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Die Gartenlaube (1867)/Heft 23

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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Keil
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Entstehungsdatum: 1867
Erscheinungsdatum: 1867
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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No. 23.   1867.
Die Gartenlaube.
Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.
Wöchentlich 11/2 bis 2 Bogen.      Vierteljährlich 15 Ngr.      Monatshefte à 5 Ngr.


Das Geheimniß der alten Mamsell.
Von E. Marlitt.
(Fortsetzung.)


7.

Das Stimmengemurmel in der Flur war plötzlich verstummt – es folgte tiefe Stille. Felicitas hörte, wie die Hausthür geschlossen wurde; aber sie wußte nicht, daß damit das Drama in der Hausflur zu Ende sei. Noch wagte sie sich nicht aus ihrem Winkel hervor. Sie saß auf dem kleinen, gepolsterten Lehnstuhl, den der Onkel ihr am letzten Weihnachtsabend geschenkt, und das Köpfchen ruhte auf ihren beiden Händen, die sich auf dem Tische kreuzten. Ihr Herz klopfte nicht mehr so ängstlich, aber hinter der kleinen, gesenkten Stirn hämmerte es, und die Gedanken reihten sich in fieberischer Schnelligkeit aneinander. Sie dachte auch an die kleine, alte Dame, deren Bouquet draußen auf den Steinfließen lag und wahrscheinlich von den unachtsamen Leuten zertreten wurde. … Das war also „die alte Mamsell“ gewesen, jene Einsame hoch droben unter dem Dach des Hinterhauses, der stete Zankapfel zwischen der Köchin und Heinrich! Nach Friederikens Aussage hatte die alte Mamsell Furchtbares auf dem Gewissen – sie sollte schuld sein an ihres Vaters Tode. Diese haarsträubende Geschichte hatte der kleinen Felicitas stets Furcht und Entsetzen eingeflößt; aber jetzt war das vorbei. … Die kleine Dame mit dem guten Gesicht und den Augen voll sanfter Thränen eine Vatermörderin! Da hatte Heinrich sicher Recht, wenn er beharrlich den dicken Kopf schüttelte und ebenso consequent den geistreichen Satz aufstellte, das müsse anders zusammenhängen!

Vor Jahren hatte die alte Mamsell auch hier unten im Vorderhause gewohnt, aber, wie sich die alte Köchin mit immer neu aufloderndem Zorn ausdrückte – sie war nicht davon abzubringen gewesen, Sonntag Nachmittags unheilige Lieder und lustige Weisen zu spielen. Die „Madame“ hatte ihr Himmel und Hölle vorgestellt, aber das war Alles umsonst gewesen, bis kein Mensch im Hause den Gräuel mehr mit anhören konnte – da hatte Herr Hellwig seiner Frau den Willen gethan, und die alte Mamsell hatte hinauf gemußt unter’s Dach. … Dort wäre sie unschädlich, meinte Friederike stets, und man mußte ihr Recht geben, denn man hörte nie auch nur einen Laut des verpönten Clavierspiels im Hause. … Der Onkel mußte jedenfalls sehr böse auf die alte Mamsell gewesen sein, denn er hatte nie von ihr gesprochen; und doch war sie seines Vaters Schwester und sah ihm so ähnlich. … Eine heiße Sehnsucht erfaßte die kleine Felicitas bei dem Gedanken an diese Aehnlichkeit – sie wollte hinauf in die Dachwohnung, aber da draußen stand ja der finstere Johannes – das Kind schüttelte sich vor Angst – und die alte Mamsell steckte Jahr aus, Jahr ein hinter Riegeln und Schlössern.

Am Ende eines langen, abgelegenen Corridors, dicht an der Treppe, die aus den unteren Stockwerken herausführte, war eine Thür. Nathanael hatte einmal, als sie da droben spielten, leise zu ihr gesagt: „Du, da oben wohnt sie!“ dann hatte er mit beiden Fäusten auf die Thür schlagend, laut geschrieen: „Alte Dachhexe, komm’ herunter!“ und war in schleuniger Flucht die Treppe hinabgelaufen. Wie hatte da das Herz der kleinen Felicitas vor Angst und Schrecken geklopft! denn sie war keinen Augenblick im Zweifel gewesen, es müsse ein schreckliches Weib mit einem großen Messer in der Hand hervorstürzen und sie bei den Haaren fassen…

Es fing leise an zu dämmern. Drüben am Rathhaus huschte der letzte goldene Schein der Herbstsonne um das Giebelkreuz, und aus der großen Wanduhr drin im Zimmer schlug es langsam und rasselnd fünf – sie hatte genau so eintönig und langsam jene drei Schläge herabgerasselt, nach welchen ihr ehemaliger Besitzer, der sie lange Jahre hindurch pünktlich und mit liebevoller Vorsicht bedient, hinausgetragen worden war.

Bis dahin war es ziemlich still im ganzen Hause geblieben; aber jetzt wurde die Thür des Wohnzimmers plötzlich geöffnet; und harte, feste Schritte schollen durch die Flur. Felicitas zog ängstlich den Vorhang an sich heran, denn Frau Hellwig näherte sich dem Zimmer des Onkels. Das erschien dem Kind wunderbar neu; es war nie vorgekommen, daß die große Frau bei Lebzeiten ihres Mannes je diese Schwelle betreten hatte. … Sie kam ungewöhnlich rasch herein, schob leise den Nachtriegel vor und blieb dann einen Augenblick mitten im Zimmer stehen. Es war ein Ausdruck unsäglichen Triumphes, mit welchem diese Frau ihre Blicke langsam durch den so lange streng gemiedenen Raum gleiten ließ.

Ueber Hellwig’s Schreibtisch hingen zwei schöngemalte Oelbilder, ein Herr und eine Dame. Die letztere, ein stolzes Gesicht, aus dessen Augen aber Geist und Lebenslust sprühten, war in jener Tracht, welche so unschön die altgriechische nachzuahmen sucht. Die kurze Taille, die ein weißer, leuchtender Seidenstoff umschloß, wurde noch verkürzt durch einen rothen, golddurchwirkten Gürtel; Brust und Oberarme, fast zu üppig geformt und sehr wenig bedeckt, harmonirten in ihrer herausfordernden Schönheit durchaus nicht mit dem anspruchslosen, züchtigen Veilchenstrauß, der im Gürtel steckte. … Es war Hellwig’s Mutter.

Vor dieses Bild trat die Wittwe jetzt; sie schien sich einen Moment daran zu weiden. Dann stieg sie auf einen Stuhl, hob es von seiner gewohnten, langjährigen Stelle, und schlug vorsichtig, ohne großes Geräusch einen neuen Nagel inmitten der zwei [354] alten, an welchen sie das männliche Brustbild, Hellwig’s Vater, hing. Es blickte jetzt einsam hernieder, während die Wittwe den Stuhl verließ und, das weibliche Portrait in der Hand, aus dem Zimmer ging. … Felicitas’ gespanntes Ohr folgte ihren Schritten durch die Hausflur, über die erste Treppe – sie stieg immer höher in dem widerhallenden Treppenhause – wahrscheinlich bis in den Bodenraum.

Sie hatte die Thür nicht völlig hinter sich geschlossen, und als ihr letzter Schritt droben verhallt war, da erschien Heinrich’s scheues Gesicht in der Spalte.

„Na, da haben wir’s, Friederike!“ rief er mit gedämpfter Stimme, der man aber den Schrecken anhörte, in die Flur zurück. „Es war richtig der sel’gen Frau Commerzienräthin ihr Bild!“

Die alte Köchin riß die Thüre weiter auf und sah herein.

„Ach, du meine Güte, wirklich!“ rief sie, die Hände zusammenschlagend. „Herr Je, wenn das die stolze Frau wüßte, die drehte sich in der Erde um – und der sel’ge Herr erst! … Na, sie war aber auch zu schrecklich angezogen – so bloß auf der Brust – ein Christenmensch mußte sich schämen!“

„Meinst Du?“ entgegnete Heinrich, schlau mit den Augen blinzelnd. „Ich will Dir ‘was sagen, Friederike,“ fuhr er fort, und legte abzählend den Zeigefinger der Rechten gegen den linken Daumen. „Die alte Frau Commerzienräthin hat’s durchaus nicht leiden wollen, daß unser Herr die ‚Madame‘ genommen hat – das kann ihr die Madame zum Ersten nicht vergessen. Zum Zweiten war sie eine fidele Frau, die gern’ was mitmachte und am liebsten da war, wo lustig aufgespielt wurde, und zum Dritten – hat sie unsere Madame einmal eine herzlose Betschwester geschimpft. … Merkst Du was?“

Während Heinrich’s Beweisführung war Felicitas aus ihrem Versteck hervorgekommen. Das Kind fühlte instinctmäßig, daß es an dem rauhen, aber grundgutmüthigen alten Burschen von nun an die einzige Stütze im Hause haben werde. Er hatte sie sehr lieb, und seinen stets wachsamen Augen dankte es die Kleine hauptsächlich, daß sie bis dahin in glücklicher Unwissenheit über ihre Vergangenheit geblieben war.

„Na, Fee’chen, da bist Du ja!“ sagte er freundlich und nahm ihre kleine Hand fest in seine schwielige Rechte. „Ich hab’ Dich schon in allen Ecken gesucht. … Komm mit ‘nüber in die Gesindestube; denn hier wirst Du nun doch nicht mehr gelitten, armes Ding! … wenn gar die alten Bilder fortmüssen, nachher –“

Er seufzte und drückte die Thür zu; Friederike war bereits eilig in die Küche zurückgekehrt, denn man hörte die Schritte der herabsteigenden Frau Hellwig.

Felicitas sah sich scheu um in der Hausflur – sie war leer; da, wo der Sarg gestanden hatte, lagen zertretene Blumen und Blätter am Boden.

„Wo ist der Onkel?“ fragte sie flüsternd, indem sie sich widerstandslos von Heinrich nach der Gesindestube führen ließ.

„Nu, sie haben ihn fortgetragen; aber Du weißt ja doch, Kindchen, er ist nun im Himmel – da hat er’s gut, besser als auf der Erde,“ antwortete Heinrich wehmüthig.

Er nahm seine Mütze vom Nagel und ging fort, um einen Auftrag in der Stadt zu besorgen.

In der Gesindestube herrschte bereits starke Dämmerung. Seit Heinrich’s Weggang kniete Felicitas auf der Holzbank, die unter den eng vergitterten Fenstern weglief, und blickte unablässig in das Stückchen dunkelnden Himmels droben über den Giebelhäusern der schmalen, steilen Gasse, wo ja der Onkel nun sein sollte… Sie fuhr erschrocken zusammen, als Friederike mit der Küchenlampe eintrat. Die alte Köchin stellte einen Teller mit Butterbrod auf den Tisch.

„Komm’ her, Kind, und iß – da ist Dein Abendbrod!“ sagte sie.

Die Kleine kam näher, aber sie rührte das Essen nicht an; sie griff nach ihrer Schiefertafel, die Heinrich aus des Onkels Zimmer herübergebracht hatte, und fing an zu schreiben. Da kamen hastige Schritte durch die anstoßende Küche, und gleich darauf steckte Nathanael seinen blonden Kopf durch die offene Thür. Felicitas zitterte, denn er war stets sehr ungezogen, wenn er sich mit ihr allein sah.

„Ah, da sitzt ja Jungfer Fee!“ rief er in einem Ton, den Felicitas so sehr an ihm fürchtete. „Hör’mal, Du ungezogenes Ding, wo hast Du denn die ganze Zeit über gesteckt?“

„In der grünen Stube,“ antwortete sie, ohne aufzublicken.

„Du, das probire nicht noch einmal!“ sagte er drohend. „Da hinein gehörst Du jetzt nicht mehr, hat die Mama gesagt … Was schreibst Du denn da?“

„Meine Arbeit für Herrn Richter.“

„So – für Herrn Richter,“ wiederholte er und wischte dabei mit einer raschen Bewegung das Geschriebene von der Tafel. „Also Du bildest Dir ein, Mama wäre so dumm, die theuren Privatstunden noch für Dich zu bezahlen? … Sie wird sich hüten. Das ist Alles vorbei, hat sie gesagt… Du kannst nun wieder dahin gehen, wo Du hergekommen bist – nachher wirst Du das, was Deine Mutter war, und dann machen sie es mit Dir auch so“ – er legte die Hände gegen die Wange, machte die Pantomime des Schießens und schrie: „Puff!“

Die Kleine sah ihn mit weitgeöffneten Augen an. Er sprach von ihrem Mütterchen – das war ja noch nie geschehen, aber was er sagte, klang so unverständlich.

„Du kennst doch meine Mama gar nicht!“ sagte sie halb fragend und ungewiß; es schien, als ob sie den Athem anhielte.

„O, ich weiß viel mehr von ihr, als Du!“ erwiderte er und setzte nach einer Pause hinzu, während sein Blick heimtückisch unter der gesenkten Stirn hervorschielte: „Gelt, Du weißt noch nicht einmal, was Deine Eltern waren?“

Die Kleine schüttelte das Köpfchen mit einer lieblich unschuldigen Bewegung, aber zugleich hefteten sich ihre Augen wie ängstlich flehend an seine Lippen – sie kannte die Art und Weise des Knaben viel zu gut, um nicht zu wissen, daß jetzt etwas kommen müsse, was ihr wehe thun sollte.

„Spielersleute waren sie!“ schrie er mit hämischer Betonung. „Weißt Du, solche Leute, wie wir sie auf dem Vogelschießen gesehen haben – sie machen Kunststücke, Purzelbäume und solches Zeug und gehen nachher mit dem Teller herum und betteln.“

Die Schiefertafel fiel auf den Boden und zerbrach in kleine Stücken. Felicitas war aufgesprungen und stürzte wie toll an dem verblüfften Knaben vorüber hinaus in die Küche.

„Er lügt, gelt, er lügt, Friederike?“ rief sie in schneidenden Tönen und faßte den Arm der Köchin.

„Das kann ich gerade nicht sagen, aber übertrieben hat er,“ entgegnete Friederike, deren hartes Herz bei Anblick des furchtbar aufgeregten Kindes ein menschliches Rühren empfand. „Gebettelt haben sie nicht; freilich – das ist wahr – Spielersleute sind sie gewesen –“

„Und sehr schlechte Kunststücke haben sie gemacht!“ ergänzte Nathanael, indem er an den Heerd trat und forschend in Felicitas’ Gesicht sah – sie weinte ja noch nicht; ja, sie sah ihn so ‚unverschämt wild‘ an mit ihren heißen, funkelnden Augen, daß er in eine förmliche Wuth gerieth.

„Gräuliche Kunststücke haben sie gemacht!“ wiederholte er. „Deine Mutter hat Gott, den Herrn, versucht und deshalb kommt sie auch nie in den Himmel, sagt die Mama.“

„Sie ist ja gar nicht gestorben!“ stieß Felicitas hervor. Ihr kleiner, blasser Mund zuckte fieberisch, und ihre Hand umschloß krampfhaft die Rockfalten der Köchin.

„O, freilich, Du dummes Ding, längst, längst – der sel’ge Papa hat Dir’s nur nicht gesagt… Drüben im Rathhaussaal ist sie bei einem Kunststück von den Soldaten erschossen worden.“

Das gequälte Kind stieß ein herzzerreißendes Jammergeschrei aus; Friederike hatte bei Nathanael’s letzten Worten bestätigend mit dem Kopf genickt – er hatte also nicht gelogen.

In diesem Augenblick kehrte Heinrich von seinem Ausgang zurück. Nathanael machte sich aus dem Staube, als die breitschultrige Gestalt des Hausknechtes auf der Schwelle erschien… Heimtückische Naturen haben stets eine unüberwindliche Scheu vor einem geraden, ehrlichen Gesicht. Auch der Köchin schlug das Gewissen – sie hantirte emsig bei ihrem Heerd.

Felicitas schrie nicht mehr. Sie hatte die hochgehobenen, verschränkten Arme gegen die Wand geworfen und ihre Stirn darauf gepreßt, aber man hörte, wie sie gegen ein heftiges Schluchzen ankämpfte.

Der durchdringende Schrei des Kindes war bis in die Hausflur gedrungen, Heinrich hatte ihn gehört; er sah noch, wie Nathanael hinter der Zimmerthür verschwand, und wußte sogleich, daß hier irgend eine Bosheit verübt worden war. Ohne ein Wort zu sagen, drehte er die Kleine von der Wand weg und hob das [355] Gesichtchen empor – es war furchtbar entstellt. Bei seinem Anblick brach das Kind abermals in ein lautes Weinen aus und stieß schluchzend die Worte hervor: „Sie haben mein armes Mütterchen todtgeschossen – meine liebe, gute Mama!“

Heinrich’s breites, gutmüthiges Gesicht wurde ganz blaß vor innerem Grimm – er schien einen Fluch zu unterdrücken.

„Wer hat Dir denn das gesagt?“ frug er und sah drohend nach Friederike hinüber.

Das Kind schwieg; aber die Köchin begann den Hergang zu erzählen, wobei sie das Feuer schürte, den eben begossenen Braten noch einmal begoß und allerlei unnöthige Dinge verrichtete, um nicht in Heinrich’s Gesicht blicken zu müssen.

„Na, ich meine auch, Nathanael hätte es ihr just heute noch nicht zu sagen gebraucht,“ schloß sie endlich, „aber morgen oder übermorgen nimmt sie die Madame doch in’s Gebet, und da wird sie ganz gewiß nicht mit Handschuhen angefaßt – darauf kannst Du Dich verlassen!“

Heinrich führte Felicitas in die Gesindestube, setzte sich neben sie auf die Holzbank und suchte sie zu beruhigen, soweit er es in seiner ungelenken Redeweise vermochte. Er erzählte ihr schonend den schrecklichen Vorfall im Rathhaussaale und sagte schließlich, daß ja die Mama, von der die Leute schon damals gesagt hätten, sie sähe aus wie ein Engel, nun auch droben im Himmel sei und jeden Augenblick ihre kleine Fee sehen könne. Dann streichelte er zärtlich das Köpfchen des Kindes, das auf’s Neue in ein krampfhaftes Weinen ausbrach.


8.

Am anderen Morgen hallte das Ausläuten der Glocken feierlich über die Stadt. Die schmale, steile Gasse hinauf strömten die Andächtigen nach der hochgelegenen Barfüßerkirche. Sammet und Seide und auch minder kostbare, aber doch sonntägige Stoffe wurden in die Kirche getragen, nicht allein zur Ehre Gottes, sondern auch um der Augen des lieben Nächsten willen.

Aus dem stattlichen Eckhaus am Marktplatz schlüpfte eine kleine, schwarz umhüllte Gestalt. Niemand hätte unter dem großen, plumpen Umhängtuch, das eine Nadel unter dem Kinn zusammenhielt, die feinen, graciösen Formen der kleinen Felicitas zu entdecken vermocht. Friederike hatte der Kleinen das häßliche, grobe Gewebe mit den wichtig betonten Worten umgelegt, daß die Madame ihr das schöne Tuch zur Trauer schenke; dann hatte sie die Hausthür geöffnet und dem hinauseilenden Kind streng anbefohlen, ja nicht etwa, wie sonst, in den Familien-Kirchenstuhl zu gehen – es sei Platz für sie auf den Bänkchen der Schulkinder.

Felicitas drückte das Gesangbuch unter den Arm und schritt hastig um die Ecke. Es war unverkennbar, sie strebte ungeduldig vorwärts zu kommen; aber da drüben schritten feierlich gemessenen Ganges drei schwarzgekleidete Gestalten, deren Anblick sofort ihre Schritte verlangsamte… Ja, dort ging sie, die große Frau, inmitten ihrer zwei Söhne, und alle Menschen, die vorüberkamen, neigten sich tief und respectvoll. Sie hatte zwar das ganze Jahr über fast für Niemand einen guten Blick, und der Mund sprach oft unbarmherzig zu denen, die Hülfe suchten; und dort der kleinere Knabe an ihrer Linken schlug die Bettelkinder, die sich in’s Haus wagten, und trat mit den Füßen nach ihnen. Er log auch abscheulich und schwur dann heilig und theuer, daß er nicht gelogen habe – aber das schadete Alles nicht. Sie gingen jetzt in die Kirche, setzten sich in den streng abgeschlossenen Kirchenstuhl, hinter vornehme Glasscheiben und beteten zum lieben Gott, und er hatte sie lieb, und sie kamen in seinen Himmel; denn – sie waren ja keine Spielersleute.

Die drei Gestalten verschwanden in der Kirchenthür. Das Kind folgte ihnen mit den ängstlichen Augen, dann huschte es vorüber, vorüber an all’ den offenen Thüren, aus denen bereits der Orgelklang scholl und die einen Blick gewährten in das magische Düster der Kirchenhalle, über die dichtgedrängten Reihen der Andächtigen. An das trotzig empörte, heftig pochende Kinderherz aber, das da draußen vorübereilte, schlug der Orgelton vergeblich. Es konnte heute nicht zum lieben Gott beten; er wollte ja nichts wissen von dem armen, erschossenen Mütterchen, er litt es nicht in seinem großen, blauen Himmel – es lag einsam draußen auf dem Gottesacker, und da mußte das Kind hin und mußte es besuchen.

Felicitas bog ein in eine zweite Gasse, die noch steiler den Berg hinauflief, als die drunten neben dem Hause. Dann kam das häßliche Stadtthor mit dem noch viel häßlicheren Thurm, der auf seinem Rücken dräute, aber durch die Thorwölbung leuchtete es grün. Da schlangen sich die prächtigen, wohlgepflegten Lindenalleen in wunderlichem Contrast um alte geschwärzte Stadtmauern, wie ein frischer Myrthenkranz um einen ergrauten Scheitel. … Wie war es so feierlich still hier oben! Das Kind erschrak vor seinen eigenen Schritten, unter denen der Kies knirschte – es ging ja auf verbotenem Wege. Aber es lief immer rascher und stand endlich, tief Athem schöpfend, vor dem Eingangsthor des Gottesackers.

Noch nie hatte Felicitas diesen stillen Ort betreten – sie kannte jene kleinen, gleichförmig nebeneinander liegenden Felder noch nicht, jene Schlußsteine, unter denen das vielgestaltige Leben urplötzlich verbraust und verklingt. Neben dem schwarzen Eisengitter der Thür streckten große Hollunderbüsche die Zweige hervor, gebeugt von der Last ihrer schwarzen, glänzenden Beerdolden, und da seitwärts erhob sich das graue Gemäuer einer alten Kirche – das sah düster aus; aber dort hinüber dehnte sich ein weiter Plan, bunt besät mit Blumen und Büschen, auf denen das Gold der milden Herbstsonne lag.

„Wen willst Du denn besuchen, Kleine?“ fragte ein Mann, der in Hemdärmeln an der Thür des Leichenhauses lehnte und blaue Wolken aus seiner Tabakspfeife in die klare Luft blies.

„Meine Mama,“ entgegnete Felicitas hastig und ließ ihre Augen suchend über das große Blumenfeld gleiten.

„So – ist die schon hier? Wer war sie denn?“

„Sie war eine Spielersfrau.“

„Ach, die vor fünf Jahren auf dem Rathhaus umgekommen ist? … Die liegt da drüben, gleich neben der Kirchenecke.“

Da stand nun das kleine, verlassene Wesen vor dem Fleckchen Erde, das den Gegenstand all seiner süßen, sehnsüchtigen Kindesträume deckte! .… Ringsum lagen geschmückte Gräber; die meisten waren mit buntfarbigen Astern so völlig bedeckt, als habe der liebe Gott alle seine Sterne vom Himmel schneien lassen. Nur der schmale Streifen zu des Kindes Füßen zeigte dürres, verbranntes Gras, gemischt mit üppig wuchernden Queckenranken. Unachtsame Füße hatten bereits einen Weg darüber gebahnt; die anfangs lockere, von Regengüssen durchwühlte Erde war tief eingesunken und mit ihr der weiße, schmucklose Stein zu Füßen des vernachlässigten Grabes – „Meta d’Orlowsky“ stand in großen, schwarzen Lettern dicht am Erdrand… An diesem Stein kauerte sich Felicitas nieder und ihre kleinen Hände wühlten in einer von Gras entblößten Stelle… Erde, nichts als Erde! Diese schwere, fühllose Masse lag auf dem zärtlichen Gesicht, auf der lieben Gestalt im lichtglänzenden Atlasgewande, auf den Blumen in den lilienweißen, erstarrten Händen. Jetzt wußte das Kind, daß die Mutter damals nicht blos geschlafen habe.

„Liebe Mama,“ flüsterte sie, „Du kannst mich nicht sehen, aber ich bin da, bei Dir! Und wenn auch der liebe Gott nichts von Dir wissen will – er hat Dir ja nicht ein einziges Blümchen geschenkt – und kein Mensch kümmert sich um Dich, ich hab’ Dich lieb und will immer zu Dir kommen! … Ich will auch nur Dich allein lieb haben, nicht einmal den lieben Gott, denn er ist so streng und schlimm gegen Dich!“

Das war das erste Gebet des Kindes am Grabe der verfehmten Mutter… Ein leichtes Lüftchen strich vorüber, weich und kühlend, wie sich die beschwichtigende Mutterhand um die klopfenden Schläfe des fieberkranken Lieblings legt. Die Astern nickten herüber zu dem tieftraurigen Kind, und auch durch die dürren Blüthenrispen der Gräser zog es leise flüsternd; und droben dehnte sich der Himmel in durchsichtiger Klarheit – der ewige, wandellose Himmel, den Menschenbegriffe zu einem Tummelplatz irdischer Leidenschaften machen.

Als Felicitas später in das düstere Haus am Marktplatz zurückkehrte – das Kind wußte nicht, wie lange es träumend da draußen auf dem weiten, stillen Todtenfelde gesessen hatte – fand sie die Hausthür nur angelehnt. Sie schlüpfte hinein, blieb aber sofort erschrocken in der nächsten Ecke stehen, denn die Thür in des Onkels Zimmer stand ziemlich weit offen, Johannes’ Stimme klang heraus und Felicitas hörte, wie er mit festen, langsamen Schritten auf und ab ging.

Ein so eigenthümlich wilder Trotz auch seit gestern über die [356] Kleine gekommen war, die Furcht vor jener unbewegten, grausam kalten Stimme und den unerbittlichen, grauen Augen war doch noch größer. Sie konnte unmöglich in das Bereich der halboffenen Thür treten – ihre’ kleinen Füße standen wie eingewurzelt auf den Steinplatten.

„Ich gebe Dir vollkommen Recht, Mama,“ sagte Johannes drinnen, indem er stehen blieb; „das kleine, lästige Geschöpf wäre am besten in irgend einer braven Handwerkerfamilie aufgehoben. Aber dieser unvollendete Brief hier ist für mich so maßgebend wie ein rechtskräftiges Testament… Einmal sagt der Papa, daß er das Kind um keinen Preis aus dem Schutz seines Hauses entlassen werde – es sei denn, daß es der Vater selbst zurückfordere – und hier mit den Worten: ‚– ich würde deshalb auch unbedingt die Sorge um das mir anvertraute Kind in Deine Hände legen –‘ macht er mich unwiderleglich zum Vollstrecker seines Willens… Es kommt mir durchaus nicht zu, an der Handlungsweise meines Vaters irgendwie zu mäkeln, aber wenn er gewußt hätte, wie unsagbar zuwider mir die Menschenclasse ist, aus der das Kind stammt – er würde mich mit dieser Vormundschaft verschont haben.“

„Du weißt nicht, was Du von mir verlangst, Johannes!“ entgegnete die Wittwe im Ton tiefsten Verdrusses. „Fünf lange Jahre habe ich diesen Auswürfling, dies gottverlassene Wesen stillschweigend neben mir dulden müssen – ich kann es nicht länger!“

„Nun, dann bleibt uns kein anderer Ausweg, als ein Aufruf an den Vater des Kindes.“

„Ja, da kannst Du rufen!“ erwiderte Frau Hellwig mit einem kurzen, höhnischen Auflachen. „Der dankt Gott, daß er den Brodesser los ist! Doctor Böhm sagt mir, so viel er wisse, habe der Mann zu Anfang ein einziges Mal von Hamburg aus geschrieben – seit der Zeit nicht wieder.“

„Als gute Christin wirst Du übrigens auch nicht zugeben, liebe Mama, daß das Kind dahin zurückkehrt, wo seine Seele verloren geht –“

„Sie ist so wie so verloren!“

„Nein, Mama! Wenn ich auch nicht leugnen will, daß der Leichtsinn in diesem Blut stecken muß, so glaube ich doch auch fest an den Segen einer guten Erziehung.“

„Du meinst also, wir bezahlen das schwere Geld noch so und so viel Jahre länger für ein Geschöpf, das uns auf der Gotteswelt nichts angeht? – Sie hat Unterricht im Französischen, im Zeichnen –“

„Ei behüte, das fällt mir nicht ein!“ unterbrach Johannes die Aufzählung – zum ersten Mal erhielt diese monotone Stimme eine etwas lebhaftere Klangfarbe. „Das fällt mir nicht ein,“ wiederholte er. „Mir ist diese moderne weibliche Erziehung ohnehin ein Gräuel. … Solche Frauen wie Dich, die, echt christlichen Sinnes und in wahrhafter Weiblichkeit, nie die ihnen gesteckten Grenzen überschreiten, die wird man in Kurzem suchen müssen. … Nein, das Alles hat von jetzt ab ein Ende! Erziehe das Mädchen häuslich, zu dem, was einst seine Bestimmung sein wird – zur Dienstbarkeit. … Ich lege die Angelegenheit völlig und unbesorgt in Deine Hände. Mit Deinem starken Willen, Deinem Christenthum –“

Hier wurde die Thür plötzlich weiter aufgerissen, und Nathanael, der sich bei dem Zwiegespräch langweilen mochte, sprang heraus. Felicitas drückte sich gegen die Wand; aber er sah sie doch und stürzte wie ein Stoßvogel auf die Zitternde zu.

„Ja, verstecke Dich nur, das hilft Dir nichts!“ rief er und preßte ihr zartes Handgelenk beim Weiterzerren so heftig, daß sie aufschrie. „Jetzt kommst Du mit und sagst der Mama gleich den Text der Predigt! Gelt, das kannst Du nicht? Du warst nicht auf den Schulbänkchen, ich hab’ genau aufgepaßt. … Und wie siehst Du denn aus? … Nein, Mama, sieh Dir nur einmal dies Kleid an!“

Mit diesen Worten zog er die widerstrebende Kleine an die Thür.

„Komm’ herein, Kind!“ gebot Johannes, der mitten im Zimmer stand und den Brief seines Vaters noch in der Hand hielt.

Felicitas trat zögernd über die Schwelle. Sie sah einen Moment an der hohen, schmalen Gestalt empor, die vor ihr stand. Da lag kein Stäubchen auf dem ausgesucht feinen, schwarzen Anzug; das Weißzeug leuchtete in blendender Frische; nicht ein Härchen auf der Stirn krümmte sich gegen die Hand, die unablässig, fast ängstlich darüber hinstrich – da war Alles peinlich geordnet und sauber. Er blickte mit einer Art von Abscheu auf den Kleidersaum des Kindes.

„Wo hast Du Dir das geholt?“ fragte er und zeigte nach der Stelle, die seinen Blick auf sich zog.

Die Kleine sah scheu hinab – das sah freilich schlimm aus. Gras und Wege draußen waren noch thaunaß gewesen; sie hatte beim Niederwerfen am Grab nicht daran gedacht, daß solche auffallende Spuren an dem schwarzen Kleid zurückbleiben könnten. … Sie stand schweigend mit gesenkten Augen da.

„Nun, keine Antwort? … Du siehst aus wie das böse Gewissen selbst – Du warst nicht in der Kirche, wie?“

„Nein,“ sagte die Kleine aufrichtig.

„Und wo warst Du?“

Sie schwieg. Sie hätte sich lieber todtschlagen lassen, ehe der Muttername vor diesen Ohren über ihre Lippen gekommen wäre.

„Ich will Dir’s sagen, Johannes,“ entgegnete Nathanael an ihrer Stelle; „sie war draußen in unserem Garten und hat Obst genascht – so macht sie’s immer.“

Felicitas warf ihm einen funkelnden Blick zu, aber sie öffnete die Lippen nicht.

„Antworte,“ gebot Johannes, „hat Nathanael Recht?“

„Nein; er hat gelogen, wie er immer lügt!“ entgegnete das Kind fest.

Johannes streckte in diesem Augenblick ruhig den Arm aus, um Nathanael zurückzuhalten, der wüthend auf seine Anklägerin losstürzen wollte.

„Rühr’ sie nicht an, Nathanael!“ gebot auch Frau Hellwig dem Knaben. Sie hatte bis dahin schweigend im Lehnstuhl des Onkels am Fenster gesessen. Jetzt erhob sie sich – Hu, was warf die große Frau für einen düsteren Schatten in das Zimmer!

„Du wirst mir glauben, Johannes,“ wendete sie sich an ihren Sohn, „wenn ich Dir versichere, daß Nathanael niemals die Unwahrheit sagt. Er ist fromm und lebt in der Furcht des Herrn, wie selten ein Kind – ich habe ihn behütet und geleitet, das wird Dir genügen. … Es hat noch gefehlt, daß sich dies erbärmliche Geschöpf zwischen die Geschwister stellt, wie es bereits zwischen den Eltern der Fall gewesen ist. … Ist es nicht an sich unverzeihlich, daß sie, statt in die Kirche zu gehen, sich an anderen Orten herumtreibt? – mag sie nun gewesen sein, wo sie will!“

Ihre Augen glitten mit tödtlicher Kälte über die kleine Gestalt.

„Wo ist das neue Tuch, das Du heute Morgen bekommen hast?“ fragte sie plötzlich.

Felicitas fuhr erschreckt mit den Händen nach den Schultern – o Himmel, es war verschwunden, es lag sicher draußen auf dem Gottesacker! Sie fühlte recht gut, daß sie sich einer großen Unachtsamkeit schuldig gemacht habe – sie war tief beschämt; ihre gesenkten Augen füllten sich mit Thränen, und die Bitte um Verzeihung drängte sich auf ihre Lippen.

„Nun, was sagst Du dazu, Johannes? „fragte Frau Hellwig mit schneidender Stimme. „Ich schenke ihr das Tuch vor wenigen Stunden, und an ihrem Gesicht wirst Du sehen, daß es bereits verloren ist. … Ich möchte wissen, wie viel diese Garderobe Deinem seligen Vater das Jahr über gekostet hat. … Gieb sie auf, sag’ ich Dir! Da ist Hopfen und Malz verloren – Du wirst nie ausrotten können, was von einer leichtfertigen, liederlichen Mutter aufgeerbt ist!“

In diesem Augenblick ging eine schreckliche Veränderung in Felicitas’ Aeußerem vor. Eine tiefe Scharlachröthe ergoß sich über das ganze Gesicht und den lilienweißen Hals bis unter den Ausschnitt des groben, schwarzen Wollkleides. Ihre dunklen Augen, in denen noch die Thränen der Reue funkelten, blickten sprühend empor zu dem Gesicht der Frau Hellwig. Jene ängstliche Scheu vor der Frau, die fünf Jahre lang auf dem kleinen Herzen gelastet und ihr stets die Lippen verschlossen hatte, war verschwunden. Alles, was seit gestern ihre kindlichen Nerven in die furchtbarste Spannung versetzt hatte, es trat plötzlich überwältigend in den Vordergrund und nahm ihr den letzten Rest von Selbstbeherrschung – sie war außer sich.

„Sagen Sie nichts über mein armes Mütterchen, ich leide es nicht!“ rief sie; ihre sonst so weiche Stimme klang fast gellend. „Es hat Ihnen nichts zu Leide gethan! … Wir sollen nie Böses von den Todten sprechen – hat der Onkel immer gesagt, denn

[357]

Landung auf der Insel Capri.
Nach der Natur aufgenommen von Professor Paul Thumann.

[358] sie können sich nicht vertheidigen – Sie thun es aber doch, und das ist schlecht, ganz schlecht!“

„Siehst Du die kleine Furie, Johannes?“ rief Frau Hellwig höhnisch. „Das ist das Resultat der freisinnigen Erziehung Deines Vaters! Das ist ‚das feenhafte Geschöpfchen‘, wie er das Mädchen in dem Briefe da nennt!“

„Sie hat Recht, wenn sie ihre Mutter vertheidigt,“ sagte Johannes halblaut mit ernstem Blick; „aber die Art und Weise, wie sie es thut, ist eine ungeberdige, abscheuliche. … Wie kannst Du Dich unterstehen, in so ungebührlicher Weise zu dieser Dame zu reden?“ wandte er sich zu Felicitas, und ein schwacher Schimmer von Roth flog über sein bleiches Gesicht. „Weißt Du nicht, daß Du verhungern mußt, wenn sie Dir kein Brod giebt? und daß draußen das Straßenpflaster Dein Kopfkissen sein wird, wenn sie Dich aus dem Hause stößt?“

„Ich will ihr Brod nicht!“ preßte das Kind hervor. „Sie ist eine böse, böse Frau – sie hat so schreckliche Augen. … Ich will nicht hier bleiben in Eurem Hause, wo gelogen wird und wo man sich den ganzen Tag fürchten muß vor der schlechten Behandlung – lieber will ich gleich unter die dunkle Erde zu meiner Mutter, lieber will ich verhungern –“

Sie konnte nicht weiter sprechen; Johannes hatte ihren Arm gefaßt, seine mageren Finger drückten sich wie eiserne Klammern in das Fleisch – er schüttelte sie einige Mal heftig.

„Komm’ zu Dir, komm’ zur Besinnung, abscheuliches Kind!“ rief er. „Pfui, ein Mädchen, und so zügellos! Bei dem unverzeihlichen Hang zu Leichtsinn und Liederlichkeit auch noch diese maßlose Heftigkeit. … Ich sehe ein, hier ist viel versehen worden,“ wandte er sich an seine Mutter, „aber unter Deiner Zucht, Mama, wird das anders werden.“

Er ließ den Arm der Kleinen nicht los und führte sie unsanft aus dem Zimmer hinüber in die Gesindestube.

„Von heute an habe ich über Dich zu gebieten – merke Dir das!“ sagte er rauh; „und wenn ich auch fern bin, ich werde Dich doch exemplarisch zu strafen wissen, sobald ich erfahre, daß Du meiner Mutter nicht in allen Stücken ohne Widerrede gehorchst. … Für Dein heutiges Benehmen hast Du auf längere Zeit Hausarrest, um so mehr, als Du von der Freiheit einen so schlechten Gebrauch machst. Du betrittst den Garten ohne ganz specielle Erlaubniß meiner Mutter nicht wieder; ebenso wenig gehst Du auf die Straße, die Wege nach der Bürgerschule ausgenommen, die Du von nun an besuchen wirst; und hier in der Gesindestube magst Du essen und Dich Tags über aufhalten, bis Du bessere Sitten zeigst. … Hast Du mich verstanden?“

Die Kleine wandte schweigend das Gesicht ab, und er verließ die Stube.


9.

Nachmittags trank die Familie Hellwig den Kaffee draußen im Garten. Friederike hatte ihren kattunenen, flanellgefütterten Sonntagsmantel über die Schultern geworfen, die schwarzseidene, wattirte Staatsmütze aufgesetzt und war zuerst in die Kirche und dann zu einer „Frau Muhme“ auf Besuch gegangen. Heinrich und Felicitas waren allein in dem großen, kirchenstillen Hause. Ersterer war längst heimlicherweise draußen auf dem Gottesacker gewesen und hatte das verhängnißvolle Tuch heimgeholt – es lag nun gesäubert und regelrecht zusammengelegt im Kasten.

Der ehrliche Bursche hatte die vormittägige Scene von der Küche aus mit angehört und zum Theil auch gesehen; er war sehr in Versuchung gewesen, hervorzuspringen und mit seinen derben Fäusten den Sohn des Hauses ebenso zu schütteln, wie die zarte Gestalt des aufrührerischen Kindes hin und her geschüttelt wurde. Jetzt saß er da in der Gesindestube und schnitzelte an seinem defecten Ausgehstock herum, wobei er leise und zwar sehr ungeschickt und unmelodisch pfiff. Er war war aber auch gar nicht bei der Sache; seine Blicke huschten rastlos und verstohlen hinüber nach dem schweigenden Kinde. … Das war gar nicht mehr das Gesicht der kleinen Felicitas! Sie saß dort wie ein gefangener Vogel, aber wie ein Vogel, dem die Wildheit in der Brust brennt und der voll unversöhnlichen Grolles der Hände denkt, die ihn gefesselt haben. … Auf ihren Knieen lag der Robinson, den Heinrich auf eigene Gefahr hin von Nathanael’s Bücherbret geholt hatte, aber sie warf keinen Blick hinein. Der Einsame hatte es gut auf seiner Insel, da, gab es doch keine bösen Menschen, die seine Mutter leichtsinnig und liederlich schalten; da lag der funkelnde Sonnenschein auf den Palmenkronen, auf den grünen Wogen des fetten Wiesengrases – und hier brach das Gotteslicht gedämpft, als trübe Dämmerung durch die engvergitterten Fenster, und nirgends, weder draußen in der schmalen Gasse, noch hier im ganzen Hause, erquickte ein grünes Blatt das Auge. … Ja, drin im Wohnzimmer, da stand freilich ein Asklepiasstock im Fenster – die einzige Blume, die Frau Hellwig pflegte, aber Felicitas konnte diese regelmäßigen, wie aus kaltem Porcellan geformten Blüthenbüschel, die starren, harten Blätter nicht leiden, die stocksteif und ungerührt da hingen, mochte auch der Luftzug durchstreifen, so viel er wollte – was gab es denn Schöneres, als draußen die leichtbeweglichen, grünen Zungen an Büschen und Bäumen mit ihrem unaufhörlichen Rauschen und Flüstern?

Die Kleine sprang plötzlich auf. Droben auf dem Dachboden, da konnte man weit hinaus in die Gegend sehen, da war sonnige Luft – wie ein Schatten glitt sie die gewundene steinerne Haupttreppe hinauf.

Das alte Kaufmannshaus war eigentlich nach gewissen Begriffen degradirt worden. Vor langen Zeiten war es ein Edelsitz gewesen. Es hatte auch noch etwas Ehrgeiziges in seiner Physiognomie – wenn auch nicht in dem Maße, wie die Thürme, die Alles unter sich lassen und, wenn es ginge, am liebsten auch den Himmel als alleiniges Eigenthum auf ihre Spitze spießen möchten – aber es zeigte doch hier und da dies Emporstreben in dem Thurmansatz des Erkers und vor Allem in den mächtigen Schornsteinen, die sich in jenen Zeiten so nöthig machten, wo noch die Wildbraten in ihrer natürlichen Größe und Urwüchsigkeit auf den Bratspießen adeliger Küchen steckten. … Das blaue Blut, das die Herzen der ehemaligen ritterlichen Bewohner klopfen gemacht, war längst versiecht, ja, in den letzten Stadien war es ihm ergangen, wie dem alten Hause auch – es war degradirt worden.

Die vordere, nach dem Marktplatz gewendete Fronte des Hauses hatte sich allmählich in etwas modernisirt, die Hintergebäude dagegen, drei gewaltige Flügel, standen noch in keuscher Unberührtheit, wie sie aus der Hand ihres Schöpfers hervorgegangen waren. Da gab es noch jene langen, hallenden Gänge mit schiefen Wänden und tief ausgetretenem Estrich, in denen selbst bei strahlendem Mittagssonnenschein eine traumähnliche Dämmerung webt und die es einer sagenhaften Ahnfrau so leicht machen, in grauer Schleppe, mit verblichenem Antlitz und schattenhaft gekreuzten Händen umherzuspuken. Da waren noch jene unvorhergesehenen, unter dem leisesten Tritt kreischenden Hintertreppchen, die plötzlich am Ende eines Corridors auftauchen, um drunten vor irgend einer unheimlichen, siebenfach verriegelten Thür zu münden – jene abgelegenen, scheinbar zwecklosen Ecken mit einem einsamen Fenster, durch dessen runde, bleigefaßte Scheiben fahle Lichtsäulen auf den zerbröckelnden Backsteinfußboden fallen. Der Staub, der hier auf die Köpfe der Vorüberwandelnden herabrieselte, war historisch; er hatte als jugendliche Holzfaser irgend eines Balkens oder als neuer Mörtel die hochgehenden Wogen des blauen Blutes mit angesehen.

(Fortsetzung folgt.)




Im Golfe von Neapel.
Bild und Wort von P. Thumann.


Um uns auf einige Tage dem hirnbetäubenden und ermüdenden Geräusche Neapels zu entziehen, beschlossen wir einen längern Ausflug nach Capri zu machen, um von dort über Sorrent zurückzukehren. Waren unsere bisherigen Ausflüge in der Umgegend Neapels auch stets glücklich, heiter und genußbringend ausgefallen, so störten doch die von Morgen bis Abend an die Ohren schlagenden Räubergeschichten, darunter die damals auch von der Gartenlaube erzählte Aufhebung eines englischen Photographen bei [359] Pästum, die Harmlosigkeit des Gemüthes und wir sehnten uns doppelt nach dem so reizend und lockend daliegenden Inselchen, das bei allen andern gerühmten Schönheiten auch den Vorzug haben sollte, „von Briganten frei zu sein“. Ein Morgen – schön und herrlich, wie jeder dort verlebte – fand uns, d. h. außer meiner Frau noch drei Landsleute, die in Rom mit uns zusammengetroffen waren, ein älteres rüstiges und reiselustiges Ehepaar und einen jungen Künstler, auf dem Wege zur Santa Lucia, von wo das Dampfschiff irgend einer Gesellschaft wöchentlich zweimal die angegebene Tour machen sollte. Eilend, um zur festgesetzten Zeit einzutreffen, wurden wir durch die zum Dampfer überführenden Bootsleute in herkömmlicher und nicht zu umgehender Weise erst geprellt und dann an Bord gebracht. Das Dampfschiff war klein und miserabel, seine Unsauberkeit und Untüchtigkeit hätte uns zurückgeschreckt, wenn man dergleichen Eigenthümlichkeiten nicht als dem Lande besonders charakteristisch bereits kennen gelernt hätte und schnell daran gewöhnt worden wäre.

Auch mit der Pünktlichkeit war es schlecht bestellt; erst nach zweistündigem Warten fuhr unser Fahrzeug ab, um uns durch das azurblaue Wasser dem Ziele entgegenzutragen. Obgleich der Golf von Neapel ein ziemlich geschlossenes Wasserbecken bildet und nur einzelne Oeffnungen zwischen den vorliegenden Inseln die offene See erblicken lassen, gab es doch große, sogenannte todte oder Grundwellen, die im Vereine mit den kurzen stoßenden Schlägen des Schaufelrades die Fahrt weniger angenehm machten, als wohl Jeder erwartet hatte. Bald saßen die Meisten der Reisegesellschaft still und mit ziemlich offen ausgesprochenem Unbehagen auf dem Deck. Nach etwa drei Stunden langsamen Schaukelns hielten wir nahe dem höchsten Theile der Insel, welche mit Ausnahme zweier Landungsstellen als steile, unzugängliche Felsenmasse aus dem Meere steigt. Das Schiff wurde von einer Anzahl sehr kleiner Boote umringt, die auf die Ankunft desselben gewartet, um die Reisenden nach der blauen Grotte zu führen. Hier zeigte sich recht, wie weit die Antipathie gegen die schaukelnde Bewegung vorgeschritten, denn eine Anzahl der Passagiere, die zum Theil der blauen Grotte wegen die ganze Fahrt unternommen, behaupteten hartnäckig, daß die Grotte ihnen sehr gleichgültig sei und sie auf keinen Fall von ihrem Sitze gehen würden. Freilich war es nicht leicht, aus dem schaukelnden Dampfer in die am Lande auf und ab hüpfenden Nußschalen zu steigen, die eben groß genug waren, um außer dem Schiffer zwei bis drei Mann aufzunehmen, und die oft recht maliciös in dem Augenblicke, wo die Fußspitze sie berührte, einige Fuß tiefer sanken, um gleich darauf mit Kraft gegen den tastenden Fuß anzuspringen. Nach einigen Versuchen gelang es doch den von entschiedenem Willen Beseelten in ein solches Fahrzeug zu kommen, und bald darauf tanzte eine kleine Flotte der gegenüberliegenden Felsenwand zu, in der dicht über dem Wasser eine winzige Oeffnung sichtbar wurde. Diese bezeichnete man uns als Eingang zur Grotte. An dem Loche angekommen, sah ich nicht ein, wie unser Fahrzeug durch die kleine Oeffnung dringen sollte, indessen es waren vor uns schon einige Boote darin verschwunden, und so legten wir uns, unser Schicksal dem Schiffer überlassend, auf dessen Geheiß platt auf den Boden und befanden uns plötzlich, von einem Wellenschlage durch die enge Pforte gedrückt, in der wundervollen Zaubergrotte.

„Bei Allem was schön ist, kommt herein, denn wenn nichts in der Grotte ist, als das himmlische Wasser, bleibt sie dennoch ein Wunder der Welt!“ Seit August Kopisch im ersten Augenblick seiner Entdeckung der blauen Grotte den zaghaften Begleitern diese Worte zugerufen – das war im Sommer 1826 –, ist das „Wunder der Welt“ fast ebenso oft geschildert wie besucht worden. Aber so wenig der Gast Neapels, wenn es ihm irgend möglich, die Fahrt nach Capri und zu seiner geheimnißvollen Herrlichkeit versäumt, so wenig mag der Leser, wenn ihm von Capri erzählt wird, eine Beschreibung der blauen Grotte missen. Diesem Verlangen wollen wir, wenn auch nur in der Kürze, zu entsprechen suchen.

Wer die enge Einfahrt hinter sich hat, sieht, sobald das Auge sich an die Dämmerung gewöhnt, sich in einer Höhle, die etwas über hundert Fuß lang, nicht völlig so breit und bis zum höchsten Theile der sehr ungleichen Wölbung etwas über dreißig Fuß über dem Wasserspiegel hoch ist; die Tiefe des Wassers beträgt etwa fünfzig Fuß. An den Hintergrund der Grotte schließt sich eine Fortsetzung der Tropfsteinhöhlen an, die mit einem Gang in Verbindung zu stehen scheinen, welchen man für ein Werk des Tiberius hält und der zu dem Schlosse hinaufgeführt haben mag, welches jener Kaiser oben auf dem Fels sich gebaut hatte. Aber nicht dies, sondern der Azurhauch, mit welchem Alles in der Grotte übergossen ist, hat ihr den Namen und ihre Weltberühmtheit gegeben. Kopisch erzählt von seinem zweiten Besuch, der an einem Abend geschah: „Die Grotte war, da die Abendsonne an den Eingang schien, weit mehr erhellt, als an jenem ersten Morgen, und ihre vielzackige Wölbung zeigte sich in voller Farbenpracht, wo sie heller war, leicht gespiegelt von dem himmelklaren Wasser. Ich ließ die Ruder einziehen; da ruhte das friedliche Element beinahe völlig, man hätte es für den blauen Himmel selbst ansehen können, wären nicht oft silberne Tropfen von der Decke herabgefallen, die es, melodisch tönend und blaue Funken stiebend, mit einem anmuthigen Spiel von wallenden Ringen geschmückt hätten. Dagegen erschienen Schaaren kleiner Fischchen, sonst bunt wie Colibris, hier wie schwarze Schwalben, die in dem Himmel unter mir umherflogen.“ Endlich sah Kopisch die fast gelbbraunen Pfeiler, welche das Höhlengewölbe tragen, bis hinab zum Boden und erkannte nun, daß an der westlichen Wand diese Pfeiler nicht weit hinunterreichen, sondern nur gleichsam in’s Wasser hineinhängen, so daß sie unter dem Wasser nach dem äußern viel tiefern Meer hin eine ungeheuere Oeffnung bilden, ja bei längerem Hinblicken erkannte Kopisch ganz genau das ganze unterseeische Thor zu dem nach außen schroff abschüssigen Abgrund des Meeres, und damit hatte das ganze Farbenwunder seine Erklärung gefunden. Durch dieses Thor nehmen die Lichtstrahlen ihren Weg, und da das Wasser die Beleuchtung in die Grotte fortsetzt, während ihm selbst das tiefere Meer zum dunkeln Hintergrund dient, so muß es als ein erleuchtetes Mittlere, gleich der Luft des Himmels am Tage, nothwendig blau erscheinen und ebenso blaues Licht verbreiten. Ebendeshalb nimmt das Blau auch nach dem Innern der Grotte hin allmählich ab und geht in ein stumpferes Grüngrau über, bis wo die Brandung an den bunten Saum der Felsen anschlägt und das empfangene Licht brillant vielfarbig zurückwirft. –

Gelegentlich eines andern, bei ziemlich heftigem Sturm gewagten Besuchs erzählt Kopisch von sich und seinen Gefährten, daß sie diesmal (wie dies auch bei der Entdeckung geschehen war) wieder in die Höhle schwimmend, mit hohler Woge hineingeschlüpft, jubelnd und jauchzend in dem himmelblauen Aufruhr sich tummelten und daß all’ ihre Rufe des Entzückens vom Donner der Brandung überhallt worden seien. „Das Schauspiel, welches sich unsern Blicken darbot,“ so schreibt er, „war einzig. Zuweilen kamen die Wogen so hohl an, daß sie das unterseeische Thor aufthaten und das Tageslicht unter dem Felsen durchschimmern ließen. Dann war die Brandung im Innern der Grotte furchtbar schön, denn wenn sie anschlug, war Thor und Eingang schon wieder geschlossen, und sie schlug über, wie eine mächtige blaue Lohe, wozu der zerstiebende Schaum sich wie Rauch gehabte. Kam die Woge jedoch voll an, so schoß ein voller silberner Strahl bogenförmig zum Eingang herein und zerstob mit blauem Feuerregen auf dem innen tobenden Gewässer, das ein Geroll von Millionen Edelsteinen darstellte.“

Von so wilder Naturromantik war unser Anblick der Grottenherrlichkeit wohl frei, aber dennoch war der Eindruck des im herrlichsten Blau strahlenden Felsengewölbes mit seinen vielen wunderlichen und geheimnißvollen Nischen und Ecken über uns und der blauen klaren Fluth unter uns ein so gewaltiger, wie die reichste Phantasie ihn nicht hervorbringen könnte. Die Außenwelt war plötzlich vergessen und schweigend gab sich Jedes dem fremden Eindrucke und seinen Gedanken hin. In diese beschauliche Stille sprang und plätscherte ein junger Deutscher, der, einer der ersten in der Grotte angelangt, sich den Genuß eines eigenthümlichen Bades, uns Andern ein prächtiges Schauspiel verschaffte, denn der badende Körper erschien als lebendig gewordene mit hellblauem Oxyd bedeckte Bronzestatue und gewährte in der That eine wahre Augenweide.

Nur zu bald mußten wir uns von dem Orte, an dem nur noch die Bewegung des Wassers an die organische Natur erinnerte, trennen; die Bootführer mahnten zur Umkehr und wir erhielten nach einigen Versuchen von den im Eingange spielenden Wellen die Erlaubniß den Himmel über uns zu sehen und nach dem Schiffe zurückzukehren. Das Besteigen desselben bot wieder einige Schwierigkeiten, doch war es leichter als vorhin das Aussteigen. Am Bord saß die zurückgebliebene Gesellschaft in übelster Stimmung; länger als eine halbe Stunde hatten die Aermsten das [360] einförmige Schaukeln dulden müssen, ohne durch den Gedanken, dem Ziele näher zu rücken, gehoben zu werden, und es war nicht zu verwundern, daß die Gesichter länger und blässer aussahen. Endlich war Alles an Bord beisammen und das Schiff ging längs der Insel dem etwa noch zehn Minuten entfernten Landungsplatze Capri entgegen. Bald fiel der Anker, Boote kamen vom Lande und Jedes eilte seine Habseligkeiten und sich selbst einem derselben anzuvertrauen, um baldmöglichst auf dem Lande zu stehen. Die Entfernung war gering, ein paar Dutzend Ruderschläge genügten, um diesen letzten Wunsch zu erfüllen und uns in die Mitte der am Strande aufgestellten Bevölkerung, meistens aus Frauen und Kindern bestehend, zu bringen. Als das vor uns fahrende Boot sich dem Lande näherte, stürzte plötzlich die am Ufer versammelte Menge durch das flache Wasser ihm entgegen und es entstand ein fürchterliches Gewühl, das Getöse und Geschrei erschallte lauter und lauter und unmöglich war aus dem damit verbundenen Stoßen, Zerren und Balgen eine friedliche Absicht zu lesen, bis der erste Knäuel sich entwickelt hatte.

In denselben Tumult hinein mußte auch unser Boot, und nur zwei Schritt vom Lande entfernt genossen wir den gleichen Angriff, waren aber nunmehr durch die Erkenntniß beruhigt, daß derselbe nur bezweckte, uns und unsere Reiseeffecten durch die letzten vier Fuß Wasser zu bringen. Zu unsrer Schande muß ich gestehen, daß die Mehrzahl von uns mit dem durch die Fahrt hervorgebrachten Mißbehagen in diesem Eifer eine höchst niederträchtige Frechheit sah, und so wurde es den armen Leuten herzlich sauer gemacht, eine Reisetasche oder einen Schirm zu erhaschen, ja gegen den Versuch die ganze Person auf den Armen an’s Land zu tragen wurde energisch, wiewohl nicht immer mit Erfolg, protestirt. In dem blinden Bestreben einige Centesimi – hier noch Bajocchi genannt – zu verdienen, faßten wohl zehnmal junge Mädchenarme die Beine unseres wohlbeleibten Reisegefährten, der, um sich vor einem Bade zu retten, schließlich seinen Koffer andern Händen preisgeben mußte. Während dieses mit steigender Erregung geführten Kampfes schob eine, wie es schien, officielle Frau eine rohe Bank gegen den Kahn und auf dieser Brücke balancirte denn der noch nicht hinweggeschleppte oder gesprungene Theil der Gesellschaft an das Land. Nachdem den vielseitigen Ansprüchen für die verschiedenen Handgriffe und unliebsamen Hülfeleistungen so gut als möglich genügt war, denn ganz ist der italienische Ruf „zu wenig“ kaum zu stillen, war es uns noch nicht vergönnt frei zu athmen. Kinder und Frauen hielten uns Muscheln vor die Augen, Pferde wurden vorgeführt und angepriesen, Führer drängten sich dazwischen, kurz, Alles, was über diesen Punkt je erzählt wurde, wiederholte sich und verfolgte uns, bis wir am ersten auf dem Treppenwege nach dem Orte Capri gelegenen Gasthause anlangten und dort durch den Wirth von der Begleitung unter Anwendung derber Mittel befreit wurden. Die übrige Reisegesellschaft verließ noch an demselben Tage mit demselben Schiffe die Insel, selbst unser Ehepaar war durch Fahrt und Empfang so mitgenommen, daß sie dem schönsten Stückchen Erde nach ein paar Stunden mißvergnügt den Rücken kehrten. Wir blieben nur zu Dreien zurück und nie werde ich vergessen, was die Natur auf dem kleinen Raume Schönes und Herrliches zusammengetragen und uns in lieblichen und gewaltigen Formen vor Augen geführt hat. Die Leute, die im ersten Begegnen rücksichtslose Zudringlichkeit zeigten, wurden bei weiterem Verkehr harmlose, gute und fast uneigennützige Menschen, und als nach einigen Tagen das Dampfschiff wieder erschien und die Bevölkerung zum Empfange der neuen Gäste dem Landungsplatze zustürzte, befand ich mich mitten in der munteren Jagd, schaute den Ueberfall von der andern Seite, und fand ihn so interessant und lustig, daß mir die Lehre, „man müsse jede Sache von zwei Seiten ansehen,“ niemals wahrer erschien und ich versuchte den Eindruck bildlich festzuhalten.

Bald war unsere Zeit um. Nach acht Tagen, in glücklichem beschaulichen Leben verflogen, kehrten wir nach Neapel zurück und ich verließ den liebgewonnenen Ort mit dem innigen Wunsche, es möge mir vergönnt sein noch einmal dort zu landen können.




Deutsch-amerikanische Lebensläufe.
Von Adolf Douai.
2. Ein Schauspieler.

„Nun muß der Pfarrer erzählen,“ schlug Einer aus der Gesellschaft vor, nachdem der Kaufmann geendet, und alle Augen waren auf S.… gerichtet, einen beliebten Schauspieler der Stadt, von dem allbekannt war, daß er Theologie studirt hatte und sogar Geistlicher gewesen war.

„Meint Ihr mich?“ sagte S. phlegmatisch. „Aber mein Lebenslauf hier zu Lande ist nicht der eines Pfarrers gewesen, sondern eher alles Andere. Und wenn ich alle tollen Streiche hier erzählen sollte, die mir gespielt worden sind und die ich Anderen gespielt habe, so kämen heute Abend die noch übrigen Erzähler nicht an die Reihe.“

„Immer heraus damit!“ rief’s im Chore. „Und wenn die morgende Sonne darüber aufgehen sollte!“

„Nun denn, Ihr habt’s gewollt. Die Folgen habt Ihr Euch selber zuzuschreiben. Ich will’s also nur gestehen, ich bin ein Pfaffe gewesen und in der deutsch-katholischen Bewegung diesem Handwerke, das seinen güldenen Boden hat, abtrünnig worden. Als ich in Amerika landete, überlegte ich einen Augenblick, ob ich in eine kirchliche Anstellung zurückkehren sollte. Ich wäre natürlich mit offenen Armen von der Klerisei aufgenommen worden; denn – Ihr wißt – es ist mehr Freude im Himmel über ein verlorenes Schaf, das zur Hürde zurückkehrt, als über neunundneunzig, die nicht verloren gegangen. Schließlich aber siegte in mir die Leidenschaft zur Hungerleiderei, die vertrackte Ehrlichkeit.

Das Erste, was ich that, um Verdienst und Brod zu suchen, war, daß ich die Zeitungen durchstöberte, um Arbeit zu finden. Da war nichts, was für mich paßte. Nur ganz am Ende las ich eine Anzeige, die meine Aufmerksamkeit erregte. Sie lautete: ‚Gesucht werden eine Anzahl Hunde und Katzen, das Stück zu einem bis anderthalb Dollars da und da‘. Vermuthlich – dachte ich bei mir selbst – ein Arzt, der physiologische Experimente an Thieren anstellt. Dem Manne kann geholfen werden.

Ich hatte mich mit noch einem Seereisegefährten bei einem Bekannten eingenistet, der ein paar Jahre früher eingewandert war und ein elendes Dachstübchen im deutschen Viertel bewohnte. Er hatte keine andere Schlafstelle für uns, als die Dielen, auf welchen wir, in unsere Decken eingewickelt und mit Sorglosigkeit und gutem Gewissen zugedeckt, auch ganz leidlich die erste Nacht geschlafen hatten. Wir gingen also aus, um auf Hunde und Katzen Jagd zu machen. Wir sahen nun wohl auch Hunde und Katzen genug auf den Straßen und hatten uns mit Wurst und dergleichen versorgt, um sie hinter uns her in einen unbeachteten Winkel zu locken, aber es war, als hätten diese Bestien die Absicht gemerkt und wären verstimmt geworden. Ein einziger Köter lief uns nach, den wir aber nicht wollten; denn es war ein räudiger Hund, dem Alles aus dem Wege ging. Ganz spät des Abends erst, beim Nachhausegehen, begegneten wir einem Herren, hinter dem ein hübscher Affenpinscher hertrollte. So flink stürzt sich der Teufel nicht auf eine ihm verfallene Seele, wie ich mich auf das arglose Thier, das ich mit einer mir selbst unbegreiflichen Gewandtheit in den bereit gehaltenen Sack prakticirte, mit welchem ich rasch um die nächste Ecke verschwand. Nach Hause gelangt, sperrten wir das Thier in unsers Gastfreundes Zimmer und kletterten aus einem Fenster des Hinterhauses auf ein benachbartes Dach, wo wir die Stimmen von Katzen gehört hatten. Es war eine lange Flucht von Dächern, welche hier aneinander stießen, und da gerade die Zeit war, wo auch die Katzen ein menschliches Rühren, den Gram der Liebe und die Sehnsucht nach Anerkennung durch ihres Gleichen, fühlen und darüber weder hören noch sehen, so hatten wir bald vier Katzen erobert und in unser Zimmer eingesperrt. Ein ermuthigender Anfang eines neuen Lebenslaufs! Wir legten uns auf die Dielen nieder – unser Gastfreund, ein Schriftsetzer, pflegte erst um Mitternacht nach Hause zu kommen. Die fünf eingesperrten Thiere hockten, ängstlich und jammervoll quikend, in allen [361] Ecken. Wir hatten uns vorgenommen, bis zur Nachhausekunft des Gastfreundes wach zu bleiben, damit die Thiere nicht entwischten, wenn er hereinträte. Aber ach! Die lange Jagd hatte uns ermüdet, und trotz aller Schnurren und spaßigen Erzählungen, mit denen wir uns wach zu erhalten versuchten, waren wir bald genug eingeschlafen. Wir erwachten über einem heidnischen Lärm, der im Zimmer entstand. Der Gastfreund war nach Hause gekommen und bei Oeffnung der Thür war die ganze Katzen- und Hundegesellschaft, von deren Anwesenheit er sich nicht das Mindeste träumen ließ, ihm zwischen die Beine und zur Thür hinaus gerannt. Und nun lag er der Länge nach im Zimmer – er hatte einen schweren Fall gethan, zum Glück mit dem Kopfe mir auf den Leib. Er tobte und fluchte und wir jammerten über die fünfmal einen bis anderthalb Dollars, welche uns entwischt waren.

Endlich hatte er Licht angebrannt und wir ihm den Vorfall erklärt. Indeß er sich nun brummend schlafen legte, suchten wir, die Lampe in der Hand, jeden Winkel des Hauses ab, wo sich die Flüchtlinge versteckt haben möchten. O, sie rächten sich an uns, die Bestien, für die unrechtmäßige Art, mit der wir sie uns angeeignet hatten! Glücklicherweise waren die Hausthür und alle Fenster auf den Fluren geschlossen, so daß sie nicht entwischen konnten; aber sie hetzten uns wohl zwei lange Stunden hinter sich her, treppauf, treppab, vier Stockwerke hindurch, ehe wir sie alle wieder hatten. Wir waren barfuß oder in Strümpfen, schon um bei der wilden Jagd die Hausgenossen nicht zu wecken, und so biß der Pinscher uns Beide derb in die Beine, ehe wir ihn in den Sack stecken konnten. Die Katzen zerkratzten uns Hände und Gesicht – es war ein unentgeltlicher Aderlaß, den wir uns aber doch noch lieber gefallen lassen wollten, als einen Aderlaß am Beutel. In dieses Augenblickes Höllenqualen gelobte ich mir’s heilig, nie wieder zu stehlen, meine Herren, nie wieder, und wäre es auch blos Regenschirme oder anderes halb herrenloses Gut.“

„Nun,“ unterbrach hier ein Vorwitziger „und habt Ihr ihn denn gehalten, diesen heiligen Schwur? Ihr wißt ja, der Weg zur Hölle ist mit guten Vorsätzen gepflastert.“

„Pst! pst!“ riefen viele Stimmen. „S. braucht keinen Beichtvater.“

Der Erzähler aber nahm eine Miene an, deren gewichtiger Ernst ungemein lächerlich zu der tiefausgeprägten Komik aller seiner Gesichtszüge stand. „Ich halte es mit Jean Jacques Rousseau und mache aus meinen Sünden kein Hehl; dafür pflege ich aber auch nicht etwa mein Licht unter den Scheffel zu stellen. Auf der Bühne gebe ich mich für das, was in der Rolle steht, überall sonst für das, was ich bin. Nein, dies war mein einziger Diebstahl im Leben, obschon ich Vieles Diebstahl nennen muß, was die Welt ehrlichen Erwerb nennt. Kurz, die Bestien waren endlich wieder eingefangen und am Morgen früh trugen wir sie an die angezeigte Stelle. Es war bei einem Apotheker.

‚Was zum Henker!‘ empfing er uns, ‚immer noch mehr Hunde und Katzen? Einhundert und elf Stück habe ich schon gestern und heute annehmen und bezahlen müssen. Ich halte mich nicht länger für verpflichtet, die mir angebotenen Thiere zu kaufen, da ich blos einige gesucht habe.‘

Wir legten uns auf’s Bitten und sagten, wir hätten kein Geld und nichts zu essen.

‚Das haben sie Alle gesagt, die mir welche gebracht haben. Wo soll denn am Ende das Geld bei mir herkommen? Die Futterkosten allein zehren ja den ganzen Ertrag meiner Apotheke auf. Ich werde ohnehin einige der wenigst werthvollen wieder in Freiheit setzen müssen.‘

Wir erzählten ihm unser Abenteuer der letzten Nacht.

Am Ende gab er uns Jedem einen Thaler als Schmerzensgeld und für unsere Mühe und bat uns, unsere Thiere nur wieder mitzunehmen, ohne sie nur angesehen zu haben. Vor der Thür setzten wir die Katzen wieder in Freiheit; aber den Hund behielten wir, als ein schönes Exemplar, um ihn anderweit zu verkaufen.

Wir postirten uns an die Ecke des Broadway und der Broomestraße, den Hund unterm Arme, und redeten jeden Vorübergehenden in unserem besten Englisch an: ‚Kaufen Sie einem Hund, mein Herr, meine Dame? Wir lassen es billig aus Noth, das treue Thier!‘

Stundenlang hatten wir so dagestanden, Niemand antwortete uns. Einigen schien der Hund offenbar zu gefallen, aber dann mochten sie sich mit einem Blick auf uns überzeugen, daß wir ihn gestohlen haben müßten, und sie gingen trotz aller unserer Bitten kaltsinnig weiter. Das Wetter war rauh, wir zitterten vor Frost und wollten schon nach Hause gehen, als ein Angloamerikaner auf uns zutrat und sagte: ‚Euern Hund mag ich nicht; aber wenn Ihr versteht, einen kranken Hund zu curiren – ich habe einen daheim.‘

‚Ich curire ihn,‘ rief ich zuversichtlich, ‚mag ihm fehlen, was da will.‘

‚So kommt mit!‘ sagte er und führte uns eine kurze Strecke, bis wir in seiner Wohnung, einem kostbar eingerichteten Privathause, ankamen. Im Erdgeschoß, neben der Küche, lag ein mächtiger Neufundländer auf einem Polster. Er war offenbar vergiftet und ich gerieth auf den gescheidten Einfall, aus der nächsten Apotheke ein derbes Brechpulver herbeizuholen. Aber als ich damit zurückkam, war es bereits zu spät. Wir quälten uns vergebens, ihm den eingerührten Wundertrank beizubringen – er starb unter unsern Händen.

‚Was bin ich Euch schuldig?‘ fragte der Amerikaner.

‚Zwei Dollars dem Manne,‘ sagte ich kühn und nahm eine doppelt wichtige Miene an.

‚Ich will Euch was sagen,‘ entgegnete er kurz, ‚ich gebe Jedem von Euch einen Dollar, aber dafür schafft Ihr mir den todten Hund aus dem Hause und der Stadt.‘

Am Ende willigten wir ein, das Verlangte für diesen Preis zu thun. Wir erbaten und erhielten noch einen alten Sack, steckten die Hundeleiche hinein und verließen das Haus.

Das Thier war schwer und die Frage war, wie wir die Bürde am schnellsten los werden könnten. Auch dafür war bald Rath gefunden.

‚Soweit ist es also mit mir gekommen,‘ seufzte ich, ‚daß ich todte Hunde begraben muß! Das dachte wohl mein Vater nicht, als er von früh auf mir’s einprägte: Junge, Du mußt einmal Generalsuperintendent werden.‘

‚Unsinn,‘ versetzte mein Camerad, der schon mehr Feuer- und Wasserproben des Schicksals bestanden hatte, freilich nicht ohne die Spuren davon in einer verdächtig rothen Nase zu behalten. ‚Was meinst Du, wenn wir ein Geschäft ganz neuer Art hier am Platze errichteten?‘

‚Und das wäre –?‘

‚Du weißt doch, Du Grasgrüner (‚Grüne‘ heißen die Neulinge im Lande), was ein Undertaker ist?‘

‚Ein Leichenbestatter, der alle mit einem Begräbniß verbundenen Geschäfte besorgt.‘

‚Richtig. Wir wollen also ein Undertakergeschäft für todte Hunde, Katzen, Pferde, Kanarienvögel und Papageien errichten. Wir werden ungeheuren Zulauf haben, denn wieviel Tausend solche Hausthiere segnen nicht in einer so großen Stadt alle Jahre das Zeitliche und die Eigenthümer wissen nicht, wohin sie mit der sterblichen Hülle ihrer Lieblinge sollen. Wir aber wissen es, wir machen Guano davon, der Centner vierzig Dollars werth, und lassen uns außerdem die Wegschaffungsgebühren theuer bezahlen.‘

‚Weißt Du was,‘ rief ich ärgerlich, ‚hier hast Du gleich den Hund. Mache Guano daraus, soviel Du willst. Ich habe meine Hälfte davon weit genug getragen.‘ Und ich warf ihm das Bündel in die zum Gesticuliren erhobenen Arme.

‚Und da denkst Du wohl,‘ rief er mit hochkomischem Pathos, ‚ich soll meine Hälfte tragen bis an’s Ende der Welt oder bis die Guanofabrik fertig ist? Du irrst, paß’ auf, was Erfindungsgeist vermag!‘

Wir waren an der Ecke der Bowery angelangt. Ein Milchmann fuhr mit leerem Wagen hurtig heimwärts. Wie der Blitz hatte mein Gefährte das Bündel in den Wagen hineingeworfen und ging davon triumphirenden Blickes. ‚So rasch,‘ sagte er, ‚kann man in Amerika einen Dollar verdienen.‘

Der Milchmann aber mußte den Fall des Bündels auf den Boden seines Wagens gehört haben. Ohne im Fahren innezuhalten, drehte er sich langsam mit dem Oberleibe um, erblickte das Bündel und – fuhr mit verdoppelter Geschwindigkeit davon.

‚Siehst Du,‘ sagte mein Gefährte, ‚nebenbei habe ich noch einen Menschen glücklich gemacht. Der brave Kerl meint gewiß Wunder, was für eine Bescheerung ihm da geworden ist.‘

‚Und wenn er den todten Hund findet?‘ sagte ich mit vor krampfhaftem Lachen unterbrochener Stimme.

[362] ‚Nun, so macht er Guano daraus an meiner Statt,‘ versetzte er mit einer so philosophischen Ruhe, daß mir vor Lachen die Thränen in die Augen traten.

Denselben Abend – er bleibt der denkwürdigste in meinem Leben – kam ein großer Entschluß in mich, welcher mir für alle Lebenszeit meine Laufbahn ebnete. In dem Wirthshause, in welchem wir nach löblicher altdeutscher Sitte einen Bruchtheil des Verdienstes dieses Tages der Fortuna opferten, trafen wir den Theaterzimmermann des New-Yorker Stadttheaters. Wir wurden kraft der Tugenden des Gerstensaftes sehr bald gute Freunde, und er erbot sich dazu, mir einen angenehmen Abend zu verschaffen, indem er mich hinter die Coulissen mitnähme, den einzigen Platz im Theater, auf welchen er Freibillets ausstellen könne.

Der Zufall wollte, daß ‚Rochus Pumpernickel‘ von Kotzebue gegeben wurde, ein Stück, in welchem ich daheim im lieben deutschen Vaterlande auf einer Liebhaberbühne schon mitgespielt hatte, und zwar in der Rolle des ersten Helden. Das kam mir jetzt zu Statten. Als ich nämlich so hinter dem Proscenium stehe, dem Beginn des Stückes entgegenharrend, höre ich den Regisseur entsetzlich fluchen. ‚Und das sagt der Bursche jetzt erst? jetzt, wo wir das Stück nicht einmal mehr abbestellen und ein anderes dafür aufführen können?‘

Ich trete hervor und erkundige mich, was es giebt.

Was es gab? – Je nun, der Darsteller des Rochus Pumpernickel war so schwer betrunken, daß er eben in der Garderobe außer Stande befunden worden war, sich in sein Costüm zu werfen. Einen Stellvertreter innerhalb des Darsteller-Personals gab es bei den damaligen so beschränkten Mitteln des New-Yorker Stadttheaters nicht. So erbot ich mich denn, die Rolle zu geben. Man machte große Augen und wollte meinen Namen wissen. Ich setzte mich auf’s große Pferd und rief: ‚Fragt mich nachher, wenn ich den Rochus Pumpernickel gespielt habe, wer ich bin!‘ Diese wenigen Worte in der Art, wie sie gesprochen wurden, haben mein Glück gemacht. Jeder der Anwesenden war sofort überzeugt, in mir stecke incognito eine der europäischen Theaterberühmtheiten. Man fragte nicht länger, man führte mich in die Garderobe.

Im dritten Acte, von wo an die Hauptthätigkeit der Titelrolle beginnt, kommt bekanntlich Rochus Pumpernickel auf einem Esel in die Residenz geritten. Die Regie des Stadttheaters hatte für einen wirklichen Esel gesorgt, um ihrem Publicum desto mehr Lachstoff zu geben. Der Esel war schon bei Tage durch eine Hinterthür auf die Bühne gebracht worden, um sich einigermaßen an scenische Darstellungen zu gewöhnen. Da aber der Weg auf die Bühne über eine kurze Treppe führte, hatte man die Unmöglichkeit bald eingesehen, ihn in so kurzer Zeit auch noch Treppen steigen zu lehren, wogegen er äußerst halsstarrig Protest einlegte, und hatte ihn über eine hölzerne Thür heraufgebracht, welche über die Treppe gelegt worden war. Dabei war es schon aufgefallen, wie hoch er die Beine hob, als ob er wüßte, daß die Treppe dennoch vorhanden wäre. Seitdem hatte er hinter dem Proscenium angebunden gestanden.

Die große Scene kommt denn endlich, wo ich, auf dem Rücken dieses Pegasus sitzend, vor dem New-Yorker deutschen Publicum erscheinen soll. Eine feierliche Stimmung überrieselte mich eiskalt vom Nacken bis zum Knie. Ich setze meinem Esel die Fersen in die Flanken. Umsonst – er rührt sich nicht. Ich streichle ihn, ich rede ihm zu, ich gebe ihm gute Worte – er geht gerade zwei Schritt, so daß er mit Kopf und Oberleib vor die Coulisse und in’s Gesichtsfeld des Publicums tritt. Hier in der Fülle des Gaslichts und unter dem dröhnenden Gelächter der Zuschauer geht ihm sein bischen Vorrath von Muth aus, und er setzt die Vorderbeine weit vorwärts, die Hinterbeine weit hinterwärts, als wollte er sagen: ‚Bis hierher und nicht weiter!‘ Ich jucke ihn an den Ohren und komme dadurch ebenfalls hinter der Coulisse hervor zum Vorschein, ich kitzle ihn, ich sporne ihn – vergebens. Da steht er, ein stummer feierlicher Protest gegen Alles, was mit ihm vorgenommen werden soll.

Auf einen Wink des Regisseurs eilen zwei Theaterdiener herbei und ergreifen den resignirten Esel vorn am Gebiß, um ihn an’s Lampenlicht zu ziehen. Zwei andere ergreifen die nächsten besten Prügel und bearbeiten seine Kehrseite mit erschütterndem Nachdruck.

Man denke sich an die Stelle des Publicums, dessen Ungeduld durch das lange Ausbleiben des erwarteten Titelhelden aufs Höchste gespannt ist! Es erblickt vor sich einen halben Esel und ein entsprechendes Stück von mir. Es sieht die verzweifelten Anstrengungen der Theaterdiener vorn, es hört die gewichtigen Schläge hinten, welche den Zauber vergebens zu lösen suchen. Eine ungeheure Heiterkeit erfaßt die ganze große Versammlung. Das Gelächter wächst und wächst bis zum Sturme, bis zur Raserei. Endlich, endlich gelingt es den vier Nothhelfern und verschiedenen andern Verbündeten, den Esel bis zur ganzen Länge hervorzuschieben. In diesem verhängnißvollen Augenblicke öffnet er seine Kinnbacken mit einem Ausdruck, der ebenso viel beredte Klage über die ihm widerfahrene Mißhandlung als stolzes Bewußtsein über die Heldenthaten, welche schon Simson mit einem Eselskinnbacken zu vollbringen vermocht, darzulegen scheint, zu einem volltönenden Yah!

Es ist kein Gelächter mehr, es ist ein allgemeines Wiehern im Publicum. ‚Herr Jeses, ich sterbe vor Lachen!‘ tönen drei, vier Stimmen im hohen Discant durch das donnernde Gebrüll. Auch der Ernsteste, der bis dahin noch an sich gehalten haben mochte, mußte in dieses Gelächter einstimmen, als jetzt der Esel, offenbar durch den allgemeinen Beifall ermuthigt, das Improvisiren beginnt. Er hebt, stolz an den Souffleurkasten vorschreitend, ein Bein um das andere zu einer solchen Höhe, daß man denken sollte, er ginge auf Wolken. Er traut offenbar dem hohlen Breterboden nicht, und indem er dröhnend jeden Fuß niedersetzt, gähnt er ein Yah um das andere.

Selbst ein weniger genügsames Publicum als das New-Yorker hätte sein inniges Vergnügen an diesem Impromptu haben müssen. Hier aber kannte das Entzücken keine Grenzen. So gut hatte sich im Stadttheater noch Niemand amüsirt. Das Lachen wirkte ansteckend. Ich selbst, die Theaterdiener, die mich noch umstanden, und alle Mitspieler hinter den Coulissen, wir brachen in ein Gejohle aus, welches kein Ende nehmen wollte. War hier und da ein Theil der Zeugen im Lachen erschöpft, so begann ein anderer mit frischem Athem von Neuem, bis endlich eine ganze Anzahl der Frauen ihre Sitze verließ, um anderswo sich von der Anstrengung des Trommelfells zu erholen.

Endlich war die Ruhe wiederhergestellt; endlich konnte ich fortspielen. Ein Stümper müßte an meiner Stelle nach einer solchen Einführung ungewöhnlich Gutes haben leisten können. Ich, der auf den Bretern kein Neuling mehr war, wurde dadurch in eine so gute Laune versetzt, daß ich diesmal mich selbst übertraf und bei jedem Abtreten hinter den Coulissen von den Kunstgenossen mit aufrichtigen Glückwünschen empfangen wurde, die sich schließlich zu einer Art Begeisterung steigerten.

Das Stück war vorüber, und der Regisseur kam, Hand in Hand mit dem Bühneneigenthümer, auf mich zu, um eine feierliche Ansprache an mich zu halten:

‚Wer Du auch sein mögest, unbekannter Künstler, Du bist der Morgenstern einer neuen Aera für unsere Bühne. Sei willkommen, Komus, in unserer Mitte!‘

Ich hielt für gut, mein Incognito noch lange beizubehalten. Ich spielte es aber geschickt und war bereits ein erklärter Liebling des New-Yorker Publicums in allen komischen Rollen, ehe ich meinen wahren Namen, und daß ich noch nie für Geld gespielt habe, zu entdecken wagte. Dieser Unverschämtheit – oder wie Ihr’s nun nennen wollt – verdanke ich meine Stellung im hiesigen Bühnenleben. Ich bin wie Minerva in die Bühnenwelt hereingesprungen, nicht weil ich eine Minerva wirklich wäre, aus dem Haupte des Zeus entsprungen, sondern weil ich – obschon bei meiner Geburt nicht gerade auf den Kopf gefallen – durch den merkwürdigsten Zufall in der Welt im rechten Augenblicke meinen rechten Wirkungskreis angewiesen bekam, so daß ich an meiner Bestimmung nicht mehr irre werden konnte.“

Der Erzähler lehnte sich hier in die Sophakissen zurück, als wäre er fertig.

„Nichts da!“ rief Einer aus dem heiteren Kreise. „Sie müssen uns noch erzählen, wie Sie zu Ihrer Frau gekommen sind; denn das ist nicht das Uninteressanteste an Ihrem hiesigen Lebenslaufe.“

Er weigerte sich dessen anfänglich, weil er seine Frau nicht vorher um Erlaubniß gefragt habe, ob er dieses ihr Geheimniß ausplaudern dürfe. Aber das half ihm nichts. Die Erlaubniß, hieß es, könne er hinterher einholen; deren sei er bei einer so vortrefflichen Frau ohnehin sicher. Kurz, er mußte wiederanknüpfen.

„Ich hatte den Petrucchio in Shakespeare’s ‚Zähmung einer bösen Sieben‘ gegeben, als ich mit der Stadtpost ein duftendes Billetchen enthielt, welches ungefähr also lautete:

[363] ‚Der Dichter hat sich’s mit der von Ihnen gestern dargestellten Zähmung einer bösen Sieben ziemlich leicht gemacht. Das Kunststück dürfte in dieser Weise bei mancher Anderen nicht anschlagen. Bei mir z. B. schwerlich. Die Art, wie Sie den Petrucchio gaben, muß in meinen Augen eine Verbesserung des Dichters genannt werden, wenigstens der auf englischen Theatern üblichen Auffassung dieser Rolle. Ich möchte mit Ihnen darüber ein Weiteres reden und erwarte Sie zu diesem Behufe morgen Nachmittag um drei Uhr zu Hause zu finden.

Eine alte Theatergängerin.‘

Nun bangte mir erbärmlich vor dieser Zusammenkunft. Gewiß eine alte, grundhäßliche, halb übergeschnappte Kunstenthusiastin, die Dich langweilen und sich die Zeit vertreiben will, – dachte ich. Allein ausweichen durfte ich ihr nicht, da die Beliebtheit eines Schauspielers mitunter durch Intriguen im Publicum gefährdet werden kann. Wer beschreibt also mein Erstaunen, als zur festgesetzten Zeit ein bildhübsches, wenn auch nicht mehr ganz junges Mädchen bei mir eintritt! Ich war in der äußersten Verlegenheit, zumal die bescheidene Einrichtung meiner Wohnung mich beschämte. Diese meine Verlegenheit wuchs von Secunde zu Secunde, als ich an den ersten Tönen ihrer warmen wohlklingenden Stimme merkte, daß sie trotz alles angezwungenen Muthes leise zitterte.

‚Sie werden wissen wollen, wer so ungesucht bei Ihnen vorspricht,‘ sagte sie, indeß ich sie auf meinen einzigen Polsterstuhl geleitete, während ich mich auf einem Holzstuhle ohne Rückenlehne niederließ, um dadurch zugleich eine schwache Seite meines Haushaltes zu verdecken.

‚Gewiß, wenn ich so unbescheiden sein darf.‘

‚Ich bin eine in Amerika geborene Deutsche, die frühzeitig ihre Eltern verloren und deswegen eine ganz englische Erziehung genossen hat. Wenn ich mein bischen Deutsch nicht ganz vergessen, vielmehr recht lieb gewonnen habe, so verdanke ich das Ihnen.‘

‚Mir? – Sie machen mich schamroth.‘

‚Ihnen. Seit ich Sie, schon bei Ihrem ersten Auftreten hier, gesehen habe, versäumte ich keine einzige Ihrer Darstellungen, weil meine Muttersprache aus Ihrem Munde mir so viel besser klang als das Englische und weil Ihre Auffassung Shakespeare’scher Charaktere mich eine über die landläufige englischer Schauspieler weit erhabene dünkte. Seitdem studire ich Deutsch mit Leidenschaft; seitdem bin ich – ein gewiß seltener Fall unter den eingebornen Deutschen – stolz darauf, eine Deutsche zu sein.‘

‚Sie haben Grund dazu, mein Fräulein. Die deutsche Nation ist trotz aller ihrer großen Schwächen dennoch die erste in der Welt.‘

Wir schwärmten eine lange Stunde in Patriotismus und Kunsterinnerungen. Ich Esel merkte noch immer nicht – so unglaublich das Ihnen auch vorkommen wird – daß das hübsche Kind in mich verliebt war. Ich hätte ihr wenigstens drei Viertel des Weges zur Erklärung dessen entgegenkommen sollen, und ich erschwerte ihr dieselbe auf eine unverantwortliche Weise. Aus meiner unbefangenen Art mit ihr zu reden mußte sie natürlich am Ende schließen, daß mein Herz vergeben sei, und so beurlaubte sie sich endlich mit dem großmüthigen Anerbieten ihrer Geldmittel, welche sie mir unbeschränkt zur Verfügung stellte, da sie an irdischen Gütern hinlänglich gesegnet sei.

Auch das wird Ihnen unglaublich vorkommen, daß ich von diesem Anerbieten Gebrauch machte. Ich wollte gern eine Kunstreise durch Nordamerika und Deutschland machen, um mich dabei in meinem Fache zu vervollkommnen, und ich nahm die Mittel dazu von ihr an. Bei den zahlreichen Zusammenkünften unter vier Augen, die ich vor meiner Abreise mit ihr hielt, hätte man eine allmähliche Annäherung an einander erwarten sollen, die von selbst zur Liebeserklärung führte. Aber sie beherrschte sich von nun an meisterhaft, und ich lebte ausschließlich in meinem Kunsteifer, und da sie einen so reichausgebildeten Geist hatte, gab es immer zwischen uns Gesprächsstoff genug, der als Blitzableiter der Liebesleidenschaft dienen konnte, so daß ich nur die reine Wahrheit ausspreche, wenn ich sage, wir waren am Ende weiter von einander entfernt als am Anfange. Ich war anderthalb Jahre auf Reisen. Ich kehrte zurück und fand in ihrer Gesellschaft öfter einen jungen Kaufmann, der ihr offenbar den Hof machte, und mit dem sie ein klein wenig schönthat.

‚Alice,‘ sagte ich endlich zu ihr, und die Gluth der Eifersucht stieg mir in die Wangen – ‚so oft ich den Gecken bei Ihnen sehe, ist mir, als müsse ich ihn kopfüber zur Thür hinauswerfen.‘

Sie sah mich eine lange Weile stumm an und Ironie und Erstaunen schienen in ihren Zügen abzuwechseln. Endlich war sie ihrer Sache gewiß und sagte trocken: ‚Ei, warum thun Sie’s denn nicht?‘

Da fiel mir’s wie Schuppen von den Augen. Ich wurde glühendroth. Ich schlug mir mit der geballten Faust vor den Hirnschädel, als wenn ich sagen wollte: O du Mammuth von einem Dummkopf! O du Leviathan von einem Gimpel! O du Nonplusultra eines blinden Hessen! Dann erst gewann ich die Sprache. ‚Erst heute wage ich, Ihnen, Alice, gegenüber an Liebe zu denken!‘

‚Und ich koche für Dich Eisberg schon seit Jahren wie ein Vulcan!‘ rief sie schalkhaft. ‚Ich glaube gar, wenn ich nicht mit dem Stutzer ein wenig Komödie gespielt hätte, Du wärest nie in Fluß gekommen!‘

‚Das aber will ich jetzt mit einem Male nachholen!‘

Die Sündfluth feuriger Liebeserklärungen, mit der ich nunmehr dieses Gelübde erfüllte, gehört jedoch nicht hierher. Der Vorhang fällt, sobald das Jawort gefallen und das wahre Stück des Lebens geht erst an, wenn das Vorspiel, das gewöhnlich allein auf die Breter kommt, die die Welt bedeuten, geschlossen ist.“

Soweit unser Komiker.




Der Blutritt.


„Herr Pater, verzeihet mir eine Frage. Wir gehen heut’ wieder zur Weingartener Procession des heiligen Blutes, und es ist mein fünfzigst Mal heut’, daß ich den Bittgang mitmache. Und gerade da drüben, wo der vierte Evangeliumsaltar steht, sind meine Felder hart daran, und noch jedes Jahr sind meine Rosse dabei gewesen, denn in jüngern Jahren ritt ich sie selbst mit meinen Knechten und später mit meinen Buben, die auch heut’ beim Zug sind. Aber, Herr Pater, die Verheißung von dem heiligen Wunder, daß die Felder, die damit gesegnet sind, vor Gewitterschaden und Hagelschlag, und die Rosse, die dabei geritten und geführt werden, vor Krankheit bewahrt wären dasselbige ganze Jahr, das hat sich an dem Meinigen halt doch nicht allweil erwiesen. Und da wollt’ ich Euch fragen, Herr Pater, was ist wohl daran schuld?“

„Daß Ihr’s wisset, Alter, das heilige Gottesblut ist nicht schuld daran, sondern die schlechte Welt, die keinen Glauben mehr hat an das Wunder. Haben sie nicht drüben im Badischen sogar den Glauben vertrieben aus den Schulen? Wie soll der Glaube wachsen in den Kinderherzen, wo die Schule nicht im Schatten der heiligen Kirche steht? Und habet Ihr nicht selbst gezweifelt an dem Wunder? So weit ist schon der Same des Unkrauts geflogen, den sie drüben ausstreuen zum Verderben der heiligen Kirche und ihrer geweiheten Diener. Soll das heilige Blut freudig Wunder thun an Undankbaren, die den Zorn Gottes verdient haben? Ihr selbst seid schuld am Schaden Euerer Felder und Rosse, das wisset, Alter!“

Schweigend und gebeugten Hauptes schritt der alte Bauersmann seines Wegs, und stolz und selbstbewußt erhob der Mönch das Auge zum Himmel. Als er mich, den städtischen Fremden, als einen Zeugen seiner Lehre in der dahinwandelnden Schaar sah, warf er mir einen unfreundlichen Blick zu und wandte sein Antlitz ab.

Das geschah vor wenigen Jahren an einem Himmelfahrtstage auf dem Wege vom Ravensburger Bahnhofe nach dem Marktflecken Altdorf in Oberschwaben, der heute so belebt war, wie seit Jahrhunderten an diesem Tage, denn es ist der Vorabend eines der berühmtesten Kirchenfeste jener Lande: des Blutritts von Weingarten.

Wenn das Alter allein eine Sache heiligen könnte, so würde die Reliquienverehrung den vollsten Anspruch darauf haben: in etwa dreißig Jahren kann dieselbe ihr dreizehnhundertjähriges Jubiläum begehen. Der erste Papst des Namens Gregor, der [364] durch Hebung der Kirchenmacht sich den Beinamen des Großen erworben, war nicht nur der poetische Erfinder des Fegefeuers, sondern auch der Vergöttlicher der Reliquien; seine Lehre schrieb zuerst ihnen wenigstens jene Heilwirkungen zu, durch welche die beinahe göttliche Verehrung dieser Dinge herbeigeführt wurde, denen bis dahin nur ein geschichtlicher und Pietätswerth zugekommen war. Der Eifer nach Erforschung von Ueberresten heiliger Personen und der Heiligengeschichte überhaupt angehöriger Gegenstände ist bekanntlich durch die von vielen Wundern begleitete Auffindung des Marterkreuzes Christi angeregt worden, die um das Jahr 326 der Kaiserin Helena gelungen war, jener längst heilig gesprochenen Mutter Constantin’s des Großen, die, nach der Legende, eine Gastwirthstochter aus Trier, der Stadt des heiligen Rocks, gewesen sein soll. Schon damals begann die Hervorsuchung zahlreicher Gebeine, Haare, Nägel, Kleidungsstücke und sonstiger Hinterlassenschaft von Heiligen und Seligen; als aber der römische Katechismus den Lehrsatz erhielt, „daß die Reliquien gleiches Vertrauen wie die Heiligen selbst verdienten, weil die Wunderkraft der Heiligen oft auf ihre Ueberbleibsel übergehe, so daß sie Mittel und Organe würden, durch welche Gott den Nothleidenden beistehe“, und seit demgemäß jede katholische Kirche oder Capelle wenigstens eine Reliquie besitzen mußte, kam dem Glauben und Aberglauben die Speculation zu Hülfe, welche für den Reliquienhandel förmliche Reliquienfabriken in’s Leben rief. Daß man dabei nicht immer klug und noch weniger gewissenhaft zu Wege ging, beweisen die Mißlichkeiten, daß von manchen Heiligen mehrere Köpfe, von Andern drei und vier Arme und Beine vorhanden sind; daß die Masse des Holzes, welches man als vom heiligen Kreuze stammend aufbewahrt, zum Bau eines Hauses hinreichen könnte; daß man sogar bis in’s Paradies zurückgriff und Reliquien von Adam und Eva feil bot; daß man auf schwer glaubliche Absonderlichkeiten verfiel, wie auf das Fläschchen Milch aus den Brüsten der Madonna, welches man im Kloster zu Fleury aufbewahrt, auf jene Thräne aus dem Auge Christi, die er am Grabe des Lazarus geweint haben soll und die man noch heute im Kloster Vendome zeigt, auf jene Flasche mit Blut Jesu, die das Kloster Reichenau besitzt. Allerdings suchte die Kirche ihre Gläubigen vor Betrug zu wahren, indem sie besondere Merkmale aufstellte, die allen echten Reliquien anhaften sollten; dazu gehört namentlich Unverweslichkeit und wunderbar lieblicher Geruch derselben; selbst die Feuerprobe nahm man mit ihnen vor, und diese mag sich, wenn redlich angewandt, am besten bewährt haben.

Eine solche Reliquie, ein Fläschchen mit einigen Tropfen Blutes aus den Wunden Christi, ist es, die der Kirche des ehemaligen Klosters Weingarten bei Ravensburg jährlich an dem Himmelfahrts- und dem darauf folgenden Tage seit nun fast acht Jahrhunderten die Wallfahrerzüge zu Fuß und Roß aus Baiern, Würtemberg, Baden und der Schweiz zuführt. Diese Reliquie hat ihre eigene Geschichte, die wir unseren Lesern nicht vorenthalten dürfen, weil sie uns die damaligen Häupter der Christenheit in dem Ernst ihres Reliquienglaubens zeigt.

Als Christus sterbend am Kreuze hing und der römische Kriegsknecht ihm mit der Lanze in die Seite stieß, stand unterm Kreuze der Hauptmann der Kriegsknechte, Longinus, der das aus der Wunde hervorquellende Blut in einem Gefäße von Glas auffing und sorgfältig aufbewahrte, aus Achtung vor dem Todten, dessen Glaube ihn besiegt hatte. Er trat zu der kleinen Schaar der Christen über, floh aber, gleich nach seiner Taufe, nach Mantua, um sein Kleinod vor den Verfolgungen der Juden und Heiden zu retten, und als er es auch dort nicht mehr sicher glaubte, verbarg er es in einem bleiernen Kästlein in die Erde. Hier lag es siebenhundert Jahre. Ein Wunder bewirkte, daß Papst Leo der Dritte es hervorholen und in der St. Andreaskirche zu Mantua zur Verehrung aufstellen konnte. Als aber neue Gefahr dem heiligen Blute drohte, rettete man es abermals in den Schoos der Erde, wo es nun ruhte, bis ein neues Wunder es dreihundert Jahre nach dem ersten Auferständniß wiederum aus der Vergrabung erhob. Der heilige Andreas, der den größten Schatz seiner Kirche nicht länger entbehren wollte, erschien einem Blinden, Namens Adelbero, entdeckte ihm die Stätte, wo das heilige Blut verborgen liege, und verhieß ihm die Wiederherstellung seines Augenlichts, wenn er dieses Kleinod an’s Licht fördere. Adelbero offenbarte sein wichtiges Geheimniß dem Bischof von Mantua, dieser berichtete es dem heiligen Vater, Leo dem Neunten, nach Rom, und der Papst lud den römischen Kaiser der deutschen Nation, Heinrich den Dritten, zur Feier der Emporhebung dieser Reliquie ein, welche dann in Beisein vieler Bischöfe vor sich ging. Dies geschah am 18. März 1049. – Das aufgefundene Blut wurde nun in drei Theile getheilt, wovon einen der Papst, den andern der Kaiser und den dritten verdientermaßen der heilige Andreas zu Mantua erhielt. Der Antheil des Kaisers Heinrich kam an den Grafen Balduin von Flandern und durch dessen Tochter Judith an deren Gemahl, Herzog Welf von Altdorf, der im Jahr 1055 sein Bergschloß Weingarten den Benedictinern von Altomünster zu einem Kloster und diesem Kloster am 31. Mai 1090 den köstlichen Schatz des heiligen Blutes übergab.

Nur wer dies Alles weiß und die Macht kennt, welche der Glaube an ein Wunder auf ein Volk ausübt, das in diesem Glauben geboren, erzogen und alt geworden, findet kein Wunder mehr in der Möglichkeit eines Festes, wie es damals an meinem, weil es deutsches Volk war, das es so inbrünstig beging, theilnehmend beobachtenden Auge vorüberzog. – Ich hatte kaum Zeit, die Lieblichkeit der Landschaft zu genießen, so nahm heute die Staffage derselben meine Aufmerksamkeit in Anspruch. Die Landleute bildeten die Hauptmasse der Waller und Gäste, und da sie aus fast allen Uferstaaten des nahen Bodensees herkamen, so half schon die Verschiedenheit der Trachten zu einer außerordentlichen Buntheit des Bildes. Im geistigen Ausdruck zeigte sich unverkennbar der feierliche Ernst der Gläubigen und die schaulustige Neugierde der ketzerischen Eindringlinge, welche von der hier zusammenströmenden Menschenfluth aus der akatholischen Nachbarschaft mit herbeigeschwemmt waren. Unwillkürlich bot sich mir der Vergleich dar mit einem ähnlichen Feste in der Nähe meiner Heimath und am selben Tage, mit der großen Himmelfahrts-Wallfahrt nach Vierzehnheiligen in Franken, einem berühmten Wallfahrtsorte zwischen dem erzprotestantischen Coburg und dem erzbischöflichen Bamberg, dem in letzter Zeit oft genannten Schlosse (ehemaligen Benedictinerkloster) Banz gegenüber. Nur der Volkscharakter machte im ganzen Verlauf des Festes seine Verschiedenheit geltend, denn während die unteren Volksschichten der derben Franken von dem tiefen kirchlichen Riß, der sie trennt, doch bisweilen zu gegenseitigen unangenehmen Kundgebungen von ihren Standpunkten aus sich hinreißen lassen, welche nicht immer bei Blicken und Worten stehen bleiben und die Anwesenheit zahlreicherer Gensdarmerie erklären, bewegte hier die Menge sich in gemüthlicherem Einklang, entsprechend der milderen Natur des Schwaben und Alemannen. Wo die stärksten Ausnahmen von dieser Regel zu suchen waren, hat das Eingangsgespräch uns verrathen.

Es war ein heißes Stündchen bis nach Altdorf, der Mensch lechzte nach Labung und Ruhe, aber schwer war Beides zu finden. Der Flecken, der etwa dritthalbtausend Einwohner zählt, beherbergte heute die Bevölkerung einer Stadt und war in ein Feldlager verwandelt, denn da längst alle Häuser und Scheunen besetzt waren, so bewerkstelligten Gruppen um Gruppen ihre Niederlassung im Freien. Mich lockten die Thürme von Weingarten, dessen stattliche ehemalige Abteigebäude später eine Waisenanstalt aufnahmen, zu einem Besuch der Wallfahrtskirche. Dort war das heilige Blut ausgestellt, das morgen von einem Priester zu Roß in Procession getragen werden sollte, die deshalb seit undenklichen Zeiten schon der Blutritt heißt. Züge um Züge der Wallfahrer mit ihren Kirchenfahnen drängten sich in das Heiligthum, das mit Weihrauchduft und den Klängen der durch ihre Größe berühmten Orgel (sie hat sechsundsiebenzig Register und sechstausend sechshundert sechsundsechszig Pfeifen) erfüllt war. Und Alles drängte nach dem Blutaltar und sichtlich beglückt war, wer das Gefäß küssen konnte, welches das Wunder einschloß. Tief niedergedrückt von dem Anblick verließ ich die glänzenden Hallen und suchte auch mir eine Labungs- und Ruhestätte, von der ich mich selbst durch den großen Zapfenstreich des Bürgermilitärs, welcher durch die Gassen schmetterte und rasselte, nicht emporlocken ließ.

Schon um drei Uhr am Morgen des Festtages weckte mich eine Reveille, und sofort begann das Leben der Gassen und Straßen. Alles strömte der Wallfahrtskirche zu. Einmal entschlossen, von der ganzen Feier nichts Wesentliches zu versäumen, stürzte ich mich in die ersten Wogen und gelangte glücklich mit bis zum Blutaltar. Es war ein harter Stand in dem Gewoge, bis der Processionsgeistliche erschien. Knieend nahm er das heilige Blut in Empfang, die Kette des prachtvollen Gefäßes wurde ihm um den Hals gelegt.

[365]

Der Blutritt von Weingarten.
Nach der Natur gezeichnet von L. Braun.

[366] So betrat er den Klosterhof und bestieg das für ihn bestimmte weiße Roß, und unter Singen und Beten, Glockenläuten, Böllerschießen und rauschender Musik begann der Umzug. Ihn vollständig zu sehen, war mein letzter Zweck am Ort. Ich eilte voraus und gewann den rechten Standort in der Nähe des ersten der vier Hochaltäre, die als Stationen der Procession auf dem Rundgang, welchen sie durch die Felder des Fleckens zurücklegt, zum Ablesen je eines Evangeliums aufgestellt sind.

Musik eröffnete den Zug; ihr folgte eine Abtheilung des Bürgermilitärs zu Fuß. Hinter diesem wurden reiche und schwere und zum Theil sehr alte und kostbare Kirchenfahnen getragen; dann erschienen ein Crucifixträger und Kirchendiener mit rothen Stablaternen, in welchen „ewige Lichter“ brannten; hinter ihnen schwangen zwei Monstranzbuben Weihrauchgefäße. Nun kam der Priester zu Roß, der den Blutritt hielt und das Gefäß mit dem heiligen Blut hoch emporhob. Alle die Menge, die zu beiden Seiten des Processionsweges stand, fiel auf die Kniee und bekreuzte sich, während der Priester von Zeit zu Zeit mit dem heiligen Blute das Zeichen des Kreuzes machte zum Segen der Menschen und der Felder. Dem Priester zunächst zog eine Anzahl Mönche mit Wachskerzen; ein Nachbar sagte mir, sie seien von St. Gallen und noch weiter her. Ihnen folgte eine Abtheilung berittener Bürgergarde und dieser eine lange, lange Schaar von Bauern zu Pferde –, die, je zwei und zwei reitend, ihren Trachten nach, verschiedenen Länderstrichen angehörten und deren ich über zweitausend zählte. Sie schlossen den eigentlichen Zug, denn alles übrige wallende und betende Volk jeden Alters und Geschlechts umwogte denselben in breitem und langem Strome, bis der Evangeliums-Hochaltar den Lauf hemmte, die Reiter von den Rossen und alle Gläubigen auf die Kniee zwang.

„Wie lange dauert das ganze Fest?“ fragte ich einen Bürger aus Ravensburg, der neben mir Platz genommen hatte.

„Die Procession allein wohl fünf Stunden. Ja, Herr, früher war das eine andere Pracht, als noch der ganze Adel unserer Gegend daran Theil nahm und viele Städte und Ortschaften ihr Militär dazu schickten, Alles im höchsten Schmuck und so zahlreich, daß sie ihr eigenes Lager aufschlugen. Jetzt sehen Sie kaum noch einen Stadtbürger im Zug und selbst die großen Bauern ziehen sich davon zurück. Wenn aber die Procession zu Ende und das wunderthätige Blut wieder in seinem Reliquienschrein verschlossen ist, dann geht die weltliche Lustbarkeit los, bei Fiedel und Faß wird hoch gelebt, so daß Tausende am Abend den Morgen vergessen haben. Behüt’ Sie Gott, Herr!“ Er ging.

War das eine Klage? War’s eine verschämte Huldigung vor dem Geist, der alte Formen sprengt, die ihn zu verkrüppeln drohen? – Ich verließ den Schauplatz dieses priesterlichen Blutritts mit den bangen Gefühlen, welche der Anblick eines kranken lieben Kindes in uns aufregt. Wird es wieder gesunden und gedeihen? – In dreiundzwanzig Jahren kommt ein einunddreißigster Mai, an welchem die Priester von Weingarten das achthundertjährige Jubelfest des Besitzes ihres Wunderbluts begehen können: wird dann ein Papst in Rom noch die Macht haben, Verbrecher an der Menschheit zu Heiligen zu ernennen, und die Priesterschaft den Muth, Weingarten zu einem zweiten Trier zu machen? – „Untröstlich ist’s noch allerwärts!“ und wer den Zustand von Tausenden unserer Volksschulen und neben den zählbaren Höhen die weiten unabsehbaren Tiefen der Volksbildung in Deutschland vor Augen hat, der denkt mit Seufzen an Schiller’s so doppelsinnig wahren und traurigen Ausspruch:

„Die Nacht weicht langsam aus den Thälern!“

H. v. C.




Gedanken über das Curiren von Krankheiten.
1. Die Epilepsie oder Fallsucht.

Leser, lieber Leser! Wenn Du mit Aufmerksamkeit zu lesen und vielleicht gar zu denken gelernt hast, so thue Dir und mir einmal den Gefallen und versuche die nachfolgenden Zeilen aufmerksam durchzulesen und über Das, was ich Dir über das Heilen der Krankheiten erzählen will, ein Bischen nachzudenken, oder wenn Du das nicht kannst oder nicht willst, so wolle wenigstens die Gedanken Anderer über die nachfolgenden heilkünstlerischen Thatsachen mit einiger Aufmerksamkeit anhören. – Natürlich sind diese Zeilen für die Mehrzahl der Heilkünstler, und zwar aller Sorten, nicht geschrieben, da sich diese im unerschütterlichen Autoritätsglauben und im Post hoc, ergo propter hoc Verrannten, wegen ihrer festen Ueberzeugung von der Wahrheit der reinen ärztlichen Erfahrung, niemals belehren und zum Nachdenken über ihre Heilkünstelei bestimmen lassen. Sogar wissenschaftlich gebildete Aerzte, die in der Theorie der wissenschaftlichen Forschung und der Kritik ihr Recht einräumen, wollen doch beim Heilungsgeschäfte nur die sogenannte reine Erfahrung gelten lassen. Nun, wir wollen einmal sehen, was es mit dieser reinen Erfahrung für eine Bewandtniß hat.

Seit Bestehen der Heilkunst sind kranke Menschen bei den allerverschiedenartigsten Heilmethoden und Charlatanerien, – und deren hat es bis heute schon eine recht nette Anzahl gegeben – doch gesund geworden und zwar gesundete bei bestimmten Krankheiten stets so ziemlich dieselbe Anzahl. – Kranke gesundeten, als man überall Geister und Dämonen sah, welche die Krankheiten hervorriefen und deren Einfluß durch Zauberei und magische Kunst, oder aber durch Gebet, Wallfahrten, Reliquien und durch Abziehung von aller Sinnlichkeit bekämpft und überwältigt werden mußte. Sie gesundeten, als fast alle Krankheiten von der Verderbniß der Säfte abgeleitet und mit Bädern, Klystieren, Brechmitteln, Frictionen und Bewegung curirt wurden. Sie gesundeten, als man nur kalte Bäder und das Trinken kalten Wassers, oder auch den Stein der Weisen und die Kabbalah, sowie den Theriak und Mithridat, Arcana und Talismane gegen jede Krankheit anwendete. Sie gesundeten, als die sogen. chemiatrische Schule, die nichts als gährende Elemente im Körper sah und (nach Guy Patin) durch Antimonpräparate mehr Menschen umgebracht haben soll als der dreißigjährige Krieg, gegen die sauren und alkalischen Schärfen in den Kranken zu Felde zog. Und ebenso als Bontekoe die diätetische Regel aufstellte: „Rauche unaufhörlich Tabak und trinke beständig Thee oder im Nothfall Kaffee und bediene Dich des Opiums, so oft Dir etwas fehlt.“ Sie gesundeten, als schweißtreibende, Brech- und Purgirmittel und Aderlässe als die hauptsächlichsten Heilmittel in Mode waren; ebenso aber auch als die ausleerende Methode verworfen und tonische Mittel angewendet wurden; ebenso als man die Krankheiten entweder entzündungswidrig oder aber erregend, mit Opium und China, behandelte; ebenso als fast jede Krankheit für eine Entzündung angesehen und als solche mit Aderlässen und Blutegeln tractirt wurde. Sie gesunden noch jetzt bei der dem gesunden Menschenverstande Hohn sprechenden homöopathischen und bei der geradezu verrückten und gefährlichen, aus blindem Zugreifen und Durchprobiren von wirksamen Arzneistoffen am kranken Menschenkörper bestehenden Rademacher’schen Heilkünstelei, ebenso aber auch bei den Rathschlägen des Dr. Ringseis in München, nach welchem die Krankheiten von der Erbsünde und dem Schlangensamen herkommen und zu ihrer Heilung durchaus der Rückkehr zur Frömmigkeit, der Buße und des Gebetes bedürfen. – Das Komische bei diesem fortwährenden Wechseln der Heilmethoden ist nun aber, daß die Anhänger einer jeden sich für die Richtigkeit der ihrigen todt schlagen lassen und meinen, sie allein hätten den wahren Stein der Weisen entdeckt und wüßten die Kranken richtig zu heilen. Ja, sie behaupten wohl gar im Ernste, daß die Anhänger der früheren und anderer Heilmethoden Narren und Mörder seien. Wäre dem so, die Welt müßte längst ausgestorben sein, da nach dieser Behauptung alle Aerzte bis auf die neueste Zeit Giftmischer und Todtschläger gewesen wären.[1] (Steudel.)

Sehen wir uns nun nach den Heilmitteln um, welche die Jetztzeit gegen die Krankheiten in’s Feld zu schicken hat und die sie aus allen [367] Welttheilen herbeiholt, so ist am auffallendsten, daß von allopathischen wie von homöopathischen Autoritäten bei ganz derselben Krankheit eine Unmasse der verschiedenartigsten Arzneien als heilsam empfohlen wird, während wiederum ein und dasselbe allopathische oder homöopathische Mittel bei den allerverschiedenartigsten Krankheiten heilsam sein soll. Es fehlt nicht mehr viel, um dahin zu kommen, daß jedes Mittel alle Krankheiten heilt und jede Krankheit durch alle Mittel zu heilen ist, so daß es bei dem stets zunehmenden Heilmaterial schließlich zur Vereinfachung der Arzneimittellehre hinreichend sein wird, blos anzugeben, welche Krankheit ein Mittel nicht heilt oder welches Mittel bei den betreffenden Krankheiten nicht heilsam ist. Und was der Triumph der Heilkunst ist, so existiren gerade gegen die unheilbarsten Krankheiten die allermeisten und kräftigsten Mittel. Man höre über den Arzneigebrauch eine medicinische Autorität, den Geh. Med.-Rath Wunderlich; er schreibt: „Es giebt keine Krankheitsform, die nicht ohne sogenannte Medicamente geheilt werden kann und bei welcher nicht dieselben durch die tausend anderen Hülfsmittel, welche dem rationellen Arzte zu Gebote stehen, ersetzt werden könnten, und in der Mehrzahl der Fälle ist die Verordnung von Medicamenten geradezu Nebensache, in einer nicht kleinen Zahl entschieden nutzlos und bloße Concession, welche bei dem Aberglauben des Patienten und zur Befestigung seines Vertrauens oft unerläßlich ist.“

Sehr lehrreich ist’s auch, die Wirkungsgeschichte verschiedener Arzneistoffe zu verfolgen. Die meisten derselben hatten beim Beginne ihrer Laufbahn die Fähigkeit, Wundercuren zu verrichten, ja wahrhaft göttliche Wirkungen zu thun und alle früheren gegen dieselben Krankheiten angewandten Mittel ganz und gar entbehrlich zu machen. Sobald sie aber ihre Jugendkraft verloren und eine Zeit lang in den Büchsen und Bullen der Apotheken zugebracht hatten, wurden sie zur verlegenen Waare und wollten die Wirkung, die sie anfangs in so bewundernswerthem Grade zeigten, durchaus nicht mehr äußern. Daher kommt es denn auch, daß die Apotheken hauptsächlich Stapelplätze für alte zur Ruhe gesetzte Arzneien sind, die nur durch den Herrn Apothekenrevisor vor dem Verschimmeln gerettet und durch das Examen über Arzneimittellehre auf kurze Zeit dem Gedächtniß der Mediciner eingepaukt werden.

Das fortwährende Auftauchen neuer Heilmethoden und die stete Vermehrung des Heilmaterials, – was übrigens nach und nach eine solche Unsicherheit und Willkür im Heilkünsteln erzeugt hat, daß eigentlich gar keine Heilgesetze mehr gelten und Jeder thun kann, was er will, zumal da auch bei der unsinnigsten Behandlung einer Krankheit der Heilkünstler eine Autorität für sein Treiben citiren kann, – es beweist doch recht deutlich, daß die früheren Mittel und Methoden nichts oder nicht viel getaugt haben. Noch stutziger muß man aber werden, wenn man sieht, wie zu ein und derselben Zeit für ganz dieselben Krankheiten so ganz verschiedenartige Heilmethoden existiren, daß, wenn die eine die richtige und zweckmäßige wäre, die andern nothwendig unheilbringend sein müßten. – Betrachtet man ferner das Curiren, selbst wissenschaftlich gebildeter Heilkünstler, so erstaunt man, mit wie wenig Lieblingsheilmitteln der eine Arzt alle Krankheiten zu heben sucht, während ein anderer im Jahre mehrmals bei ganz derselben Krankheit sein Heilmaterial wechselt. Von ganz demselben Mittel sieht der Eine große, der Andere gar keine Erfolge, und was der Eine bei einer Krankheit, die sich naturgemäß in ihren Erscheinungen von Zeit zu Zeit ändert, diesem Mittel zuschreibt, schreibt der Andere jenem zu, obschon in der Regel weder das eine noch das andere Mittel Einfluß auf jene Umänderung hatte. Leider kommt es bisweilen auch vor, daß ein Arzt sich für ein einziges Mittel in einem solchen Grade fanatisirt, daß er fast jedes Uebel damit zu heben trachtet. So bestreichen z. B. Jod-Maniaci neuerlich fast bei jedem innern Leiden (selbst bei verdorbenem Magen) die äußere Haut über dem Sitze des Uebels mit Jodtinctur und machen dem Kranken ganz unnützer Weise sehr oft heftige Schmerzen und Hautentzündung. – Spaßhaft ist es, das Gebahren mancher, ja sogar vieler Aerzte von wissenschaftlicher Bildung (also Allopathen) zu beobachten, wenn sie selbst von Krankheit heimgesucht werden. Die, welche bei ihren Patienten die wirksamsten Arzneien als ganz unentbehrlich ohne Zögern verordnen, haben nicht die Courage bei ihrem ganz ähnlichen Leiden dieselben Mittel selbst zu schlucken. Ja es giebt deren, die, wenn sie sich auch noch so schwer krank fühlen, doch durchaus nicht von einem Collegen genau untersucht und über ihren Zustand unterrichtet sein wollen, obschon sie in ihrer Praxis auf eifriges Untersuchen und rechtzeitiges Coupiren der Krankheit dringen. Traurig ist es aber, mit ansehen zu müssen, wie gar nicht selten bei Krankheiten, deren Wesen dem Heilkünstler ganz unbekannt ist, von diesem gerade die wirksamsten Arzneien auf gut Glück hin durchprobirt werden.

Sehen wir uns schließlich die curirende Menschheit und ihre Heilerfolge in der Nähe an, so können wir nicht wegleugnen, daß die unwissendsten Charlatane mit ihrem blödsinnigen Hokuspokus mit ziemlich demselben Erfolge Krankheiten behandeln, wie die gelehrtesten Doctoren, Hof-, Sanitäts- und Medicinalräthe. Daher kommt es denn, daß die Homöopathen mit ihren Nichtsen, der unstudirte Sanitätsrath und vormalige Postsecretär Lutze mit seinem homöopathischen Lebensmagnetismus, der selige Schuster Lampe und seine Nachfolgerin mit dem Kräutertranke, die Frau Graf mit ihrem Abführmittel, Herr Hoff mit seinem Malzextracte, Herr Daubitz mit seinem Liqueur, irgend ein saurer Gurken- und marinirter Heringshändler mit seinen Kaltwassereinwickelungen, die Benedictiner-Mönche der Abtei von Fécamp mit ihrer Benedictine, Herr Baunscheidt mit seinem Lebenswecker, Herr Momma mit seinem Dynamom, das Hallische Waisenhaus mit seinen Goldtropfen, Lebenspulver und Lebensbalsam, aus der Ferne curirende Quacksalber mit und ohne Doctordiplom etc., etc., daß sie alle, obschon sie nur mit nichtsnutzigem Zeuge auf die abergläubische Dummheit kranker Menschen speculiren, doch ihre Lobhudeler haben und öffentlich für ihre Heilungen Danke empfangen.

Nun, Leser! Wenn Du Dir Deinen gesunden Menschenverstand noch nicht ganz abgewöhnt hast und Dir gesagt wurde, daß von jeher das Verhältniß der Genesenden und Sterbenden bei den verschiedenartigsten Behandlungsweisen unter den Kranken im großen Ganzen so ziemlich dasselbe blieb und daß unwissende Laien durch den blödsinnigsten Unsinn und die allertollsten Gaukeleien, durch Beten, Besprechen, Bestreichen und Anhauchen Kranke herstellen; wenn Dir ferner versichert wird, daß auch die schwersten Krankheiten ohne allen Arzneigebrauch heilen können und daß gar nicht selten von Aerzten aufgegebene, scheinbar dem Tode verfallene Kranke ganz von selbst wieder gesund werden, – sollte Dir denn da wirklich nicht die Frage einfallen: dürfte die Heilung der Krankheiten nicht etwa von ganz andern Ursachen abhängig sein, als von den medicinischen Lehrsätzen und ihren sich stets widersprechenden Heilmitteln und Heilmethoden? – Und so verhält sich’s denn auch. Schon Hippokrates sprach es (vor mehr als zweitausend Jahren) aus: „Die Natur ist es, welche die Krankheiten heilt.“ Eine solche Heilung kommt aber dadurch zu Stande, daß jede krankhafte Veränderung in unserm Körper nach ganz bestimmten organischen Gesetzen solche Processe nach sich zieht, durch welche jene Veränderung entweder vollständig oder nur theilweise, bald schneller, bald langsamer entfernt wird (d. s. die sogenannten Naturheilungsprocesse). Freilich tritt nicht immer Heilung in Folge jener secundären oder reactiven Processe ein, leider ziehen sie oft auch den Tod oder doch bleibende Entartungen (organische Fehler) nach sich. Die günstigen Resultate, welche bei Krankheiten die unverwüstliche Natur so häufig trotz des unsinnigsten Curirens hervorbringt, schreiben die Heilkünstler immer nur sich selbst und ihren Mitteln und die Charlatane ihrem Hokuspokus zu. Diese Resultate sind es auch, die jeden Unsinn in der Heilkünstelei aufkommen lassen. Man wolle doch endlich einmal merken, daß es keine noch so gefährliche, noch so zerstörende Krankheit giebt, die nicht unter günstigen Bedingungen und zwar ohne alle Arznei heilen könnte. Diese Bedingungen aufzusuchen, herbeizuführen und durch die verschiedenartigsten diätetischen Hülfsmittel (zu denen Luft, Licht, Nahrung, Wärme, Kälte, Wasser, Ruhe, Bewegung etc. gehören) zu fördern, das ist, abgesehen von der Verhütung von Krankheiten, die Aufgabe eines rationellen Arztes (des Arztes der Zukunft), nicht aber die, auf einem bestimmten Arzneimittel hartnäckig bei einer bestimmten Krankheit zu bestehen, oder an allen möglichen Mitteln aus allen Classen der organischen und unorganischen Natur herumzurathen, oder gar alle Krankheiten nach einer und derselben Schablone (wie z. B. die Kaltwasser-Quacksalber) zu behandeln. Zu einem rationellen Arzte paßt nun aber keine alte Frau, kein Schuster und Dütchenkrämer, und dergleichen, sondern nur ein in der medicinischen Wissenschaft gehörig unterrichteter Mann. Wenn das Wirken des Arztes wirklich ein segensreiches werden [368] soll, so ist es durchaus nöthig, daß das Publicum endlich den Glauben an medicinische Wundercuren vollständig aufgiebt und zu der Ueberzeugung kommt, daß im menschlichen Körper Alles natürlich und nach ganz bestimmten, unabänderlichen Gesetzen vor sich geht. – Uebrigens will Verfasser hiermit erklärt haben, daß er, obschon der ärgste Feind so ziemlich aller gegen bestimmte Krankheiten empfohlener wirklich wirksamer (deshalb aber nicht heilsamer) Arzneistoffe, doch den großen Segen nicht verkennt, den örtlich wirkende und beschwerliche Krankheitserscheinungen hebende oder lindernde Medicamente schaffen können. Auch hat er durchaus nichts dagegen, wenn dummen Leuten zur Beruhigung indifferente Mittel verschrieben werden. Ausführlicheres hierüber siehe in Gartenlaube Jahrg. 1855. Nr. 25.

Unter den Krankheiten, gegen welche eine Unmasse von legalen und illegalen, veröffentlichten und geheimen und meist angeblich untrüglichen Heilmitteln existiren, trotzdem daß auch nicht ein einziges wirklich heilsam ist, nimmt

die Fallsucht oder die Epilepsie

so ziemlich den ersten Platz ein. Und woher kommt es, daß gegen diese für den Arzt zur Zeit unheilbare Krankheit so viele Mittel als wirklich heilsam empfohlen und ausposaunt werden? Das kommt daher, weil die Natur gar nicht selten der Epilepsie plötzlich ein Ende macht und daß nun dasjenige Arzneimittel und Verfahren, sowie derjenige Hokuspokus, kurz Alles, was gerade zu dieser Zeit, wo die Krankheit von selbst verschwand, am Kranken versucht wurde, als Heilmittel betrachtet wird. Und hier haben wir denn das dem gesunden Menschenverstande so oft Hohn sprechende Post hoc, ergo propter hoc (weil’s darauf kommt, darum’s auch daraus kommt; oder: weil darnach, also auch darum; s. Gartenl. 1859 Nr. 33 und 38), wodurch die dumme Menschheit auch bei der blödsinnigsten Heilmethode als Beweis für deren Heilsamkeit zu sagen wagt: ja, es hat aber doch geholfen.

(Ueber Epilepsie in einer der nächsten Nummern.)

Bock.




Blätter und Blüthen.


Eine Erb-Weltgeschichte des deutschen Volkes. In einer traurigen und fast hoffnungslosen Zeit deutschen Volkslebens, in den Jahren 1800 bis 1805, ging aus dem Arbeitszimmer eines einfachen Privatgelehrten zu Berlin ein Buch hervor, welches den bescheidenen Titel trug: „Weltgeschichte für Kinder und Kinderlehrer“. Karl Friedrich Becker hieß ihr Verfasser; er war 1777 in Berlin geboren und starb dort im preußischen Unglücksjahre 1806. – Der Mann gehörte weder zu den durch Staats- und gesellschaftliche Stellung ausgezeichneten Persönlichkeiten, noch zu den namhaften Berühmtheiten unserer Literatur: sein Buch aber sollte bedeutend über seine eigene Bedeutung hinausragen und selbst eine weit reichere Entwickelungsgeschichte erlangen, als die Lebensgeschichte seines Verfassers gewesen.

Die Becker’sche Weltgeschichte ist eines jener Bücher, von denen Jedermann einmal gehört hat, das Viele besitzen und noch weit Mehrere sich wünschen. Dieses anfangs für anscheinlich so engen Wirkungskreis beplante Geschichtswerk ging aus den Händen der „Kinder und Kinderlehrer“ in die Familien über und setzte sich in den Bürgerhäusern so fest, daß der erfahrungskluge Buchhandel die Herren Gelehrten auf dasselbe aufmerksam machte, um den Einfluß, den dasselbe auf die allgemeine historische und sociale Bildung des deutschen Volkes zu gewinnen begann, nicht durch Veraltung des Buches wieder erschlaffen zu lassen. So erfuhr denn Becker’s Weltgeschichte durch eine Reihe von Jahren und Gelehrten fortwährend Umwandlungen und Fortsetzungen, so daß es von den ursprünglich neun Bänden, wie sie Becker’s Hand geschrieben hatte, bis zu achtzehn Bänden anwuchs. Die Männer, die sich nach einander um die „Becker’sche Weltgeschichte“ verdient machten, waren Joh. Gottfr. Woltmann, Joh. Wilh. Loebell, Karl Adolf Menzel, Max Duncker, Eduard Arnd und Adolf Schmidt (Professor in Jena), der gegenwärtige Oberredacteur des Werkes. Bei der achten Auflage desselben waren außerdem noch Gustav Hertzberg für die Umarbeitung der alten Geschichte und Nasemann in Halle für die des Mittelalters herangezogen worden.

Ein solches Zusammenwirken von ausgezeichneten Kräften für das Buch eines Mannes ist der beste Beweis seines ungewöhnlichen Werths. Und trotz der vielen Geister unter dem einen Dach ist das von ihnen ausgebaute Haus kein ungleichartiges Durcheinander geworden, sondern der Becker’sche Grundplan des Gebäudes ist in treuer Pietät und Beachtung des durch den Erfolg Bewährten beibehalten, sein Ideal einer Weltgeschichte, das nicht die Vollständigkeit des Stoffs, sondern die scharfe Hervorhebung und detailreiche Schilderung einzelner Haupterscheinungen war, blieb geschont, und so ist es noch heute, wie in der ersten Auflage des Buchs, möglich, vermöge seiner lebensvollen Darstellung und Hervorhebung des Lebensvollen mit den handelnden Personen der Geschichte mitzufühlen und mitzuhandeln. Dagegen war es der Nachfolger Becker’s Hauptverdienst, das Buch auf der Höhe der jeweiligen historischen Forschung zu erhalten, oder, wie Duncker sich ausdrückt: jederzeit mit den sich höher wölbenden Bogen der Wissenschaft auch ihre Giebel emporzubringen.

Ein Geschichtswerk, das so gesunden Boden in der Familie und in der Gelehrtenstube gefunden hat, wird fortwachsen, es wird werden, was wir es genannt haben: eine Erb-Weltgeschichte des deutschen Volks, und als eine solche empfehlen wir sie allen deutschen Bildungsfrohen dies- und jenseits der Meere.




Für Freiligrath!


Den Dichter will ich heute preisen,
Dem mit Bewundrung Ihr gelauscht,
An dessen frischen Zauberweisen
Ihr euer Herz gelabt, berauscht.

5
Bald ist sein Lied der schlanken Palme

Im heißen Wüstensande gleich;
Bald rauscht es wie des Kornes Halme,
An Lerchenschlag und Segen reich.

Wohl saß er einst beim Königsmahle,

10
Doch nicht berauscht von Gunst und Wein

Ging mannesstolz er aus dem Saale,
Wie er gekommen – arm und rein.
Und wieder griff er in die Saiten
Und sang die alte Melodie:

15
„Die Freiheit hoch für alle Zeiten!

Im Volk nur lebt die Poesie.“

Das Opfer bracht’ er ohne Zagen;
Verbannung, Aechtung, Sorg’ und Noth,
Das Schwerste hat er leicht getragen,

20
Wenn er nur Arbeit fand und Brod.

Wie einst Apoll nach alter Mähre
Erschien in niedrer Hirtentracht,
So schuf sein Sohn das Werk, das schwere,
Am heißen Tag und – sang zur Nacht.

25
Nun ist versiecht die kleine Quelle,

Das Feld verdorrt, das ihn genährt.
Auf, Deutschland, zeige jetzt zur Stelle,
Wie man bei Dir den Dichter ehrt!
Gieb’ nicht Almosen, deine Schulden

30
Bezahl’ nur, lös’ den Wechsel ein!

O Schmach, die nimmermehr zu dulden,
Reichst du statt Brod ihm – einen Stein!

Max Ring.




Freiligrath-Dotation.

Bei dem Barmer Haupt-Comité sind wiederum eingegangen: Von Badegästen in Wildungen 13 Thlr., Sammlung durch Hrn. C. Hecker in Bonn 109 Thaler 10 Ngr., Dr. S. in Bedburg 10 Thlr., G. H. in Bonn 10 Thlr., W. W. in Barmen 10 Thlr, F. R. das. 1 Thlr., E. C. das. 10 Thlr., A. C das. 10 Thlr., F. W. das. 5 Thlr., H. B. S. das. 10 Thlr., C. B. das. 5 Thlr., W. N. das. 5 Thlr., W. v. E. das. 150 Thlr., F. v. E. das. 50 Thlr., C. H. das. 5 Thlr., H. S; das. 10 Thlr., J. H. das. 5 Thlr., W. K. das. 2 Thlr.

Bei der Redaction der Gartenlaube; M. in Worms 3 Thlr., Tosca in Berlin 3 Thlr., Schwarz in Bendorf 2 Thlr. 15 Ngr., Sammlung der Weimar. Zeitung (darunter eine Freundin des Dichters mit 25 Thlr.) 39 Thlr. 5 Ngr., Familie San Galli in St. Petersburg 70 Rubel=63 Thlr., Erlös eines Musikalischen Abends in Werther 43 Thlr. 15 Sgr., Sängerverein in Königsberg 25 Thlr., aus Würzburg, von einem Frauen-Comité 187. fl. 30 kr. – Außerdem hat der Verleger von Freiligrath’s herrlichem Buche: „Ein Glaubensbekenntniß“, Herr Victor v. Zabern in Mainz, zu Gunsten der Dotation 50 Exemplare des Buches zur Disposition gestellt, die wir den Freunden des Dichters à 1 Thlr. offeriren.


Die Redaction.




Inhalt: Das Geheimniß der alten Mamsell. Novelle von E. Marlitt. (Fortsetzung.) – Im Golfe von Neapel. – Bild und Wort von P. Thumann. Mit Illustration. – Deutsch-amerikanische Lebensläufe. Von Adolf Douai. 2. Ein Schauspieler. – Der Blutritt. Von H. v. C. Mit Abbildung. – Gedanken über das Curiren von Krankheiten. 1. Die Epilepsie oder Fallsucht. Von Bock. – Blätter und Blüthen: Eine Erb-Weltgeschichte des deutschen Volkes. – Für Freiligrath. Von Max Ring. – Freiligrath-Dotation.



Verantwortlicher Redacteur Ernst Keil in Leipzig. – Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.

  1. Wer ausführlicher über die Heilkünstelei und Heilkunde unterrichtet sein will, dem empfehlen wir „Die medizinische Praxis, ihre Illusionen und ihr Streben nach Gewißheit. Von Dr. Steudel.“