London“. In dem uns aus England selbst gewordenen Berichte von einigen Scenen aus der gräßlichen Katastrophe, die den Untergang des „London“ herbeiführte, ist unter Andern die Vermuthung ausgesprochen worden, daß der Capitän des unglücklichen Schiffes ohne Compaß in See gegangen sei. Uns selbst kam dieser Umstand etwas befremdlich vor, indeß bei der Authenticität unserer Quelle nahmen wir doch keinen Anstand, auch diese Mittheilung mit zum Abdruck zu bringen. Neuerdings sind uns weitere Nachrichten über jenes furchtbare Ereigniß zugegangen, die uns darthun, daß zwar das Schiff mit den nöthigen Compassen versehen gewesen, daß dagegen den Capitän jedenfalls die große Schuld trifft, die barometrischen Beobachtungen und die an der Küste aufgehißten Sturmsignale ganz außer Acht gelassen zu haben. Der Dampfer London hatte Plymouth am 6. Januar verlassen. Die Londoner Zeitungen waren vor der Abfahrt schon auf dem Schiffe angelangt und darin unter den stehenden meteorologischen Nachrichten das plötzliche Sinken des Barometers von 30″ auf 29½″, und selbst noch tiefer hinab, verzeichnet, was unverkennbar auf einen heranziehenden Sturm deutete. Capitän Martin zog indeß dies Alles nicht in Berechnung, sondern setzte, mit einer unbegreiflichen Tollkühnheit, seine Fahrt fort, obschon andere Fahrzeuge vor seinen Augen nach Plymouth zurücksteuerten. Er hat seinen Leichtsinn schwer gebüßt, es ist daher nicht mehr an uns, dem Todten unsere Vorwürfe in sein nasses Grab nachzurufen.



Verantwortlicher Redacteur Ernst Keil in Leipzig. – Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.

  1. S. 1865, Nr. 29.
  2. Shakespeare.
  3. Derselbe.
  4. Sprüche Salomonis.

Anmerkungen (Wikisource)