Die Gartenlaube (1868)/Heft 23
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No. 23. | 1868. | |
Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.
Solche Vorstellungen bestürmten die Seele der unglücklichen
Prinzessin, welche ruhelos, das schöne Haupt auf ihren Arm gestützt,
die bange Nacht durchwachte. Wohin sie bei dem bleichen
Schimmer der Lampe auf ihrem Tische blickte, umgaben sie die
Erinnerungen an ihre hohe Abstammung, an den unsterblichen
Ruhm ihres gleichsam prädestinirten Geschlechtes, an die großen
Traditionen ihres Hauses.
Gespenstisch schaute von der Wand das Bild des Kaisers auf sie nieder mit den durchbohrenden Adleraugen, vor denen einst die Könige Europas zitterten und Throne wankten, als zürnte er der entarteten Tochter seines Hauses. Erschrocken barg sie das Gesicht in ihre Kissen und wagte nicht zu ihm aufzusehen. Neben ihm hing die schlanke, fast leidende Gestalt seines Sohnes, des unglücklichen Herzogs von Reichstadt, der langsam dem nahen Tode entgegensiechte, und dort das Bild des Prinzen von Robert’s Hand gemalt, die Züge des Verstorbenen, der traurig sie zu warnen, sie zu mahnen schien, sein Andenken im Grabe zu ehren, seinen edlen Namen vor Beschimpfung zu bewahren.
„Nein, nein!“ rief sie in fieberhafter Aufregung. „Fürchtet nicht, daß ich Euch untreu, Euer unwerth werde. Ich will, ich muß das schwere Opfer bringen. Die Napoleoniden sind nicht zum Glück geboren, das Haus des Tantalus, der an dem goldenen Tisch der Götter saß, ist dem Untergang geweiht. Der Fluch der Größe trifft uns Alle, Alle!“
Der Kampf war ausgekämpft; sie war entschlossen, Robert nicht wiederzusehen.
Kaum graute der Morgen, als sie von ihrem Lager aufsprang und an ihren Schreibtisch eilte, um von ihm für immer Abschied zu nehmen. Während ihre Thränen flossen, schrieb sie ihm, daß eine unerwartete Nachricht sie zwinge, plötzlich Florenz zu verlassen und sich zu ihrem Vater nach London zu begeben, wo sie fortan leben müßte.
Noch an demselben Tage reiste die Prinzessin ab, nachdem sie allein ihrer Mutter die Gründe ihrer Handlungsweise mitgetheilt hatte, die von dieser vollkommen gebilligt und gut geheißen wurden.
Der Brief der Prinzessin traf Robert wie ein Blitzstrahl aus heiterem Himmel, all’ seine Hoffnungen vernichtend, sein Herz zu Tode verwundend.
„O,“ murmelte er zusammenbrechend, „ich habe mich getäuscht, noch einmal wie ein thörichter Knabe von der blinden Leidenschaft verführen lassen. Thor, der ich war, daß ich jemals glauben konnte, daß die Tochter der Napoleoniden den armen Maler lieben, jemals ihren Stolz besiegen würde!“
Eine tiefe Schwermuth lagerte seitdem auf dem Geiste Robert’s, der gleich nach der Abreise der Prinzessin das heitere Florenz mit dem melancholischen Venedig vertauschte. Seine düstere Stimmung harmonirte mit der stillen Trauer der gefallenen Meerkönigin. Ihm gefielen diese öden Paläste, die Zeugen einer untergegangenen Größe, deren Steintreppen mit Seetang sich bedeckten, bespült von der dunklen Fluth der Lagunen; deren Marmorfaçaden langsam verwitterten, durch deren zerschlagene Fenster der Wind gleich dem Seufzer eines Sterbenden zog.
In dem alten Palazzo Pisani hatte er sein Atelier aufgeschlagen, mehr noch für seinen Bruder Aurel, der sein Schüler geworden war, als für sich, da ihn die Arbeit anekelte, obgleich er mit Aufträgen und Bestellungen von allen Seiten überhäuft und bestürmt wurde.
Robert stand damals auf dem Höhepunkt seines Ruhms, er war anerkannt als der größte Künstler der Gegenwart. Seine „heimkehrenden Schnitter in den pontinischen Sümpfen“ hatten auf der letzten Ausstellung in Paris die höchste Bewunderung erregt und wurden als das größte Meisterwerk gepriesen, er selbst mit dem ehrenvollen Namen des modernen Raffael’s begrüßt. Stolz auf die neuen Triumphe seines berühmten Bruders, zeigte ihm Aurel die letzte Nummer des „Journal des Debats“, worin eine glänzende Kritik in den überschwänglichsten Ausdrücken das Bild als die Perle des Louvre bezeichnete und die Verdienste des genialen Meisters feierte.
„Was kümmert’s mich?“ versetzte er mit trübem Lächeln. „Der Ruhm macht nicht glücklich und kann mir nicht den gestörten Frieden meiner Seele wiedergeben.“
„Du mußt zu vergessen suchen,“ mahnte der besorgte Bruder. „An Deiner Stelle würde ich hier eine neue Arbeit anfangen.“
„Mich widern diese ewigen Wiederholungen an, immer nur Räuber aus Sonnino zu malen, immer dieselben Figuren aus der Campagna zu pinseln. Ich bin es müde, nur mich selbst zu copiren. Da hat der Graf Raczinsky aus Berlin wieder die Schnitter bei mir bestellt und mir eine bedeutende Summe dafür geboten. Ich weiß noch nicht, ob ich darauf eingehen soll.“
„Du mußt Dich mehr zu zerstreuen suchen. Die ersten Häuser Venedigs, an der Spitze der Vicekönig selbst, schätzen Deine Gesellschaft als eine Ehre. Graf Cicegnara ist heut’ schon zwei Mal dagewesen, um Dich persönlich zu seiner Soirée einzuladen. Du mußt hingehen, wenn Du nicht den liebenswürdigen Nobile beleidigen willst.“
[354] „Was soll ich da?“ erwiderte er mißmuthig. „Diese geschminkten Larven ekeln mich nur an, diese freundlich grinsenden Gesichter langweilen mich zu Tode, die süßen Reden und banalen Phrasen haben für mich jeden Reiz verloren. Ich weiß ja, was hinter der täuschenden Maske sich verbirgt, falsche Herzen, Lüge und Verrath.“
„So laß uns eine Spazierfahrt auf den Lagunen machen,“ bat der bekümmerte Bruder, um ihn seiner düsteren Stimmung zu entreißen.
„Das ist ein guter Gedanke, das wollen wir thun!“ erwiderte Robert beistimmend. „Nur die Natur, die ewige Fluth vermag noch Trost und Ruhe meinem kranken Herzen zu gewähren. Rufe unseren Gondolier!“
„Wohin soll uns Pietro fahren?“
„Mir ist es gleich, je weiter, desto besser; hinaus zu den Murazzi, an deren steinernen Wällen sich das schäumende Meer seit Jahrhunderten bricht! Wir können in Chioggia oder Palestrina landen und den Fischern zusehen, wie sie von ihren Frauen und Kindern Abschied nehmen, wenn sie auf ihren gebrechlichen Barken sich hinauswagen auf die tückische See. Ich liebe und bewundere diese armen Leute, das gute Volk, von dem ich niemals hätte lassen sollen. Nur bei ihm findet man noch Wahrheit und Treue, Hingebung und Opferfreudigkeit, wie sie Teresina mir bewiesen hat.“
„Wozu diese trüben Erinnerungen?“
„Du hast Recht. Ich will, ich darf nicht mehr an die Vergangenheit denken,“ erwiderte Robert mit einem schmerzlichen Seufzer.
Beide bestiegen die schwarze, sargähnliche Gondel, die lautlos durch die ruhigen Canäle glitt, gleich dem Nachen des die Schatten der Gestorbenen zur Unterwelt leitenden Fährmanns. Von den kräftigen Ruderschlägen Pietro’s getrieben, flogen sie vorüber an dem Kloster der Armenier, wo einst Byron’s rastloser Geist in mönchischer Zurückgezogenheit Ruhe suchte, vorüber an dem Kirchhof der Armen, wo der fanatische Religionseifer den fremden Ketzern, die in Venedig sterben, kaum einen Fuß breit Erde gönnt.
„Ecco San Servolo!“ rief der Gondolier, auf ein düsteres Gebäude deutend, das gespenstisch aus den dunklen, schwarzen Lagunen emportauchte.
Es war das Irrenhaus von Venedig, ein unheimlicher Anblick mit seinen traurigen Bewohnern hinter den eisernen Gitterstäben. Auf der Schwelle saß zusammengekauert solch ein Unglücklicher mit eingefallenen Wangen, hohlen Augen und gestörtem Wesen, in armselige Lumpen gekleidet. Er sang mit wohlklingender Stimme eine tief ergreifende Melodie.
„Das ist der verrückte Musikus,“ sagte Pietro, der ihn zu kennen schien. „Der arme Mensch gab früher Unterricht in den Häusern der Nobili; dabei hat er sich in eine schöne Contessa verliebt und darüber den Verstand verloren.“
„Wollen wir nicht weiter fahren?“ mahnte Aurel, den traurigen Bericht des Gondoliers mit Absicht unterbrechend.
„Nur noch einen Augenblick!“ entgegnete Robert. „Der Gesang des armen Menschen klingt so rührend schön.“
„Das ist wahr,“ bekräftigte Pietro. „Einen besseren Säuger gab es nicht in ganz Venedig, als den närrischen Maestro dort. Wenn er zu der Mandoline seine Stimme hören ließ, waren alle Frauen bezaubert. Kein Wunder, daß er seine Augen bis zu einer Contessa erhob. Die stolze Dame aber trieb nur ihren Scherz mit ihm, und als er eines Tages vor ihr niederkniete, ließ sie ihn durch ihren Bedienten mit Schimpf und Schande aus dem Palast jagen, worüber er seinen Verstand verloren hat.“
„Schweig still!“ gebot Aurel heftig dem geschwätzigen Gondolier.
„Gott schütze mich vor einem ähnlichen Geschick!“ murmelte Robert schaudernd.
Mit einer grellen, herzzerreißenden Dissonanz schloß der Wahnsinnige sein Lied, plötzlich abbrechend, da er die Zuhörer in der naheliegenden Gondel erst jetzt bemerkte.
„Nehmt mich mit,“ schrie er, verzweiflungsvoll die Arme ausstreckend. „Erlöst mich aus dieser Hölle, wo ich die Qualen der Verdammten leide!“
Zugleich rüttelte er wie ein wildes Thier an dem eisernen Gitter, von Zeit zu Zeit in ein Wuthgeheul ausbrechend, durch das die Wärter des Irrenhauses herbeigerufen wurden. Gewaltsam suchten sie den Unglücklichen zu entfernen, der sich mit Löwenkraft an den Eisenstäben anklammerte, so daß er ihren Angriffen Trotz bot. Schon faßten ihn die rohen Fäuste der Wärter, um ihn mit Stricken zu binden, während der Wahnsinnige sich verzweiflungsvoll dagegen wehrte.
In diesem Augenblick erschien auf der Schwelle des Hauses eine Nonne in der grauen Kleidung der barmherzigen Schwestern, deren verklärtes Gesicht den himmlischen Frieden nach schwerem innerem Kampfe verrieth.
„Laßt den Armen! Ich werde ihn schon besänftigen,“ sagte sie den Wärtern, die ihr ohne Widerspruch sogleich gehorchten und sich tief vor ihr verneigten.
Was der vereinten Kraft der Männer nicht gelingen konnte, vollbrachte die schwache Frau mit wunderbarer Leichtigkeit. Sie näherte sich dem Wüthenden ohne Furcht und faßte seine Hand, die er ihr ohne Sträuben überließ. Ein Blick, ein Wort genügte, die Wuth des Wahnsinnigen zu bändigen, so daß er ihr wie ein gehorsames Kind in das Innere des Hauses folgte, wo sie mit ihrem unglücklichen Begleiter verschwand.
Mit steigender Theilnahme verfolgten die Zuschauer in der Gondel, vor Allen aber Robert, den eigenthümlichen Zwischenfall, der ihn seiner Apathie entriß. Die ganze überirdische Erscheinung der Nonne erinnerte ihn unwillkürlich an vergangene Zeiten, an ein längst verschwundenes Bild.
„Kennst Du,“ fragte er den Gondolier, „die fromme Schwester?“
„Ob ich sie kenne!“ versetzte Pietro stolz. „Ganz Venedig verehrt die Schwester Teresa gleich einer Heiligen. Es giebt keinen Unglücklichen, den sie nicht tröstete; keinen Kranken, den sie nicht pflegt. Daß sie Wunder thut, habt Ihr ja selbst gesehen und ich zweifle nicht daran, daß sie der heilige Vater noch bei ihrem Leben selig sprechen wird.“
„Sie ist keine Venetianerin?“ forschte Robert, unsicher, ob er sich nicht getäuscht.
„Gott behüte!“ erwiderte der Gondelier. „Wo denkt Ihr hin, Signore? Eine Venetianerin und eine Heilige, das paßt zusammen, wie Orangen und Parmesankäse. Unsere Donnas gehen lieber auf den Carneval als in ein Kloster und tanzen lieber mit gesunden Cavalieren, statt am Bette der Aussätzigen und Verrückten zu wachen. Wie ich gehört habe, ist die Schwester Teresa ein armes Mädchen, das wegen einer unglücklichen Liebe Nonne geworden ist.“
„Ich muß sie sehen, sie sprechen,“ flüsterte Robert seinem Bruder zu, während Pietro seine Gondel nach der anstrengenden Fahrt fröhlich in dem kleinen Hafen von Chioggia anlegte.
Das lebendige Schauspiel, das sich jetzt auf der bekannten Insel seinen Augen bot, zerstreute wenigstens für einige Zeit seine traurigen Erinnerungen an Teresina, die er in jener Nonne erkannt zu haben glaubte. Hier fand Robert, was er in der vornehmen Gesellschaft vergebens suchte, ein unverdorbenes Geschlecht von kräftigen Männern, schönen Frauen und würdigen Greisen, die arm, aber zufrieden mit ihrem kärglichen Loose, unter dem blauen Himmel und im Angesicht des großen heiligen Meeres lebten, das bald ihr Wohlthäter, bald ihr Vernichter ist.
Von Neuem regte sich die Schaffenslust des Künstlers, als er die herrlichen Gestalten der Fischer in ihrer originellen Tracht und die pittoreske Umgebung der Insel erblickte, so daß er mit frischem Eifer seine früheren Studien aufnahm und längere Zeit in Chioggia verweilte.
Mit wahrhafter Freude bemerkte Aurel bei ihrer Rückkehr nach Venedig, daß Robert wieder sein Atelier besuchte und vom frühen Morgen bis zum späten Abend an seiner Staffelei saß, mit einem neuen großen Gemälde für die nächste Ausstellung beschäftigt.
„Dem Himmel sei Dank,“ sagte der treue Bruder, „daß Du wieder malen, kannst. Nun zweifle ich nicht länger, daß Du von allen Deinen Leiden genesen wirst.“
„Ich hoffe es wie Du,“ entgegnete Robert mit dem ihm eigenen Lächeln.
„Wer aber hat dies Wunder bewirkt?“
„Ein Engel, den der Himmel mir zur rechten Zeit gesendet hat.“
„Teresina!“
„Jetzt Schwester Teresa. Ich habe sie in ihrem Kloster [355] aufgesucht und im Sprachzimmer mit ihr eine längere Unterredung gehabt.“
„Und ihre Worte haben mehr vermocht, als alle meine Bitten und Ermahnungen. Du liebst sie, liebst eine Nonne!“
„Frage mich nicht, forsche nicht!“ versetzte Robert. „Laß Dir damit genügen, daß ich wieder Antheil am Leben nehme, daß ich von Neuem hoffen darf.“
„Und Teresina?“
„Fürchte nichts, nicht für mich und noch weniger für die Reine, die durch keinen irdischen Wunsch mehr befleckt wird. Sie lebt, betet und sorgt nur noch für ihre Kranken und Leidenden. Auch mich hat sie getröstet und wunderbar gestärkt, so daß ich mit ihrer Hülfe genesen werde. Ihr allein danke ich es, daß ich wieder Lust an der Arbeit finde.“
„Und wie heißt der Balsam, womit sie dies Wunder gethan?“
„Glaube und Hoffnung, Liebe und Vertrauen,“ erwiderte Robert geheimnißvoll.
Unter diesen Umständen hielt es Aurel für gerathen, seine Neugierde zu bezwingen, obgleich es ihn schmerzte, daß Robert zum ersten Mal vor ihm ein Geheimniß zu haben schien. Gegen seine sonstige Gewohnheit ging derselbe jetzt zuweilen allein, ohne Begleitung des treuen Bruders aus; auch empfing und schrieb er öfters Briefe, die er sorgfältig vor Jenem verborgen hielt. Gewöhnlich pflegte er diese Correspondenz selbst fortzutragen, statt sie, wie sonst, seinem Commissionär zu übergeben; auch vernichtete er sogleich die eingegangenen Antworten, wie Aurel beobachten konnte, als er ihn zufällig überraschte, wie er einen solchen soeben erhaltenen Brief, dessen Aufschrift eine Frauenhand verrieth, in den Flammen des Kamins verbrannte.
Anfänglich wurde Aurel durch dieses seltsame Benehmen beunruhigt, so daß er aus Furcht vor einem ebenso sträflichen als gefährlichen Liebesverhältniß mit Teresina die Schritte Robert’s im Geheimen überwachte, um ihn vor den möglichen Folgen einer neuen Thorheit zu bewahren. Bald aber mußte er seinen Irrthum erkennen und jeden derartigen Verdacht um so mehr schwinden lassen, da Teresina, wie er von dem Gondolier erfuhr, seit einigen Tagen Venedig verlassen hatte, um auf Befehl der Oberin die Pflege einer hochgestellten Kranken in Florenz auf deren besonderen Wunsch zu übernehmen.
In der That schien Robert’s letzte Unterredung mit Teresina eine wohlthätige Umwandlung seines zerstörten Gemüthes hervorgerufen, seine bisher so gedrückte Stimmung wieder gehoben zu haben. Mit früherer Lust arbeitete er jetzt an seinem neuen Gemälde, das eine Fischerfamilie in Chioggia darstellte in dem Augenblick, wo die Männer sich zur Abfahrt rüsten und von ihren Familien Abschied nehmen. Nur die sanfte Melancholie, welche auf seinem Bilde ruhte und unwillkürlich die Seele des Beschauers ergriff, verrieth dem tieferen Beobachter die geheimen Leiden des Künstlerherzens.
Seit jenem verhängnisvollen Abende in der Kirche Santa Croce, wo er mit der Prinzessin an dem Grabe Alfieri’s einen ewigen Bund geschlossen, litt Robert alle Höllenqualen einer unglücklichen Liebe. Er glaubte sich verrathen, verachtet von der einzigen Frau, die er anbetete wie nie ein anderes Weib. Ihre plötzliche Abreise, das vorangegangene Gespräch mit ihren nächsten Verwandten zeigten ihm nur zu klar den unübersteiglichen Abstand, welcher den Maler von der Fürstentochter trennte. Der Gedanke, daß sie ihn getäuscht, nur ein leichtfertiges Spiel mit ihm getrieben, verletzte seinen Stolz, verwundete ihn um so tiefer, je höher er sie gestellt, je reiner und vollendeter sie ihm erschienen war.
Ihr Abschiedsbrief hatte wie ein Blitzstrahl das luftige Gebäude seines Glückes vernichtet, seinen Liebestraum unbarmherzig zerstört, er war erwacht zu einem schrecklichen Dasein.
Matt und gebrochen schleppte sich Robert nach Venedig, wo er vergebens Vergessenheit suchte. Umsonst kämpfte er gegen die Leidenschaft seines Herzens, suchte er das Bild der Ungetreuen, die Erinnerung an seine Liebe aus der kranken Brust zu reißen.
Nicht die Auszeichnungen, die dem berühmten Künstler zu Theil wurden, nicht der Reiz der gebotenen Zerstreuung, die besten Gesellschaftskreise, welche sich ihm bereitwillig öffneten, noch die Verehrung der ersten Männer, die Zuvorkommenheit der schönsten Frauen, selbst nicht die Liebe zu seiner Kunst, die Treue des besorgten Bruders vermochte seine täglich wachsende Schwermuth zu besiegen.
Jener unüberwindliche Ekel des Daseins, welcher gerade die edelsten und größten Geister anzuwandeln pflegt, hatte Robert unbarmherzig erfaßt und den sonst so klaren Verstand umdüstert. Er fürchtete, wahnsinnig zu werden wie Tasso, der gleich ihm zu kühn seine Augen zu der Fürstentochter Leonore von Este emporgehoben, der wie er geliebt und unaussprechlich gelitten.
Zuweilen starrte er minutenlang in den ihm gegenüberstehenden Spiegel und beobachtete sein bleiches, von Leiden abgezehrtes Gesicht, das ihn mit Schauer und Furcht vor sich selbst erfüllte.
„Welch’ eine Physiognomie!“ sagte er zu dem erschrockenen Aurel, „welche hohle, gespenstische Augen! Die Fremden, denen ich auf der Straße begegne, bleiben stehen, weil sie mich für wahnsinnig halten.“
„Um des Himmels willen!“ rief der geängstigte Bruder. „Wie kommst Du zu diesem Gedanken, der mich unglücklich macht?“
„Du hast Recht,“ erwiderte er, sich gewaltsam fassend. „Ich will nicht mehr in den verwünschten Spiegel sehen, der meine Züge verzerrt. Habe Geduld mit mir und meinen Leiden.“
Mit einem erzwungenen Lächeln suchte Robert die Besorgnisse Aurel’s zu verscheuchen, den er über Alles liebte. Aber bald verfiel er wieder in sein früheres dumpfes Brüten; vor seiner Seele stand das blutige Gespenst seines Bruders Alfred, der durch Selbstmord geendet hatte. Im nächtigen Traume erschien ihm die bleiche Gestalt und deutete auf die klaffenden Wunden, unheimlich verlockende Worte ihm zuflüsternd, daß er verstört aus dem unruhigen Schlafe emporfuhr.
So verflossen für Robert die Stunden und Tage in namenloser Pein, aus der ihn jedoch, wie durch ein Wunder, die unerwartete Dazwischenkunft Teresina’s erlöst zu haben schien, obgleich er über ihre Mittheilungen selbst dem vertrauten Bruder gegenüber das tiefste Stillschweigen beobachtete.
Wie der Frühling das starre Eis schmilzt und die erstorbenen Blüthen weckt so hatte der milde Zuspruch der Nonne die finsteren Schatten von Robert’s Seele verscheucht und frischen Lebensmuth in sein wundes Herz gegossen. Wieder wurde sein Atelier der Sammelplatz der vornehmen Welt, aller Kunstfreunde, die aus der Nähe und Ferne herbeiströmten, um seine neueste geniale Schöpfung zu bewundern. Ja er verstand sich dazu, hauptsächlich aus Rücksicht für seinen Bruder, die Salons der hohen Aristokratie zu besuchen. Am liebsten jedoch verkehrte er jetzt mit den bürgerlichen Familien einiger in Venedig angesessenen Schweizer Landsleute, vor Allen aber in dem Hause eines deutschen Arztes, für dessen schöne und geistvolle Schwester Aurel sich zu interessiren schien.
„Folge meinem Rath,“ sagte er eines Tages zu dem Bruder „und heirathe so bald als möglich das holde Kind, um glücklich zu werden.“
„Du vergißt, daß ich noch nicht selbstständig, nicht in der Lage bin, eine Frau und eine Familie zu ernähren.“
„Das wird meine Sorge sein. Ich besitze und erwerbe ja genug für uns Beide.“
„Aber ich kann unmöglich eine solche Unterstützung von Dir annehmen, auch will ich Dich nicht verlassen, so lange Du noch leidend bist.“
„Wir werden uns auch nicht trennen, sondern mit einander leben wie bisher. Grüße Deine Johanna von mir.“
„Willst Du nicht mit mir kommen? Sie erwartet Dich.“
„Ich will, so lange es noch hell ist, an meiner Copie für den Grafen Raczinsky arbeiten. In einer Stunde folge ich Dir zu Deinen Freunden.“
Kaum aber hatte Aurel das Atelier verlassen, so legte auch Robert Pinsel und Palette bei Seite. Heimlich stahl er sich aus der Thür und rief den treuen Gondolier, dessen Stillschweigen er durch ein ansehnliches Geschenk erkaufte.
„Schnell zu dem Kloster der barmherzigen Schwestern!“ rief er, verzehrt von Ungeduld.
„Ich weiß schon,“ sagte Pietro. „Da muß man sich anstrengen und ein Uebriges thun.“
„Für jede Minute, die wir früher ankommen, erhältst Du einen Lira.“
Mehr bedurfte es nicht, um den Gondolier anzuspornen, aber so schnell auch das leichte Fahrzeug unter den kräftigen Stößen [356] dahinflog, so klagte Robert doch über dessen Langsamkeit und trieb immer von Neuem zur höchsten Eile, als hinge von jedem gewonnenen Augenblick, sein Glück, sein Leben ab.
Mit einem raschen Sprung stürzte er die Treppen zum Kloster hinauf, an dessen verschlossenen! Thore er so heftig klingelte, daß die alte Pförtnerin erschrocken aus ihrem Lehnstuhl emporfuhr, um dem ungestümen Besucher zu öffnen.
„Dachte ich doch, daß Ihr es seid,“ sagte sie. „Man kennt Euch schon an Eurem starken Läuten.“
„Ist Schwester Teresina zurückgekehrt?“ fragte er hastig, ohne sie beenden zu lassen.
„Noch nicht. Wir haben sie jeden Tag erwartet, aber die Gräfin in Florenz scheint wieder kränker geworden zu sein und hält sie noch zurück, obgleich ihre Gegenwart hier nöthig ist.“
„Und hat sie nicht geschrieben, ist kein Brief für mich von ihr eingegangen?“
„Da muß ich wohl die Frau Oberin fragen, durch deren Hände alle Briefe gehen, obgleich Schwester Teresina eine Ausnahme macht, thun und lassen darf, was sie will.“
Es dünkte Robert eine Ewigkeit, bis die Alte von der Oberin zurückkehrte mit dem so sehnlichst erwarteten Briefe in der Hand.
Ohne ihre Gegenwart zu beachten, erbrach er hastig das wohlbekannte Siegel, durchflog er mit seinen Blicken Teresina’s Zeilen.
Je länger er las, desto heller glänzten seine Augen, desto mehr rötheten sich seine Wangen, selbst ein schon lange nicht gekanntes Lächeln umschwebte seine Lippen.
Wie ein Sterbender, dem ein Wundertrank des Arztes neues Leben in das stockende Herz gießt, so belebten sich sichtlich seine Züge. Plötzlich aber stieß er einen leisen Schrei, aus, als er angeschlossen an den Brief der Nonne einige mit Bleistift flüchtig geschriebene Worte von der ihm nur zu gut bekannten Hand der Prinzessin bemerkte:
„Muth, Muth, theurer Freund!“ schrieb sie ihm. „Ich weiß Alles. Bald werden unsere Leiden enden. Groß sind die Hindernisse, die uns noch trennen, aber unsere Liebe wird sie besiegen. Erwarten Sie mich sicher in Venedig bis zum 20. März.
Wenn ich nicht komme, so ist unser Schicksal für immer entschieden und wir dürfen uns auf Erden nicht wiedersehen. Treu bis in den Tod. Charlotte.“
„Sie liebt mich, hat mich stets geliebt!“ jubelte Robert, indem er die Zeilen der Prinzessin mit seinen Küssen bedeckte, von neuen Hoffnungen belebt.
Zwischen Constanz und Basel laufen vom Feldberg herunter
zwei rauschende Gewässer in den Rhein und heißt das eine, die
Schwarzach, das andere die Werra. Unten am Rhein sind ihre
Rinnsale ungefähr sechs Wegstunden auseinander, weiter oben rücken
sie etwas näher zusammen. Zwischen diesen beiden Bergströmen,
gegen Norden an das Gebiet der Abtei Sanct Blasien anstoßend,
lag ehemals die Grafschaft Hauenstein, ein jetzt noch oft genanntes
Ländchen, doch, wie es scheint, mehr von Malern als sonstigen
Touristen gesucht. Den Namen hatte es von einem alten Felsennest
am Rheine, zu dessen Füßen ein verwittertes Städtchen liegt,
das ebenso heißt. Diese Landschaft soll etwa acht Geviertmeilen
umfassen und einhundert und fünfzig Dorfschaften mit dreißigtausend
Menschen zählen, welch letztere unzweifelhaft alemannischer
Abkunft und katholischen Glaubens sind.
Die Grafschaft Hauenstein oder „der Wald“ hat in den letzten Jahrhunderten eine Geschichte erlebt, so voll und mannigfaltig wie manches Königreich. Man glaubt aber daraus namentlich zu lernen, wie viel davon abhängt, wohin die Menschen oder die Völkerschaften, wenn sie geboren werden, zu liegen kommen. Die Hauensteiner sind offenbar verlegt worden. Wäre ihre Wiege in der Vorzeit am Vierwaldstädter See gestanden, so würden sie sich bei ihrem Temperament und ihren Neigungen ohne Zweifel zu einem sehr achtbaren Urcanton herausgebildet haben und vielleicht noch in diesem Jahre die Prügelstrafe anwenden. So aber, in ungünstige Lage und ungünstige Nachbarschaft versetzt, oft von schlimmen Bauernkönigen geleitet und geführt, von vielen Hunden gehetzt und gebissen, ist ihr Wesen fast zur Caricatur geworden und erregt jetzt mehr Mitleid als Bewunderung.
Ueber die Geschichte der Hauensteiner theilen wir der Kürze halber nur das Wissenswertheste mit, wie wir es aus anderen Büchern, die darüber an’s Licht gekommen sind, zusammengetragen haben. Wir ersehen daraus, daß die Hauensteiner schon unter Kaiser Albrecht († 1308) in die Steuerregister der Grafen von Habsburg eingetragen waren. Sie dagegen datirten ihre staatsrechtliche Existenz, vielmehr ihre Freiheiten, von jeher auf einen fabelhaften Grafen Hans von Hauenstein zurück, der sie einst auf seinem Todbette alle für frei erklärt, sie dem Reiche vermacht und ihnen allerlei Rechte und Privilegien hinterlassen haben soll. Die betreffende Urkunde hat man zwar nie gefunden, aber die Hauensteiner glaubten immer daran, daß sie wohl noch einzusehen wäre, wenn nicht heimtückische Hände sie in Freiburg oder in Wien oder in irgend einem alten Burgverließ oder gar in einem abtrünnigen, treulosen Bauernhaus „im Walde“ verborgen und vergraben hätten.
Allmählich treten aus der Nacht der Vergangenheit die acht „Einungen“ der Hauensteiner hervor, Verbrüderungen der Bauerschaft untereinander, wie in Hohenrhätien und in der Schweiz, „einander zu helfen gegen männiglich, so sich wider uns setzt oder uns angreift, alles jedoch ohne Abbruch der Rechte des Hauses Oesterreich oder der Abtei Sct. Blasien“.
Mit dem Gotteshaus gab es jedoch allerlei Späne. Die Leute im Hauenstein waren theils freie, theils Zinsbauern, theils Leibeigene der Abtei; diese aber suchte den Hirtenstab immer wuchtiger zu schwingen und wollte sie allmählich alle in ihre Hörigkeit bringen. Darüber viele Verschwörung und Aufruhr im Walde, und als der Bauernkrieg ausgebrochen und etliche Wiedertäufer dazu getreten waren, zogen die Leute von den Höhen hinunter nach St. Blasien, gingen auf die Urkunden los, aus denen ihnen die Jünger St. Benedict’s jeweils soviel widerwärtige Auskunft herausgelesen hatten, und brachten eine solche Verheerung in das Archiv, daß man damals bis an die Kniee in lauter zerrissenen Documenten waten konnte.
Nach einigen kleineren Wirren, die sich aber um österreichische Ansprüche drehten, erzählt uns die Geschichte von dem großen, maßgebenden und noch immer unvergessenen Aufstand der „Salpeterer“, dessen Anfang in’s Jahr 1719 fällt. Damals wollte der Abt seine angeblichen Rechte wieder neuerdings nach eigenen Heften aufrichten und herstellen, auch die Leibeigenschaft wieder festigen, allein die Wälder nahmen den Handschuh auf und gingen muthig in den Kampf für die Freiheit. Es entstand ihnen auch ein Timoleon, welcher Johann Fridolin Albiez hieß und mit Salpeter handelte, weswegen seine Waffenbrüder die Salpeterer genannt wurden. Was früher nur verschwommene Tradition gewesen, das erhob der Salpeterhannes zum allgemein geglaubten Rechtssatz, nämlich, daß der Hauenstein durch des Grafen Hansen Testament an’s Reich gefallen und weder Oesterreich noch St. Blasien unterthänig sei. In nächtlichen Versammlungen wurde auch nach alter Wiedertäufer Weise getagt und gepredigt, das Reich Gottes sei nahe, die Herren und Soldaten müßten erschlagen und die Güter der Bösen unter die Gerechten vertheilt werden. So war der Salpeterhannes ungefähr acht Jahre lang der Meister im Walde – die Hauensteiner scheinen keine Zinsen und Zehnten mehr entrichtet und sich ganz unabhängig benommen zu haben – bis die Herren von der vorderösterreichischen Regierung zu Freiburg, welche zu St. Blasien hielt, den Volkshelden einfangen und in enge Haft setzen ließen, wo er bald starb. Der Märtyrer fand jedoch einen Nachfolger in dem Müller von Haselbach, Martin Thoma, aber in der Schlacht bei Doggern, wo die Oesterreicher [357] zwölfhundert Mann stark aufgestellt waren, liefen die Salpeterer unter seiner Leitung schon bei der ersten Salve davon. Die Anführer wurden nach Ungarn verwiesen, der Müller von Haselbach gar auf die Festung Belgrad gesetzt; jedoch ging nach all’ dem langen Hader endlich auch der Tag der Versöhnung auf, indem die Abtei für achtundfünfzigtausend Gulden alle Ansprüche auf Leibeigenschaft der Hauensteiner aufgab (1738).
Nun der geistlichen Herren ledig, fingen aber die Wälder sofort auch mit den weltlichen einen Unfrieden an. Unter Berufung auf den alten Grafen Hans ließen sie zwanzig Gesandte nach Wien gehen, die den Kaiser überzeugen sollten, daß sie nicht österreichisch, sondern des Reiches seien. Zugleich zogen hundertundelf schneeweiße Jungfrauen wallfahrend nach Maria Einsiedeln, um auch die Mutter Gottes um Schutz für die gute Sache zu bitten. Die Gesandtschaft fand zwar zu Wien kein Gehör, trug aber doch der Volksversammlung im Hauenstein vor, sie habe ihren Zweck erreicht. Sofort wieder Unordnung und Aufruhr, kaiserliche Commission zur Untersuchung der Beschwerden, Zwist mit dieser und endlich ein Treffen bei Etzwyl, wo fünfhundert Grenadiere die Salpeterer abermals auseinander stäubten, wie früher bei Doggern. Sechs der Hauptleute wurden damals zu Albbruck an den Galgen gehängt und die jungen Burschen unter die Miliz gesteckt (1739).
All’ dies blieb aber ohne Eindruck, die Salpeterer wollten ihre Verfassung, wie sie Graf Hans gegeben hatte und nicht anders. Sie fingen bald wieder an keine Steuern zu zahlen und nächtliche Versammlungen zu halten. Einmal stürmten sie auch die Stadt Waldshut und nahmen die Waffen wieder, die man ihnen vorher abgenommen hatte. Darauf stifteten sie einen großen Aufruhr an, bis wieder Kriegsvolk in’s Land kam, die Anführer gefangen nahm und nach Ungarn versandte.
So ging es in mehrfachen Wiederholungen fort bis zum Jahre 1755, wo nach dem letzten Aufstand Maria Theresia über hundert Salpeterer jegliches Geschlechts und Alters nach Siebenbürgen abführen ließ. Dort leben vielleicht ihre Enkel noch, sie selbst aber sind längst verschollen.
Diese Geschichten könnten uns in die Zeiten Wilhelm Tell’s versetzen. Aber für die Hauensteiner war’s zu spät. In den Tagen Maria Theresia’s war Vieles nicht mehr möglich, was zu Zeiten Ludwig des Bayern ganz leicht gegangen wäre. Abgesehen von der Ungunst des Ortes hatten die Hauensteiner für ihre Bestrebungen auch ein ganz unrechtes Jahrhundert gewählt, und so sind ihnen denn ihre besten Wünsche nie hinausgegangen.
Von da an herrschte Ruhe in jenen Wäldern. Nur an langen Winterabenden erzählten die Hauensteiner noch vom alten Grafen Hans und seinen Privilegien, von ihren Nationalhelden [358] und wie sie einst die feste Stadt Waldshut eingenommen; da ergingen sie sich auch gerne in der Klage, die von Geschlecht zu Geschlecht forterbte, daß es nämlich mit dem Hauensteiner Niemand gut meine, als er selber, und daß er daher am besten thue, sich von der bösen Welt ganz ferne zu halten und ihr ein griesgrämiges Gesicht zuzukehren.
So hörte man denn lange Zeit nichts mehr von diesen Leuten, bis sie im Anfang des jetzigen Jahrhunderts wieder mehr und mehr zu rumoren begannen. Vorerst war es die Abschaffung unnützer Feiertage, welche dem Hauensteiner Bewußtsein sündhaft und verderblich erschien. Sie behaupteten, man wolle sie lutherisch machen, und kamen wieder häufig in nächtlichen Stunden zusammen. Als aber 1806 das Ländchen an das Großherzogthum Baden gefallen war, stand selbst der alte Graf Hans wieder auf. Die Hauensteiner verweigerten dem Landesfürsten die Huldigung, den Militärdienst und die Steuern. In Karlsruhe hatte man damals andere Dinge zu thun und ließ die Sache gehen bis nach den Befreiungskriegen, wo es Zeit schien, auch wieder an den Hauenstein zu denken und dort eine Ordnung herzustellen. Im Walde aber tauchte der Name der Salpeterer wieder auf und auch ein Nationalheld fand sich wieder. Dieser hieß Aegidius Strittmatter und behauptete, der Geist des alten Salpeterhannes sei ihm erschienen und habe ihn zu seinem Nachfolger ernannt. Sofort wieder nächtliche Zusammenkünfte, bei welchen Aegidius, wie seine Vorfahren, von den alten Freiheitsbriefen predigte, ihren angeblichen Inhalt erklärte und auslegte. Seine Anhänger wollten keine Rekruten stellen und keine Steuern zahlen, die Kinder nicht in die Schule schicken, keine Schornsteinfeger und keine Pockenimpfung anerkennen und verlangten zuletzt ein Schiedsgericht von zwei gesalbten Häuptern, dem römischen Papst und dem Kaiser von Oesterreich, welches einen Spruch thun sollte, ob sie zum Großherzogthum Baden oder zum Reich gehören. Die badische Regierung ließ zwar einige Anführer im Arbeitshaus unterbringen, suchte jedoch sonst die Gluth milde und allmählich zu löschen.
Aber in Kirche und Schule gährte der alte Salpeter noch immer fort. Als in den dreißiger Jahren der alte „Canisius“ abgeschafft und ein neuer eingeführt werden sollte, weigerten sich die Kinder standhaft, das Christenthum nach diesem zu lernen. Und als gar ein Lehrbuch, das ein protestantischer Pastor verfaßt, verbreitet wurde, schickten die Eltern die Freiexemplare zurück und ließen ihre Kinder nicht mehr in die Schule gehen. Dazumal stellten sie die Behauptung auf: ihr rechtmäßiger Landesherr sei eigentlich der Erzherzog Ferdinand von Oesterreich! Wie sie auf diesen gekommen, ist nicht klar; wahrscheinlich führten sie seinen Stammbaum auf den alten Grafen Hans zurück.
Den Erzherzog Ferdinand konnte man ihnen zwar als Landesherrn nicht gewähren, aber sonst geschah Alles, um sie zufrieden zu stellen; nur daß sie, wenn eine Beschwerde abgethan war, gleich wieder drei in Vorrath hatten. Sie beschwerten sich namentlich über ihre Geistlichen, als wären diese alle vom wahren Glauben abgefallen, vermieden die Kirche und hielten ihren Gottesdienst in einsamen Waldcapellen oder zogen Sonntags zu diesem Zweck in die benachbarte Schweiz. Die eigentliche und wahre katholische Religion schien ihnen überhaupt nur mehr in der Schweiz zu blühen, namentlich in den Klöstern zu Muri und Einsiedeln, wohin sie häufig wallfahrteten: Man hat es damals sehr wahrscheinlich gefunden, daß sie von diesen andächtigen Wanderungen manchen Zunder mitbrachten, der zu Hause hartnäckig fortknisterte. Es ist nicht zu verwundern, daß in diesen Zeitläuften auch wieder viel von Graf Hansen und den alten Privilegien die Rede war.
Wir können aber nicht ausführlich erzählen, was im Lauf der Zeit noch für Anstände hervortraten und mit welchen Mitteln der Landesfürst und der Erzbischof die Schwachen im Geiste zu begütigen gesucht; wir wollen nur noch sagen, daß die Salpeterer sich allmählich in die neuere Zeit zu schicken schienen. Auch ihre Klagen über die Priesterschaft wurden immer leiser, je mehr die erzbischöfliche Curie, welche früher im Gerüche des Aufklärichts gestanden, selbst zu den Anschauungen der Hauensteiner herniederstieg. Gleichwohl starb noch in den letzten Zeiten hier und da ein alter Sonderling, der auch auf dem Todbette von einem badischen Geistlichen keine Tröstung annehmen wollte. Andere giebt es noch, welche sich zum Beispiel dem neuen Schulgesetze nicht unterwerfen oder trotz der Ablösung den Zehnten auf den Feldern liegen lassen. Ferner steht ein dürrer Apfelbaum bei Egg, an dem verfallenen Hause des Müllers von Haselbach, der den Hauensteinern dieselbe Bedeutung hat, wie der Birnbaum auf dem Walserfelde den übrigen Deutschen. Wenn nämlich die Zeiten ernster werden und die Völker unruhig, und im Rheinthal unten die Regimenter marschiren, dann kommen die alten Salpeterer aus her Ferne, von drei, vier Stunden weit her und lugen, ob der Apfelbaum nicht wieder grünend werde; denn dieses wäre ein Wahrzeichen, daß die Kaiserlichen kommen und den „Rechten“ bringen und mit ihm der Grafschaft alte, nie vergessene Privilegien und Freiheiten.
Alle diese Begebenheiten sind nun dahingerauscht, ohne sichtliche Denkmäler zu hinterlassen. Es steht weder auf dem Schlachtfelde von Doggern noch auf den Hügeln von Etzwyl ein Monument; auch haben die Hauensteiner bisher weder dem Salpeterhannes noch dem Müller von Haselbach oder dem Aegidi Strittmatter eine Bildsäule errichtet, ja man sieht ihre Portraits nicht einmal an den Wänden der Wirthshäuser hängen oder auf den Pfeifenköpfen prangen. Nur Ein Erinnerungszeichen hat sich erhalten an alle diese Verschwörungen und Meutereien, die verlornen Schlachten und die mißlungenen Wiener-Reisen, die nächtlichen Zusammenkünfte und den Gottesdienst im grünen Wald, an all’ die Streitigkeiten mit weltlichen und geistlichen Herren, und dies Erinnerungszeichen ist die Tracht.
Die Hauensteiner Tracht besteht in einer langen, bis auf den Nabel reichenden Weste, dem „Brustlatz“, welcher vorne geschlossen ist, daher wie ein Panzerhemd über den Kopf geworfen und unter der Achsel eingehaftet wird. Er ist hochroth und oben mit schwarzsammtnen Streifen eingefaßt. Darüber trägt der Mann ein sammtnes Kamisol ohne Kragen und Knöpfe von dunkler Farbe, das aber früher ebenfalls roth gewesen sein soll; ferner schwarze Pluderhosen und weiße Strümpfe; endlich Schuhe mit einem gelben Lappen. Das Haupt bedeckt ein schwarzer Strohhut oder auch eine grüne Sammtmütze, welche mit Pelz verbrämt ist. Auch der Kragen des Hemdes ist zu bemerken, welcher kunstreich gefältelt und breit herausgeschlagen wird.
Diese Tracht, welche früher die allgemeine war, ist jetzt keineswegs mehr die gewöhnliche, vielmehr sind kaum noch ein paar hundert Männer zu zählen, die aus Anhänglichkeit an das alte Herkommen darin zu paradiren für gut finden. Wer sie aber trägt, der heißt „e Hotz“, und deswegen konnte der fürstliche Rath in Donaueschingen mit Grund von Hotzennestern sprechen.
(Der Name soll übrigens von Hoze herkommen, wie man ehemals für Hose sprach.) Die Frau des Hotzen heißt die Hötzin, und seine Kinder, wenn sie in seiner Tracht gekleidet gehen, die Hötzli. Es ist aber leicht zu merken, daß dieses Gewand von allen denen, die es nicht mehr tragen, gewissermaßen als eine Demonstration erachtet wird; Man glaubt, in seinen Trägern lebe noch der Geist der alten Salpeterer fort. Man betrachtet aber das Hotzenthum im Hauenstein selber heutiges Tages wenn nicht als geistige Krankheit, so doch als eine leichte Monomanie von mehr komischem als ernstem Gehalt; zugleich aber, und wohl mit Recht, als eine große, als die größte Merkwürdigkeit des Ländchens. Wenn man auf der Wanderung stellenweise nach Herrischried, nach Rickenbach fragt, so fügen selbst die Kinder ihrer Antwort mit schalkhaftem Lächeln bei, wie groß da oder dort das Corps der letzten Hotzen noch sei. Auch wird fast von jedem Hauensteiner, den man dem Fremden nennt, pflichtschuldigst erwähnt, wie er sich zum Hotzenthum verhalte. „Sî Vater isch e Hotz gsi, aber an dem isch es usgange,“ sagte die Wirthin von Rickenbach von irgend Jemand, den ich vergessen habe; aber die Phrase kam mir so bezeichnend vor, daß ich sie mir ganz haltbar einprägte.
Nachdem wir also nach Immeneich im schönen Thale der Alb hinuntergestiegen waren, fragten wir zuerst nach dem Hotzen, den wir am Schlusse des ersten Capitels erwähnt haben. „Er ist soeben dagewesen,“ sagte der Posthalter, „um ein Schöppchen zu trinken; jetzt wird er wohl auf dem Heimwege sein.“
Um in der Anrede und sonst im Gespräche nichts zu verfehlen, baten wir um einigen näheren Unterricht über Name, Stand und Herkommen des Gesuchten, worauf wir dann hörten, er nenne sich Johann Jehle, sei einst Bürgermeister gewesen, ein wohlhabender und sehr angesehener Mann. Zugleich wurde uns sein Haus bezeichnet, auf welches wir nun zugingen, doch überall spähend, ob er nicht etwa unterwegs einen Aufenthalt gefunden. Und in der [359] That, als wir beim Wagner des Dorfes vorüberkamen, sahen wir ihn in dessen Werkstatt stehen, wie er mit dem Meister freundlich plauderte, Der erste Eindruck des Hotzen war ein sehr bedeutender, zumal derselbe ein großer schöner Mann ist, dem die Tracht, die wir oben beschrieben, vortrefflich zu Gesichte steht. Nur hatte er dieses Mal das schwarze Camisol nicht übergezogen, vielmehr ging er, als auf Arbeit bedacht, in weißen Hemdärmeln einher und hatte auch eine weiße Schürze vorgebunden. Die Sorgen des Werktags dämpften jedoch seine Heiterkeit nicht, vielmehr schien er in bester Laune und das ganze gutgefärbte Antlitz, von den kurzen blonden Löckchen, welche die Stirn umwehten, bis herunter zum fleischigen Kinn, lachte freundlich und friedlich in die Welt hinaus. Wir begrüßten ihn also sehr achtungsvoll und er, dem solche Besuche nicht ungewohnt schienen, erwiderte unsere Ansprache mit offenen, herzlichen Worten. Er schien wohl zu wissen, daß uns Alles, was an ihm war, interessant sein müsse – wie hätten wir sonst den weiten Weg gemacht? – und er gab uns daher alle Raritäten entgegenkommend preis.
Mit gespannter Neugierde untersuchte auch der Herr Maler den Bau seiner rothen Jacke, die Haften unter der Achsel, die schwarze Hotzenhose vom dicksten Tuche, die aber bei ihm eigentlich nicht gefältelt, sondern mit scharfem Messer von oben bis unten dich aneinander eingekerbt ist, so daß sie allerdings den Anschein gewinnt, als wäre sie in hundert kleine Fältchen gelegt.
Waren wir schon sehr zufrieden gestellt durch diesen heitern Anfang, so wurden wir noch freundlicher angesprochen, als uns der Hotze einlud, mit ihm unter sein Dach zu kommen. Wir betraten eine große Bauernstube, welche von der Gasse her durch eine lange ununterbrochene Fensterreihe erhellt war. Dieser Breitseite gegenüber trat in die Stube wie ein Thurm ein mächtiger Ofen herein, dessen Kacheln in ihrer grünen Farbe an die smaragdenen Seen des Hochgebirgs erinnerten. Neben dem Ofen und in Verbindung mit demselben war aber auch die ganze Wand tapetenartig mit solchen Kacheln verkleidet, deren Farbe von dem tiefen Dunkel des Gebälkes anmuthig abstach. Ueber sie herunter hingen allerlei Kleidungsstücke in bunter Reihe, auch mehrere Laternen für Haus und Stall. An den beiden Wänden, die noch übrig blieben, prangten etliche Tafeln mit frommen Bildern, auch zwei sehenswerthe Uhren, und in den schwarzen Balken, welche die Decke trugen, waren zahlreiche Schriften, Kalender und Zeitungen eingesteckt.
Es konnte unsere Achtung vor dem Gastfreunde nur erhöhen, als dieser auch noch eine Halbe Wein aufstellen ließ und fröhlich Bescheid that. Was wir aber damals gesprochen, wer kann es jetzt noch wissen, da es doch schon einige Zeit her ist und Niemand anwesend war, der sich unsere Reden aufschrieb? Nur so viel vermögen wir noch zu sagen, daß der Altbürgermeister sich scherzend selbst für einen Hotzen ausgab und der Meinung war, man dürfe sich dieses Namens nicht schämen, da er nichts Unrechtes bedeute. Was die alten Salpeterergeschichten betrifft, so meinte er, man habe sie mehrentheils vergessen, und wenn die Herren Geistlichen und Beamten brav und tüchtig seien, so habe man sie im Hauenstein eben so lieb, als anderswo. Gern sprach er auch von seiner einzigen Tochter; welche glücklich verheirathet ist und in acht Jahren ihren Gatten mit fünf frischen Kindern beschenkt hat. „Eine rasche Zunahme des Hausstandes,“ meinten wir.
„Ei,“ sagte der Hotz dagegen, „so lange die Kinder so gut gerathen, sollen sie nur so fortmachen.“
Unser Herr Reisegefährte war tief erregt durch diese neue und anziehende Erscheinung. Und wenn ein Hotze schon so mächtig wirken konnte, welcher Eindruck mußte erst entstehen, wenn ihrer gleich ein halb Dutzend nebst Hötzinnen und Hötzli vor den trunkenen Blick treten würden? „Ach, laßt uns hinaufziehen,“ rief er sehnsüchtig aus, „nach Herrischried und Rickenbach, den Hotzennestern. Mich befällt ein wunderlich Verlangen, Mehrere der Edlen in ihren Wohnungen, am häuslichen Heerde zu beschauen. Laßt uns hinaufgehen in jene magischen Landschaften, wo die rothen Jacken glühen und die schwarzen Hosen dunkeln!“
Also zogen wir hinaus in die Höhe, wo sie liegen, jene mehrgenannten Stätten seiner Sehnsucht. Von der Gegend wollen wir nicht viel sagen. Sie bestand aus Wiesen, Kornfeldern, Tannenwäldern und tiefeingerissenen Tobeln. Auch Häuser stehen darin und Dörfer mit verschiedenen Kirchen. Das Schönste auf diesen Wegen durch den „Wald“ ist aber die großartige Aussicht auf die Schweizer Alpen, die freilich an keinem anderen Ort so ausgedehnt und umfassend ist, als zu Höhenschwand.
Also erreichten wir Herrischried, ein ziemlich großes, weit ausgebreitetes und hoch angesehenes, fast als Metropole betrachtetes Dorf, welches zwar Hebel als „Herrischried im Wald“ ansingt, das aber zu unserer Zeit schon lange nicht mehr im Gehölz liegt, sondern in einem sonnigen, wohlbebauten, mit Kornfeldern durchschachten Thalgelände. Auf einer Anhöhe steht eine neue, ansehnliche, zweithürmige Kirche, die wir den Hotzendom nannten. Da es Sonntag war, so mußten wir die bedeutenderen Männer der Gemeinde natürlicherweise im Wirthshause suchen. Hie und da hatten wir auf dem Wege schon manchen fernen Hotzen entdeckt, dessen rother Brustfleck in dem schwarzen Camisol aufleuchtete wie ein brennender Dornbusch im dunklen Fichtenwalde, aber in die Nähe war uns keiner der Trefflichen mehr gekommen. Im Wirthshause dagegen fanden wir deren ein halb Dutzend am langen Tische sitzen und zur Vesper einen Schoppen Hauensteiner Bieres trinken. Sie saßen steif und aufrecht nebeneinander und rauchten aus großen Porcellanköpfen, welche eine billige Malerei verzierte. Als fromme und andächtige Tabakraucher wollen die Hotzen auf ihren Pfeifen nur ungern weltliche Bilder dulden und lassen sich lieber Christus mit dem Kreuze, Maria mit den sieben Schmerzen und Aehnliches darauf malen.
Es ist leicht möglich, daß die Männer schon vorher nichts Erhebliches disentirt hatten, aber als wir uns zu ihnen setzten, gaben sie die Unterhaltung gänzlich auf. Obgleich wir uns auf verschiedenen Gängen durch die Welt ziemliche Fähigkeit erworben, mit den Helden der Dorfgeschichten umzugehen und ihre schwere Zunge beweglich zu machen, so wollten unsere Versuche hier doch nicht recht gelingen.
Die Enkel jener großen Bauernkönige, Steuerverweigerer und Waldbeter gaben auf unverfängliche Fragen allerdings eine Antwort, aber sie war immer sehr kurz gefaßt und schien eher anzudeuten, daß sie nicht behelligt, als daß sie von uns unterhalten sein wollten. Die älteren Hotzen mit dem Bewußtsein, daß sie der Mitwelt unverständlich geworden, und nicht im Stande, ihre Stellung so heiter aufzufassen wie der Urhotz zu Immeneich, sind nämlich, wie wir oben schon bemerkt, sehr mißtrauisch und haben an fremden Leuten nur wenig Gefallen.
Die offene Gesprächigkeit der übrigen Schwarzwälder sucht man in diesen Kreisen vergebens. Daß wir unter solchen Umständen damals nicht von den alten Salpeterern zu reden anhoben, versteht sich wohl von selbst. Um ein Gutes fröhlicher ging es dagegen in der nächsten Stube her, wo mehrere junge Krieger, die eben von den Heldenthaten am Maine zurückgekehrt waren, mit Freunden und Freundinnen die ersten Freuden des Wiedersehens feierten. Unter den Leutchen dieses Alters war nichts zu merken von dem trüben Frust der monumentalen Hauensteiner, die schweigsam an dem langen Tische in der vordern Stube saßen; vielmehr konnte man sich leicht überzeugen, daß das Hotzenthum bereits an ihren Vätern „usgange“ war. In dieser Gesellschaft brach nämlich eine derbe, etwas bäuerische Fröhlichkeit ganz unumwunden durch; sie sprachen sehr laut und kräftig, suchten auch ohne Unterschied des Geschlechts von Zeit zu Zeit zu singen und zu johlen, so gut sie’s eben verstanden. Nebenbei konnten wir auch beobachten, wie sich hier zu Lande die Tracht der Weiber und Jungfrauen ausnehme. Ehedem hatte sie auch ihre hötzlichen Besonderheiten, namentlich war der Kopfputz sehr eigenthümlich, jetzt aber gleicht sie ziemlich der durchschnittlichen Landestracht der Schwarzwälderinnen. Die Farben sind meist dunkel; von der Haube flattern zwei lange seidene Bänder herab, die fast bis an den Boden reichen, und über den Rücken weit hinunter wallt der Zöpfe blondes Zwiegespann.
Zur ethnographischen Erinnerung an das Hotzenthum stellt sich hier noch ein Bildchen ein, welches der Maler ebenfalls im Hauenstein aufgenommen. Es ist der feierliche Moment erfaßt, wo die Seelen am Sonntag nach Predigt und Amt aus dem Gottesdienste kommen. Das alte Dorfkirchlein, der Friedhof, das Hirschenwirthshaus, die Hotzen, die Hötzinnen und die Hötzli bilden zusammen ein Ganzes, das der Beschauer gewiß mit eben so viel Vergnügen betrachten wird, als der Maler empfunden hat, da er es schuf.
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Dorothea Trudel, die Heilige von Männedorf.
Wer je auf einem der zahllosen Dampfboote, die den Zürchersee nach allen Seiten durchstreifen, eine Fahrt in der Richtung von Rappersweil angetreten, dem ist gewiß auch die Schaar von Wallfahrern zur berühmten Mutter Gottes von Einsiedeln aufgefallen. Das wunderthätige schwarze Gnadenbild jener Benedictiner-Abtei, die Notre Dame des Hermites, wird an Wirksamkeit von keiner Concurrenzmadonna übertreffen; sein Glanz strahlt so weit wie derjenige der päpstlichen Tiara, und Tausende und Tausende von Pilgern führen die Dampfer jedes Jahr von Zürich nach Richtersweil, von wo aus sie zu Fuß das Hochthal von Einsiedeln ersteigen. Es sind nicht Vertreter der höheren Stände, welche die Hauptmasse dieses Glaubensheeres bilden, und so finden wir sie denn auch regelmäßig auf dem zweiten Platze des Verdeckes, Kopf an Kopf gedrängt, meist ohne alles Gepäck, und als einzige Reisemitgabe mit einem großen Regenschirm ausgerüstet. Dabei sind sie gutmüthige, heitere Leute, welche die Neckereien des Schiffsvolkes gleichmüthig ertragen und nicht selten mit Zinsen heimzahlen.
Auf demselben Verdecke begegnen wir aber auch einer andern Sorte religiöser Reisenden, die sich von den Einsiedeln-Wallern strenge fern halten. Sie treten nur einzeln auf, ihre Mienen tragen den Stempel finstern Brütens oder religiöser Schwärmerei. Auch sie sind von Leibes- und Seelenleiden gemartert und hoffen, im eifrigen Gebete Heilung zu finden. Ihr Reiseziel ist aber nicht die Benedictiner-Abtei, sondern Männedorf am Zürchersee; ihr Gnadenbild ist keine hölzerne Madonna, ihr Zufluchtsort ist die Gebetheilanstalt von Dorothea Trudel.
Der Name dieser frommen Schwärmerin ist so berühmt geworden, ihr Leben ein psychologisch so bemerkenswerthes und der Zulauf zu der seltsamen Anstalt ein so auffallender, daß es sich wohl der Mühe verlohnt, sie hier etwas näher zu beleuchten.
Dorothea Trudel war das Kind armer, schlichter Landleute. Ihr Vater gehörte nicht gerade zu den Frommen im Lande, und diese stellen ihm durchaus kein glänzendes Sittenzeugniß aus. Nach den vorhandenen Bildern war er ein Mann mit harten, knochigen Zügen, wie man sie unter den Landleuten des Cantons Zürich häufig trifft. Die Mutter dagegen wird als erleuchtete Frau geschildert und ihr Gedächtniß lebt in pietistischen Tractaten fort. Dorothea’s Erziehung war sehr einfach, die Schule besuchte sie nur vier Jahre; mit sechszehn Jahren wurde sie confirmirt und beschäftigte sich zuerst mit Seidenweberei, in späteren Jahren lernte sie das Blumenmachen. Als sie zweiundzwanzig Jahre alt war, machte der plötzliche Tod einer Altersgenossin einen tiefen Eindruck auf ihre empfängliche Seele; sie wurde tiefsinnig, machte sich Vorwürfe über ihr bisheriges Leben und ängstigte sich über ihr Seelenheil. Ein tiefes Körperleiden gesellte sich hinzu, die Familie und die Aerzte sahen den Zustand bedenklich an und sollen sie endlich aufgegeben haben. Die Kranke sah aber der angeblichen Todesgefahr heiteren Angesichtes entgegen und bat um die einzige Vergünstigung, keine Arznei mehr nehmen zu dürfen. Ihre Leiden nahmen allmählich einen bestimmteren Charakter an; die Wirbelsäule wurde der ausschließliche Sitz derselben, eine sehr verunstaltende Verkrümmung des Rückens stellte sich ein. Mehr als fünfzehn Jahre dauerte diese Leidenszeit, während der aber Dorothea ihren Beruf ausüben konnte.
Krankheiten von so langer Dauer haben bei jugendlichen Naturen immer einen tief eingreifenden Einfluß auf das intellectuelle und psychische Leben. Die gezwungene Ruhe des Krankenlagers, das Abgeschiedensein von der Außenwelt und den Zerstreuungen des Jugendlebens drücken solchen Märtyrern einen charakteristischen Stempel auf. Für Verstandesmenschen und kräftige Naturen wird eine solche Leidenszeit zu einem Schleifsteine des Geistes, und früh gezeitigt, voll befruchtender Ideen, reich an Kenntnissen und mit schlagfertigem Urtheile treten sie nach ihrer Genesung in’s Leben zurück. Gefühlsmenschen dagegen wenden sich unter dem Einflüsse solcher Prüfungen mit vollen Segeln der religiösen Exaltation zu und werden Schwärmer und Schwärmerinnen. So auch Dorothea Trudel. Sie setzte sich in unmittelbaren Verkehr mit ihrem Heiland; ihm gab sie sich vollständig hin, bald hatte sie seine Führung, bald verlor sie dieselbe und war darüber voll Herzeleid. Sie bat ihn um Verzeihung und wußte bestimmt, wann sie dieselbe erhalten habe.
Die erste Gebetheilung, welche Dorothea gelang, war in der ersten Zeit ihrer Erleuchtung. Bei einem ihrer Verwandten wurden fünf Arbeiter schwer krank. Sie verpflegte dieselben eine Woche lang unausgesetzt bei Tag und Nacht. Die Krankheit wich aber nicht und schien (wie in den meisten Trudel’schen Fällen) aller Arzneien zu spotten.
„Da warf ich mich auf meine Kniee und rief in meinem Kämmerlein den Heiland an, wie wenn ich ihn lebendig vor Augen sähe. Er wisse ja, daß ich gläubig sei, mit mir solle er an das Krankenlager treten, sein Wort werde helfen.“
Gestärkt trat sie zu den Kranken zurück, betete inbrünstig mit ihnen und die Schmerzen waren verschwunden, die Krankheit gehoben. Im Canton Zürich, wo viele religiöse Secten vertreten sind und die Pietisten über einen starken Anhang verfügen, konnte das Ereigniß nicht unbekannt bleiben.
Dorothea wurde viel zu Kranken, oft in größere Entfernungen, gerufen, damit sie mit ihnen bete, sie erhebe und heile. Man stellte ihr vor, daß sie im Besitze einer wunderbaren Glaubens- und Gebetkraft sei, die sie zum Heile der Menschheit zu verwerthen verpflichtet sei. Schon brachte man ihr einzelne Kranke in’s Haus, damit sie dieselben in Pflege behalte und durch Gebet herstelle. Durch das Vermächtniß eines reichen Onkels waren ihre Vermögensverhältnisse besser geworden. So ließ sie sich denn von einer ihrer ehemaligen Kranken bestimmen, ein Haus zu kaufen, um Raum zur Aufnahme einer größeren Zahl Kranker zu gewinnen. Im Jahre 1857, als ihr Ruf bereits über die Grenzen der Schweiz gedrungen war, wurde sie vor die Behörden beschieden und wegen unbefugter Ausübung der Heilkunde zu einer Geldbuße von sechszig Franken verurtheilt. Sie zahlte dieselbe ohne Widerstreben, fuhr aber mit ihrer Thätigkeit unbeirrt fort. Kranke wurden außerhalb des Hauses besucht, andere in die Anstalt aufgenommen, die sich von Jahr zu Jahr erweiterte. Zu dem ursprünglichen Hause wurden zwei neue angekauft, Wartepersonal wurde beigezogen und so die Anstalt mehr und mehr einem Krankenhause ähnlich. So groß wurde der Zudrang zu derselben, daß Anfangs 1861 dieselbe gleichzeitig achtzig Kranke beherbergte. Die Behörden setzten Dorotheen keine Schwierigkeiten mehr entgegen; die Aerzte fanden es nicht zeitgemäß, durch weitere gerichtliche Schritte den Glanz der Märtyrerkrone über die Anstalt auszubreiten.
Die Bewohner des Dorfes endlich waren theils Anhänger der „Döde“ und besuchten die Gebetstunden des Hauses, theils zogen sie aus der Menge herbeiströmender Fremder Nutzen, oder sie verhielten sich diesem schwärmerischen Treiben gegenüber gleichgültig. Klagen wegen Ausschreitungen irgendwelcher Art lagen nicht vor. Selbst die Aerzte durften sich nicht über Mitbewerbung beschweren, da die „Heilige von Männedorf“ keinerlei Arzneimittel anwandte und nur durch Gebet, Auflegen der Hände, Umarmen, in seltenen Fällen durch Salben mit Baumöl ihre Curen vollzog. In diesem gemüthlichen Charakter spielte die Idylle von Männedorf fort, als plötzlich Anfangs 1861 eine Gewitterwolke sich über der Gebetheilanstalt erhob und deren Fortdauer ernst in Frage stellte.
Unter den verschiedenen Arten von Kranken, die dort Aufnahme und Verpflegung fanden, spielten von jeher die Geisteskrankheiten eine große Rolle. Vom ärztlichen Standpunkte aus muß dies als ein Mißgriff bezeichnet werden, da nur sehr wenige Formen dieser Störungen unter dem Einflüsse der apostolischen Behandlung eine Besserung finden, weitaus die größere Zahl in Folge dieser künstlichen Aufregung sich verschlimmern wird und im Allgemeinen derartige Leidende am besten solchen Anstalten anheimfallen, die für diesen Zweck gebaut und eingerichtet sind. Ein junges Mädchen aus N., eine Näherin, war als gemüthsleidend zu der Trudel gebracht worden. Sie behandelte sie mit Händeauflegen, Salböl und Gebet, wobei aber die Krankheit sich durchaus nicht besserte, sondern zur Raserei und Tobsucht steigerte, so daß man der Unglücklichen die Zwangsjacke anlegen mußte. Der herbeigerufene Arzt bestand auf der Entfernung derselben aus der Anstalt. Jungfer Trudel widersetzte sich anfänglich, gestaltete dann aber die Versetzung der Tobsüchtigen in eine eigentliche Irrenanstalt. Auf dem Wege dahin starb aber die Unglückliche. Ein zweiter Fall [361] betraf eine junge Bäuerin aus dem Canton Zürich, die einige Jahre an Trübsinn gelitten hatte und die ihr Mann in die Gebetheilanstalt brachte. Auch hier bewährte sich die Gebetbehandlung nicht. Sie nahm gewissenhaft an den dreimaligen Gebetstunden des Hauses Antheil, ihr Zustand verschlimmerte sich aber so, daß ihr Mann sie nach wenigen Monaten wieder nach Hause zu nehmen für gut fand. Einige Zeit nachher schnitt sich die Unglückliche die Gurgel ab. Auf Grund dieser zwei Vorfälle hielt es der Bezirksarzt von Männedorf für seine Pflicht, eine Anzeige an die Behörden zu machen. In Folge hiervon veranlaßte das Statthalteramt Meilen eine gerichtliche Erhebung; dieser und der nachfolgenden Verhandlung vor dem Obergerichte verdanken wir eine genaue Kenntniß über das Leben und Treiben der Anstalt, die Heilmethode ihrer Vorsteherin, die erzielten Heilergebnisse, die herrschenden religiösen Anschauungen und Zahl und Charakter der behandelten Kranken.
Die Zahl der Letzteren belief sich zur Zeit der gerichtlichen Untersuchung auf ungefähr achtzig Personen. Sie waren aus der Schweiz, Würtemberg, Baden, Baiern, Preußen und Frankreich. Ihre Leiden waren theils religiöse Bedenken, theils Geisteskrankheiten. Unter den leiblichen Gebrechen spielen chirurgische Krankheiten und Augenleiden eine nicht unerhebliche Rolle. Groß ist die Zahl der Patienten, die Dorothea außer dem Hause behandelt, die nur zu flüchtigen Besuchen kommen, die Treppen und Corridore anfüllen und sich an ihrem Glaubenseifer erheben oder auch ihre Neugierde befriedigen wollen. Selbst die höchsten Stände waren unter diesen zeitweiligen Besuchern vertreten und der süddeutsche Adel glänzte nicht selten unter dem bescheidenen Dache des Landmädchens von Männedorf.
Dorothea versicherte, daß sie nie sich um Kranke beworben habe, sondern fast wider Willen zu ihrer Thätigkeit gekommen sei. Nie habe sie ihren Beruf als Gewerbe betrieben, nie sich für ihre Krankenbesuche und Gebete bezahlen lassen. „Umsonst habt ihr es empfangen, umsonst gebt es auch.“ Wohlhabende Kranke zahlten für vollständige Verpflegung mit reichlicher Nahrung im Durchschnitt wöchentlich fünf, im höchsten Falle zehn Franken.
Allen Kranken erklärte „die Magd des Herrn“ beim Eintritt in die Anstalt, daß sie dieselben nicht heilen könne und daß sie am unrechten Orte seien, wenn sie von ihr persönlich etwas erwarten. Christus sei der einzige Arzt und die Behandlung geschehe nach Gottes Willen. Nicht die Heilung des Leibes, sondern die der Seele sei der eigentliche Zweck der Anstalt. Wiederholt betheuerte sie, daß ihr keine magnetische Kraft innewohne, daß sie nicht einmal wisse, was dies bedeuten solle.[1]
An der Seite von Dorothea wirkten in der Anstalt ihre Schwester und vier Krankenwärterinnen, die früher selbst Pfleglinge der Anstalt gewesen waren und nun ohne Löhnung nur aus Begeisterung für die gute Sache neben ihr dienten. Ebenso wirkte Xaver Zeller aus dem Canton Aargau ohne Entschädigung eifrig neben ihr in dem Krankenhause. Ihn hatte sie zu ihrem Erben und Nachfolger ausersehen. Ursprünglich ein Schullehrer, war er im Jahre 1857 als leberkrank und gemüthsleidend in das „Haus des Segens“ gekommen und geheilt worden. Acht Monate nach seinem Austritt hatte ihn Jungfer Trudel wieder zurückgerufen und seit dieser Zeit diente er ohne Unterlaß in dem Hause. Er leitete die Beziehungen nach außen, führte den Briefwechsel, stand den Gebetstunden vor und begleitete die Gesänge derselben auf der Handorgel.
Ein Arzt wird grundsätzlich nur in den allerschlimmsten Fällen beigezogen in der Voraussicht des nur auf diese Weise zu beschaffenden Todtenscheines. Nie aber verweigert man einem Kranken den Arzt, wenn er dessen Hülfe verlangt.
Was nun die Heilergebnisse der Anstalt betrifft, so liegen mehr als neunzig schriftliche und eine Menge mündlicher Zeugnisse vor, aus denen wir nur das Augenfälligere hervorheben. Eine Frau G. aus Uster will im Jahre 1858 durch das Gebet der Trudel von einer langwierigen Unterleibskrankheit, eine junge Dame aus Stuttgart von einem Rückenmarksleiden befreit worden sein. Dem Jakob Dändliker hatten die Aerzte erklärt, daß sein brandiger Fuß abgesetzt werden müsse, sonst werde der Tod erfolgen; in der Trudl’schen Anstalt wurde er ohne Messer geheilt. Ein Herr W., der durch die Angeklagte in ihrem Hause „den Heiland fand“, wurde auf der Reise von einer heftigen Unterleibsentzündung befallen. Dorothea, brieflich befragt, rieth ihm, im Blick auf den Heiland sich selbst die heilende Hand aufzulegen. Er wurde dadurch hergestellt. Ein erfolglos vom Staar operirter und zur ewigen Blindheit verurtheilter Mann wurde zwar auch bei Dorothea nicht geheilt, aber „sein seelisches Auge wurde geöffnet und ersetzte ihm das Licht des leiblichen Auges“. Ein I. D. litt an Altersbrand der Zehen, war lange von den Aerzten erfolglos behandelt worden und litt furchtbare Schmerzen. Jungfer Trudel legte ihm öfters die Hand auf den kranken Fuß, salbte ihn mit Oel, die Schmerzen ließen nach, die eingetrockneten Zehen fielen ab und das Glied heilte. Einem anderen Manne wurde auf gleiche Art seine kranke Hand geheilt, Unzähligen durch Auflegen der Hand auf die Stirn ein quälendes Kopfweh, das ihnen das Leben zur Last gemacht hatte, beseitigt, oft wie weggeblasen. Ein Mädchen, das ein Knöchelchen verschluckt hatte und am Ersticken war, wurde durch Jungfer Trudel’s Gebet rasch hergestellt. Baron B. aus Baden-Baden bezeugt, daß er nicht mehr gehen gekonnt und in drei Monaten in der Anstalt geheilt worden sei; die Frau eines würtembergischen Fabrikanten, daß sie ebendaselbst von einer hartnäckigen Darmkrankheit befreit worden sei, die der Kunst der Aerzte getrotzt hatte.
Die „wunderbare Gebetkraft der Mutterli“ hatte ein Mädchen aus Aarau von unheilbar erachteten Nervenzufällen curirt. Unendlich mannigfaltig ist die Zahl der Krankheiten, die in der Anstalt behandelt und geheilt wurden, die berühmtesten Mineralquellen können den Vergleich nicht aushalten. Rheumatische und gichtische Schmerzen, Bleichsucht, Entzündungen, Schwermuth, in die der Teufel versetzt hatte, Selbstmordsgedanken, ja selbst Schönheitsfehler, wie z. B. Leberflecken, fanden rasch ihre Erledigung. Nur ein eingeklemmter Bruch erwies sich als störrisch und ungefällig; Dorothea hatte aber gleich beim Eintreten dieses Falles wenig Hoffnung auf das Gelingen der Cur. „Bei einem Bruche könne sie nicht helfen, wären es Drüsen, dann eher.“ Die betreffende Kranke wurde auch bald ungebessert entlassen.
Neben diesen glänzenden Ergebnissen der Heilanstalt liegen nicht minder günstige Zeugnisse über Charakter und Persönlichkeit der Vorsteherin vor. Ihr kindlicher Glaube, ihre Hingebung und Aufopferung für die Kranken, ihre Geduld mit Geisteskranken, die sich selbst persönlich an ihr vergriffen, der Geist der Liebe, der in dem Segenshause herrsche, wird von verschiedenen Zeugen hervorgehoben. Nur deutet sowohl das Zeugniß des Statthalteramts als der bezirksärztliche Bericht an, daß ein etwas süßlicher Zärtlichkeitston in der Anstalt herrsche, daß viel brüderlich und schwesterlich geküßt und umarmt werde etc.
Obwohl somit die Ergebnisse der Untersuchung zugunsten der Angeklagten ausfielen, so fand doch sowohl der Vorstand der öffentlichen Gesundheitspflege des Cantons Zürich, als das Statthalteramt und das Bezirksgericht Meilen, daß Dorothea Trudel strafbar sei. Das Medicinalgesetz des Cantons erlaubt Niemandem, sich mit der Heilung von Kranken zu befassen, der nicht die gehörige gesetzliche Berechtigung dazu erlangt hat (§. 1), und die Einrichtung von Privatkrankenhäusern und namentlich Irrenanstalten ist der Erlaubniß und Genehmigung der Medicinaldirectoren (§, 40) unterstellt. Das Statthalteramt verurtheilte aus diesem Gründe die Angeklagte zu einer Geldstrafe von einhundertundfünfzig Franken, befahl ihr binnen Monatsfrist die Anstalt zu schließen und untersagte ihr, unter Androhung neuer gerichtlicher Schritte, die Aufnahme neuer Kranken. Gegen dieses Urtheil erklärte Dorothea Berufung an die Criminalkammer des Zürcherischen Obergerichtes, welche die Verhandlung über den Trudelproeeß auf die Sitzung vom 13. November 1861 ansetzte.
In der Anstalt zu Männedorf herrschte in der Zwischenzeit eine bange, gedrückte Stimmung. „Jungfer Trudel aber,“ sagt Herr Zeller in seinem genannten Tractat, „ging in ihr Kämmerlein und sagte zum Herrn: ,Siehe, das Medicinalgericht und H. Statthalter befehlen mir, die Kranken fortzuschicken; ich aber weiß, daß nur das gilt, was Du befiehlst; sage mir aus Deinem Wort, was Du befiehlst? Sie zog im Glauben ein Loos: Daniel 6, 26 und 27.“ Herr Advocat Spöndlin in Zürich hatte freiwillig die Vertheidigung der Angeklagten vor dem Obergericht übernommen und sein [362] Vortrag eröffnete die denkwürdige Sitzung. Er fußte dabei namentlich auf dem Grundsatze, daß es sich hier um eine religiöse, nicht eine ärztliche Frage handle. Seine Schutzbefohlene verspreche den Kranken nie Heilung, sondern weise auf das gläubige Gebet hin, welches allein Heilung bringen könne. Die Verfassung gewähre nun Glaubensfreiheit, und wenn man der einen Partei die Abschaffung jeden religiösen Zwanges gestatte, so dürfe man der andern nicht verbieten, das zu thun, was in der Bibel stehe. Was die Fälle betreffe, welche sich der Behandlung von Jungfer Trudel übergeben, so seien es meist enfants perdus, Kranke, die von den Aerzten aufgegeben seien und denen man es anheim geben müsse, so oder so leiblich und geistig gesund zu werden. Solchen Fällen und den vielen Armen gegenüber, die zu Männedorf unentgeltlich Pflege und liebevolle Aufnahme finden, müssen alle Eifersüchtelei von Aerzten und Pastoren aufhören. Auch seien durchaus nicht alle Aerzte gegen die Trudel’sche Anstalt eingenommen. Zürcher und fremde Doctoren haben ihr wiederholt Kranke zugewiesen, wie aus zahlreichen Briefen dargelegt wird. Auch das Zeugniß des Prälaten Dr. von Kapff[2] aus Stuttgart wird verlesen, der die Gebetheilung einer Frau R. von dort durch die Jungfer Trudel bestätigt und selbst einem ihrer Gebetvorträge beigewohnt hat. Er nennt die Angeklagte „eine ganz redliche und wahrhaft fromme Person“, die offenbar in der Verachtung der Arzneimittel zu weit gehe, die man aber doch nicht verhindern dürfe, durch Gebet und Handauflegen dem Wohle der Menschheit zu dienen. Der in ähnlichem Sinne wirkende Pfarrer Blumhard führe in Würtemberg ungehindert seine Heilungen aus und man werde doch in einem Freistaate nicht engere Schranken ziehen wollen, als in einer Monarchie. Der Vertheidiger macht zum Schlüsse darauf aufmerksam, daß eine Verurtheilung der Jungfer Trudel keinen thatsächlichen Nutzen bringen werde. Man könne die Anstalt schließen, aber die Angeklagte nicht hindern, Hausbesuche zu machen und dort mit Kranken zu beten, so daß also eine Verurtheilung durch das Gericht nur die zahlreichen Armen treffe, die jetzt Unterkunft zu Männedorf finden. Auch stehe noch der Ausweg offen, das Gesetz in der Art zu umgehen, daß man einen Arzt an die Spitze der Anstalt stelle, der seinen Namen leihe, während nach wie vor Jungfer Trudel die eigentliche Vorsteherin wäre. Daher der Antrag auf vollständige Freisprechung, im allerungünstigsten Falle die Verfügung, in Zukunft keine Geisteskranken mehr aufzunehmen.
Nachdem noch der Staatsanwalt gesprochen, der auf den Buchstaben des Gesetzes hinwies, nach welchem die Trudel ohne Zweifel strafbar war, berieth sich der Gerichtshof und verkündigte nach einer Abwesenheit von anderthalb Stunden den Spruch. Er lautete einstimmig und unbedingt freisprechend, die Gerichtskosten der Gerichtscasse überbürdend.
Der Eindruck dieses Urtheilspruches auf das Publicum war ein gemischter. Nur wenige mochten eine so glänzende Freisprechung gehofft oder gefürchtet haben. Vielen war weniger die Trudel, als ihr Anhang und der Hokuspokus, der mit ihrem Namen getrieben wurde, ein Dorn im Auge und sie hatten vom obersten Gerichtshof eher eine Verschärfung des Urtheils erwartet.
In der Anstalt von Männedorf herrschte großer Jubel beim Bekanntwerden des Urtheilspruches. „Lob- und Danklieder erschallten im Hause“ und der günstige Erfolg wurde als ein neuer Beweis der Gebetkraft der Magd des Herrn betrachtet. Denn sie hatte während der Zeit viel und eifrig gebetet, daß die Richter durch Verurtheilung nicht eine schwere Sünde auf ihr Gewissen laden. Mit neuem Eifer ging Döde an ihr Werk. Die Gerichtsverhandlungen, die acht Monate gedauert, hatten den Ruf der Anstalt womöglich noch erhöht. Die Zahl der Besuche, die Anfragen um Aufnahme nahmen so zu, daß nur ein kleiner Theil derselben berücksichtigt werden konnte. Sie lud sich mehr Arbeit auf, als der kleine gebrechliche Körper ertragen konnte. Oft nahm sie sich nicht einmal die Zeit zu den nöthigen Mahlzeiten und erinnerte sich erst Abends spät, daß sie seit dem Frühstück nichts mehr genossen hatte. Bauliche Veränderungen in dem Hause und die Einrichtung eines neuen geräumigeren Betsaales kamen hinzu. Sie fühlte ihre Kräfte abnehmen und besorgt um das Fortbestehen der Anstalt, führte sie einen längst gefaßten Entschluß aus, indem sie mit ihrer Schwester ihr sämmtliches Vermögen und die Anstalt dem vielgenannten Herrn Zeller durch eine gerichtliche Schenkungsurkunde übertrug: „Er bleibe Hausvater, Arzt und Priester, Ein und Alles in diesem Hause.“ Der Typhus brach um diese Zeit in Männedorf und Umgebung aus, Jungfer Trudel leistete das unmöglich Scheinende. Allein die anhaltende Überanstrengung untergrub den ohnehin geschwächten Körper. Eine fieberhafte Krankheit warf sie auf’s Krankenlager und am 6. September 1862 verschied sie, neunundvierzig Jahre alt, viel bedauert, beweint und besungen. – Die Fortdauer ihrer Anstalt war durch ihre Schenkungsverfügung und den Eifer des in ihrem Sinne fortwirkenden Herrn Zeller gesichert und es steht dieselbe in der schönsten Blüthe. Die niedrigen Preise, die Wohlthätigkeit gegen die Armen, die vielen Betstunden sind dieselben geblieben und auch die Heilkraft des Gebetes soll nicht abgenommen haben. Zahlreiche Touristen landen während der schönen Jahreszeit in Männedorf und sehen sich die kleinen Häuser an, um welche düstere Kranke, mit Psalmenbüchern und Tractätchen auf den Knieen, herumsitzen. Unwillkürlich wird man bei ihrem Anblick an das Wort Thekla’s erinnert: „Es geht ein finstrer Geist durch dieses Haus.“ Bei einer Anstalt, die lediglich das Werk einer opferfreudigen weiblichen Natur mit geringen irdischen Gütern ist, die keine Staatsbeiträge erhält und nur auf die bescheidenen Einkünfte durch die Kostgelder der zahlenden Kranken angewiesen ist, wird Niemand große äußere Pracht und Bequemlichkeit der Einrichtung erwarten. Eine puritanische Einrichtung herrscht wirklich in den Zimmern, den Speise. und Betsälen. Die Erinnerung an die Gründerin aber lebt auf dem Schauplatz ihrer eifrigen Thätigkeit ungetrübt fort, und wie sehr wir auch von ihren religiösen Anschauungen und ihren Lebensgrundsätzen abweichen, so muß man doch ihrem uneigennützigen Streben und Wirken Gerechtigkeit widerfahren lassen.
Die Achtundzwanzig von Rochdale.
Lange bevor „der Vater des deutschen Genossenschaftswesens“ seinen Namen und den seiner kleinen preußischen Vaterstadt zu Weltnamen erhoben hat, waren in England Versuche cooperativer Association gemacht worden, der erste schon Ausgangs des vorigen Jahrhunderts, im Jahre 1795 zu Hull. Keine dieser auf cooperativen Grundlagen basirten Gesellschaften gedieh, keine erfüllte die Erwartungen, die man von ihnen hegte, Hunderte von dergleichen Arbeitervereinen vielmehr gingen nach kurzem Bestehen elend zu Grunde, bis im Herbste 1844 jene vielgenannten „achtundzwanzig Pioniere von Rochdale“ sich zusammenthaten und aus den allerbescheidensten Anfängen allmählich ein ganzes System von cooperativen Etablissements in’s Leben riefen, welche mit sehr bedeutenden Mitteln arbeiten und den Betheiligten einen großen Gewinn abwerfen.
Die Geschichte dieser Rochdaler Association ist schon oft erzählt worden; es ist bekannt, daß achtundzwanzig Weber von Rochdale, einer ansehnlichen Fabrikstadt in Lancaster unweit Manchester, in welcher sich u. A. die Spinnerei und Baumwollenmanufactur des berühmten liberalen Parlamentsmitgliedes John Bright befindet, auf den Gedanken kamen, sich nicht länger von Fleischern, Gewürzkrämern und Trödlern ausbeuten zu lassen, sondern den Gewinn dieser Leute selbst in die Tasche zu stecken; daß sie in Folge dessen Jeder ein Pfund Sterling zusammenbrachten – und mit welcher Mühe! – und mit dem eingeschossenen Gelde in einer kleinen Nebenstraße einen Laden eröffneten, in dem sie Thee, Zucker und Kaffee verkauften; bekannt, wie sie sich von allen Seiten, am meisten von ihren Cameraden, verspottet und verhöhnt sahen, wie sie aber muthig ausharrten; wie das Unternehmen prosperirte von Woche zu Woche sich weiter entwickelte und schließlich die Arbeiter in Schaaren herbeiströmten, sich an dem Verein zu betheiligen, welcher schon im Laufe der ersten fünf Jahre dem Verkaufsladen im abgelegenen Gäßchen eine Reihe anderer anfügte; wie die verbundenen Arbeiter nicht nur ihre eigenen Specerei- und Zeughändler, ihre eigenen Bäcker und Fleischer, sondern selbst ihre eigenen Müller wurden.
[363] Von Alledem, ist auch in deutschen Blättern und Schriften mehrmals und ausführlich die Rede gewesen, ich will also nicht wiederholen, was jedenfalls die meisten unserer Leser bereits wissen, sondern nur mittheilen, was ich eines Theils aus dem Munde eines der Achtundzwanzig selbst, theils aus dem neuesten Jahrgang (1868) des von der Genossenschaft alljährlich veröffentlichten Almanachs über die derzeitigen Zustände ihrer verschiedenen cooperativen Unternehmungen erfahren habe, die in ihrer Gesammtheit jetzt in der That als eine Institution, eine große Institution Englands bezeichnet werden müssen.
„Sie wissen, Herr,“ so begann der alte Rochdaler Weber, mein gefälliger Gewährsmann, „wir waren ursprünglich unser achtundzwanzig Mitglieder, heute zählt dieser einzige Verein nahe an siebentausend oder, wenn Ihnen an der genauen Ziffer liegt, sechstausend achthundert und dreiundzwanzig am ersten Januar dieses Jahres. Gegen das Vorjahr gehalten ist es ein Plus von fünfhundert und siebenundfünfzig, was am besten beweist, daß wir noch fort und fort im Gedeihen und Wachsen sind. Wie hoch veranschlagen Sie wohl die Summe, welche wir im letzten Jahre in unseren verschieden Stores (Verkaufsläden) eingenommen haben? Hier steht es schwarz auf weiß, da im Directorialbericht auf der ersten Spalte unseres diesjährigen Almanachs: ,Für verkaufte Waaren an baarem Gelde eingenommenen zweimalhundert vierundachtzigtausend neunhundert und zehn Pfund Sterling’. Nun, was sagen Sie dazu? Läßt sich das Sümmchen nicht hören?
„Gott im Himmel,“ fuhr der Alte fort, während die Augen ihm feucht schimmerten, „wenn sie noch Alle lebten von den damaligen Achtundzwanzig und den heurigen Almanach sehen könnten! Was würden die für Augen machen, sie, die es noch wußten, in welchem winzigen Lädchen wir unser Geschäft begannen! Und wie hebt sich dies von Jahr zu Jahr! Da lesen Sie, 1867 betrug unser Umsatz ziemlich fünfunddreißigtausend Pfund Sterling mehr, als 1866. Natürlich geht es bei solch’ einem Verkehr ohne ein hübsches Profitchen nicht ab; im vorletzten Jahre belief nach Abzug sämmtlicher Kosten für Verwaltung, Zinsen, Miethen etc. unser Gewinn sich in genauen Zahlen auf einundvierzigtausend sechshundert und neunzehn Pfund Sterling, und wenn wir in dieser Weise fortarbeiten, so können wir uns mit der Zeit als ganz respectable Leute betrachten. Muß aber immer und immer wieder an meine Cameraden denken, daß die das nicht mehr erlebt haben! Wie würden die vor Staunen die Hände über dem Kopfe zusammenschlagen, wenn ich ihnen die Gesammtsumme unsers Vermögens Posten für Posten vorrechnete! Denken Sie, Herr, wir verfügen gegenwärtig über ein baares Capital von mehr als einhundert achtundzwanzigtausend Pfund Sterling. Nun, dürfen wir alte Weberpioniere uns dieses Erfolges nicht rühmen? Trotzdem sind wir nicht etwa Knauser, die nur auf’s Zusammenscharren sinnen, blos trachten, wie sie Schilling um Schilling zurücklegen und aufsammeln können; nein, wir sind immer bei der Hand, wo es sich um eine wesentliche und bleibende Verbesserung und Verschönerung unserer Anstalten handelt. Betrachten Sie sich einmal das Bild, die Kopfvignette auf unserem Almanach; das stellt unser neues Centralmagazin vor. Nicht wahr, ’s ist ein gar stattliches, schönes Bauwerk? Es ist aus behauenen Steinen aufgeführt, vier Stock hoch und, wie unser Baumeister gesagt hat, in byzantinisch-gothischem Stile errichtet. Vorn haben wir eine große Uhr angebracht und darüber einen Bienenstock, der andeuten soll, daß in dem Hause Jeder seinen Honig gewinnt. Freilich kostet uns das Gebäude ein schweres Stück Geld, mehr als fünfzehntausend Pfund, aber es ist auch eine Hauptzierde unserer guten Stadt Rochdale geworden.
Das ist jedoch noch lange nicht Alles, was wir neuerdings gebaut und in’s Werk gerichtet haben. Auch eine wahre Riesenbäckerei haben wir hergestellt, um Allen, die nicht selbst backen können oder wollen, gutes, gesundes und billiges Brod zu liefern, aus reinem Weizenmehl, ohne Zuthat von Alaun, Schlemmkreide und Kartoffelstärke, wie wir sie bei so vielen unserer Bäcker mit in Kauf nehmen müssen. Ferner stehen wir so eben im Begriff, eine ganze Colonie von hübschen Cottagehäusern anzulegen, damit die Arbeiter nicht mehr in den finsteren, schmutzigen, dumpfen Miethquartieren in den tristen Seitengassen zu wohnen brauchen, sondern helle, freundliche Zimmer am eigenen Heerd gewinnen. Vorläufig sind für dies Unternehmen zehntausend Pfund Sterling bestimmt. Daneben haben wir in der Nähe ziemlich umfängliche Ländereien erworben, über deren zweckmäßigste Verwendung wir noch Berathung pflegen. Das Alles, wohlverstanden, alterirt das baare Capital nicht, von dem ich Ihnen erzählte; dies ist vielmehr eine ganz selbstständige Summe für sich. Wie Sie wissen werden, hat das Parlament alle Beschränkungen aufgehoben, welchen sonst die sogenannten Cooperativ-Gesellschaften unterworfen waren; wir können daher uns auf jedwedes mercantilische und industrielle Unternehmen einlassen, das uns lohnend zu werden verspricht; blos Bankgeschäfte dürfen wir nicht treiben, und das ist uns jedenfalls nur zu unserem Besten untersagt. Wie leicht könnte es uns sonst ergehen wie gewissen schottischen Banken, von deren raschem Lauf und Ende Sie gewiß vernommen haben.
Kein Mensch wird mithin leugnen können, daß unsere Gesellschaft im schönsten Flore steht, dennoch giebt es einzelne Arbeiter, die aus unserer Verbindung wieder austreten, und zwar erreicht das Capital, welches damit zugleich aus dem Vereine gezogen ward, die Summe von fast neununddreißigtausend Pfund Sterling. Man sollte nicht glauben, daß bei den Vortheilen, die wir jedem unserer Mitglieder bieten, dergleichen Ausscheidungen überhaupt stattfinden könnten, allein die Gründe dazu sind verschieden und manchmal wirklich dringend. Der Eine hat vielleicht eine Tochter auszustatten oder muß draußen in der Fremde einen Sohn etabliren oder will sich ein eigenes Hans kaufen, welches er gerade billig bekommen kann etc. Uebrigens erhält jeder Aktionär sein Geld auf der Stelle zurückgezahlt, wenn er es verlangt, nebst fünf Procent Zinsen bis zum Momente des Austritts; folglich gewähren wir noch größere Vortheile, als die Sparcassen. Ungeachtet dergleichen Rückzahlungen aber ist unser Capital seit vorigem Jahre doch um mehr als achtundzwanzigtausend Pfund Sterling gewachsen.
Was wir mit unserem Gewinne anfangen, möchten Sie wissen? Nun, Herr, der Almanach giebt Ihnen auch darüber Aufschluß. Alle Vierteljahre wird unser Gewinn verrechnet, zu allererst kommen fünf Procent Zinsen von sämmtlichen eingezahlten Actien in Abzug, sodann schreiben wir jährlich zehn Procent Abnutzung ab auf alles nichtbaare Vermögen, auf Häuser, Utensilien, Maschinen und dergleichen, – vielleicht etwas hochgegriffen, werden Sie denken, indeß hier ist ein Zuviel ohne Zweifel besser, als ein Zuwenig. Drittens kürzen wir vom gesammten Nettoprofit noch zwei und ein halbes Procent für Erziehungszwecke – eine Anlage, die Sie sicher billigen werden, – und was dann vom Reingewinn bleibt, das kommt zur Vertheilung an die Mitglieder je nach dem Capital, welches jedes derselben in der Gesellschaft stehen hat. 1866 erhielt Jeder von allen Einkäufen im Betrage von je einem Pfund Sterling, die er in einem unserer Magazine macht, zwei Schilling und sieben Pence zurück.“
„Was verstehen Sie unter Erziehungszwecken? Bezieht sich dies auf den Elementarunterricht, und wird dieser Ihren Kindern unentgeltlich gewährt?“ unterbrach ich meinen verständigen, mittheilsamen, greisen Weber.
„Lassen Sie abermals den Almanach für mich antworten,“ erwiderte er. „Hier finden Sie die gewünschte Auskunft. Sie entnehmen daraus, daß wir uns mit dem gewöhnlichen Lese-, Schreib- und Rechenunterricht nicht abgeben, das bleibt Privatsache jedes Einzelnen; wir haben vielmehr blos die praktische und gesellschaftliche Ausbildung unserer jüngeren und älteren Männer im Auge, wenn wir von ,Erziehungszwecken’ sprechen. Wie Sie auf dem Kalender angegeben finden, besitzen wir eine Bibliothek von ungefähr siebentausend Bänden guter, gemeinnütziger Schriften, für alle Classen und Lebensalter von Lesern. In der Literatur bekennen wir Pioniere uns zu keiner Partei, wir nehmen das Gute überall, wo wir’s antreffen. Daneben haben wir noch ein anderes Institut, unsere Nachweisbibliothek, eine Sammlung von hundert und fünfzig Bänden, Werken ersten Ranges, aus denen wir uns unmittelbar über alle der Gemeinschaft nahe liegenden Interessen ausgiebig unterrichten können. Endlich sind in jedem unserer Lesezimmer große Globen, die besten Karten und Atlanten, Teleskope und Mikroskope zum freien Gebrauch der Mitglieder vorhanden; so haben wir uns z. B. eine vortreffliche Karte von Abessinien angeschafft, auf welcher wir den Marsch unserer Armee Schritt für Schritt zu verfolgen im Stande sind. Solcher Lesezimmer giebt es bis jetzt eilf, sammt und sonders wohlgelüftet, gut geheizt und beleuchtet, mit bequemen Sitzen und Lesepulten für unsere großen Zeitungen. Alle diese Lesecabinete liegen in den zumeist von Arbeitern bewohnten Straßen Rochdales, so daß Niemand
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weit zu gehen braucht, wenn er nach Feierabend oder in den Mittagsstunden nach seinem gewohnten Lesezimmer will, wo er, Tages- und Wochenblätter, Monats- und Vierteljahrschriften, die alle möglichen politischen, religiösen und socialen Meinungen vertreten, in reicher Anzahl ausgelegt findet. Alle drei Monate werden die älteren Zeitungen und Journale verkauft; um eine Kleinigkeit kann dann der Arbeiter eine Reihe der werthvollsten Zeitschriften in seinen Besitz bringen.
Die ,Achtundzwanzig’ eröffneten ihren Handel mit einem kleinen Vorrath von Specereiwaaren; Jeder brauchte Thee, Zucker und Kaffee und das Geschäft konnte verhältnißmäßig ohne viel Mühe und Auslagen geführt werden. Jetzt begreifen wir unter ,Specereiwaaren’ eine unendliche Mannigfaltigkeit von Artikeln. Unser Zweck ist eben auch, Zeit und Mühe zu sparen, und wir halten es nur für recht und billig, daß sich die Arbeiterfrau, die Handwerkertochter Alles, was sie für den Haushalt einer Woche oder, nach Umständen, eines Halbjahres nöthig hat, in einem und demselben Laden kaufen könne. Außer dem großen Centralmagazin, welches auf dem Almanach abgebildet ist, haben wir noch zehn andere Niederlagen; in jeder kann ein Kind die gewöhnlichen Specereiwaaren für die Familie besorgen, denn diese ist sicher, daß es die besten Artikel und volles Gewicht erhält. Es würde Ihrem Herzen wohl thun, könnten Sie einmal Freitag Abends beobachten, wie die armen Leute, nicht blos Mitglieder unseres Vereins, in unseren Stores ihre Einkäufe machen. Sie wissen, hier werden sie nicht betrogen, und was sie bekommen, viel oder wenig, ist echt und gut.
Zeuge und Ausschnittwaaren überhaupt finden Sie in diesen Läden nicht. Ein Kleid oder ein Shawl ist für die Arbeiterfrau schon ein Gegenstand von Belang, der gehörige Ueberlegung und allseitige Erwägung heischt. Für die Besorgung solch einer ernsten Angelegenheit können unsere Weiber und Töchter schon einmal einen etwas weiteren Weg anwenden. Wohl aber haben wir eigene Tuch- und Ellenwaarenhandlungen etablirt, welche für unsere Frauen Alles in sich vereinigen, was zu ihr ein Anzug nur gehört, von dem Schuh und Strumpfband bis zum Hute und Wintermantel. Am Sonnabend Nachmittags zwei Uhr werden unsere sämmtlichen Magazine, Specerei-oder Tuchläden, geschlossen, da wir den darin Beschäftigten neben dem an sich arbeitsfreien Sonntag allwöchentlich gern noch ein paar freie Stunden gönnen.
Ja, ja, Herr, wir dürfen uns schon ,Pioniere’ nennen, denn wir haben für eine Schaar von Nachfolgern die Bahn gebrochen. So ist zum Beispiel nach unserm Vorgange und zum Theil unter unserer Mitwirkung hier in Rochdale selbst die genossenschaftliche Getreidemühlengesellschaft (Cooperative Cornmill Society) in’s Leben getreten. Sie ist mit einem Capital von achtundneunzigtausend Pfund Sterling fundirt und hat im vorletzten Jahre einen Umschlag von mehr als dreihundertundsechsundfünfzigtausend Pfund Sterling gemacht, mit einem Reingewinn von etwas über achtzehntausend Pfund. Jede Woche liefert sie vierzehnhundertundachtzig Sack unverfälschten Weizenmehls, hundertachtundzwanzig Last Hafermehl und fast neunhundert Last Malz. In diesem Augenblicke beginnt die Gesellschaft mit einem Kostenaufwand von zehntausend Pfund Sterling auch eine große Bierbrauerei zu gründen, damit dem Arbeiter reines, nahrhaftes Ale und stärkender Porter nicht fehlen.
Ein cooperativer Bauverein, der seinen Mitgliedern fünf Procent Zinsen gewährt, eine Kranken- und Begräbnißgesellschaft, eine cooperative Feuerversicherungscompagnie, die soeben ihre Wirksamkeit eröffnet hat – dies Alles haben wir nach und nach hergestellt, und wenn uns Geschick und Umstände günstig bleiben, wie, einige durch die amerikanische Baumwollenkrisis im letzten Kriege veranlaßte Verluste abgerechnet, sie es seither gewesen sind, so läßt sich wirklich gar nicht absehen, wohin und wie weit wir unsere Thätigkeit noch ausdehnen werden. Was wir aber auch unternehmen, unsere alte Devise: ‚Vorsicht und Sorgfalt’ halten wir aufrecht, und somit steht nicht zu fürchten, daß wir, gleich so manchen vom Glück begünstigten Speculanten, das Gewonnene leichtsinnig und tollkühn auf’s Spiel setzen.
[365] Meinen Sie nicht auch, Herr, daß der Almanach da auf seinem einzigen Blatte Vielerlei lehrt, auf das wir ,achtundzwanzig Pioniere’ wohl einigermaßen stolz sein dürfen?“
Mein Alter hatte Recht. Wenn Irgendjemand, so haben die Weber von Rochdale alle Ursache sich ihrer Leistungen zu rühmen. Mit dem Gefühle inniger Hochachtung schied ich von dem schlichten und doch so einsichtsvollen Manne, aber auch mit dem stillen Bedauern, daß den achtundzwanzig Pionieren bis jetzt noch keine ebenbürtigen Genossen in Deutschland erstanden sind. Wie Bedeutendes auch bei uns schon erreicht ist, das Werk der Weber von Rochdale hat seines Gleichen noch nicht gefunden; dagegen hat in den Schulze’schen Associationen und Vorschußbanken Deutschland sogar Bedeutenderes als England zu leisten verstanden.
Frei vom Türkenjoch!
Die fünfhundertjährige türkische Herrschaft im Südosten Europas bezeichnet einen fünfhundertjährigen Stillstand auf dem Gebiete der Cultur. Alle die großartigen Processe, Erfindungen
und Fortschritte, welche unserem Erdtheile seine heutige Physiognomie
aufgedrückt haben, sind an diesen vom Abendlande durch
Grenz- und Pestcordon hermetisch abgeschlossenen Ländern spurlos
vorübergegangen. Mit der Aufpflanzung des türkischen Blutbanners
versanken die einst blühenden Länder in eine Art Zauberschlaf
und erst seit wenigen Jahrzehnten ist für das junge Serbien
der Morgen des Erwachens angebrochen.
Wer Serbiens höchsten Berg, den bis zu sechstausend Fuß anragenden Kopaonik besteigt, von dem man nach Aussage der dort weidenden Hirten „die ganze Welt erblickt“, und dann sein Auge über die Landesgrenze hinaus nach Süden schweifen läßt, der sieht von den Fluthen der Sitnitza durchrauscht eine Hochebene vor sich auftauchen, welche die Erinnerung an große, verhängnißvoll gewordene Momente erregt, die für Jahrhunderte den europäischen Südosten dem traurigen Loose der türkischen Barbarei überantworteten. Welcher Geschichtskundige könnte bei dem Anblick der Ebene von Kossowo gleichgültig bleiben, des „Amselfeldes“, auf dem die christlichen Ungarn, Polen, Bosnier und Serben die blutigen Schlachtwürfel über ihre Zukunft zwei Mal (1389 und 1448) entscheiden ließen, auf dem Sultan Amurad und der letzte, heiliggesprochene Serbenfürst Lazar am einem Tage ihre Seelen aushauchten? Dann kam der Schlaf. –
Aber unser Jahrhundert, das so viele Barbarei niedergeworfen, es sah auch den Fall der Türkenherrschaft in Serbien. In den tiefen Waldschluchten, wo aus dichtem Grün die Kuppeln der byzantinischen Klöster und Kirchen hervorragen, in den niedrigen Hütten des Landmannes, der hier nach alter Vätersitte in großen Familien zusammenwohnt, die Haus und Hof, Vieh und Feld alle gemeinsam besitzen und vom Aeltesten regiert werden, da gährt es und kocht es. An der Spitze seines Volkes steht Kara Gjorje, der schwarze Georg, um die Türken zu verjagen, und neu entbrennt jener serbische Freiheitskrieg, den unser großer Historiker Ranke so meisterhaft geschildert hat. Seltene Vaterlandsliebe und bewundernswerthe Selbstverleugnung bildeten die einzigen Hilfsquellen des Volkes. Nicht, wie später den Griechen, kam eine von der ganzen gebildeten Welt gekannte herrliche Vergangenheit den Serben zu statten. Die geringe Habe jedes Einzelnen bildete das Arsenal, die Cassen, aus welchen der serbische Freiheitskrieg seine Kräfte sog. Selbst Belgrad fiel vor den muthigen Stürmern, aber der Friede von Bukarest (1812), den die Türken auf ihre Weise auslegten, brachte letztere wieder in den Besitz der Festungen.
[366] Abermals entbrannte der Kampf und zwar in demselben Jahre 1813, welches der Mehrzahl der Völker Europas die Befreiung vom Fremdenjoch brachte. Nicht so den Serben. – In dem kleinen Kirchlein zu Topola, im Süden Belgrads, wo nur mühsam das Tageslicht durch die engen Fenster fallt, erhellt der matte Strahl der ewigen Lampe eine einfache Marmorplatte. Sie deckt die Gebeine und den abgetrennten Schädel des Helden der Waldgebirge, des Führers der ersten verunglückten serbischen Erhebung, des vielgenannten Kara Gjorje. Von Mörderhand getödtet prangte sein Kopf als Siegestrophäe an der Serailpforte zu Stambul – aber heute ruht er im freien Vaterlande.
Als im Jahre 1813 der schwarze Georg in der Flucht nach Oesterreich sein Heil suchte, da war es noch Ein Mann, der den Glauben an die Unabhängigkeit seines Vaterlandes nicht verlor und entschlossen war, den Tod der Knechtschaft vorzuziehen. Er zog sich in die düstern Eichenforste der Schumadia zurück und bereitete dort jene Erhebung vor, welche seinem Lande nach neuen, glücklicherweise kurzen Leiden endlich die dauernde Unabhängigkeit sichern sollte. Dieser Mann war Milosch Obrenowisch. Am Palmsonntag 1815 rief er bei Takovo sein Volk zur Abwerfung des Türkenjoches auf. Der Archimandrit Melentie, selbst angethan mit Schwert und Kreuz, segnete die Waffen der begeisterten Freiheitskämpfer, die zu siegen wußten, die Schmach des Amselfeldes rächten und das Vaterland frei machten.
Wohl regierte Fürst Milosch, dem 1831 von der Pforte die erbliche Fürstenwürde zuerkannt wurde, oft gewaltthätig und unumschränkt. Aber er bändigte jene kleinen Adeligen, die gern einen Feudaladel gebildet hätten, und wenn heute jeder einzelne Serbe voll Bewußtsein ausrufen darf: Jeder Serbe ist adelig, jeder ein Edelmann! wem verdankt er dieses, als eben diesem Fürsten Milosch, welcher mit der ihm eigenen Energie die ersten Ansätze einer Herrenkaste vernichtete?
An die Pforte zahlt jetzt Serbien nur einen jährlichen Tribut von zweiundvierzigtausend Ducaten: Das ist Alles, was an die ehemalige Abhängigkeit vom Sultan erinnert, denn auch die Festungen, selbst Belgrad, die bis vor Kurzem von den Türken besetzt waren, sind nun ganz an die Serben übergeben worden und kein Muselman tritt den freien Boden Serbiens, das ungehindert seiner Blüthe entgegengeht. Jene Festungen waren zum Theil noch vor der Erfindung des Schießpulvers erbaut, verwahrlost, großentheils von Anhöhen auf Flintenschußweite beherrscht, und doch hielt die Pforte fest an den alten romantischen Nestern, die, wie Uschitza und Sokol, gleich Adlerhorsten auf den steilen Fels geklebt erscheinen. Ueber holperige Saumpfade – echte Zeugen türkischer Wirthschaft – und hohe Berge hin nähert man sich dem letzteren Schlosse, das auf vereinzelter Kuppe, umgeben von mächtigen Gebirgen, mit seinen Thürmen über dem gleichnamigen Städtchen daliegt, Droben, in der Luft, umkreisen Falken und Geier den Wartthurm der Burg, deren serbischer Name selbst „Falke“ bedeutet. Gefährlich, wie diese Raubvögel, waren noch vor nicht langer Zeit die Sokoler Türken der christlichen Bevölkerung in der Nachbarschaft. Seit 1862 aber ist Sokol geschleift und am 6. Mai 1867 verließen die Truppen des Sultans auch Belgrad, ihren letzten Stützpunkt auf serbischem Boden.
Wie steht Serbien heute da? Hat es die Tage seiner Freiheit redlich benutzt, ist es eingelenkt in die Reform des Fortschritts, zeigt es sich würdig der Unabhängigkeit und wird es die große Mission erfüllen, ein reformirender Erbe der verwahrlosten türkischen Nachlassenschaft zu sein, das Letzte und Größte vollbringen: die asiatische Barbarei gänzlich vom europäischen Boden verdrängen, und eine glänzende Zukunft in den reich gesegneten Ländern am Balkan anbahnen? Wir hoffen und wünschen: Ja! Wer den Serben da aufsucht, wo er noch unberührt von fremden Einflüssen blieb, in jenem von der Morava, der Drina und der Save umflossenen Gebiete, in jenen engen Bergschluchten und dichten Forsten, welche den serbischen Freiheitskampf gebaren, der wird ihn lieb gewinnen. Dort tritt er uns entgegen in seiner malerischen Tracht, stets bewaffnet – seine Waffen legt er nicht ab – denn Alles, was mit dem Kriegerhandwerk zusammenhängt, hat bei ihm die größte Bedeutung.
Neben manchen schlimmen hat sich der Serbe auch die guten Seiten seines Nationalcharakters zu bewahren gewußt. Jahrhunderte hindurch abgesperrt von aller Welt, hat er an deren civilisatorischen Fortschritten keinen Antheil genommen. Der Sinn für die Familie, die Liebe zum Vaterlande, für dessen Größe und Freiheit und der persönliche, jeder Knechtschaft abholde Mannesmuth sind nicht nur in den besseren Classen, sondern in dem einfachsten Landmann gleich lebendig. Mit starrer Zähigkeit hält er an seinen alten Sitten und Gebräuchen fest. Die Tugend artet selbst in Eigensinn aus, wo veränderte Verhältnisse oft das Aufgeben des traditionell Ererbten anrathen würden. Noch immer schaut der Serbe – ein arger Fehler! – mit Verachtung auf das Handwerk herab, und ob sich bei ihm ein Bürgerstand, der Träger unserer heutigen Cultur, entwickeln wird, steht erst noch abzuwarten.
Indessen ist die Regierung redlich bestrebt, das Land zu heben und die Versumpfung auszutilgen, welche die Türkenherrschaft hinterließ. In Anbetracht der kurzen Zeit, seit welcher Serbien seine Freiheit genießt, ist hier auch bereits Anerkennenswerthes geleistet worden. Serbien ist das einzige Land des ehemals türkischen Reiches, wo bereits Personen- und Warenverkehr die ersten Segnungen eines im europäischen Stile angelegten Verkehrswesens empfinden. Wenigstens die Hauptstraßen sind ausgebaut, es giebt Posten und Telegraphen, wenn auch noch keine Eisenbahnen. Mit der Zeit dürfte sich auch die Landwirthschaft, die auf der allerniedrigsten Stufe steht, heben, denn der christliche Landbauer war von den Türken mit unerschwinglichen Abgaben belastet, er arbeitete für den Fremden und Haus und Hof verfielen; nur die Borstenviehzucht blieb in Blüthe und noch heute liefert sie den wichtigsten Exportartikel des Landes, das, reich an Silber, Eisen, Kohlen, Holz, dereinst ganz anders im Handel auftreten und wobei ihm die prachtvolle natürliche Wasserader der Donau, an die es grenzt, von unendlichem Nutzen sein wird.
Auch der Unterricht in Serbien, das sogar zu Belgrad eine Universität besitzt, hat sich mächtig gehoben. Als die Türken vor fünfzig Jahren das Land verließen, gab es dort keine einzige Schule und heute entfällt bereits auf einundsechszig Köpfe ein Schüler. Wenn auch die griechisch-orthodoxe Kirche die herrschende ist, so sind doch alle Religionen frei und ihre Bekenner ungehindert in der Ausübung des Gottesdienstes, was bekanntlich in manchen abendländischen Reichen noch immer nicht der Fall ist. Was die Justiz betrifft, so galt in der ersten Zeit der Regierung des Fürsten Milosch noch das Herkommen und das Gewohnheitsrecht. Heute sucht man sich Europa auch in dieser Beziehung mehr anzubequemen, wenn auch der Stock und die Prügelmaschine noch immer als unentbehrlich gelten. Eine serbische Gerichtsscene der primitivsten Art zeigt unser Bild. Unter freiem Himmel sitzt gestrengen Blickes Ilija Antonievitsch, einer jener Vögte, die in der Gunst des alten Milosch hochstanden, in ihrem Bezirke aber durch Uebermuth, Ungerechtigkeit und Willkür sich verhaßt machten. Vor ihm stehen zitternd zwei Bauern, die seit langem über das Eigenthumsrecht auf einem Weidegrund mit einander streiten, und im Hintergründe lauert die sinnreich construirte Prügelmaschine. Wir sehen sogar zwei solcher Strafwerkzeuge, das eine, eine Stehprügelmaschine für weibliche Sträflinge bestimmt, welchen Kopf und Hände zwischen Halbkreisausschnitten zweier Bretter gesteckt werden, und eine andere für Männer, zur Züchtigung im Liegen, wobei dem Sträfling die Hände an’s Brett befestigt sind. „Vertragt Euch – oder –!“ so lautete in der Regel der Spruch des Gestrengen für die Parteien. Und sie vertrugen sich. Immer seltener werden diese Scenen und wir wollen wünschen, daß unser Jahrhundert noch nicht ausgeläutet hat, bis zum letzten Male jene Instrumente zur Anwendung kamen, die schon in der äußern Erscheinung an die Folterkammern des Mittelalters erinnern.
Und wo wäre heute in Europa ein Staat, der nicht seine bewaffnete Macht hätte, bei dem es nicht widertönte von Hinterladern und gezogenen Kanonen, wo das Militärbudget nicht bis zum Aeußersten emporgeschraubt wäre? Auch Serbien erfreut sich aller dieser schönen Dinge, es besitzt ein europäisch eingeübtes und uniformirtes Heer, hinter dem eine starke Nationalmiliz steht. Es giebt eine Militärakademie, Militärzeitung, Arsenale, Kanonengießereien – Alles wie bei uns. Serbien wird sein Heer gebrauchen, denn nicht durch diplomatische Noten, sondern mit Pulver und Blei wird man die „orientalische Frage“ lösen, und Serbien spielt dann die erste Rolle im Kampfe gegen die Türken.
Hoffen wir, daß dann die ersten Blüthen, die dort in Wissenschaft und Kunst zu sprießen beginnen, nicht im Pulverdampf ersticken [367] mögen, daß sie vielmehr kräftig weiter gedeihen, damit einst Serbien ebenbürtig eintrete in die Reihe der weiter vorgeschrittenen abendländischen Staaten. Noch steht dort Alles in den Anfängen, noch ist dort viel zu thun, aber an Vorbildern fehlt es nicht. Serbien möge auch seinem eigenen Genius vertrauen und nicht im panslavistischen Nivelliren seine Zukunft suchen. Ein Anschluß an das halbasiatische Rußland bedeutet keineswegs den Fortschritt.
Anlaß zu obigen Zeilen bot uns ein soeben erschienenes Werk, das der deutschen Literatur zur Zierde gereicht und in so umfassender Weise, wie es bisher noch niemals geschehen, uns mit dem südslavischen Zukunftsstaate bekannt macht. Wir meinen: Serbien. Historisch ethnographische Reisestudien aus den Jahren 1859-1868 von F. Kanitz. (Leipzig, Verlag von H. Fries.) Zehn Jahre lang hat der Verfasser das Land durchwandert, kein wichtiger Punkt blieb von ihm unbesucht, er beschrieb die römischen Alterthümer, lauschte den Sagen und Gesängen des Volks und studirte dessen gesellschaftliche und politische Zustände. Die Frucht seiner Studien, ein umfangreiches, prächtig ausgestattetes Werk, liegt nun vor uns – es ist gleich anziehend für den Gelehrten wie den Laien und dient dazu, unsere bezüglich Serbiens wesentlich befangene und unvollkommene Kenntniß gründlich zu reformiren. Auch die charakteristischen Zeichnungen, von denen wir zwei mitzutheilen im Stande sind, rühren vom Verfasser her, bei dem Kunst und Wissenschaft sich die Hand reichten, um das schöne Werk zu schaffen.
Skizzen aus dem Zollparlament.
Wenn die Leser der Gartenlaube bei diesen Zeilen verweilen,
ist die große Versammlung, in deren Mitte sie geführt werden
sollen, geschlossen. Wie der Erfolg derselben auch gewesen sein
möge, immer werden die hervorragendsten der Volksvertreter die
Theilnahme des deutschen Volks auf längere Dauer sich erworben
haben, denn wenn irgend wer den Beruf hat, auf den Gang der
Geschicke seines Vaterlandes ernsten Einfluß zu üben, so sind es
die erwählten Abgeordneten des Volkes. Das erste deutsche
Zollparlament bestand zu drei Viertheilen aus Mitgliedern des
Norddeutschen Reichstags. Nur siebenundachtzig Abgeordnete hat der
Süden Deutschlands gewählt. Im Reichstag haben die Kämpfe
um hohe constitutionelle Fragen erwiesen, daß die fortschrittlichen
Fractionen nur über wenig Stimmen mehr gebieten, als die
conservativen Parteien des Hauses. So mußte im Zollparlament
Denjenigen der Sieg zufallen, für die sich die Mehrheit der süddeutschen
Abgeordneten entschied, vorausgesetzt, daß die Parteien des
Parlaments nach derselben Richtung sich sonderten und stimmten, wie
im Reichstage. Dies war aber keineswegs immer der Fall. Eine
durchaus andere Coalition zeigten die Debatten über die deutsche
Frage, eine andere die Verhandlungen über die großen
wirthschaftlichen Gesetzentwürfe, über die das Zollparlament zu
entscheiden hatte. Bündnisse von heut auf morgen wurden geschlossen
und lösten sich. Die Parteien lebten so zu sagen von der Hand
in den Mund. Kein Wunder, wenn sich preußische Hochtories,
gemäßigte Conservative, Nationale, Fortschrittsleute, Radicale,
Ultramontane, Bairisch-Conservative, Schutzzöllner, Freihändler,
und zwar verschämte und unverzagte, Tabakbauer, Weinhändler,
Hochöfenbesitzer und Flachsspinner in einem Hause und in einem
Beschlusse zusammenfinden mußten.
Indessen, wie immer die Majorität sich neigen mochte, immer war die Majorität der Süddeutschen eine sehr ansehnliche Stimmenzahl, häufig entscheidend. Schon aus diesem Grunde verdienen sie besondere Beachtung. Daß wir sie allein den Lesern vorführen, hat darin seine Rechtfertigung, daß die Mitglieder des Norddeutschen Reichstags den Stammgästen der Gartenlaube längst bekannt sind. Ist aber ein vergleichender Blick gestattet auf die Abgeordneten Norddeutschlands im Vergleich zu Denen, die der Süden nach Berlin sandte, so geht unser Urtheil dahin: Der Süden hat mehr Originalcharaktere gewählt, als der Norden, Redner von außerordentlicher Begabung, mehr Feuer, mehr zündende Beredsamkeit, als sie in den Räumen des Reichstags in der Regel gehört wird, mehr Köpfe, die sich äußerlich und geistig betrachtet durch ihre hervorragende Eigenthümlichkeit dem Beobachter unverlöschlich einprägen, sehr viel heißblütige Naturen, die auch bei weißen Haaren das südliche Temperament bewahrt haben, die in den ruhigen Stunden, wo sie lediglich als Zuhörer der Debatte folgen, so viel Bewegung in Miene und Blick zeigen, wie die lebhaftesten Redner Norddeutschlands auf der Tribüne. Die meisten Süddeutschen haben wir in den Sitzungen aufgeregt gesehen, – gewiß nicht ihrer Natur und Gewohnheit nach, wohl aber deshalb, weil die trennende Frage, die unter der harmlosen Tagesordnung von Weinzoll, Roheisen oder Petroleumsteuer schlummerte, die deutsche Frage, urplötzlich, jeden Augenblick in hoher Lohe hervorzuschießen drohte und dann allerdings auch ein norddeutsches Gemüth in Schwingung versetzte. Indessen auch solche Männer hat der Süden gesandt, aus Regierungskreisen und aus dem Volke, die über ein Antlitz voll Ruhe und Kälte, über eine Rede voll Klarheit und staatsmännischer Feinheit ebensowohl zu verfügen hatten, als über die Gewalten eines tieferregten Gemüths und Herzens. Zu ihnen zähle ich vor Allen den wackern Völk aus Baiern. Im Ganzen kann gesagt werden, daß die Intelligenz, das Wissen, die Beredsamkeit, die der Süden gestellt hat, sich mit denen des Nordens ruhig messen können. Das Einzige, was der Norden voraus hat, und namentlich die Abgeordneten aus Preußen, ist die langjährige parlamentarische Erfahrung in einem großen Staate, die völlige Vertrautheit mit der schlechten Geschäftsordnung, die Gewohnheit, in allen parlamentarischen Fragen Fühlung zu suchen mit verwandten Seelen, die Stimmung der leitenden Mächte zu erforschen, die Taktik der Debatten, z. B. die Auswahl der Redner, die Reihenfolge der Anträge etc. in Scene zu setzen. Indessen auch diese Künste können gelernt werden.
Wohl ziemt es, die Charakterbilder der Abgeordneten aus Süddeutschland zu eröffnen mit dem Fürsten v. Hohenlohe-Schillingsfürst. Er verdient diese Auszeichnung nicht nur als erster Vicepräsident des Zollparlaments, sondern hauptsächlich deshalb, weil er in seiner Stellung als bairischer Ministerpräsident die ungetheilte herzliche Verehrung jedes freidenkenden Deutschen in reichem Maße für sich beanspruchen darf. Noch niemals wohl hat ein bairischer Minister das erste Portefeuille in schwierigerer Lage übernommen, als Fürst Hohenlohe mit dem Neujahrstag 1867. So oftmals früher vollzog sich ein Ministerwechsel in Baiern lediglich aus jener gemüthlichen Liebe zur Abwechselung in den Personen der nächsten Umgebung des Herrschers, die bei dem halbpatriarchalischen Verhältniß der Krone zum Volke Niemand wunderbar oder bestürzend gefunden, Niemand verlangt hatte. So sahen wir längere Jahre hindurch die Herren v. d. Pfordten und v. Schrenck sich abwechselnd ablösen auf dem Posten des bairischen Bundestagsgesandten in Frankfurt und dem des bairischen Ministerpräsidenten in München. Aber eine tiefe fundamentale Aenderung der bairischen Politik, nicht bloßen Personenwechsel, bedeutete der Antritt des Fürsten Hohenlohe. Wie sein Vorgänger v. d. Pfordten ist auch Hohenlohe nicht bairischer Geburt; Baiern und Oesterreich lieben es, seit Jahrhunderten ihre staatsleitenden Stellen an Männer aus dem „Reiche“, am liebsten an die Söhne des altreichsfreiherrlichen Adels zu vergeben. Hier aber trat ein Mann ein, dessen fürstliches Blut ihn nicht gehindert hatte, ernsten Studien obzuliegen, von der untersten Staffel an die wunderbare Ordnung und Tüchtigkeit der preußischen Staatsverwaltung kennen zu lernen. Er hatte auf den [368] Universitäten Göttingen, Heidelberg und Bonn, theilweise zugleich mit seinem um ein Jahr älteren Bruder, dem Herzog von Ratibor, Mitglied des Reichstags und Zollparlaments, studirt, verließ erst, nachdem durch Erbvertrag die Standesherrschaft Schillingsfürst, nach der er sich nennt, im baierischen Regierungsbezirk Mittelfranken gelegen, an ihn gefallen war, den preußischen Staatsdienst, wandte fortan seine ganze öffentliche Thätigkeit Baiern zu und trat im Jahre 1846 als erblicher Reichsrath in die Erste baierische Kammer. Hier ist er von jeher unter denen gestanden, die sich durch wohlwollenden politischen und kirchlichen Freisinn und deutsche Gesinnung auszeichnen. Seine Berufung zum Ministerposten war die Anerkennung seines braven Charakters, seiner Grundsätze. Aber, wie gesagt, eine Aufgabe voll ernstester Größe stand vor ihm. Alle Kreise des Volkes, ja der Hof selbst waren leidenschaftlich erregt und der verschiedensten Meinung darüber, wie die Resultate des für Baiern so ruhmlosen Krieges für die Zukunft zu verwerthen seien. Armeereorganisation, Vereinfachung der Justiz und Verwaltung im Innern, die Gründung eines Südbundes oder der engere Anschluß an Preußen, das waren die Fragen und Begehren, die er am Neujahrstag 1867 unerledigt auf dem Ministertische fand. Die Gährung im Volke, unterhalten durch die herrschsüchtigen Ultramontanen und die verbissenen Particularisten, die in Hohenlohe die deutsche Gesinnung haßten, war eher im Steigen, als im Fallen. Dazu denke man sich die Person des jugendlichen, wohlwollenden, aber tausend dem Minister feindlichen Einflüsterungen ausgesetzten Königs, sowie die Unmöglichkeit, jetzt schon das Geheimniß des am 22. August 1866 geschlossenen Bündnißvertrags mit Preußen zu offenbaren, und man wird die peinliche Lage des Ministers ermessen. Aus diesen eigenthümlichen Verhältnissen ist zu erklären, wenn der Fürst Hohenlohe bald von dieser bald von jener Partei der Schwäche, der Halbheit, der Unaufrichtigkeit geziehen wird. Die Wahrheit ist aber das Gegentheil. Ein Minister von deutscher Gesinnung in einem Staate, in dem der crasseste Particularismus und der heimathlose Ultramontanismus das Ruder zu führen gewöhnt sind, kann nur durch das behutsamste Auftreten, nur durch schrittweise Vorwärtsbewegung hoffen, sich dem Lande zu erhalten. Und dies versteht Hohenlohe meisterhaft. Aber daß er unter Umständen, und wenn die Lage dazu angethan ist, auch deutsch zu reden und energisch zu handeln vermag, hat er im October 1867 bewiesen, als es galt die Schutz- und Trutzbündnisse mit Preußen und die Zollvereinsverträge bei der widerstrebenden Ersten baierischen Kammer durchzusetzen. Seit ihm dies gelungen ist durch die Beihülfe der Zweiten Kammer und die lebhafteste Unterstützung aus dem Volke, ist seine Stellung um Vieles sicherer und klarer. Daß er sorglos einen Monat lang seinen Sitz im Zollparlamente nehmen konnte, ist wohl der beste Beweis dafür.
Der Einfluß Hohenlohe’s auf die Versammlung ist bedeutend. Er erstreckt sich von der Fraction der Freiconservativen aus, bei der er und sein Bruder eingetreten sind, über die Conservativen, einen großen Theil seiner baierischen Landsleute und auf die baierische Fortschrittspartei, die in ihm den frei- und deutschsinnigsten Minister verehrt, den Baiern seit Jahrzehnten gesehen. Die äußere Erscheinung Hohenlohe’s macht einen sehr wohlthuenden Eindruck. Er ist nur mäßig groß, aber sehr proportionirt gebaut. Sein intelligentes Gesicht scheint fortwährend über Staatsgeheimnissen zu sinnen; sein Auge ist offen und frei. Die wenigen Worte, die er bei seiner Wahl zum Vicepräsidenten sprach, waren vortrefflich nach Inhalt und Form.
Indessen auch die offenen und geheimen Gegner des Fürsten Hohenlohe haben aus Baiern ein ansehnliches Contingent zum Zollparlament gestellt. Als officieller Führer der vereinigten particularistisch-baierischen und ultramontanen Opposition gegen das Ministerium Hohenlohe gilt den Baiern der Freiherr v. Thüngen. Zu diesem Titel berechtigt ihn seine hervorragend aristokratische Stellung als Senior seiner Familie, Erbküchenmeister des Herzogthums Franken, baierischer Kämmerer, lebenslänglicher Reichsrath und zweiter Präsident der Ersten Kammer. Nicht minder wohl sein vornehmes, den Feinheiten parlamentarischer Feldzüge durchaus gewachsenes Benehmen, sein imponirendes Aeußere – er ist der zweitgrößte aller Süddeutschen – sein kräftiges Alter, seine Redegabe, die die alte Kunst österreichischer Erzherzöge, die Kunst des Anbiederns, in reichem Maße an den Mann zu bringen weiß. Indessen gerade weil man ihm diese Kunst Seiten seiner eigenen Landsleute erfahrungsmäßig zutraut, ist sein Auftreten im Zollparlament, namentlich bei der Adreßdebatte, von der baierischen Fortschrittspartei am meisten mit überwiegendem Mißtrauen aufgenommen worden.[3] Seine Versicherungen deutschester Gesinnung, seine Erklärung, auch er sehe den Eintritt Baierns in den Norddeutschen Bund mit Wohlbehagen, harmonirten wenig mit seiner Opposition gegen seinen deutschgesinnten Minister, seine Begeisterung für den Zollvereinsvertrag wenig mit der Thatsache, daß er an der Spitze der baierischen Reichsräthe bis zum letzten Augenblick im vorigen Herbst Alles aufbot, die Annahme des Vertrages in Baiern zu hintertreiben. Indessen die leitenden Köpfe dieser particularistisch-ultramontanen baierischen Coalition sind in den Herren v. Schrenck und v. Neumayr zu suchen. Beiden steht eine außerordentlich viel größere parlamentarische und diplomatisch-regierungsgeübte Erfahrung zur Seite. Beide sind zudem nach wie vor die Muster gutösterreichischer Gesinnung in Baiern. Beide leisteten der Reaction ihre Dienste nach ihrer Weise, v. Schrenck als Alterego des Herrn v. d. Pfordten bald in Frankfurt a. M. am Bundestag, bald als baierischer Premier, v. Neumayr als ordentlicher und außerordentlicher Diplomat am Stuttgarter Hofe und bei anderen Höfen. Aber doch trägt ein glückliches Blatt baierischer Geschichte den Namen Neumayr. Die wichtigen inneren Reformen, die sich in Baiern vom Jahre 1859 an vollzogen: Trennung der Rechtspflege von der Verwaltung, Aemterreorganisation, Judenemancipation, sind unter Neumayr’s Ministerium des Innern (von 1859–1865) angebahnt und durchgesetzt worden.
Der beste, ehrwürdigste Name, den diese Partei zum Zollparlament sandte, gehört jetzt einem Todten an. Freiherr Carl Maria v. Aretin, der langjährige Vorstand des baierischen National-Museums, ist in den ersten Tagen des Zollparlaments vom Schlage gerührt worden. Nur wenig geistiges Interesse bietet die lange Reihe altbaierischer Adelsgeschlechter der Grafen v. Arco-Steppberg und Arco-Valley, Aretin, der Freiherren v. Eichthal, v. Ow, und zu Rhein, die unter v. Thüngen’s Führung im Zollparlament tagen, wenig auch die bürgerlichen Anhänger dieser Richtung, die Diepolder, Edel, Hafenbrädl, Miller. Wohl aber gesellen sich ihnen zu äußerst interessante Köpfe aus dem streitbaren Lager der katholischen Kirche. Da ist der baierische Militairprediger Lukas mit seinem scharfgeschnittenen Pfaffengesicht, so charakteristisch, als habe man es aus jenen alten deutschen Holzschnitten genommen, die das Lied vom großen Papst Hildebrand illustriren, mit seinem langen Talar, und dem unheimlichen Wechsel zwischen jesuitischer Ruhe und Tücke in den Augen. Es ist in der That ein streitbarer Pfaff, wie in Hutten’s Tagen, wo sie bald die Feder führten, bald das Schwert um die Lenden gürteten. Er hat beides gethan. Er hat über die Geschichte der Stadt und Pfarrei Cham, über Schiller’s religiösen Fortschritt und Tod geschrieben, er hat sich auch in Broschüren versucht, die sich schon durch den Titel als wilde Pamphlete bekunden, wie: „Der Schulzwang, ein Stück moderner Tyrannei“, „Die Presse, ein Stück moderner Versimpelung“. Dann im Jahre 1866 ist er mit in den Krieg gezogen. Jetzt brütet er in Berlin über Tabak, Roheisen und Petroleum – scheinbar – denn so oft er spricht, sprühen die Funken unversöhnlichen Hasses gegen den großen protestantischen Staat im Norden, der dem Evangelium Lukä und der „modernen Versimpelung“, die von den Römlingen so gern in die Volksschule als „ein Stück moderner Tyrannei“ getragen würde, die eherne Stirn seiner Bildung, seiner Sittlichkeit und seiner Macht entgegenstellt.
- ↑ In seiner Schrift „Leben und Heimgang der Dorothea Trudel von Männedorf“ führt Herr Zeller auch folgenden baroken Beweis hierfür an: „Ein Magnetiseur, der mit seiner Ruthe Wasser gesucht hatte, veranlaßte die Jungfer Trudel, dieselbe auch in die Hand zu nehmen. Wie erstaunt er aber, als er sah, daß die Ruthe, statt sich abwärts zu beugen, wie bei ihm, sich in entgegengesetzter Richtung bewegte!!“
- ↑ Derselbe protestantische Geistliche, welcher in jüngster Zeit seine Kanzel zu Predigten gegen die Gartenlaube benutzt haben soll.
- ↑ Sollte unser geehrter Berichterstatter bei Beurtheilung dieses Mannes nicht durch die gefärbte Brille der Partei gesehen haben? D. Red.
Inhalt: Im Hause der Bonaparte. Historische Erzählung von Max Ring. (Fortsetzung.) – Land und Leute. Nr. 27. Bilder aus dem Schwarzwald. Von Ludwig Steub. II. Das Hotzenland. Mit Abbildung. – Dorothea Trudel, die Heilige von Männedorf. – Die Achtundzwanzig von Rochdale. – Frei vom Türkenjoch! Ein Zukunftsstaat an der unteren Donau. Mit Abbildungen. – Skizzen aus dem Zollparlament. 2. Süddeutsche Charakterköpfe.