Die Gartenlaube (1868)/Heft 24

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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Keil
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Entstehungsdatum: 1868
Erscheinungsdatum: 1868
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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No. 24.   1868.
Die Gartenlaube.


Illustrirtes Familienblatt.Herausgeber Ernst Keil.


Wöchentlich bis 2 Bogen.0 Vierteljährlich 15 Ngr. – In Heften à 5 Ngr.



Im Hause der Bonaparte.
Historische Erzählung von Max Ring.
(Schluß.)


9.

Seit einigen Tagen war die Prinzessin Charlotte von London, wo sie bisher bei ihrem Vater Joseph Bonaparte lebte, nach Florenz zurückgekehrt, um ihre unterdeß schwer erkrankte Mutter wiederzusehen. An dem Bette der Leidenden fand sie die Nonne, welche die Pflege der Gräfin von Survilliers auf deren ausdrücklichen Wunsch übernommen hatte, da Schwester Teresa’s Ruf bis zu ihr gedrungen war.

Auch die Prinzessin fühlte sich seltsam zu dem frommen Mädchen hingezogen, dessen freudige Hingebung, Geduld und Ausdauer sie bewundern lernte, während sie selbst mit ihr an dem Lager der geliebten Mutter wachte. Sie glaubte, schon früher dieses sanfte, verklärte Gesicht gesehen zu haben, obgleich sie vergebens ihr Gedächtniß anstrengte, wo sie diese sympathischen Züge einst erblickt.

„Ich muß Ihnen, Schwester Teresa, schon im Leben begegnet sein,“ sagte die Prinzessin in den ersten Tagen ihrer Bekanntschaft, als Beide an dem Bette der vor Ermattung eingeschlafenen Kranken saßen.

„Wohl möglich,“ flüsterte die Nonne, um die Gräfin nicht zu wecken. „Ich habe früher in Rom gelebt.“

„Je länger ich Sie betrachte, desto bekannter erscheinen Sie mir. Kommen Sie meinem schwachen Gedächtniß zu Hülfe. Der Gedanke quält und beschäftigt mich, wo ich Sie früher schon gesehen habe.“

„Vielleicht in dem Atelier des Malers Robert, mit dem ich damals bekannt war.“

„O,“ rief die Prinzessin überrascht, „ich wußte, daß ich mich nicht täuschte. Jetzt erinnere ich mich deutlich, Sie sind das Original zu seinem Mädchen von Sonnino, die schöne ernste Gestalt auf seinem herrlichen Bilde ‚die heimkehrenden Schnitter aus den pontinischen Sümpfen‘.“

„Das war ich einst,“ versetzte Teresina mit einem leisen Seufzer.

„Und jetzt sind Sie Nonne,“ entgegnete die Prinzessin nachdenklich.

Es folgte eine unwillkürliche Pause, nur unterbrochen von den ungleichen fieberhaften Athemzügen der kranken Gräfin, die jetzt zu träumen schien und im Schlafe unverständliche Worte, unzusammenhängende Reden murmelte. Erst nach längerer Zeit nahm die Prinzessin das abgebrochene Gespräch wieder auf, wobei sie ein lebhaftes Interesse verrieth.

„Wie ich höre, lebt Herr Robert augenblicklich in Venedig. Sollten Sie vielleicht zufällig ihn gesehen, oder von ihm gehört haben?“

„Ich habe ihn selbst gesprochen,“ erwiderte Teresina, ihre durchdringenden Augen auf die Prinzessin gerichtet, als wollte sie auf dem Grunde ihrer Seele lesen.

„Und wie geht es ihm, wie haben Sie ihn verlassen?“ fragte sie erröthend. „Er war oder ist vielmehr der beste Freund unserer Familie, den wir nie vergessen werden,“ setzte sie gleichsam entschuldigend hinzu.

„Ich weiß es.“

„Hat er von uns gesprochen, unsere Namen genannt?“ forschte sie mit sichtlicher Spannung.

Die Blicke beider Frauen begegneten sich und verriethen deutlicher, als Worte vermögen, das Geheimniß ihrer Herzen, die verborgensten Gedanken ihrer Seele. Sie hatten sich gegenseitig erkannt, in ihrer gemeinsamen Liebe gefunden, so daß jede Scheidewand zwischen ihnen geschwunden war.

„Ich darf Ihnen vertrauen,“ sagte die Prinzessin, während sie sich zu der Kranken niederbeugte, die noch immer zu schlummern schien.

„Wie dem Priester in der heiligen Beichte,“ flüsterte die Nonne.

„Auch ich habe eine schwere Sünde Ihnen zu gestehen, eine große Schuld an dem edlen Mann zu sühnen.“

„Er hat Ihnen verziehen, aber er leidet und stirbt an gebrochenem Herzen.“

„Was kann, was soll ich thun?“

„Ihn retten und dem Leben wiedergeben, ehe es zu spät ist.“

„Sie vergessen meine Lage, die unüberwindlichen Hindernisse, die mir überall, wohin ich mich wende, entgegentreten.“

„Die Liebe siegt über Alles. Kein Opfer darf ihr zu schwer fallen.“

„O, Sie wissen, was Liebe ist!“

„Jetzt gehört mein Herz nur Gott allein, meine Gedanken dem Himmel, mein Leben den Kranken und Hülfsbedürftigen. Auch Er ist krank, elend und darum muß ich an ihn denken.“

„Sie beschämen mich. Ich kann nur die Größe Ihres Opfers bewundern, aber mir fehlt der Muth und die Kraft, Ihrem Beispiele zu folgen.“

„Ein Wort von Ihnen genügt, den Unglücklichen aufzurichten. Wollen Sie den Durstenden verschmachten lassen, wenn ein [370] Tropfen aus dem Quell Ihrer Liebe ihn für immer retten kann? Soll der große Künstler in langsamen Qualen hinsterben, wenn Sie nur die Hand auszustrecken brauchen, um ihn der Welt, dem Leben und seiner Kunst zu erhalten? Was kümmert Sie die Meinung der Welt, selbst der Zorn Ihrer Familie, wenn das eigene Herz Sie frei spricht? Wenn Sie sich aber noch länger besinnen, aus irdischer Rücksicht zögern, so ist Robert für immer verloren. Zeigen Sie, daß Sie seiner würdig sind, daß Sie hoch genug stehen, um all’ den ärmlichen Tand zu verachten, daß nicht nur Ihr Name, sondern auch ihr Herz von Adel ist.“

Mit steigender Bewunderung blickte die Prinzessin auf die Nonne, welche mit gerötheten Wangen und überirdisch strahlenden Augen vor ihr stand, hingerissen von ihrer Begeisterung, gleich einer gottgeweihten Seherin. Das war nicht mehr das schlichte Mädchen von Sonnino, nicht mehr das arme Kind der Berge, sondern die Priesterin der reinsten Liebe, vom Hauche Gott’s, von heiliger Inspiration erfüllt.

Vor der Tochter des Volkes beugte sich die Tochter des Fürstenhauses, besiegt durch die Größe dieses einfältigen und doch so erhabenen Herzens, vor dem aller Geist, alle Bildung, jedes Vorurtheil und aller Standesunterschied wie Schatten vor dem siegenden Sonnenlicht erbleichen mußten.

„Ich werde ihn retten,“ flüsterte die Prinzessin, indem sie ihre Hand zur Bekräftigung der neuen Freundin reichte.

Seit diesem Tage war die Nonne die Vertraute ihrer Liebe, ihre Rathgeberin, ihre einzige Stütze in dem schweren Kampfe des Herzens mit der Welt, der Neigung mit dem Vorurtheil. Durch Teresina wurde das zerrissene Bündniß wieder angeknüpft, erfuhr Robert, daß er nicht vergessen war, daß die Prinzessin ihn liebte und sich entschlossen hatte, ihm jedes, selbst das größte Opfer zu bringen, daß sie nur noch zögerte, weil die kindliche Pflicht sie an dem Krankenbett der Mutter festhielt.

Das war das Wunder, welches Robert so gänzlich umgewandelt hatte, das Geheimniß, das er selbst vor seinem Bruder so sorgfältig bewahrte. Deshalb stahl er sich heimlich aus seinem Atelier nach dem Kloster der barmherzigen Schwestern in Venedig, wartete er mit steigender Ungeduld auf Nachrichten von Schwester Teresa und auf ihre Wiederkehr.

Unterdeß schlichen Tage und Wochen für die Liebenden in verzehrender Sehnsucht hin, da der Zustand der Gräfin sich in der letzten Zeit trotz der sorgfältigsten Pflege so sehr verschlimmert hatte, daß nach der Aussage der hinzugezogenen Aerzte ihr Leben in Gefahr schwebte.

Gerührt von der aufopfernden Pflege der Prinzessin, welche nicht von ihrer Seite wich, schien sich die Kranke nur noch ausschließlich mit dem Schicksal ihrer zurückbleibenden Tochter zu beschäftigen, deren geheime Neigung sie von früher kannte, deren gegenwärtigen Kummer sie zu ahnen schien.

„Charlotte,“ sagte die besorgte Mutter, „ich habe Schwester Teresa ersucht, uns auf einige Zeit allein zu lassen, weil ich mit Dir vor meinem Scheiden über manche wichtige Angelegenheit noch zu sprechen wünsche. Ich mache mir Vorwürfe, daß ich schuld an Deinem Unglück bin.“

„Sie irren sich. Ich bin nicht unglücklich.“

„Ich weiß es besser. Du willst mich nur täuschen, aber ich lese wider Willen in Deinem Herzen. Du kannst den Mann nicht vergessen, der Dir und uns so viele Beweise der innigsten Freundschaft gegeben, uns Allen so große Opfer gebracht hat.“

„O meine Mutter!“ bat Charlotte. „Schonen Sie mich, verurtheilen Sie mich nicht, bevor Sie mich gehört haben.“

„Ich bin weit entfernt, Deine Liebe noch ferner zu verdammen.“

„Wie ist das möglich, da Sie an jenem traurigen Tage mich in meinem unglückseligen Entschluß bestärkten und, als ich schwankte, in mich drangen, den verhängnißvollen Scheidebrief an Robert abzusenden, der ihn zur Verzweiflung trieb?“

„Damals folgte ich nur meiner Ueberzeugung, die sich seitdem wesentlich verändert hat. Ich fürchtete für Dich die Folgen eines Schrittes, der Dich Deiner Familie entfremden, mit der Welt in unausbleiblichen Conflict bringen und nach meiner Ansicht erniedrigen mußte. Seitdem ist meine Anschauung erschüttert worden, habe ich meinen Irrthum einsehen gelernt.“

„O, Sie wollen mich nur prüfen, nur hören, ob ich noch wie früher Robert liebe!“

„Dessen bedarf es nicht, da ich unwillkürlich Zeuge Deines Gespräches mit der frommen Schwester war. Während ich im Halbschlummer lag, habe ich genug gehört, um Dein Geheimniß zu kennen.“

„So wissen Sie Alles?!“ rief die Prinzessin überrascht.

„Fürchte nicht, daß ich Dir deshalb zürne. Wie Du, habe auch ich die Mahnungen der frommen Schwester mit Bewunderung vernommen und über ihre Worte auf meinem Krankenlager nachgedacht. O, sie hat vollkommen Recht, den irdischen Tand zu verachten. Im Angesicht des Todes, an der Pforte der Ewigkeit, vor der ich stehe, ist auch von meinen verblendeten Augen die Binde gefallen, bin ich zu der Erkenntniß gelangt, daß Rang und Stand, Geburt und Vermögen nur vergängliche Güter, eitel Täuschung sind.“

„Und Sie vergeben mir, daß ich dein theuren Freund von Neuem Hoffnung gab?“

„Ich verzeihe Dir und will mich nicht länger Deinen Wünschen widersetzen. Habe ich doch aus eigener Erfahrung die Nichtigkeit unserer eingebildeten Größe kennen gelernt. Wohin ich in unserer Familie blicke, sehe ich nur Leiden und selbstverschuldete Qual: Hortense von ihrem Gatten getrennt, der Sohn des Kaisers todt, Louis in der Verbannung, von Ehrgeiz verzehrt, über verwegenen Plänen und Verschwörungen brütend, ich selbst einsam und verlassen, krank und elend in Florenz, während Dein Vater in London lebt. Das ist das Glück der Napoleoniden, vor dem ich Dich zu bewahren hoffe.“

„Was wollen Sie thun?“

„Alles, was eine besorgte Mutter für eine geliebte Tochter vermag. Ich werde noch heut, so schwer es mir auch fällt, an Deinen Vater schreiben und ihn beschwören, sich nicht länger Deinen Wünschen entgegenzusetzen. Er wird und muß auf die Bitten einer Sterbenden hören. Das Glück, das mir versagt war, werde ich meiner Tochter sichern und dann ruhig von dem Leben scheiden.“

„Nein, nein! Sie dürfen nicht sterben, Sie müssen leben und sich Ihres Werkes freuen!“ rief die Prinzessin niederknieend und die Hand ihrer Mutter mit Küssen und Thränen bedeckend.

Trotz der vorangegangenen Aufregung erholte sich die Kranke nach diesem Zwiegespräch, das sie gleichsam erleichtert und beruhigt zu haben schien, in so auffallender Weise, daß die behandelnden Aerzte fast mit Sicherheit ihre nahe Genesung hoffen ließen. Unter dem freudigen Eindruck dieser doppelt glücklichen Wendung ihres Looses schrieb die Prinzessin jene Zeilen, worin sie Robert ihre Ankunft in Venedig spätestens bis zum zwanzigsten März anzeigte.

Aber schon nach wenigen Tagen erwies sich die günstige Annahme der Aerzte als eine schmerzliche Täuschung, indem in dem Befinden der Kranken ein unerwartet heftiger Rückfall eingetreten war, so daß ihr Leben von Neuem in Gefahr schwebte.

Unter diesen Umständen war es der Prinzessin unmöglich, ihr Wort zu halten und die bereits beschlossene Reise nach Venedig anzutreten. Mit Recht fürchtete sie, durch ihr Zögern den Geliebten, dessen mißtrauische, zur Melancholie geneigte Stimmung sie hinlänglich kannte, zu täuschen, um so mehr zu verletzen, je größer die ihm gegebene Hoffnung war. Teresina, die mit ihr sich in die Pflege der Kranken theilte, war die Vertraute ihres Kummers, ihrer Verzweiflung, daß sie dem treuen Freunde ihr Versprechen brechen mußte.

„Robert erwartet mich,“ klagte sie schmerzlich der Nonne, „und ich kann und darf meine Mutter nicht verlassen.“

„Ich will ihm sogleich schreiben.“

„Ich fürchte, daß ein Brief ihn nicht beruhigen wird. Wie ich ihn kenne, wird er von Neuem an meiner Liebe zweifeln und sich von mir verrathen glauben.“

„Leider muß ich Ihnen beistimmen. Aber was sollen wir in unserer Lage thun?“

„Ich weiß keinen Ausweg,“ versetzte die Prinzessin tief betrübt.

„Und doch dürfen wir Robert nicht ohne Nachricht lassen. Bei seiner Reizbarkeit, seiner unglücklichen Schwermuth wird er das Schrecklichste denken. Die Ungewißheit kann ihn tödten.“

„Rathen Sie, helfen Sie, theure Schwester!“ flehte die Prinzessin mit Thränen in den Augen.

„Es giebt nur eine Möglichkeit: wenn ich selbst nach Venedig gehe, da er mir vollkommen traut.“

[371] „Aber meine Mutter wird Sie nicht entbehren können.“

„Schwester Beate, welche die Frau Gräfin kennt und gern sieht, kann mich auf einige Tage vertreten. Meine Abwesenheit wird ihr um so weniger auffallen, da sie weiß, daß die Frau Oberin in Venedig nach mir verlangt. Sobald ich Robert gesprochen, kehre ich sogleich zurück, um unsere Kranke ferner zu pflegen.“

„Sie geben nur das Leben wieder,“ versetzte die Prinzessin. „Ich selbst will bei meiner Mutter wachen und Ihre Stelle zu vertreten suchen, so weit mir dies möglich ist. Aber wir haben keine Zeit zu verlieren, wenn Sie noch zur bestimmten Frist in Venedig eintreffen und Robert wegen der unverschuldeten Verzögerung beruhigen wollen.“

So sehr auch Teresina ihre Reise beschleunigte, so sah sie sich doch noch genöthigt, einige Tage länger, als sie beabsichtigt hatte, in Florenz zu verweilen, da ihre Stellvertreterin durch anderweitige Beschäftigungen verhindert wurde, sie sogleich zu ersetzen.

Unterdeß erwartete Robert von Stunde zu Stunde mit steigender Ungeduld die Ankunft der Prinzessin. Anfänglich zerstreuten ihn die mannigfachen Vorbereitungen, die er zu ihrem Empfange traf. Sein Atelier in dein Palazzo Pisani hatte sich in den letzten Tagen in einen Blumengarten verwandelt, seine Wohnung in ein kleines Feenschloß. Laubgewinde und Guirlanden von immergrünen Zweigen bekleideten die Wände, zwischen denen seine Bilder, besonders die „Abfahrt der Fischer auf Chioggia“ aus den goldenen Rahmen hervorschauten.

„Was hat das Alles zu bedeuten?“ fragte verwundert der Bruder. „Willst Du ein Fest geben?“

„Ich erwarte Besuch.“

„Wenigstens eine Königin, nach Deinen Vorbereitungen zu schließen.“

„Du hast es errathen,“ versetzte Robert mit geheimnißvollem Lächeln.

Aber die Blumen verwelkten, die Kränze vertrockneten, und ein finsterer Schatten lagerte wieder auf der klaren Stirn des berühmten Malers. Von Neuem verfiel er in seine finstere Schwermuth, den leicht geweckten Zweifel, die angeborene Melancholie, der er sich gewaltsam zu entreißen suchte. Er konnte nicht glauben, daß die Geliebte ihn so grausam täuschen, daß sein Vertrauen ihn wiederum belügen sollte.

„Sie wird, sie muß kommen!“ sagte er sich wohl hundertmal des Tages, um die aufsteigenden Besorgnisse zu verscheuchen. – Den schwersten Stand hatte der Gondolier, der fortwährend auf dem Wege nach dem Kloster der barmherzigen Schwestern war und vom Morgen bis zum späten Abend keine Ruhe fand. So oft aber Robert auch nach Teresina fragte, schüttelte die alte Pförtnerin den Kopf. Weder eine Nachricht, noch ein Brief von ihr war der Oberin zugekommen, die selbst über das lange Ausbleiben der Nonne besorgt schien und sich den Mangel an jeglicher Nachricht aus Florenz nicht zu erklären vermochte.

„Ein Brief kann leicht verloren gehen,“ tröstete er sich selbst. Um sich zu zerstreuen, schlug er den Weg nach dein Marcusplatze ein, wo, wie er wußte, Aurel in dein bekannten „Café Floriani“ ihn erwartete. Nachdem er einige Worte mit dem Bruder gewechselt, griff er mechanisch nach der nächsten besten Zeitung, in die er flüchtig hineinblickte, weniger um zu lesen, als um seinen quälenden Gedanken zu entfliehen.

Plötzlich verfärbte sich sein Gesicht, mit einer heftigen Bewegung reichte er Aurel das Blatt hin, welches eine ebenso ungerechte, als verletzende Kritik seines letzten Gemäldes enthielt. Ein neidischer Italiener, den der Ruhm des fremden Malers verdroß, borgte die Figur eines venetianischen Gondoliers, dem er seinen Tadel über Robert’s Bild in den Mund legte, die Unnatur dieser Fischer von Chioggia ihm vorwerfend, welche in der Wirklichkeit nirgends existiren sollten.

In jeder anderen Zeit hätte Robert vielleicht selbst über die witzige Einkleidung gelacht, aber bei seiner jetzigen Reizbarkeit reichte der geringste Widerspruch hin, ihn aufzubringen.

„Welche Ungerechtigkeit!“ sagte er erzürnt. „Wenn ich die Natur darstellen sollte, wie ich sie finde, so würde ich noch heute meinen Pinsel fortwerfen, meine Palette zerbrechen.“

„Rege Dich nicht unnöthig auf! Man sieht es ja sofort der Kritik an, daß sie ein Italiener geschrieben hat, der sich über Deine großen Erfolge ärgert. Was er über Deine Fischer sagt, ist um so ungerechter, da er diese guten Leute von Chioggia gar nicht zu kennen scheint und sie ohne Zweifel mit dem elenden Gesindel verwechselt, das sich auf dem Marcusplatz und an der ,Riva degli Schiavoni’ herumtreibt. Kein Vernünftiger wird auf ein solches Gewäsche achten.“

„Am meisten betrübt es mich, daß er meinem Bilde politische Motive unterschiebt, daß er mir vorwirft, auf Kosten des Adels das Volk zu erheben und aus jedem gemeinen Herumtreiber einen Helden zu machen. Ich bin mir bewußt, daß ich nur gerecht gegen das Volk bin, wenn ich es so darstelle, wie es mein Künstlerauge erblickt.“

„Was kümmert Dich der einfältige Mensch, der allerdings besser zum Gondolier als zum Kritiker paßt? Dein Bild hat den Beifall aller Kenner und damit kannst Du zufrieden sein.“

„Wenn er aber doch Recht hätte!“ versetzte Robert nachgrübelnd, „wenn ich wirklich, wie er sagt, auf einem falschen Wege wäre, wenn ich, statt fortzuschreiten, Rückschritte machte! Ich fühle, wie meine Kraft abnimmt, wie meine Leistungen weit hinter meinen Idealen zurückbleiben. Dir allein darf ich es gestehen, daß ich an meinen Gestalten eine gewisse Härte des Ausdrucks, in meiner Farbe eine gewisse Trockenheit zu bemerken glaube. Wenn ich meine Bilder mit denen eines Tizian, eines Bellini oder Veronese vergleiche, so komme ich mir selbst wie ein elender Stümper vor. Ich fürchte, daß der Gondolier nur die Wahrheit sagt.“

„Nein, nein! Auch Deine Bilder werden unsterblich sein.“

„Wenigstens würde ich eine Niederlage nicht überleben,“ entgegnen Robert mit einer Anwandlung seiner früheren Schwermuth.

Vergebens suchte Aurel den Aufgeregten zu beruhigen. – Wenn der Becher voll ist, genügt ein Tropfen, um ihn zum Ueberlaufen zu bringen und der leiseste Luftzug reicht schon hin, um dem Verwundeten die furchtbarsten Schmerzen zu bereiten. So hing sich unsichtbar Kette an Kette, Gewicht an Gewicht, um den Unglücklichen zu Boden zu drücken, bis er der unerträglichen Last erliegen mußte.

Wieder regten sich die kaum eingeschlummerten Geister des Mißtrauens, obgleich er sie noch gewaltsam niederzukämpfen suchte; wieder erschien ihm im Traume die blutbefleckte Gestalt seines Bruders, unheimliche verlockende Worte flüsternd; wieder verlebte er die langen Tage in aufreibender Erwartung, die schlaflosen Nächte in namenloser Qual.

Bald glaubte er, daß ihn die Prinzessin von Neuem täuschen wollte, bald fürchtete er, daß ihr ein Unglück zugestoßen; fortwährend schwankte er zwischen belebender Hoffnung und düsterer Verzweiflung, ein Spielball seiner wechselnden Stimmung. Je näher die versprochene Ankunft der Prinzessin rückte, desto unruhiger, desto verstörter erschien er dem besorgten Bruder, der sich diesen plötzlichen Rückfall in die frühere Schwermuth nicht zu erklären vermochte.

Nur gezwungen folgte ihm Robert in das Haus des deutschen Arztes, wo er sonst ebenso gern verkehrte, wie er gern daselbst gesehen wurde. Die besonders musikalisch hoch gebildeten Damen, welche seine Vorliebe für classische Musik kannten, suchten ihn durch ihr Spiel und Gesang wie gewöhnlich zu erheitern, indem sie sich ganz seinen Wünschen fügten und ihm mit zuvorkommender Liebenswürdigkeit die Wahl der von ihnen vorzutragenden Compositionen überließen.

Er verlangte an diesem Abend Mozart’s Requiem, den Schwanengesang des großen Meisters, dessen düstere Todtenklage mit seinen Todesgedanken harmonirte. Plötzlich aber wechselte seine Traurigkeit mit einer überraschenden, fast krankhaften Heiterkeit, die um so mehr bei seinem ernsten Wesen befremden mußte. Gegen seine sonstige Gewohnheit blieb er in lebhafter Unterhaltung bis spät nach Mitternacht in der befreundeten Familie, von der er mit dem in seinem Munde bedeutungsvollen Zuruf Abschied nahm: „Auf Wiedersehen!“

Am andern Morgen fand ihn Aurel damit beschäftigt, den letzten Brief der Prinzessin, der vorn 8. März 1835 datirt war, zu verbrennen. In seinen Zügen verrieth sich die unheimliche Ruhe des festen Entschlusses, so daß der Bruder sich einer leisen Befürchtung nicht zu erwehren vermochte.

„Ich finde Dich,“ sagte er bekümmert, „seit einigen Tagen wieder leidend, gänzlich verändert. Ich glaube Dein Geheimniß zu kennen. Wie es scheint, trägt allein die Liebe Schuld an Deiner Verstimmung. Vertraue mir, was Dich quält.“

[372] „Du irrst Dich,“ erwiderte Robert ausweichend. „Ich bin jetzt gänzlich geheilt von meiner Neigung und denke nicht mehr daran.“

„Wenn Du auch Deine Leidenschaft überwunden hast, so sind die Spuren derselben noch nicht aus Deinem Herzen getilgt. Nachdem Du das Bild der Geliebten aus Deiner Brust-entfernt hast, mußt Du natürlich eine traurige Leere empfinden. Die Wunde blutet noch, wenn auch der Pfeil herausgezogen ist. Jetzt scheint mir der Augenblick gekommen, wo Du für immer Genesung suchen mußt. Wir wollen nach der Schweiz, nach Paris reisen, wo Du Dich zerstreuen, vielleicht ein neues Glück an der Hand einer Deiner würdigen Gattin finden wirst.“

„O nein theurer Bruder!“ seufzte der Unglückliche. „Es ist zu spät. O Gott, wenn ich die letzten Jahre zurückkaufen könnte, was würde ich darum geben!“

Um ihn nicht noch mehr aufzuregen, beendete Aurel das schmerzliche Gespräch, indem er sich entfernte, einen nothwendigen Gang vorschützend. Noch einmal rief Robert, als er sich allein fand, den verschwiegenen Gondelier und ließ sich von ihm nach dem Kloster der barmherzigen Schwestern rudern.

„Keine Nachricht von Schwester Teresa?“ fragte er die alte Pförtnerin hastig mit zitternder Stimme.

„Keine!“ lautete die gleiche Antwort, die er schon so oft im Laufe der letzten Tage gehört hatte.

Es war die Bestätigung seines Todesurtheils.

„Auch Teresina hat mich verlassen!“ klagte er bitter. „Die Liebe ist todt, die Treue gestorben. Was soll ich noch auf dieser Erde?“

Man schrieb den 20. März. Gerade an demselben Tage, zur selben Stunde hatte vor zehn Jahren Robert’s Bruder sich selbst getödtet. Daran dachte der Unglückliche, als er nach seinem Atelier zurückwankte, dessen Thür er sorgfältig hinter sich verschloß. Noch einen Blick warf er auf die verwelkten Blumen und vertrockneten Kränze, begleitet von dem schmerzlichen Lächeln der getäuschten Erwartung.

„Wenn ich bis zum 20. März nicht nach Venedig komme, so dürfen wir uns auf Erden nicht wiedersehen. Treu bis in den Tod. Charlotte,“ murmelte er, die verhängnisvollen Zeilen der Prinzessin mit bereits irrendem, wandelndem Geiste wiederholend.

Eine Stunde später fand Aurel die Leiche des geliebten Bruders im Blute schwimmend; an demselben Abend langte Teresa in Venedig an.

Mit klopfendem Herzen eilte sie nach dem Atelier des Künstlers, um ihm sein nahes Glück zu verkünden.

Sie kam zu spät!

Neben der theuren Leiche, auf die jetzt die letzten Strahlen der untergehenden Sonne verklärend fielen, kniete die Nonne, für die Ruhe des geliebten Todten betend.

Drei Tage darauf fuhr der treue Pietro eine schwarze Gondel, welche den Sarg Robert’s trug, nach der kleinen Insel St. Michael de Murano, begleitet von seinem Bruder, seinen Freunden, zahlreichen Künstlern, einheimischen und fremden Verehrern seines großen Talentes.

Ein einfacher Stein an der verfallenen Mauer des Kirchhofs, dem Grabe gegenüber, bezeichnet die letzte Ruhestätte des unsterblichen Künstlers; er trägt die einfache Inschrift:

„Leopold Robert, gewidmet von seinen Freunden und Landsleuten.“

An den Ufern des Arno aber, in dem glänzenden Florenz, erhebt sich in der Kirche San Spirito, nicht fern von dem Palazzo Serristori, den sie einst bewohnt, eine Grabcapelle, worin die Prinzessin Charlotte an der Seite ihres Gatten ruht, nachdem sie Robert bis zu ihrem frühen Tode beweint hatte, der nur drei Jahre später erfolgte. Sie selbst schrieb an Aurel nach Empfang jener Schreckensnachricht: „Ich habe nur noch Thränen, um ihn zu beweinen.“

Schwester Teresa aber betete für Beide und fand den einzigen Trost und Ersatz in der treuen Pflege aller Unglücklichen und Kranken, von denen sie wie eine Heilige verehrt wurde.




Im Riesen zu Miltenberg.
Zur Einweihung des Lutherdenkmals in Worms.
Von Ludwig Storch.

In der Hauptstraße der kleinen Stadt Miltenberg am Main liegt ein stattliches Eckhaus, das heute noch in seiner äußeren ehrwürdigen Gestalt und inneren Einrichtung möglichst treu den baulichen und wirtschaftlichen Charakter des sechzehnten Jahrhunderts erhalten hat. Der Bau selbst stammt schon aus dem vierzehnten Jahrhundert. Aber was das an sich schon so interessante Gebäude noch merkwürdiger macht, ist der Umstand, daß es seit seiner Erbauung bis auf den heutigen Tag ein vielbesuchtes Gasthaus war und wohl bleiben wird. Es ist der Gasthof „zum Riesen“, kein Hotel im heutigen Sinne, aber eine ungemein gemüthliche traute Herberge im Sinne unserer wackern Vorfahren vor drei und vier Jahrhunderten, eine echt deutsche Kneipe, in welcher einem der gesellige Geist des deutschen Mittelalters aus jedem Winkel, jeder Holzverzierung, jedem Steinsitz entgegenspringt. Man fühlt sich so heimisch, so wohl in diesen lieben Räumen, obgleich sie nicht vom brillanten Comfort der Jetztzeit erfüllt sind, und Gott weiß, daß der deutschen Zunge das kühle Gewächs der Mainberge hier besser mundet, als in einem luxuriösen Speisesaal.

Im Mittelalter war der Riesen die vornehmste und starkbesuchteste Herberge am ganzen Mittelmaine: denn damals lief die Hauptstraße vom Nordosten nach dem Südwesten Deutschlands noch über Miltenberg, indem sie den als unsicher verrufenen Spessart umging. Insbesondere nahmen alle Fürsten, Grafen und Herren, die die Straße zogen, Einkehr in dem berühmten Gasthause. Wenn diese Wände erzählen könnten, wir würden manche unterhaltende Geschichte von ihnen erfahren, die sich in den von ihnen umschlossenen Mauern zugetragen.

Eine davon – und gewiß keine der unwichtigsten – haben uns die Zeitbücher der Stadt Miltenberg aufbewahrt, und da sie keineswegs so bekannt ist, wie sie es verdient, so erachten wir den Frühling 1868 für einen sehr günstigen Zeitpunkt, die anziehende Begebenheit durch die Gartenlaube zu verbreiten, „so weit die deutsche Zunge klingt.“

Zu Anfang des sechzehnten Jahrhunderts wohnte auf seiner stattlichen Burg, zu Erbach im benachbarten Odenwalde, ein sehr ehrenwerther und wackerer Ritter, der Schenk Eberhard von Erbach. Das ehrwürdige Schloß steht ebenfalls heute noch und nimmt sich als Dynastensitz eben so wohnlich aus, wie der Riesen als Gasthaus, und was dem Schlosse noch einen besonderen Reiz verleiht, ist der Umstand, daß die Grafen von Erbach heute noch darin hausen, ein berühmtes und hochgeachtetes Geschlecht. Ritter Eberhard von Erbach war ein Herr von hohen Tugenden und ausgezeichneten Eigenschaften, ein Held ohne Furcht und Tadel, einfach, sittenstreng, bieder, wahr und treu. Am meisten aber zeichnete er sich durch eine hohe, fast schwärmerische Frömmigkeit und strenge Rechtgläubigkeit aus, und er hatte nichts dawider, wenn er der treueste Sohn der Kirche genannt wurde. Seinem Herrn und Heiland mit Gut und Blut zu dienen, erschien ihm als die schönste Lebensaufgabe, und er hatte sein gutes Schwert in der nahen Abtei zu Amorbach dem Dienste der heiligen Jungfrau weihen lassen.

Es war im Frühling des Jahres 1518, schon zu ziemlich später Stunde, als der fromme Schenk von Erbach mit einem Häuflein reisiger Knechte vor dem Gasthause zum Riesen in Miltenberg hielt, und dem herbeigeeilten Gastwirth sein Verlangen zu erkennen gab, bei ihm zu übernachten. Doch hielt er nicht mit seinen sämmtlichen Knechten Eintritt in das Haus, sondern schickte sie mit kurzen gemessenen Befehlen bis auf einen, den er bei sich behielt, weiter. Während der Schenk einkehrte, ritten die Knechte durch die Stadt und auf der Straße nach Wertheim weiter. Aus dieser ungewöhnlichen Anordnung und aus dem ernsten fast finstern Wesen des würdigen Schenken ließ sich schließen, daß er etwas

[373] sehr Wichtiges vorhabe. Und so verhielt er sich auch dem Wirth gegenüber schweigsam, ließ sich ein Zimmer über einer Stiege anweisen, nahm sein Abendessen ein und legte sich in tiefe Gedanken versunken, die zuweilen zu abgerissenen Selbstgesprächen wurden, in welchen sich die Aufgeregtheit seines Gemüths kund gab, frühzeitig nieder.

Eben in Begriff sein Abendgebet zu sprechen, vernimmt er durch die dünne Bretterwand, die ihn vom benachbarten Erkerzimmer trennt, den kräftigen Gesang einer schönen, volltönenden Baritonstimme, die ein geistliches Abendlied anstimmt. Der Schenk versteht jedes Wort des Liedes und der fromme, gottbegeisterte Inhalt desselben, die schöne Melodie, der ausdrucksvolle Vortrag und die meisterhafte Begleitung auf der Laute entzücken den odenwälder Ritter mit jeder Minute mehr. Er bekreuzt sich, faltet die Hände, und wenn der fromme Sänger eine Strophe beendigt hat, so fällt er leise mit einem gottergebenen, herzlichen „Amen!“ ein.

Gasthof „Zum Riesen“ in Miltenberg.

Als der kunstbegabte Nachbar den Gesang beendigt hat, fügt er ein kurzes, kräftiges Gebet hinzu, worin er sich und alle guten Menschen der heiligen Dreifaltigkeit empfiehlt und mit der Bitte schließt, das Herz der verstockten Sünder und Irrenden den Strahlen der göttlichen Barmherzigkeit zu öffnen. Der Schenk flüstert sein Amen! Amen! und fühlt sich so erhoben und erbaut, wie seit langer Zeit nicht, so daß er mit den seligsten Gefühlen einschläft.

Mit dem Frühstrahl des Morgens wird er von denselben Lautenklängen und einem Morgenliede seines Nachbars erweckt. O, wie ist das dem Schöpfer des All’s dargebrachte Danklied durchweht vom Hauche wahrer Gottesliebe und Frömmigkeit! Der Schenk hat unwillkürlich die Hände gefaltet, eine unendliche Rührung überkömmt ihn und seine Lippen flüstern nach jeder Strophe Amen! Amen! Und als der Sänger endlich schweigt, bekreuzt sich der Ritter fromm und erhebt sich, um den Wirth zu befragen.

„Wer ist mein Nachbar droben in der Erkerstube, der mich mit seinem Gesang, so schön wie ich noch keinen gehört, baß erquickt hat?“

„Es ist ein geistlicher Herr, den ich nicht kenne, von mittleren Jahren und ehrwürdigem Ansehen; ist gestern Abend knapp vor Euch, Herr Ritter, in einem bescheidenen Wäglein angefahren und gedenkt heute bald seine Reise fortzusetzen; hat schon seine Zeche bezahlt und das Gefährt anzuschirren befohlen.“

„Geh’ zu ihm und sag’ ihm, daß ich mich gedrungen fühle, ihm mündlich für seine köstlichen Lieder gestern Abend und diesen Morgen zu danken; ich laß ihn bitten, mir eine Viertelstunde zu schenken; denn auch ich eile mit der Abreise. Aber ich muß ihm die Hand drücken und in’s Auge sehen.“

Der Schenk folgte dem Wirthe auf dem Fuße und nahn ihm die Thürklinke der Erkerstube aus der Hand. Der fromme Sänger stand vor dem frommen Ritter und erwiderte dessen freundlichen Gruß mit gleicher Herzlichkeit.

Er war ein Mann in der ersten Hälfte der dreißiger Jahre, von mittler Größe und gedrungenem Körperbau; seine zwar nicht schöne aber imponirende Gesichtsbildung zeugte von Milde und Charakterfestigkeit. Sehr lebhaft und geistreich blickte sein großes blaues Auge, sein dunkelbraunes Haar bekränzte schlicht die hochgewölbte Stirn und den starken, kräftigen Nacken. Sein Mund war beredt, ehe er ihn nur öffnete. Die ganze Gestalt erhöhte im Ritter von Erbach den Eindruck, welchen er bereits durch den Gesang empfangen hatte, so daß er sogleich für den geistlichen Herrn eingenommen war.

„Ich komme, Euch meinen Dank abzustatten für die Erbauung, die Ihr mir bereitet habt, ehrwürdiger Vater,“ sagte der Ritter, „und obgleich ich vom Wirthe vernommen habe, daß Ihr’s mit der Weiterreise eilig habt und schon auf dem Sprunge steht, und obgleich ich selbst zum Aufbruch haste, so richte ich doch die herzliche Bitte an Euch, mir noch ein solches Lied zu singen. Meine Seele dürstet nach dem lebendigen Quell, der aus der Enerigen fließt.“

„Solchen Durst mit dem lebendigen Wasser zu stillen, gebietet mir schon die Pflicht meines Standes. Die Musica ist dazu erschaffen, das Menschenherz zu erbauen und zu läutern.“

Er nahm die Laute und begleitete sich ein Lied. Es war eine tiefsinnige, gottbegeisterte Anrufung des heiligen Geistes um die Gnade der Wiedergeburt und daß aus ihr der beseligende Glaube an das Verdienst Christi in der Erlösung von Sünde und Tod emporblühen möge. Es war ein Hymnus von ergreifender Glaubensschönheit, der seine Wirkung auf das schon so mächtig erregte Gemüth des frommen Schenken nicht verfehlte. Mit gefalteten Händen saß er da und seine Lippen flüsterten zuweilen „Amen! Amen!“ während er tieferschüttert sich die Augen wischte.

Als der fremde Gast mit leuchtenden Blicken den Gesang schloß, streckte ihm der Ritter dankend die Hände entgegen, und die beiden Männer sahen sich mit verschlungenen Händen durch die Augen in die Seele und schlossen ohne Worte einen hehren Bund miteinander. Dann nahm der Schenk das Wort: „Euer herrliches Lied legt mir eine Frage in den Mund: Was haltet Ihr von der Lehre des heiligen Augustin, daß wir durch Buße und Werke nicht können unserer Sünden ledig werden, sondern allein durch das Sühnopfer Jesu Christi, weil die menschliche Natur durch den Sündenfall verderbt und zum Guten gänzlich unfähig sei?“ Der geistliche Herr horchte auf und erwiderte sanft lächelnd: „Es will mich baß bedünken, Ihr habt außer dem frommen Glauben auch ein gut Stück Theologie im Leibe und ich kann mit Euch reden, wie mit meines Gleichen.“ Der Schenk nickte beistimmend und der Priester begann mit bewundernswürdiger Beredsamkeit von den Kirchenvätern zu reden und hob die Verdienste Augustin’s in großen flammenden Zügen hervor. Dabei würdigte er die Meinungen und Ansichten der Gegner, entschied sich aber für Augustin, den er nächst dem heiligen Paulus den größten Kirchenfürsten und die stärkste Säule des reinen Glaubens nannte.

Der Schenk machte zuweilen einen Einwand oder that eine weitere Frage, die den Sprecher zu immer neuen Erörterungen veranlaßte. Darüber verstrich Beiden unvermerkt die Zeit – es waren wohl Stunden vergangen – bis der Wirth verwundert hereintrat und fragte, ob er das Wäglein wieder abschirren und die Pferde absatteln lassen solle; der Fuhrknecht des geistlichen Herrn und der Knappe des Ritters seien gleich besorgt und ungeduldig, da sie wüßten, wie sehr die Herren auf baldige Abreise gedrungen.

„Hilf Jesus und Maria!“ rief der Schenk auffahrend. „Ihr habt mir mein vorsätzliches Werk vergessen gemacht mit dem Fluß [374] Eurer gottgefälligen Rede, wie ich noch nie eine von geistlichen Lippen gehört, und doch ist mein Werk auch ein frommes und gottgefälliges und wird Euern Beifall haben, ehrwürdiger Vater.“

„So darf ich erfahren, was Ihr so Dringendes vorhabt, Ritter Erbach?“

„Gewiß! Ihr sollt mir sogar Euern Segen dazu geben, damit es zur Ehre Gottes und zum Frommen der heiligen Mutter Kirche gelinge!“

„So sagt an!“

„Ich bin mit meinen Knechten ausgezogen und sie haben bereits die Landstraße nach Wertheim besetzt, und ich will nun schnell auch hinaus, um einen guten Fang zu thun, einen bösen Ketzer und Teufelsbraten, der, wie ich sicher ausgekundschaftet, heute des Weges daher kommt.“

„Wen meint Ihr?“ fragte der Fremde gespannt.

„Den frechen Augustiner aus Wittenberg, der im verwichenen Herbst seine kirchenschänderische Hand gegen seine Mutter erhoben und ihre Satzungen verhöhnt hat. Er wird nach Heidelberg reisen.“

„Ihr meint den Doctor Martin Luther?“

„Wen sonst als dieses räudige Schaf der gläubigen Heerde, das im ganzen Reiche so großen Anstoß und Aergerniß gegeben hat?“

„Und was wollt Ihr mit dem Wittenberger Mönche machen, wenn Ihr ihn gefangen habt?“

„In meinen festen Thurm will ich ihn sperren und ihm so lange von meinen Priestern zusetzen lassen, bis er dem Teufel abgesagt hat und als ein reumüthiger Sünder zum Kreuze Christi gekrochen ist.“

„Und wenn er Euer löbliches Verlangen nicht erfüllte und bei seiner Ueberzeugung beharrte, was dann?“

„Meint Ihr, ich habe es mir umsonst ein tüchtig Stück Geld kosten lassen, um seine Reise nach Heidelberg genau zu erfahren? Er soll mir nicht vergebens in’s aufgestellte Garn laufen. Wenn er halsstarrig auf gutgemeinten Zuspruch nicht hört, so werd’ ich ihn nach Rom transportiren, ich selbst mit meinen Knechten, um ihn dem heiligen Vater ausliefern, der mag ihn, wenn er verstockt bleibt, auf einen Scheiterhaufen setzen lassen, damit er schon hier den Vorschmack des höllischen Feuers habe, welches der Gottesschänder wartet. Ich muß fort, aber ich kann nicht ohne Euern Segen gehen und nicht ohne Euern Namen zu wissen, ehrwürdiger Vater, als den des frömmsten, gelehrten und gottbegeistertsten Sohnes der Mutter Kirche, der mir auf meinem Lebenswege aufgestoßen.“

„Ich will Euern Wunsch gern erfüllen. Ihr braucht Euch nicht weiter zu bemühen; denn der Mann, den Ihr fangen wollt, steht vor Euch. Ich bin Martin Luther.“

Der Schenk erstarrte zur Bildsäule; nur die weitaufgerissenen Augen zeugten noch von seinem Leben. Nicht nur keines Wortes mächtig, vergingen ihm auch die Gedanken.

Doctor Luther fuhr lächelnd fort: „Ihr seht, ich bin in Eurer Gewalt. Wollt Ihr wirklich einen arglosen, auf die öffentliche Sicherheit vertrauenden Reisenden in Euern Thurm werfen, weil er über den Ablaßkram des Papstes anderer Meinung ist, als Ihr, ohne ihn vorher gehört zu haben, wohlan, so laßt mich von Euern bewaffneten Knechten abführen. Ich habe keine Waffe weiter als das lebendige Wort.“

„Nicht also!“ versetzte Erbach beschämt. „Ich habe Euch schon gehört und will Euch weiter hören. Wir haben nun keine Eile mehr und lassen das Wäglein abschirren und die Pferde absatteln. Ich schicke meinen Knecht hinaus, um die andern herbei zu rufen. – Das ist eine wunderbare Fügung Gottes, daß Ihr gestern schon eingetroffen seid, während ich Euch erst heute erwartete. Setzen wir uns! Ich bin begierig auf Alles, was ich von Euch noch hören soll. Doch bevor Ihr mir auseinandersetzt, was Ihr gegen den Papst und den Ablaß habt, singt mir erst noch ein Lied, damit meine Seele in die rechte Stimmung komme. Wenn Ihr ein Loblied auf den heiligen Augustin wißt, so singt dieses.“

Luther nahm seine treue Begleiterin, die Laute, zur Hand und präludirte, sich zu einer Improvisation sammelnd, und pries in ihr in den kräftigsten Worten und Tönen den großen afrikanischen Kirchenfürsten. Dann begann er seine Rede. Er war selbst in einer ungemein gehobenen Stimmung, und vielleicht war ihm die Rede noch nie kräftiger, schöner, überzeugender aus der Seele geflossen. Des Schenks Augen leuchteten, die Hände über der Brust gefaltet, verneigte er zuweilen zustimmend das Haupt. Stunde auf Stunde verfloß, weder Hörer noch Sprecher merkten etwas davon, bis der Wirth wieder hereintrat und meldete, daß alle Knechte des Ritters zurückgekehrt und unten der Befehle ihres Herrn harrten. Auch habe der Wertheimer Fuhrknecht das Wäglein wieder angeschirrt.

„Nun, so kommt denn in Gottes Namen, ehrwürdiger Doctor Luther!“ sagte der Schenk tief gerührt. „Ihr habt mich vollständig überzeugt und Gott hat durch Eure klare, verständige und herzinnige Rede mein Herz erleuchtet. Kommt mit mir nach meinem Schlosse Erbach! Und seht, so wunderbar hat es Gott gefügt, daß ich, der ich Euch als Gefangenen dorthin führen und in den Thurm des Hasses setzen wollte, nun von Euch als Euer Gefangener in mein festes Haus geführt werde, das durch Euch in ein Haus der Liebe und wahren Gottesfurcht verwandelt ist. Ich segne Eure Hand, die mir die Binde von den Augen des Geistes gelöst und die Fesseln des reinen, wahren Glaubens angelegt hat. Führt Euren Gefangenen seiner Ehewirthin zu, damit sie durch Euch gleicher Gnade theilhaftig werde.“

Und der verklärte Ritter nahm den freudig bewegten Gottesstreiter an die Hand, führte ihn hinab und hob ihn in das Wäglein, das die Knechte umgaben, während er selbst dem Doctor zur Seite ritt. So zogen sie durch das grüne Thal in die grünen Berge des Odenwaldes dem netten Bergstädtlein mit dem ragenden stattlichen Grafenschlosse zu, heiter und froh im Wechselgespräch miteinander plaudernd. Unterwegs hatte der Schenk einen Knecht vorausgeschickt. Als sie nun dem Weichbild des Ortes nahten, ertönten plötzlich alle Glocken und der Schulmeister kam ihnen mit den Schulkindern entgegen und sangen: „Gelobt sei, der da kommt im Namen des Herrn!“ Und der Stadtpeifer spielte mit seinen Gesellen auf. Zur hochverwunderten Ritterfrau, die ihnen vor dem Schloßthore entgegentrat, sagte ihr Herr und Gemahl: „Hier ist Er! Aber wir haben die Rollen vertauscht. Er ist der Fänger, ich bin der Gefangene! Als ein Saul bin ich ausgezogen, ihm Uebles zu thun; als ein Paulus komm’ ich wieder, von ihm und zu ihm bekehrt. Und dafür sei Gott gelobt in Ewigkeit! Amen!“




Land und Leute.
Nr. 27. Bilder ans dem Schwarzwald. Von Ludwig Steub.



III. Das Hotzenland.
Im Ochsen zu Rickenbach. – Das Heidewible. – „Das Schloß von Harpolingen“. – Das Hotzenhaus. – Scheffel’s Abschätzung der
Hauensteiner. – Der verspielte Ohrlappen. – Das helvetische und basische Laufenburg.

Nach den geschilderten Erlebnissen zu Herrischried im Wald gingen wir wieder von dannen und kamen denselben Abend nach Rickenbach. Auch da giebt’s noch eine Anzahl Hotzen, doch fühlten wir nach den heutigen Erfahrungen keinen besondern Drang mehr, ihnen eigens nachzugehen, nahmen’s daher auch ohne Betrübniß auf, als wir im Wirthshause zum Ochsen hörten, die Wackern seien, nachdem sie den Vespertrunk verrichtet, bereits nach Hause gegangen. Im Ochsen bereitete uns die junge Frau Wirthin, welche zu Säckingen das Kochen gelernt, einen Abendimbiß, den wir nicht verachten konnten, und ein leidliches Nachtlager. Doch war die Herberge sonst sehr dürftig ausgestattet und auch etwas schmutzig. Im „Herrnstüble“ waren wir heute die einzigen Gäste, aber durch die große Zechstube sahen wir noch in ein anderes dunkles Gemach, wo bei düsterm Lichte etliche Gesellen Karten spielten. Es waren ohne Zweifel sehr anständige Leute, aber das schwarze Gemach und das gelbe Licht ließ die Gestalten so unheimlich erscheinen und sie trieben ihr Geschäft so leise und geheimnißvoll, daß wir uns gar nicht in ihren Dunstkreis wagten, sondern, ohne nähere Bekanntschaft anzustreben, wieder zu unserm Abendtrunk zurückkehrten.

[375] Andern Morgens beim Frühstück lenkte der Wirth unsere Aufmerksamkeit auf die interessanteste Persönlichkeit im stillen Rickenbach, auf das Heidewible (Heidenweiblein). Immer bedacht, unsere Kenntnisse zu erweitern, sandten wir alsbald einen Boten mit der Bitte ab, das Weiblein möge doch gefälligst unser Frühstück mit seiner Gegenwart verschönen. Dasselbe kam auch alsbald herein und theilte unsere Geselligkeit. Es ist ein altes eingeschrumpftes Weiblein, sonst nicht auffallend, doch von großer Beweglichkeit und frischem Geiste. Der Gründlichkeit halber fragten wir zuerst, warum sie das Heidenweiblein genannt werde, worauf sie angab, vor Gott und Obrigkeit heiße sie eigentlich Magdalena Schmid, jenen andern Spitznamen aber habe sie sich dadurch erworben, daß sie nach Art der Zigeunerinnen, welche man hier zu Lande Heidinnen nenne, Tabak zu rauchen pflege. Diese Gewohnheit aber habe sie angenommen, weil sie früher sich viel mit Forellenfang beschäftigt und in dem Wasser stehend sich oft Zahnweh zugezogen, welches sie dann durch scharfe Cigarren zu lindern versucht habe. Allmählich aber habe sie in der Nicotinna nicht mehr eine Arznei, sondern einen lieblichen Genuß gefunden, den sie jetzt sehr hochschätze. Diesen Wink nicht mißverstehend boten wir Beide unsere Opfergaben an, worauf sich das Weiblein sachverständig eine Cigarre ansteckte und die kräuselnden Wölkchen derselben sich mit denen der unsrigen vereinigen ließ. (Nach andern Nachrichten soll das Heidenweiblein allerdings das hinterlassene Kind einer wandernden Zigeunerin sein, was aber hier nicht weiter untersucht, sondern den Localhistorikern zur Aufhellung überlassen werden kann.)

Aber nicht das Rauchen allein macht das Heidenweiblein zum Wunder seiner Nachbarschaft, sondern auch seine Gelehrsamkeit und seine dichterischen Schöpfungen. In der That zeigte es auch eine Belesenheit, die uns staunen machte. Es scheint in jüngern Tagen nicht blos den ganzen Hauenstein, sondern auch ein Stück des gegenüberliegenden Cantons Aargau, ja vielleicht halb Basel und Schaffhausen ausgelesen d. h. alle dort auftreibbaren Bücher in Händen gehabt zu haben. Ihre Gedichte, deren eine große Zahl sein soll, pflegt sie nicht aufzuschreiben, sondern trägt sie, wie die alten Rhapsoden, im Kopfe herum. Wir waren nur um so begieriger, eines dieser Erzeugnisse an uns vorübergehen zu lassen. Das Weiblein zeigte sich auch gleich bereit, unserm Verlangen entgegenzukommen, jedoch unter der Bedingung, daß wir sie nicht unterbrechen dürften. Gerne gingen wir diesen Pact ein, den wir aber bald zu bereuen gehabt hätten.

Das Heidenweiblein begann also eine gereimte Dichtung vorzutragen, welche den Titel führt: „Das Schloß zu Harpolingen“. Harpolingen ist eine schöne Burgruine in der Nähe von Rickenbach, welche eine alte Sage umflimmert, von einem Fräulein, glaub’ ich, das sich aus Liebesschmerz vom Thurm gestürzt. Diese Sage also hatte die Dichterin in ein poetisches Gewand gefaßt, aber eine Anzahl verschiedener Episoden und lange Betrachtungen über Gott, die Welt und das Großherzogthum Baden hineinverwoben. Als wir so eine gute Viertelstunde zwar ruhig zugehört, aber doch gemerkt hatten, daß der Knäuel der ineinander laufenden Fäden immer wirrer werde, und daß vielleicht ein halber Tag darauf gehen könnte, bis Alles wieder entwirrt und das Lied von Harpolingen zu Ende sein würde, betrachteten wir uns mit trüben Blicken und gaben uns Zeichen mit den Augen, welche die Harmonie unserer Gefühle nicht verkennen ließen. So nahm ich mir denn den Muth heraus, fiel unterbrechend in’s Gedicht hinein und sagte:

„Aber, liebes Heidewible, unseren poetischen Bedürfnissen wäre für heute bereits Genüge geschehen – könnten wir das Uebrige nicht ein ander Mal hören?“

„Nein,“ erwiderte sie dagegen mit freundlichem Ernste, „Sie haben mir versprochen, das Ende ruhig abzuwarten, und ich bitte Sie mir dieses Versprechen zu halten.“

Was war zu thun? Wir setzten uns wieder zurecht und lauschten von Neuem auf die alte Sage, glaubten aber doch zu gewahren, daß das Weiblein selbst sich einige Abkürzungen erlaube. Und in der That, nach einer weitern Viertelstunde kamen bereits Verse heran, wie diese:

Sie war so schön und war so zart,
Und hatte viel Geistesgegenwart;
Das Fräulein mußt’ aber doch aufgeben
Seine schöne Gestalt und junges Leben,

Verse, die uns mit der Hoffnung erfüllten, daß das Ende nicht mehr ferne sei. Wir bemerkten auch mit Vergnügen, daß eine der handelnden Personen nach der andern erstochen oder sonst vom Tode ereilt wurde und sich die Geschichte immer mehr vereinfachte.

Es überraschte uns aber nicht wenig, als das Gedicht am Schluß plötzlich in eine Parabase überging, welche die Hauensteiner dringend ermahnt, sich mit den neuen Zeiten zu versöhnen. Vieles Gute hätten diese schon zu Tage gefördert, wie z. B.

Die Eisenbahn – die frißt kein Heu,
Bringt Korn aus Rußland und Aegypten herbei.

Auch der Gensd’armerie sei ein rechtlicher Mensch vielen Dank schuldig; sie sorge für Schutz der Person und des Eigenthums – endlich aber vor Allen solle hoch leben Seine königliche Hoheit der Großherzog von Baden!

So waren wir denn uns selbst wieder gegeben, nahmen Abschied von den Wirthsleuten und wollten unsers Weges gehen, konnten aber nicht umhin auf eindringliches Bitten auch das Haus des Heidenweibleins zu besuchen, welches ohnedem an dem Sträßlein lag. Was nun dieses und einige andere Hotzenhäuser, in die wir unterwegs einen Blick gethan, betrifft, so habe ich allerdings da und dort schon viel hübschere gesehen.

Das Hotzenhaus steckt nämlich unter einem Strohdach, welches aber unten nicht regelmäßig abgeschnitten ist, sondern sich flügelartig über verschiedene Ausladungen erstreckt, die im Laufe der Zeiten dem ersten Bau hinzugewachsen und verschiedenen ökonomischen Zwecken gewidmet sind. An der vorderen Breitseite ist das Strohdach etwas höher abgenommen, um der großen Stube mehr Licht zu lassen. Hier stehen dann drei oder vier Fenster nebeneinander, nur durch schmale Leisten getrennt, und vor diesen findet sich ein gebohlter Platz, mit Bänken und Stühlen besetzt, der gegen außen hin durch eine niedrige Bretterwand eingefriedigt ist. Hier unter dem schützenden Vordach sitzen an heiteren Tagen die Leute, namentlich des Abends, und Pflegen der Arbeit oder der Kurzweil.

Im Stüblein des Heidenweibleins, welches aber trotz der eben beschriebenen drei Fenster etwas dämmerig war, zeigte sich das hölzerne Getäfel ganz schwarz vor Alter. An den Wänden hingen etliche papiere Bilder, welche Heilige, andere, welche französische Soldaten darstellten, einige Photographien von lieben Verwandten und Freunden, endlich auch zwei hochbejahrte Schwarzwälder Uhren. Auf dem großen Ofen lagen Kleider, welche getrocknet werden sollten, auf den Simsen standen Blumenstöcke; neben diesen deutlichen und nennbaren Gegenständen fand sich aber auf den Tischen und Bänken, den Simsen, den Kästen und dem Ofen allerlei unnennbares Geraffel verschiedenster Art, Alles durchschnittlich von eingealterter, dunkler Farbe, wild durcheinander, so daß die dämmerige Stube unleugbar etwas Alchymistisches oder Hexenartiges an sich trug.

Auch die Küche ist dunkel und fast nur von dem glänzenden Ruß der Wände erhellt. Schornsteine sind in Hauenstein noch nicht beliebt; es gilt für patriarchalischer, den Rauch durch’s Gebälk und durch die Dachfenster abziehen zu lassen. Man rühmt ihm nach, daß er auf diesem Wege die Früchte im Speicher trockne, und gleichwohl nicht feuergefährlich werde. Der vorherrschende Charakter in diesem Hause, wie in diesen anderen, die wir unterwegs besuchten, ist übrigens ein schmutziger.

Dies wären denn ungefähr unsere Erlebnisse im Hauenstein. Zu mehreren Erfahrungen und tieferen Kenntnissen haben wir’s in diesen zwei Wandertagen nicht bringen können. Wir geben auch gern zu, daß unsere Schilderung ziemlich lückenhaft und unzulänglich ausgefallen sei, aber um sie zu ergänzen und zu bereichern, haben wir ein einfaches Mittel im Vorrath. Wir dürfen nämlich nur auf J. V. Scheffel’s, des landeskundigen Meisters, einst (1853) im Morgenblatte erschienene Abhandlungen über den Hauensteiner Schwarzwald zurückgehen und denselben das Beste entnehmen. Nicht als ob wir die schönen Schilderungen ausschreiben wollten, dessen uns Niemand für fähig halten wird, sondern wir gedenken nur in einzelnen Punkten und in gedrängter Kürze herauszuziehen, was der Verfasser über den Charakter, die Tugenden und Fehler der Hauensteiner dort niedergelegt hat. Die Abschätzung ist gewiß sehr wahr und richtig, aber, wie man sehen wird, keineswegs sehr günstig.

Rühmlich ist es, daß der Hauensteiner noch manche alte Sagen, Lieder und viele uralte Bräuche aufbewahrt hat, aber es fehlt ihm andererseits auch nicht an halsstarrigem Aberglauben [376] und den wunderlichsten Vorurtheilen. Daß er in Mondscheinnächten gern einen Kiltgang unternimmt, möchte weniger zu tadeln sein, als daß dabei oft scharfe Schlägereien entstehen. Ueberhaupt ist der Wald in diesem Stücke berüchtigt, denn es vergeht selten ein Sonntag, ohne daß es da oder dort im Wirthshaus zu blutigen Treffen käme. Die geschlagenen Wunden wurden früher nach altgermanischer Weise unter den Familienvätern durch Wehrgeld ausgeglichen (componirt), was ihnen so genügend schien, daß sie nicht begreifen konnten, warum sich mitunter auch die großherzoglichen Behörden einmischten und die Helden einsperren ließen. – Sie sind, wie die Deutschen des Tacitus, verzweifelte Spieler, so daß einst Einer, der den letzten Pfennig verloren hatte, um seinen Ohrenlappen wettete, welchen dann der Sieger sofort und ohne Widerstand zu finden abschnitt und davon trug.

Der Hauensteiner ist übrigens der Einzige unter den Bewohnern des Schwarzwaldes, der den Trieb, die Welt zu sehen, kaum verspürt. Dagegen wallfahrtet er gern nach Maria Einsiedeln und nimmt dort ein Paar „Paradiesgärtlein“, einen „Himmelschlüssel“ oder neue Mähren von alten Wundern mit, um in den langen Winterabenden seinen Geist daran zu ergötzen. Ebenso ist er wenig beweglich und indolent, trinkt dagegen sehr gern Schnaps. Diese Eigenheit, der Leichtsinn der Jugend – uneheliche Kinder sind sehr häufig – und die Unfruchtbarkeit des Bodens sind Ursache, daß die Armuth immer mehr zunimmt, und diese wird begreiflicherweise nicht gehoben durchs eine andere Eigenheit, nämlich durch eine ungemeine Vorliebe für Processe, in denen manches kleine Vermögen dahingeht.

Zeit ist Geld und es ist vielleicht rathsam, einen Vorschlag zu wagen, der manchem Anderen etwas Zeit ersparen kann. Betrachtet man nämlich den geringen Reiz der Landschaft, die Dürftigkeit der Herbergen, die Verschlossenheit der Bewohner, so möcht es fast besser scheinen, wenn der Wanderer, der es nicht auf tiefere Studien abgesehen hat, den Wald und seine Schatten liegen läßt und sich damit begnügt, den Hotzen mit seinem rothen Brustlatz auf dem Wochenmarkte zu Säckingen oder zu Laufenburg in’s Auge zu fassen.

Namentlich zu Laufenburg, einem alten aber freundlichen Städtchen, am Rhein gelegen, wo er eben über mächtige Felsen wild rauschend hinabgleitet, was man den Laufen nennt. Eine schöne Brücke geht da über den Strom, links liegt die helvetische, größere, rechts die kleinere Hälfte der Stadt, beide wohlgebaut und einnehmend. Ueber der Schweizerstadt, steht noch ein brauner Thurm des alten Schlosses der Grafen von Habsburg-Laufenburg, rings herum sind hohe Hügel, schöne Wiesen, liebliche Rebengelände und dunkle Wälder. Das Städtchen ist so malerisch gelegen, wie nicht leicht ein anderes, und im badischen Posthaus waren wir vortrefflich verpflegt. Darum machen wir auch kein Geheimniß daraus, daß uns drei Wochen in Laufenburg viel lieber wären, als drei Tage im „Wald“.





Naseweisheit.

„Sagen Sie mir, wie sind Sie auf den Gedanken gekommen, so ein Werk zu schreiben?“ So fragte Kaiser Joseph den berühmten frommen Geistlichen und gesichtskundigen Schriftsteller Lavater vor beinahe hundert Jahren, als dieser seine physiognomischen Fragmente zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe veröffentlicht hatte. Lavater antwortete: „Ich zeichnete Portraits, bemerkte besondere treffende Ähnlichkeiten zwischen Gesichtstheilen und Gesichtszügen von verschiedenen Freunden, z. B. ähnliche Nasen. Ich richtete meine Beobachtungen auch auf andere Theile, einzelne Züge, Endungen, Umrisse der Stirn, des Schädels, der Knochen, und damit auf die Anlage, auf die Grundfähigkeit des Menschen, auf das Maß seiner Activität und Passivität, überhaupt seiner Empfänglichkeit und Kraft, welche ich in dem Gesichtsbaue ausgedrückt finde. Schwerer zu erkennen, aber viel sicherer sind die auch im ruhigen Gesicht sich zeichnenden Ausdrücke von Geistesfähigkeiten, von wirklicher und möglicher Wirksamkeit und Leidsamkeit eines Menschen.“

Lavater hatte es in dieser Erkenntniß bis zu einer wahren Meisterschaft gebracht. „Seine Einsicht,“ sagt Goethe, „in die einzelnen Menschen ging über alle Begriffe; man erstaunte, ihn zu hören, wenn man über Diesen oder Jenen vertraulich sprach, ja, es war furchtbar, in der Nähe des Mannes zu leben, dem jede Grenze deutlich erschien, in welche die Natur uns Menschen einzuschränken beliebt hat. So erkannte er z. B. in einem Fremden, der ihn eines Tages besuchte, auf der Stelle einen Mörder, obgleich er ein Mann von Bildung und gewandtem Benehmen war.“ Diese Erkenntniß wollte er auch zur Beförderung der Menschenliebe als Wissenschaft begründen und verbreiten und deutete damit schon auf eine später sich entwickelnde Menschenkunde hin, welche von wohlmeinenden Socialisten dazu benutzt ward, in dem Verbrecher theils des Staates eigenstes Verbrechen, wie Bettina sagt, theils von der Natur mißgebildete Kranke nachzuweisen, die man nicht bestrafen, sondern zu heilen versuchen müsse. Jedenfalls werden einst Physiognomik, Kranioskopie oder rationellere Phrenologie als die jetzige und sonstige richtige Erkenntniß und Beurtheilung der einzelnen Gestaltungsformen des Menschen, zur wahren Wissenschaft vereinigt, viel dazu beitragen, in Beurtheilung unserer Mitmenschen klarer und humaner zu verfahren und auch Verbrecher je nach ihrer Natur und deren Schuld richtiger und milder zu behandeln. Jedenfalls aber gehört dazu mehr, als das Gesicht, der Schädel und die Nase. Man darf auch die Hände und selbst die Füße bei einer solchen Wissenschaft nicht unbeachtet lassen. Die sogenannte Chiromantie oder das zigeunerische Wahrsagen aus den Linien der inneren Handfläche deutet schon seit undenklichen Zeiten darauf hin, daß auch die Hand zur Physiognomik gehöre. Carus in Dresden gab eine sehr interessante Abhandlung über die Form der Hand heraus, und ein Engländer hat neuerdings sogar ein dickes Buch über den Daumen geschrieben und nachzuweisen gesucht, daß aus den drei Gliedern desselben und deren Verhältnissen zu einander alle Charaktereigenthümlichkeiten eines Menschen zu erkennen seien. Ja, wir müssen vielleicht sogar bis zu den Füßen und Zehen herabsteigen. Haben doch bereits Ethnologen die Plattfüße der Neger zu einem Grunde für deren Bildungsunfähigkeit erhoben. Auch schrieb Burmeister eine lesenswerthe Physiognomik des Fußes. – Da nun diese Wissenschaft vom Kopfe bis zum Fuße geht und bereits Hand und Fuß hat, dürfen wir dabei wahrscheinlich auch nicht übersehen, ob ein Mensch kurz oder lang, dünn oder dick etc. sei. Kurz, wir müssen alle die Weisheit, die wir Jemandem schon an der Nase ansehen, durch alle Gesichts- und Körpertheile verfolgen, um ein richtiges Urtheil zu gewinnen, und uns nicht blos mit Naseweisheit lächerlich und unangenehm zu machen. Aber gut wird es doch sein, zunächst einigermaßen zu lernen, was und wie viel man dem Menschen gleich an der Nase ansehen kann. Lavater, die berühmteste Autorität in dieser Wissenschaft, fing ja auch damit an und gab viel darauf. Sicherlich verräth auch dieser Gesichtsvorsprung, den man nicht so leicht verstecken, und mit welchem auch der beste Verstellungskünstler nicht heucheln kann, mehr von den inneren Eigenthümlichkeiten des Menschen, als die Meisten vermuthen, und viele leichtsinnige Menschen, besonders auch Damen, sollen sich gern mit der Nase begnügen, um daraus naseweis ein Urtheil über den Träger derselben hervorzuziehen.

Die auf den ersten Anblick in ihren merkwürdigen Verschiedenheiten auffallenden Nasen fordern auch gar zu verführerisch dazu auf. Es gibt römische, griechische, jüdische, Neger-, Frosch-, Rams-, Adler- oder Habichts-, Stumpf-, Stülp- und Plattnasen, furchtbare Schnüffelzinken und unförmliche Knuppen, die theils zwergenhaft über der Oberlippe kleben, theils riesig wie Samengurken hervorstarren oder schippenartig wie die Schnäbel gewisser Sumpfvögel sich oft so weit aufwärts krümmen, daß es bei nassem Wetter hineinregnet. Andere Nasen erinnern an Meißel oder Stemmeisen, und manche Säufer verwandeln dieselbe in ein Kupferbergwerk. Da man nun auch Nasen machen, Anderen Nasen drehen oder sie ihnen wenigstens geben und sie mit langer Nase abziehen lassen kann, wir sie auch gelegentlich rümpfen oder blähen oder gar in eine Menge Dinge hineinstecken können, die uns nichts angehen, finden wir schon in dem gewöhnlichen Sprachgebrauch und der alltäglichen Anschauungsweise einen großen Reichthum von Naseweisheit, die sich ohne große Schwierigkeiten zu einer besondern [377] Wissenschaft, der Rhinologie (von dem griechischen „Rhin“ die Nase) zusammenschmelzen und läutern lassen mag. Wir wollen für diesen edlen Zweck wenigstens einige Hauptnasen zum Besten geben und zwar ohne heimtückische Absicht, den Lesern eine damit machen zu wollen.

Figur 1.

Um uns nicht bei allgemeinen Betrachtungen aufzuhalten oder in die komische Seite des Themas zu verlieren, z. B. daß wir Menschen von dem Schöpfer überhaupt als Vorzug vor den Thieren (wovon Nasenaffen und das Rhinoceros nur eine scheinbare Ausnahme machen) eine Nase gekriegt haben oder daß nach Abraham a Santa Clara die Nase im Alter zum Kalender wird und feuchtkaltes Wetter andeutet, wollen wir zunächst den Finger an die Nase legen, um dadurch unsern Scharfsinn für Untersuchung folgender Fragen zu wetzen: mit welchen Eigenthümlichkeiten des Charakters steht die Nase in ihren verschiedenartigen Formen in Verbindung? Sie ist bekanntlich das eigentliche Vorgebirge der

Figur 2.

Gesichtslandschaft und läßt sich mit der Spitze eines abgestumpften Keiles vergleichen, zu welchem der Kopf den Schaft bildet. Ihr Amt als Riechwerkzeug und Lungenschornstein kommt hierbei nicht in Betracht; sie gilt uns hier nur als ein vorgestrecktes Ausdrucksorgan für den sich äußernden inneren Charakter des Menschen und die Art und Weise dieser Offenbarung, also für sein Benehmen und Auftreten in Gesellschaft. Man kann dem Menschen Vieles, aber durchaus nicht Alles an der Nase ansehen. Zur wahren Menschenkenntniß gehört eben mehr. Aber die Neigungen, die Grade der Energie für sein Handeln und der Reizbarkeit oder Geduld und Selbstbeherrschung prägen sich vielfach in der Bildung der Nase aus. Wie nämlich die mittlere Partie des Kopfes mit den Wangen unseren: Gefühl, unserem eigentlichen Ich mit all’ seinem inneren Leben entspricht,

Figur 3.

so verräth die daraus hervortretende Nase je nach ihrer Gestaltung die verschiedenen Neigungen zum Heraustreten unseres Ich, unserer Persönlichkeit gegen unsere Umgebung, und zwar für den Kenner um so deutlicher, als wir auch bei der ausgebildetem Gesichtsschneidekunst die Nase wenig oder gar nicht nach unserem Willen bewegen können. Man kann wohl durch verschiedene Mittel Anderen eine Nase drehen, aber am allerwenigsten durch die eigene. Bei der soliden Naseweisheit kommt es zunächst auf die Größe dieses Ausrufungszeichens im Gesicht an. Sie deutet die Stärke des Triebes zur Bethätigung nach Außen im Allgemeinen an, sodann auch der Sprache und den Grad der Neigung des Gemüthes, in Rede und Handlung auf die Außenwelt einzuwirken.

Figur 6.

Die Sprache ist schon aus akustischen Gründen bei einem größeren Resonanzboden der Nase stärker, wobei wir nur beiläufig bemerken wollen, daß das sogenannte Sprechen durch die Nase seltener ein Naturfehler, als Folge von Vernachlässigung und einer egoistisch-spöttischen Ueberhebung ist, weshalb auch fast alle Amerikaner und eingebildete Aristokraten häßlich näseln.

Als Regel hat das männliche Geschlecht mit mehr Energie auch eine größere Nase, als das weibliche, und wehe dem Manne, welcher der Amazonen- oder Feldherrnnase seiner zarteren Hälfte nicht einen bedeutend größeren Zinken entgegenstrecken kann! Zwar nicht ein Damoklesschwert, wohl aber ein mächtiger Pantoffel schwebt immer drohend über seinem untergeordneten Riecher, wenn nicht etwa ein stark hervortretender Unterkiefer ihn für die stiefmütterliche Ausbildung seiner Nase entschädigt. Männer, welche sich hierbei an die Nase fassen und sie vergleichungsweise groß finden, mögen darüber nicht zu früh triumphiren, denn die große Nase allein schützt durchaus nicht vor dem Pantoffel, um so weniger, je stärker die Nase nach vorn und je mehr das Kinn

Figur 7.

zurücktretend erscheint, wie an dem Profile,

das wir mit Fig. 1 bezeichnet finden.

Wie in unseren Militärstaaten sich der Kriegerstand durch entschiedenes und freies Benehmen auszeichnet, finden wir auch unter ihnen die größten und ausgebildetsten Nasen, und selbst der platt- oder stumpfnasige Bauernjunge kehrt aus seiner zwei- oder dreijährigen Dienstzeit mit einer besser formirten Nase zurück. Die Juden concurriren mit den Officieren nur scheinbar, da bei ihnen der obere Theil der Nasenwurzel, aus welchem der persönliche Muth spricht, nur sehr schwach ausgebildet ist. Die große Nase ohne dieses Muthzeichen verkündet nur den sich in Alles mischenden Schwätzer, wie wir es dem Profile Figur 7 ansehen, während die eigentliche Heldennase des unternehmenden

Figur 8.

und energisch handelnden Menschen, sich dadurch auszeichnet, daß die Wurzel sich im Profile hoch aus dem Grunde des Gesichts hervorhebt. Man vergleiche für diesen Zweck die Nasen Napoleon’s, Cäsar’s, Apollo’s, Diomed’s (Fig. 6), die Hercules-, Menelaos (Fig. 3) und Achillesnase (Fig. 2) mit der des geschwätzigen und muthlosen Paris (Fig. 7). Um es kurz zu fassen, werden Menschen mit überhaupt großen Nasen immer verhältnißmäßig energischer, ruhiger und kaltblütiger in allen ihren Lebensthätigkeiten und Aeußerungen erscheinen, als kleinnasige. Freilich ist Größe noch ein sehr allgemeiner Begriff, mit dem allein sich wenig anfangen läßt, da Alles wesentlich auf die Art und Form der Größe und die Verhältnisse zu anderen Gesichtstheilen ankommt. Um die Größe selbst genauer zu messen, kommt es

Figur 9.

auf die Höhe, d. h. die senkrechte Entfernung der Linien vom Anfange bis zum Ende der Nase (a – b in Figur 1), auf die Breite und die Tiefe, d. h. die Länge der Linie von der äußeren Grenze bis zur Backe (e – d in Figur 4) an. Die Höhe steht ziemlich sicher in gleichem Verhältniß mit dem Grade der Kraft in Ertragung von Gemüthseindrücken und in der Geduld, sich Alles gefallen zu lassen. Da nun eine bloß hohe Nase ohne Tiefe und Breite weiter nichts ist, als eine lange Nase, können wir uns nicht wundern, daß viele Menschen mit einer solchen abziehen müssen. Der Michel, der sich Alles gefallen läßt, hat bloß die Nase von Fig. 8, wogegen Menschen mit reizbarem ungeduldigem Wesen sowohl eine kürze als meist concave, d. h. nach innen abfallende Nase haben, wie die Profile 9 und 10. Doch kann ein solcher Nasenbesitzer auch viel Energie, Lebhaftigkeit und heiteren Sinn entwickeln, besonders wenn sich Fig. 9 noch mehr zum naiven. „Guck in die Welt“ und Stumpfnäschen gestaltet.

Figur 10.

Die ewig Unzufriedenen, besonders die gewerbsmäßigen politischen Weltverbesserer haben weder feine noch hohe Nasen, sondern wohl immer entschieden niedrige. Ueberhaupt hängt Zufriedenheit mit der Höhe der Nase zusammen und zwar meist zugleich mit dem Unterkiefer. So fehlt z. B. allen Personen mit einem Gesicht wie Fig. 8 das Wesen der eigentlichen Leidenschaften, ohne welche nach Hegel nichts Großes geschehen kann.

Die breite Nase deutet fast immer auf bedeutende Körperkraft und Mangel an Eleganz und Feinheit in der Bewegung, so daß der Besitzer einer solchen eher in den Kampf und zu Herculesarbeiten paßt, während der Feinnasige sich durch geistige, namentlich Verstandesarbeit und auch im Salon leicht auszeichnen wird. Gehört die feine und kleine Nase einem Mörderangesicht, so wählt er als Werkzeug den Dolch, der Verbrecher mit breiter Nase dagegen die Axt oder Keule.

[378] Die Nasen an antiken Kunstwerken sind fast immer breit, besonders der Rücken, der nicht selten eine förmliche Fläche bildet, während moderne Nasen, die sich in höheres Culturleben stecken müssen, mehr oder weniger zugespitzt erscheinen. Ein Hercules würde mit seiner starken, breiten Nase sich weder als Tänzer im Cotillon noch als Mitarbeiter der Gartenlaube auszeichnen.

Aber auch die Tiefe der Nase, d. h. die Ausdehnung von der Wangenfläche bis zur vorderen Profil-Linie (also e–d in Figur 4) hat etwas zu bedeuten. Sie bildet als solche das wahre Vorgebirge der Energie und Muskelthätigkeit und besonders auch der Stimmbildung, worüber wir in der berühmten Gesangschule des unlängst in Berlin verstorbenen größten Meisters der Gesangsbildung, des Directors und Professors C. G. Nehrlich, überraschende Aufschlüsse finden.[1] Die Nase tritt im Durchschnitt bei allen Geschöpfen desto mehr aus der allgemeinen Masse des Oberkiefers,

Figur 5.

also der Wange, hervor, je vollkommner ihre sonstige Organisation sich gestaltet und der menschlichen sich nähert. Bei den Thieren erstreckt sich der Oberkiefer mit unausgebildeter Nase mehr oder weniger nach vorn, so daß die Profillinie der letzteren nicht, wie beim Menschen, beinahe senkrecht, sondern ziemlich horizontal gerichtet erscheint. Ohne uns hier auf noch unsichere Einzelnheiten einzulassen, wollen wir nur bemerken, daß die Nase desto mehr hervortritt, je ausgebildeter die Triebe zur Bewegung, zur Handlung und Leidenschaft sich geltend machen, und umgekehrt. So können wir menschlichen Wesen gegenüber immer ziemlich sicher darauf rechnen, daß wir einer stark hervortretenden Nasenspitze und Oberlippe nicht ungestraft etwas Aergerliches oder nur Verdrießliches zeigen oder sagen dürfen (Fig. 5). Der unverständige und anmaßende Mensch besitzt immer eine stark vorspringende Nase und Oberlippe und spricht sich gewöhnlich ohne nähere Prüfung über Alles aus, mag dazu noch so viel Kenntniß und Wissenschaft gehören. Es ist so recht eigentlich der naseweise Mensch. Vorsichtige Prüfung, auf Erkenntniß gegründete Bescheidenheit und überhaupt geistige Durchbildung trägt in der Regel eine mehr senkrecht verlaufende Nase (Fig. 4). Auch die stärkere Ueberwölbung

Figur 4.

des oberen Nasentheiles durch das Gehirn und dessen Umhüllung bildet als physiognomische Eigenthümlichkeit in ihrer verschiedenen Gestaltung einen bedeutenden Theil für Beurtheilung der mehr oder weniger gebildeten Willens- oder Geisteskräfte. Diese Wölbung ist nach Vogt die eigentliche Sprachhalle. Personen ohne diese Wölbung sprechen schlecht und ernstliche Verletzung dieses Theils kann sogar alle Fähigkeit zu sprechen vernichten. Die Einzelnheiten darüber gehören theils in das Gebiet der Phrenologie, an welche viele Menschen überhaupt nicht mehr glauben wollen, theils in das Bereich der eigentlichen Physiognomik, worüber neuerdings Dr. Piderit ein glänzend ausgestattetes und verständigeres Buch geschrieben hat, als vor hundert Jahren Lavater. Jedenfalls gewinnt bei dieser Wissenschaft auch die Nase sehr viel, so daß ein guter Physiognomiker diesem Gesichtsvorsprunge viel mehr ansehen kann, als wir uns hier zutrauen. Wir begnügen uns in Bezug auf die Tiefe oder Höhe der Nase mit der Bemerkung, daß sie durch ihre Art des Hervortretend aus dem Grunde, d. h. der Wange, und durch die Gestaltung der Profillinie die verschiedenen Grade freier Beweglichkeit und Energie im Auftreten und Benehmen in sehr feinen Unterschieden bekundet und menschliche und verständige Bildung in desto höherem Grade vermuthet werden kann, je mehr die Wange zurücktritt und die Nase sich ohne Verstärkung nach vorn durch anständiges Hervortreten physiognomisch geltend zu machen weiß. Das Hervortreten unten als knorpelige Knuppe oder fleischiger Fletsch läßt mindestens immer auf einen ungebildeten, von Vorurtheilen, Sinnlichkeit und Leidenschaft beherrschten Geist schließen, letzteres besonders wenn die Nüstern sich ungewöhnlich ausdehnen und blähen.

Außerdem kommt viel auf die Schärfe oder Stumpfheit der Nase an. Wie nämlich das Heraustreten unseres Ichs aus seiner Innerlichkeit vor unserem Mitmenschen in seiner Art und Weise das Benehmen ausmacht, so kündigt sich dies am hervortretendsten durch den Gesichtsvorsprung, die Nase, an. Man fragt: wie benimmt sich Jemand? Mit welchem Grade von Anstand, Sicherheit und Bestimmtheit tritt er in Gesellschaft auf? Die offenste und ehrlichste Antwort darauf giebt immer die Nase. Das Thier hat im Vergleich zu uns so gut wie gar keine oder nur eine stumpfe Andeutung. Es hat deshalb auch keine Gemessenheit, keine Bildung in seinem Benehmen; es fragt nichts danach, wie es seine Triebe befriedigt, und frißt und säuft namentlich ziemlich unästhetisch. Nicht viel besser machen es die Neger, die stumpfnasigen Bauern und kleine, ungezogene Kinder, welche sich sämmtlich durch ungeschliffene stumpfe Nasen auszeichnen. Auch haben Stadtbewohner, die mehr geistig leben, fast immer bestimmtere Nasen, als Landleute und kleinstädtische Ackerbürger, und die Aristokraten,

Figur 11.

besonders höhere Officiere, welche vom Cadettenhaufe an sehr streng gehalten wurden und sich durch ein gemessenes Benehmen auszeichnen, werden durch diese Schule in der Regel eine gebildete, mehr oder weniger scharf geschnittene Nase bekommen haben. Die Südländer, Italiener, Spanier und Franzosen, zeichnen sich durchweg oft bis in die niedrigsten Stände durch feines Benehmen und äußeren Anstand vor den meisten anderen Völkern aus und haben deshalb meist viel feiner gebildete Nasen, als die plumpen Niederländer und die meisten Völker germanischen Stammes, die, Gott sei Dank, durch inneren Werth und Gemüthlichkeit ersetzen, was ihnen an feinen Linien der Nasenumrisse und des Benehmens fehlt. Wir können übrigens Allen, welche mit ihrer Nase nicht zufrieden sind, zum Troste mittheilen, daß sie selbst zu deren feinerer Ausbildung wesentlich beitragen können. Gute Erziehung, Selbstbeherrschung, Geistesthätigkeit, Achtung und Anstand gegen unsere Nebenmenschen ziert und ehrt nicht nur den Menschen überhaupt, sondern verschönert auch die Nase, und zwar so sicher und bestimmt, daß einige Rhinologen schon behaupten wollen, man könne die verschiedenen Geistesthätigkeiten schon an der Gestaltung

Figur 12.

der Nase erkennen. So sprechen sie von theologischen, Philosophen- und Künstlernasen. Stumpfnasige Bauerjungen sollen fast immer mit einem schärfer ausgebildeten Gesichtsvorsprunge aus ihrer militärischen Dienstzeit zurückkehren. Wer diese Zwangsexercitien für gemesseneres Benehmen mit sich selbst vornimmt, kann also ebenfalls zur Veredelung seiner Nase viel beitragen. Schon die Uebung im klaren Denken und deutlicher, klarer Aussprache wirkt vortheilhaft auf die Umrisse, Linien und Kanten dieses Gesichtstheiles! Deshalb haben auch gutbenaste Menschen immer eine bessere Aussprache, Stimmbildung und Accentuation, als Kinder und kindische Menschen mit ihren stumpfen Stülpen oder Knuppen. Doch wollen wir damit durchaus nicht die Stumpfnasen verurtheilen. Wenn sie nicht zugleich gar zu entstellt und klumpig zwischen den beiden Backen liegen, geben sie nicht selten den Ausdruck der Gutmüthigkeit, die sich denn auch dahinter mitten in einem mehr oder weniger großen Reichthum von Gefühl und Gemüthlichkeit geltend macht. Deshalb findet man auch unter den Deutschen die meisten und besten Stumpfnasen. Freilich wird dieses Gefühl oft zur Schwäche und unmännlichen Weichheit, welche von der habichts- und spitznasigen, schnöden Welt gar zu oft mißbraucht wird. Deshalb thun diese Nasenbesitzer gut, wenn sie sich möglichst zu männlicher Thatkraft zwingen und durch heroische Entschlüsse ihren Witz spitzen und schleifen, wodurch mit der Zeit auch ihre Nasen etwas Schliff bekommen. Doch hüte man sich bei dieser Schleiferarbeit, die Nase concav auszuhöhlen und nach vorn zuzuspitzen, denn das giebt eine Gestalt, wie wir sie in dem Profil Fig. 11 sehen, die küchenschnüffelnde, topfguckerische Spionirnase, welche wie die Schnabel mancher Sumpfvögel nicht blos zum Riechen, sondern auch zum Eindringen und Aufschaufeln aller möglichen müllhaften und sumpfigen Abflüsse und Abfälle des [379] Lebens gebraucht wird. Mit diesen Nasen riecht man Vieles, was andere Leute mit den Augen und dem Gehör nur deshalb wahrnehmen, um ihre Nase davon abzuwenden. Sie wittern und erschnüffeln eine ganze Menge geheimnißvolle Dinge, die besser im Sumpfe und in den Müllhaufen des Lebens stecken bleiben, und auf welche diese Art von Nasenbesitzern mit ihrer klatschigen Neugier gerade stolz sind. Aber auch der zu sehr in umgekehrter Form ausgebildete Gesichtsvorsprung, wie der in Figur 12, kann anderen Leuten unbequem werden, da dieses Zeichen zu großer Energie in unseren bürgerlichen Verhältnissen leicht dazu führt, anderen Menschen zu viel Gehorsam und Abhängigkeit von diesem Haken zuzumuthen. Personen mit dieser Nase treten gar zu entschieden in der Gesellschaft auf, und wenn letztere zugleich noch ziemlich kurz ist, lassen sie andere Leute kaum zum Worte kommen. Solche Helden passen deshalb mir gut vor die stummgehorchende Compagnie oder auf das Schlachtfeld. Da wir aber Alle auf dauernden Frieden hoffen, wollen wir diesen Herren oder Damen für ihren Thätigkeitstrieb einen möglichst großen Wirkungskreis wünschen, in welchem die Leute ihrer Herrschaft schon an der Nase ansehen können, daß es nicht gerathen sei, faul oder unredlich zu sein.

„Nase: gewöhnlich,“ heißt es oft auf Passen, in Dienstbotenbüchern und sogar Steckbriefen. Personen, welche ihrer Nase ein ähnliches Zeugniß geben müssen, brauchen sich darum nicht zu grämen, denn sie können viele Vorzüge und Tugenden besitzen, welche zu gut sind, als daß sie sich auf die Nase binden ließen. Nach dem Ausspruche eines Bildhauers darf fast Niemand seiner Nase nachgehen, um einen geraden Weg einzuschlagen, denn die meisten stehen etwas schief, d. h. nach links oder rechts im Gesicht. Ob dies etwas Besonderes zu bedeuten habe und vielleicht mit politischen Richtungen in Verbindung stehe, wollen wir mit größerer Naseweisheit begabten Gelehrten zur Entscheidung überlassen.




Die Sonnwendfeuer.

Den Inbegriff der Natur legt der Volksmund in die Elemente. Aus der schöpferischen Kraft, die in der Flamme und in der Welle waltet, fand er den Schöpfer wieder, und so wurden die Elemente ein Mittelpunkt des Cultus und der Sage. An ihnen hat sich der Drang zu gestalten, der in den Menschen und in den Völkern wohnt, am frühesten bewährt. Bei den Griechen ward die schaffende Kraft zum Gotte selber gemacht, zum Neptun und Vulcan; in der deutschen Sage, wo neben dem epischen der romantische Zug so mächtig ist, sind die Erd- und Feuergeister entstanden.

Es ist klar, daß mit dem Christenthum ein Wendepunkt für diese Gestaltung kam, die der Kindheit der Völker angehört. Aber der Wendepunkt betraf doch nur die Bedeutung, nicht den Bestand der meisten Bräuche. Mit einem weltgeschichtlichen Tactgefühl haben die ersten Sendboten der Cultur die alte Sitte geachtet. Nicht mit dem Schwerte wurden die langgesponnenen Fäden der Gewohnheit durchschnitten, sondern unvermerkt ward die Basis verrückt und der alten Form ein neuer Sinn gegeben. Dieselben Stätten, dieselbe Art der Verehrung ward belassen, wo es nur irgend ging, nur die Adresse veränderte sich, an die Stelle der Heidengötter traten die Heiligen.

Diesem Vorgang verdanken wir es, daß in unserm jetzigen Culturleben noch so mancherlei Anklänge an die Urzeit erhalten sind, und zu diesen gehören auch die Sonnwendfeuer. Tiefer als jedes andere Element greift das Feuer in’s Dasein des Menschen ein und keines ward vom Leben tausendfältiger gestaltet. Welche Kette von Beziehungen liegt zwischen dem heiligen Funken, der am Heerde der Alten glimmte, bis zu den unzähligen Flammen unseres Kronleuchters; welche Unwiderstehlichkeit liegt darin, wenn der Ruf „Feuer!“ durch die Städte schallt, wenn im Treffen das Commando tönt: „Feuer!“

So hat sich schon in den frühesten Zeiten ein Cultus der Flamme gebildet, und wenn auch der christliche Ritus sich desselben allmählich bemächtigt hat, so müssen wir doch in ihm die Quelle der noch bestehenden Gebräuche suchen. Im Harz und am Rhein, sowie in Westphalen werden die Judasfeuer angezündet, in Süddeutschland und ganz besonders in Oberbaiern finden wir die Oster- und die Johannisfeuer. Die ersteren brennen in der Nacht am Charsamstag, wenn die Auferstehung vorüber ist, und sind besonders im westlichen Winkel des Gebirges, aber auch auf dem platten Lande und in Schwaben zu Hause. Am 23. Juni, vor dem Johannistage, zündet man die Sonnwendfeuer auf den Bergen an. Von Gipfel zu Gipfel glänzen sie hinüber, von Alpe zu Alpe schallen die Jodler.

Der ganze Aberglaube und die meisten Gebräuche, die mit dem Sonnwendfeuer zusammenhingen, sind jetzt erloschen; nur der wichtigste Brauch, das sogenannte Scheibenschlagen, ist zum Theil noch in Uebung.

Der Durchschnitt einer Brunnenröhre, oder auch ein altes Wagenrad wird nämlich mit Pech bestrichen und auf einer hohen Stange aufgesteckt. Manchmal nahm man auch einen pechgetränkten Pfeil, und wenn dann die Johannisfeuer angezündet werden, wird die brennende Scheibe im Kreise herumgedreht und dann von der Höhe herab in einem leuchtenden Bogen durch die Luft geschleudert.

Während sie also saust, spricht der „Scheibentreiber“ einen Vers, welcher gleichsam die Widmung enthält, wem die Scheibe gelten soll. Eine große Menge solcher Verse ist noch erhalten und wir finden in denselben ein buntes Gemisch der beehrten Personen. Zur Zeit, wo der religiöse Charakter noch vorwog, wo sogar der Priester das Feuer segnete, ist die heilige Dreifaltigkeit genannt. Aber auch dem Teufel ward einst zu Nauders in Tirol eine Scheibe getrieben, und der Bogen, den dieselbe schlug, soll „unabsehbar“ gewesen sein.

Nach und nach gewann das menschliche Interesse (in des Wortes verwegenster Bedeutung) die Oberhand und die Burschen riefen nun gewöhnlich die Namen ihrer Geliebten in die Luft:

„O du mei liebe Scheib’n,
Wohin soll ich dich treib’n?
Zu die Mittenwalder G’moa (Gemeinde)
Der Lisei ganz alloa“ (allein).

Man sieht, wie exclusiv die Schlingel wurden, um einen modernen Ausdruck anzuwenden. Manche sprachen auch diplomatisch, d. h. zurückhaltend und gaben ihrer Scheibe nur folgende Directive mit:

„In d’ Bairisch Zell’er G’moa,
Du weißt schon, wen ich moa“ (meine).

Wie gar manche Sitte, so bot auch diese bisweilen ein Mittel öffentlicher Rüge dar. Man trieb die Scheiben gefallenen Mädchen zum Spotte (ähnlich wie das Haberfeld) oder machte damit Jene lächerlich, welche eine Ungeschicklichkeit begangen hatten. So ist uns ein Vers erhalten, worin die Scheibe demjenigen gewidmet wird, welcher jüngst

„einen Gänserich am Strick zur Tränke geführt hat“.

In früherer Zeit wurden auch feierliche Vorbereitungen zum Sonnwendfeuer gemacht. Vier Knaben gingen von Haus zu Haus und „sangen“, um das Holz dafür zu sammeln. Niemand durfte diesen Beitrag verweigern, an alle Heiligen ward appellirt.

„Heiliger Sanct Veit,
Schick uns ein Scheit;
Heiliger Hans,
Ein recht ein lang’s;
Heiliger Sixt,
Ein recht ein dick’s;
Heiliger Florian,
Zünd’ unser Haus nit an“

In einem anderen Vers, der mit einem frommen Wunsche schließt, heißt es:

„Wir kommen vom Sanct Veit,
Gebt’s uns auch a Scheit,
Gebt’s uns auch a Steuer
An unserm Sunnwendfeuer;
Wer uns keine Steuer will geben,
Soll das nächste Jahr nimmer erleben.“

Diese Art des Sammelns, die in Oberbaiern landläufig war und bis nach Schwaben und Franken reichte, ist jetzt ebenso in Vergessenheit gekommen, wie die mannigfachen Zwecke und Beziehungen, welche früher dem Johannisfeuer zu Grunde lagen.

Die ältesten Spuren desselben weisen auf einen Zusammenhang mit der Hexenverbrennung hin, in manchem der erhaltenen

[380] Verse werden die Hexen erwähnt, in manchen Gegenden wurde sogar eine Strohpuppe im Oster- oder im Sonnwendfeuer verbrannt. Das Beifußkraut, ein Zaubermittel, welches gegen alle Krankheiten helfen sollte, ward ebenfalls in’s St. Johannisfeuer geworfen und es trieben diesen Aberglauben „nicht allein die alten weiber, sondern auch vil hoher leut, die doch sich vor sehr weis und verständig halten“. So sagt ein altes Kräuterbuch aus dem Jahre 1687 und eine Menge von Geheimmitteln hängt in dieser Weise mit dem Johannisfeuer zusammen.

Sehr gebräuchlich war es, daß jeder der Anwesenden ein angebranntes Scheit mit forttrug, das auf dem Heerd des Hauses aufbewahrt oder noch in derselben Nacht auf den Flachsacker gesteckt wurde. Auch dem Sprung über das Feuer war eine besondere Bedeutung gegeben. So hoch einer springt, so hoch wächst sein Flachs in diesem Jahre.

Aus dem Flug der Scheibe aber wollte man wahrsagen.

Wie allenthalben, so hat sich insbesondere im baierischen Hochgebirge diese Bedeutung des Johannisfeuers abgestreift; die alte Uebung selber ging indessen nicht verloren. Obschon ihre eigentliche Heimath in dem Theile ist, den das Karwendelgebirg beherrscht, in Grün und Mittelwald, so glänzen doch auch im Osten vom Watzmann bis zur Benedictenwand am 24. Juni die Sonnwendfeuer. Unten im Thale ist es ein herrlicher Anblick und bis in weite Ferne sieht man die lange Reihe der lichten Punkte.

Nicht Jedermann faßt dieselben so auf wie eine nordische Dame, die einst am Starnberger See alles Ernstes zu mir sprach: „I, sehen Sie ’mal, da muß wohl im Gebirge ein Fackelzug für einen gestorbenen Studenten sein.“

Die Burschen im Gebirge, welche die Feuer anzünden, sehen es in der Regel mit Mißvergnügen, wenn Städter sich bei denselben einfinden. Sie wollen bei solchen volkstümlichen Gelegenheiten „unter sich“ sein, es sind da alle möglichen Rendezvous ausgemacht, wo man unliebsam stören könnte, und die Wirthsleute warnen nicht selten geradezu die Fremden vor einer Bergpartie an diesem Tage.

Ich selber habe die Sonnwendfeuer vor Jahren auf dem Wendelstein gesehen, der wenige Stunden vom Schliersee liegt und als „der Hort des baierischen Almensangs“ berühmt ist.

Eine große Gesellschaft von geistreichen Herren und fremden Damen kletterte gleichfalls empor und vielleicht ist auch der gütige Leser geneigt uns zur Sunnwend zu begleiten.

Das ist ein kühler wonniger Augenblick, wenn man nach Sonnenuntergang aus dem dichten Walde auf die Alpenmatte heraustritt, die schon thaufeucht vom Abend ist, wo das Vieh mit Glockengeläute zur Hütte heimkommt.

Nicht weit von der Alm, auf einem Felsenvorsprung, war der Holzstoß aufgerichtet; so ein rechtes Luginsland muß er haben. Ringsum herrscht rühriges Leben, denn das ist keine kleine Arbeit, solch einen Thurm zusammenzutragen. Das Holz, das in der Nähe der Hütten liegt, ward im Laufe der Jahre längst verbraucht, und so muß man tief in, den Wald hinein, um die morschen trockenen Aeste herauszuholen. Sieh nur, wie die Bursche schleppen; der Eine zieht einen halben Tannenbaum hinter sich, der Andere hat einen halben Centnerblock an den Bergstock gespießt; der Dritte hängt mit dem Beile über dem Abhange und fällt noch Aeste von den Latschen oder Krummholzkiefern, deren Harz so trefflich brennt und duftet.

Die Zeit der Dämmerung ist kurz auf den Bergen; durch das niedrige Alpengras strich der Nachtwind und kaum hörbar tönte das Gebetläuten vom Kirchlein am Birkenstein empor. Da begannen die Flammen zu knistern und zu leuchten, anfangs sacht, verstohlen, dann in wilder jubelnder Lohe! Weithin sprühten die Funken durch die klare Sternennacht, und auf allen Gipfeln tauchten die Feuer, die Sonnwendfeuer empor! Wie breit, wie dunkelschwarz die Massen der Berge waren! Jetzt erhob sich einer der Männer, eine kühne Gestalt mit offener Brust und hoher Stirne, der schwang den Federhut und trat bis an den Rand des Felsens. Und als sein erstes Jauchzen ertönte, da war’s, als hätte er der Welt da drunten ein Manifest verkündet, ein Manifest der Freiheit für ewige Zeiten. Hüben und drüben klangen die Grüße herüber, als sollten’s die flimmernden Sterne am Himmel hören.

Um das Feuer bildeten sich bald ganz reizende Gruppen und ich müßte den Pinsel statt der Feder führen, wenn ich sie wiedergeben wollte. Aus den zerstreuten Hütten waren die Sennerinnen heraufgestiegen und schäkerten mit den Burschen vor dein Feuer. Sie mochten wohl wissen, daß dasselbe nicht allein dem Heiligen da droben gelte und daß gar manchen von Jenen noch ein anderes Feuer, als das des St. Johannes, heraufgeführt. Mit spitzem Hut und losen Haaren standen sie da und wenn sie nicht die Hand in die Hüfte stemmten, dann lag dieselbe muthwillig auf den Schultern ihres Verehrers. Der aber zog bisweilen ein Scheit aus dem brennenden Holzstoß und wollte sie damit kosen, daß sie lachend das Weite suchten.

In kleiner Entfernung war die Gesellschaft von Herren und Damen gelagert, die auch das Sonnwendfeuer sehen wollten. Bunte Gestalten in bunter Tracht! Einige der Herren (welche einen Rheumatismus wünschten) gaukelten im Grase, andere lehnten an den langen Gebirgsstöcken, oder saßen neben den Mädchen auf den niedrigen Felsblöcken, die in der Halde zerstreut und von Alpenrosen überwuchert waren. „Hier möchte ich Hütten bauen,“ seufzte eine der älteren Damen, der man den Blaustrumpf selbst im Dunkeln ansah und die vor Entzücken ganz schlotterte, „mir eine und dem Moses eine – und die dritte müßte ich natürlich aufbewahren, wenn ich mich später etwa verheirathe.“

Suum cuique – aber merkwürdig bleibt es trotzdem, wie verschiedene Gedanken derselbe Gegenstand hervorruft, und der Satz ist unumstößlich wahr, daß der Mensch durch nichts sich so sehr zu erkennen giebt, wie durch die Art des Beschauens.

Es war mehr eine Art von Beschaulichkeit, in welche eines der jungen Mädchen versunken schien, das dort allein auf einem Felsstück lehnte. Um den Saum des Kleides rankte sich die grüne Kiefer empor; sie hatte die Hände im Schooß, und vielleicht bekümmerte Gedanken im Herzen. Ueber die aschblonden Haare fiel ein breiter Strohhut herunter mit einer dunkelrothen Blume. – Das war ein Bild, ein vollendetes Bild (wie Riedl in Rom es malt), wo Sonne und Nacht, wo Licht und Dunkelheit in einem Antlitz wohnen. Die Hälfte ihres Madonnengesichts war tief beschattet, nur die weichen Linien des Ovals glänzten im rothen Lichte. Manchmal bog sie das Haupt zurück, wie von geheimer Sehnsucht gezogen, dann leuchteten die Züge im vollem Wiederschein, und alle Pracht des Feuers strahlte zurück aus diesem Zauberspiegel eines Angesichts..

Wenn sie sich nur nicht regt, dacht’ ich in stiller Bewunderung – da kreischt ihr richtig schon die englische Gouvernante einen guten Rath entgegen. „Jenny, Miss Jenny, take care!“ rief sie entsetzt, denn es waren Funken auf das feine graue Kleid gestoben. Jenny fuhr zusammen – und fort war das schöne Bild. Beinahe hätte ich die Gouvernante gepackt und in’s Feuer geworfen, daß sie lebendig gebraten würde! Und es schien als hätte sie mir etwas von diesen guten Absichten angemerkt, denn durch ihre blaue Brille traf mich ein fataler Basiliskenblick.

Ein alter Doctor der Philosophie trieb zum Aufbruch und auch die ländliche Gruppe zerstreute sich allmählich, um von der Felsspitze die Alpenhütten zu erreichen. Auf dem kurzen Weg dorthin mischten sich auch die munteren Burschen unter die Gesellschaft, die sie durch ihre derben Witze und gegenseitige Mißverständnisse erheiterten. Die blaue Brillenschlange hütete ängstlich ihren schönen Pflegling und nannte jeden Bauern einen Gentleman, weil sie dachte: Noblesse oblige.

Nichtsdestoweniger ergriff einer der dreisten Gesellen plötzlich das schöne „Bild“ um die Taille und suchte ihr damit seine Verehrung begreiflich zu machen. Jenny lächelte liebenswürdig, als er sie mit einer Alpenrose auf die Hand schlug, und Jener sprach, nachdem er sichtlich mit dem Ausdruck gerungen: „Du bist das schönste Weibsbild auf Erden.“ Dann aber wandte er sich zu seinem Dirndl, das hinter den Beiden trollte, und sprach: „Gelt, Dirndl, da schaugst, so ein saubers G’frißei bringst halt Du doch nit z’wegen. Neben der da kommst Du schon raus wie a Gaiß neben an Gamserl!“

„Für an Bock is a Gais gut g’nug,“ erwiderte lachend das Dirndl. Die Gouvernante aber, die unter den Nachzüglern geblieben war, rief drohend vor: „Jenny, take care!

Die bunte Gesellschaft ward auf dem Heu in den Alpenhütten untergebracht, und bald war selbst die Brillenschlage im Segen des Herrn entschlafen.

Es mochte zwei Uhr sein, da schlich ich mich heimlich weg und ging hinaus an’s Sonnwendfeuer.

[381]

Das Sonnwendfeuer auf dem Wendelstein.
Nach der Natur aufgenommen von Ph. Sporrer.

[382] Wie unermeßlich lag jetzt diese Welt von Bergen und Wäldern da! Die Sterne waren noch leuchtender, der Bogen des Himmels noch weiter gespannt als zuerst. Jetzt erst war es die tiefe, volle Nacht, die alle Einzelheit verschlingt und nur die Riesenmassen, die meilenlangen Linien übrig läßt. Darum ist die Nacht so unheimlich großartig, darum ist der Tag so lieblich, weil er uns näher steht, indem er uns am Sonnenlicht das Kleine zeigt. Klar und groß lag hier die Welt und der Zusammenhang des Ganzen vor meiner Seele. In ihm allein ruht die Rettung des Einzellebens, in ihm allein wird das Räthsel des Ich gelöst, Darum sind es Stunden der Weihe, Feierstunden in einem Menschenleben, wo uns die Ahnung dieses Zusammenhangs, wo uns der Glaube an das Ganze erfaßt. Stumm stand ich da und sah die Sterne wandeln, und eine Stille lag rundum, die nimmer das Ohr, sondern nur noch die Seele wahrnimmt. Es war, als hörte ich den Flügelschlag der innersten Gedanken.




Skizzen aus dem Zollparlament.
3. Süddeutsche Charakterköpfe.
Der süddeutsche Leo. – v. Schlör und Dr. Carl Barth. - Dr. Marquard Barth und die bairische Fortschrittspartei, Benzino und Jordan -

Feustel und Crämer-Dos. - Dr. Joseph Völk. - Die Badenser: Roggenbach. - Bluntschli. - Die Schwaben: Tafel - Probst - Oesterlen -

Mohl - Baihinger - Mittnacht.


Das weit größere Interesse, das man in dem Zollparlamente für den anderen nicht minder streitbaren ultramontanen Großdeutschen aus Baiern, den Dr. Johann Nepomuk Sepp hegte, den Professor an der Universität München, den Schüler Schelling’s und Görres’, den Mann, der, so lange er schreibt, gegen die Aufklärung in Worten, Thaten und Werken zu Felde zieht, zuerst, gegen Strauß, jetzt gegen Renan, den Mann, der einst das Staatsverbrechen beging, sich vom Katheder der Geschichte herab gegen die Premierschaft der Lola Montez aufzulehnen, und deshalb in seine heimathlichen Gefilde an der Ober-Isar „verwiesen“ wurde, den Mann, der weite Reisen in den Orient gemacht bis zum heiligen Grabe, in der Paulskirche saß, und reiche Schätze altitalischer und altdeutscher Maler besitzt in seinem gothischen Prachthause in München, kurz für den süddeutschen Leo, dieses Interesse hat er schwer getäuscht. Er hat nur sein interessantes Gesicht leuchten lassen über der Versammlung, nicht aber das Silber seiner Rede.

Von den reichen Talenten, die dem Minister Hohenlohe der Gesinnung und politischen Stellung nach am nächsten, von den v. Luxburg, v. Guttenberg, v. Schlör, Dr. Carl Barth u. A. sei den letzteren Beiden ein verdienter Blick gewidmet, v. Schlör ist in seinem Aeußern, seinen Reden und Abstimmungen ein würdiges Spiegelbild seines reichen braven Lebens. Er hat sich als Beamter, Anwalt, Eisenbahndirector tüchtige praktische Erfahrungen, namentlich in wirtschaftlichen Dingen geholt, ist für das deutsche Einigungswerk in der Paulskirche zu Frankfurt thätig gewesen und gegenwärtig baierischer Minister des Handels und der öffentlichen Arbeiten. Schlör ist von mittlerer Größe, breiten Schultern; fremdartig erscheint auf den ersten Anblick der dunkelbraune Teint, die blauschwarzen Haare, die buschigen Brauen, der volle schwarze Schnurrbart. So von weitem gesehen hat sein Gesicht slavischen Typus; aber das ehrliche feste Auge zeigt das deutsche Gemüth, die deutsche Energie. Schlör hat im Zollparlament wiederholt, namentlich, der Einzige unter den Süddeutschen, für die Tabaksteuer, unter großer Aufmerksamkeit und lebhaftem Beifall des Hauses gesprochen.

Wer das charakteristisch-wulstige Gesicht des Dr. Carl Barth gesehen, wird es nie vergessen. Wer ihm in das herzliche tiefe Auge gesehen, wird aber auch die Bedeutung des Mannes, auch seine dichterische Begabung wohl begreifen, wenn er auch sonst nicht wüßte, daß er daheim in Augsburg ein gesuchter Anwalt, einer der besten Vertheidiger des Landes und als Abgeordneter der bayerischen Kammer durch seine Reden für den Zollverein und das allgemeine Wahlrecht, wie durch seine langjährige Mitgliedschaft des deutschen Abgeordnetentages in den weitesten politischen. Kreisen Deutschlands rühmlichst bekannt ist. Im Zollparlament ist Barth’s Thätigkeit mehr den Berathungen vor dem Plenum, die für die Beschlüsse des Hauses entscheidend sind, als denen im Plenum gewidmet gewesen.

Noch bekannter ist sein älterer Bruder Dr. Marquard Barth, unter den Vorkämpfern für deutsche Einheit und Freiheit mit Recht genannt. Er gehörte mit zu jener denkwürdigen Deputation, die dem Könige von Preußen die deutsche Kaiserkrone anbot. Einer der Männer von Gotha, sah er doch nicht wie seine politischen Freunde der Fortbildung Deutschlands vom Standpunkte eines überlebten Doctrinarismus aus mit verschränkten Armen zu. Vielmehr stellte er sich, sobald er 1855 in die bairische Volkskammer gewählt wurde, an die Spitze der Opposition und zog ein tüchtiges Geschlecht bairischer Kämpfer für Volksfreiheit, die bairische Fortschrittspartei, heran. Seine gediegene juristische Bildung machte ihn fortan zum stereotypen Referenten über alle neuen Gesetzentwürfe, an denen Baiern in dem letzten Jahrzehent so reich ist. Augenblicklich arbeitet er an einer neuen Civilproceßordnung für Baiern. Wie sein Bruder ist er Mitbegründer und bis 1866 Mitglied der deutschen Abgeordnetentage gewesen.

Es ist keine Frage, daß die bairische Fortschrittspartei dem Zollparlament aus Baiern die größte Fülle von Talenten, die bedeutendsten Redner zugeführt hat. Hierher zählen die Pfälzer Benzino und Jordan, „der Riese von Deidesheim“, wie er im Vorparlament genannt ward seiner enormen Größe halber, damals schon ausgezeichnet durch seine maßvolle Haltung, seither als Mitglied der bairischen Kammer, namentlich aber als Bürgermeister seiner Heimath, als langjähriger Präsident der pfälzischen Handelskammer und Mitglied des Ausschusses des deutschen Handelstages, von großem Verdienst. Hierhin gehören der reichgebildete, feurige Rechtsanwalt Erhard aus Nürnberg, der tüchtige Rechtslehrer und Professor von Erlangen Marquardten, der liebenswürdige Schriftführer Schenk von Stauffenberg, die Industriellen Jansen und Pfretzschner, der alte Burschenschafter, der seit dem Frankfurter Attentat mit kurzen Unterbrechungen bis 1839 in Untersuchungshaft verbrachte und durch die groben Maßregelungen, die seiner gelehrten Ausbildung in den Weg gestellt wurden, zur Begründung seiner industriellen Carrière gezwungen ward; dann die beiden Parvenus im edelsten Sinne des Wortes, Feustel und Crämer-Doos, die sich durch ihre Begabung und ihren redlichen Fleiß aus armen Knaben mit einfacher Volksschulbildung, gestählt durch die Schule des Lebens und in ihrem Wissen bereichert durch harte Erfahrung und den edeln Wissensdurst, der den müden Körper noch zum Lernen zwingt, heraufgearbeitet haben, Jener zum Chef eines Bankhauses in Bayreuth, Dieser zum Besitzer der großen Fabrik in Doos, in die er einst als gewöhnlicher Arbeiter eingetreten. Feustel ist in der bairischen Kammer stehender Referent über Handelsverträge, Crämer-Doos über Eisenbahnverhältnisse; so sehr erkennt die Versammlung ihr sicheres Urtheil, ihr reiches Wissen an. Auch im Zollparlament sind Beide wiederholt mit Beifall gehört worden; namentlich zählt die Rede Feustel’s über die Gefahren, die der österreichisch-deutsche Handelsvertrag der deutschen Leinengarnzwirnerei bereite, zu dem Besten, was dort über Wirthschaftliche Fragen gesprochen worden ist.

Alle seine Landsleute aber überragt an Gewalt, Feuer und Feinheit der Rednergabe der Augsburger Rechtsanwalt Dr. Joseph Völk. Er ist eine jener Gestalten titanenhafter ungebrochener Urkraft mit seinem kurzen Nacken, seiner breiten Brust, seinem gedrungenen aber elastischen Körper, seinem mächtigen Haupt- und Barthaar, seiner übergewaltigen Bruststimme, wie sie nur das Jahr 1848 in größerer Anzahl im Frankfurter Parlament zu vereinigen vermochte. Im Zollparlament hat Völk kaum seines Gleichen. Aeltere Männer sagen, er habe in seiner Gestalt, seiner Stimmfülle und Redegabe und der zugleich staatsmännisch-maßvollen und gefühlswarmen Art seines Vortrags viel Aehnlichkeit mit Robert Blum. Die Gunst der Zeiten vergönnt ihm, seine Ideale bestimmter und mit mehr Aussicht auf Erfolg den Herzen seiner Hörer nahe zu führen, als es vor zwanzig Jahren der Führer [383] der Linken in der Paulskirche vermochte. In der bairischen zweiten Kammer erscheint er seit 1855 als Wortführer in allen Fragen von deutscher und europäischer Bedeutung und als der Parteiredner für die deutsche Frage. Auch er ist langjähriges Mitglied des deutschen Abgeordnetentages. Im Zollparlament steht er mit seinen Freunden zwischen den Nationalliberalen und der preußischen Fortschrittspartei und stimmte gegen den Uebergang zur einfachen Tagesordnung über die Adresse.

Noch lange werden die Badenser in dem Freiherrn Franz von Roggenbach die Erinnerung an die Tage verkörpert sehen, da Baden in den Reactionsjahren nach 1848 zuerst unter den deutschen „Staaten“ sich seines alten Ruhmes entsann: den Deutschen voranzuleuchten als ein Muster constitutioneller Regierung und, was noch höher zu schätzen, als das Land einer rein deutschen, auf Preußens Führung gerichteten Politik. Ueber sein Leben und Wirken bis zum Jahr 1863 verweisen wir unsere Leser auf die Gartenlaube jenes Jahres. Es ist bekannt, daß er zwei Jahre später seinen Ministerposten freiwillig aufgegeben und mit einer öffentlichen Erklärung beim Ausbruch des Krieges die geliebte Heimath verlassen, alle erneuten Anerbietungen aber, in den preußischen Staatsdienst und nach dem Kriege wieder in einen badischen Ministerposten oder die badische Kammer einzutreten, abgelehnt hat. Dagegen hat er die Wahl seiner engsten Heimath, des Wiesenthals, die er mit dem Dichter Hebel gemein hat, zum Zollparlament angenommen. Mit Unrecht wird Roggenbach zu denen gerechnet, die jetzt schon den Eintritt Badens in den Norddeutschen Bund unbedingt verlangen. In seiner Heimath kennt man in ihm den Vertreter einer besonnenen, abwartenden Anschlußpolitik. Der von ihm unterzeichnete Antrag auf Uebergang zur motivirten Tagesordnung über die von den Nationalen eingebrachte Adresse hat diesen Standpunkt Roggenbach’s auch vor Deutschland klar ausgesprochen. Leider sollte es seine einzige Leistung im Zollparlament sein. Eine Depesche rief ihn an das Krankenlager seiner hochbetagten edeln Mutier, das ihr Sterbelager sein sollte. Vom Grabe der Mutter kehrte er noch in den letzten Tagen des Zollparlaments wieder zu seinen Pflichten als Abgeordneter zurück.

Wie ganz anders der Mann, der neben Roggenbach sitzt, der berühmte Professor des deutschen Staats- und Privatrechts in Heidelberg, Geheimrath Bluntschli! Seine Züge, sein bartloses, scharfgeprägtes, von vielen charakteristischen Falten durchzogenes Gesicht, das ruhige prüfende Auge, der feine, geschlossene, häufig lächelnde Mund, der eminent geistvolle und doch zugleich behäbige Ausdruck des Ganzen bekunden, daß der große Gelehrte nicht nur deutscher Professor gewesen ist. Noch mehr erinnert die etwas beleibte Gestalt in ihrer nachlässig vorgebeugten Haltung, die lebhaften, fast derben Handbewegungen, vor Allem der entschieden schweizerische Accent an seine Zürcher Abstammung. Man sieht dem Manne seine sechszig Jahre nicht an. Und in der That folgt er der Entwickelung der deutschen Dinge mit demselben Feuergeiste, mit dem er sich vor achtunddreißig Jahren in die Reformbewegung der Schweiz warf, immer mit dem vergeblichen Streben, eine Mittelpartei zwischen den conservativen und radicalen Extremen zu schaffen.

Nach vielbewegter und bedeutender öffentlicher Wirksamkeit als Staatsmann sehen wir ihn in den gegenwärtigen politischen und volkswirthschaftlichen Parteibestrebungen unter den entschiedensten Gegnern eines süddeutschen Sonderbundes, unter den wärmsten Verfechtern eines sofortigen Anschlusses Badens an den Norddeutschen Bund daheim und im Zollparlament. Er hatte die – übrigens sehr harmlose – Metz’sche Adresse mitunterzeichnet. Er war der nach der Geschäftsordnung einzige Redner, der gegen den Antrag auf einfache Tagesordnung das Wort ergreifen durfte, und in meisterhafter Weise sprach er über die höchsten Fragen deutscher Nation, über die Stimmung der süddeutschen Stämme im Gegensatz zu der der Regierungen, die allerdings theilweise sehr andere Wünsche hegen, als die Verwirklichung der deutschen Staatseinheit.

Wer die Rede gelesen, wird gestehen, daß sie zu den besten Mustern deutscher Beredsamkeit zählt. Wer sie hörte, hatte nicht die volle Empfindung ihres Werthes. Bluntschli spricht so langsam, als ob man nachschreiben müsse; das hat er vom deutschen Professor. Er ist aber auch gewöhnt, bei Unterbrechungen, die ihm der Anstand seiner ultramontanen Feinde aus Baiern, Schwaben und Baden sehr ungenirt zu Theil werden ließ, das zuvor Gesagte zu wiederholen, oder mit dem schweizerisch accentuirten Rufe: „Ja wohl, ja wohl!“ zu bestätigen, woran der Norddeutsche nicht gewöhnt ist. In Baden soll Bluntschli auch in Volksversammlungen beliebter Redner sein; jedenfalls ist er durch den Glanz seines Namens, sein eminent ruhiges klares Urtheil und seine hohe Begabung eine der größten Zierden des Zollparlaments.

Den beiden Genannten gegenüber werden wir auch die übrigen deutsch- und römischgesinnten Abgeordneten aus Baden in einem nachträglichen Artikel zur Darstellung bringen, um uns hier sogleich den Vertretern des Schwabenlandes zuzuwenden. Denn einen bedeutenderen Eindruck, als die badischen, machen die „Großdeutschen“ oder, wie sie sich nennen, „großdeutschen Demokraten“, die Würtemberg zum Zollparlament gesandt hat: Oesterlen, Probst, Tafel, Erath, Freisleben, Ammermüller und die der Richtung nahestehenden Schäffle und Bayhinger. Im Gegensatz zu den badischen Großdeutschen mit ihrem Bündniß zwischen Radicalismus und Ultramontanismus ist nämlich bei den Würtembergern die warme Ueberzeugung von der Wahrheit und Richtigkeit ihres politischen Glaubensbekenntnisses nicht zu verkennen. Sie hatten das Unglück, aus einem Wahlkampf hervorgegangen zu sein, der an wilder Leidenschaft, an gegenseitigen Anschuldigungen, an häßlichen Mitteln der Wahlbeeinflussuug, an den gröbsten, lästerlichsten Schimpfreden gegen Norddeutschland und Preußen kaum noch in dem Wahlkampf zwischen Bamberger und Dumont in Mainz seines Gleichen sah. Daher wurden sie bei ihrem Eintritt in’s Zollparlament von mindestens zwei Dritttheilen der Mitglieder als die geschworenen Feinde des Norddeutschen Bundes, des deutschen Gesammtstaats überhaupt, angesehen. Bewiesen nun auch ihre verschiedenen Abstimmungen, daß man sie im Ganzen durchaus nicht unrichtig beurtheilte, wenn man sie für unversöhnliche Gegner der durch das Jahr 1866 geschaffenen Zustände und jeder Erweiterung der Zollvereinsverträge hielt: so errangen sich dagegen ihre Personen die Achtung aller Parteien des Hauses. Daß sie ihren Standpunkt mit Geschick, aus innerer Ueberzeugung und nur aus dieser vertraten, daß sie nach ihrer Weise deutsch dachten, daß ihre Ehrenhaftigkeit und Bravheit über jedem Zweifel erhaben sei, das war die Allen gemeinsame Empfindung bei der persönlichen Bekanntschaft mit diesen Männern.

Hier das ehrwürdige weiße Haupt des ältesten Süddeutschen, des Rechtsanwalts Tafel aus Stuttgart, des ewigen Jünglings, wie seine Freunde ihn nennen, der mit seinen siebenundsechszig Jahren in vierzehn Tagen sechsundzwanzig Wahlreden gehalten hat. Im Zollparlament hat er dafür stets geschwiegen, wie der Feldherr der Seinen von seinem Platze aus die Taktik seiner Truppen ordnend. Diese Taktik war allerdings nicht immer eine sehr glückliche. Namentlich verdarb sie der Abgeordnete Probst am 18. Mai durch die Heftigkeit, mit der er die gerade von den „Schwaben“ gern vermiedene Debatte über die deutsche Frage hervorrief. Das Verhalten der Würtemberger an diesem Tage führte zu ihrer dauernden Isolirung. Probst ist über Mittelgröße, schlank, einundfünfzig Jahre alt, mit graublondem Kinnbart und einem Gesicht, in dem sich viel Welterfahrung und feine Beobachtung, stets aber, wenn er von der Tribüne redet, die unangenehme Empfindung ausspricht, daß er an eine große Majorität gegnerischer Anschauungen sich wendet. Dieses Gefühl schien seine Rede sehr häufig zu beherrschen; er sprach dann unsicher, fast verlegen, er hielt ein advocatorisches Plaidoyer für den und jenen Paragraphen des Zollvereinsvertrags, schützte die Einrede der Inkompetenz vor, ließ manchmal auch eine Replik und Duplik einfließen, kurz behandelte die deutsche Frage nach der Schablone eines gemeinen Civilprocesses.

Es ist schade, daß Oesterlen, der von seinen Landsleuten wohl als der begabteste Redner mit Recht genannt wird, nur einer Berliner Volksversammlung, niemals aber dem Zollparlament die Ehre seines Auftretens in einer wichtigen, und namentlich in der deutschen Frage vergönnt hat. Er ist neunundvierzig Jahre alt, wie Probst Advocat in Stuttgart. Nur aus der Ferne vermochten wir uns seinen markigen Kopf zu betrachten.

Wie Erinnerungen aus längst vergangenen Tagen gemahnte es uns, wenn die würtembergischen Schutzzöllner Mohl und Vayhinger das Wort ergriffen. Es schien dann, als ob alles das, was seit den Zeiten List’s in Deutschland gegen die schutzzöllnerischen Theorieen List’s geschrieben und geschehen, als ob die herrliche Entwickelung unseres Handels, unserer Industrie, die [384] wir der schrittweisen Annäherung zum Freihandelssysteme im Anschluß an die westeuropäischen Culturstaaten, den Handels- und Schifffahrtsverträgen mit diesen verdanken, für diese beiden würtembergischen Obersteuerräthe in und außer Diensten nicht vorhanden sei, wobei, um Irrthümer zu vermeiden, bemerkt werden mag, daß Mohl außer Dienst, Vayhinger im Dienst ist. In Würtemberg gelten sie Beide für die Vertreter der einzig richtigen Nationalökonomie. Im Parlament hatten sie ein sehr entgegengesetztes Schicksal. Sie hatten das Höchste erreicht, wenn es ihnen gelang, während ihrer Reden den Ernst des Hauses zu bewahren. Vayhinger hatte noch den leichteren Standpunkt, er hat über ein ungewöhnliches interessantes Aeußere zu verfügen. Seine Haare sind ungescheitelt nach hinten gekämmt und hängen unordentlich, lang gewachsen tief in den Nacken. Durch die Brille blitzt ein lebendiges Auge, die Nase ist für diese groben Gesichtsmassen verhältnißmäßig fein, der Mund ungewöhnlich groß und beweglich, Backen und Kinn sind mit einem ansehnlichen sogenannten Demokratenbart bewachsen, die Kleidung ist nicht gerade gewählt, die Gestalt groß, beleibt, die Sprache hastig, dem schwäbischen Dialect unter allen am meisten fröhnend.

Moritz Mohl hat ein ungewöhnliches Aeußere. Er ist unter Mittelgröße, steif, pedantisch von Bewegungen, in einen braunen, unmodischen Rock gekleidet, wie es dem alten Junggesellen ziemt. Sein Gesicht ist mumienhaft vertrocknet, die Backenknochen vorstehend, die Augen klein, blaßblau, wehmüthig zum Himmel gerichtet. Auf der Oberlippe trägt er einen völlig weißen, nach unten zu immer dicker werdenden Schnurrbart, am Kinn einen kurzen, weißen Henri quatre, auf dem Haupt eine braun-olivengrüne Perrücke, die die Stirn bis auf ein kleines Dreieck fast vollständig bedeckt. Mit diesem provocirenden Aeußeren, an das man sich erst gewöhnen muß, tritt er auf die Tribüne und läßt die alten Schlagwörter der ältesten Schutzzolltheorien rinnen. Mit neuen statistischen vermeintlichen Beispielen versehen, weissagt er dann von der Herabsetzung der Lumpenzölle den Untergang der deutschen Industrie und den Hungertod Hunderttausender, wie er ihn einstmals für Würtemberg vor dem Eintritt Würtembergs in den Zollverein weissagte. Das Eine ist Mohl nicht abzusprechen, große Gelehrsamkeit – sein Bericht über den preußisch-französischen Handelsvertrag betrug siebenundachtzig Druckbogen, aber er wurde erst nach Annahme des Vertrages fertig.

An Barnbüler’s der Lesewelt bekannter Gestalt vorübergehend, wenden wir uns zum Schluß zu dem besten Redner der Würtemberger, zu dem würtembergischen Justizminister Mittnacht. Am schärfsten zeigte er sich, als er die schwierige Aufgabe zu lösen hatte, die würtembergische Regierung gegen die Beschuldigung eines von dem norddeutschen abweichenden Wahlgesetzes und unerlaubter Wahlbeeinflussungen zu vertheidigen. Hätte er allein die Vertheidigung führen dürfen, ohne die gefährliche Beihülfe des Herrn v. Barnbüler, der Sieg des Tages wäre vermuthlich auf seiner Seite gestanden. Tiefe Stille lag auf dem Hause, als Mittnacht damals unter die Tribüne trat, vor die Bänke des Centrums, hinter ihm dichtgedrängt die Baiern und Würtemberger, sein Gesicht den Nationalen zugewendet und hier mit wunderbarer Kühnheit und Fertigkeit die unhaltbare Sache des Herrn v. Barnbüler vertheidigte, und dann wieder, als er die vom Abgeordneten Braun behaupteten Thatsachen in Abrede stellte, oder höhnisch mit den Wahlbeeinflussungen Preußens verglich, bis ihm dann Barnbüler in seiner edeln Dreistigkeit die ganze Partie verdarb. Auch Mittnacht ist nur wenig Tage geblieben, aber er hat den Eindruck hinterlassen, daß er das größte Talent, der beste Redner ist, den Würtemberg gesandt hat. Er ist, bis auf seinen niedergeschlagenen, oder den Gegenstand seiner Rede hastig und scheu streifenden Blick ein hübscher Mann zu nennen. Mittnacht ist von mäßiger Größe, hat eine bedeutende Stirn, vortreffliche, lebhafte Gesichtsfarbe, einen oratorischen Mund, einen starken, kurzgehaltenen, blonden Vollbart um Kinn und Wangen. Er spricht stets mit einer Anzahl Papieren in der Hand, laut, scharf, an Pausen des Beifalls gewöhnt.




Blätter und Blüthen.

Bock’s Briefkasten. 1. Herr C. A. B. schreibt: „Ich erlaube mir, Sie auf ein Mittel aufmerksam zu machen, das nach meiner festen Ueberzeugung große Erfolge zu erhoffen verspricht. Dieses Mittel ist warmer Kuhkoth oder Excremente von Kühen, was ein und dasselbe ist. Lachen Sie nicht darüber, mein lieber Herr Professor.“ – Nein, mein lieber Herr C. A. B., ich lache gar nicht; denn Etwas ist an Ihrem Lieblingsmittel. Aber warum sollen wir Menschen uns von den Kühen was machen lassen, was wir uns selbst durch „warme Breiumschläge“ weit bequemer, reinlicher und wirksamer (weil wärmer) machen können? Denn so wie diese Umschläge, und nicht anders, wirken Ihre frischwarmen Kuhkothumschlage. Daß dieselben, wie Sie meinen, bei der Bräune der Kinder nützlich sein können, dürfte in manchen Fällen nicht zu leugnen sein. Sie sind nämlich im Stande zum Zerweichen des festen Gerinnsels im Kehlkopfe und in der Luftröhre beizutragen.

2. Meinen bekannten und unbekannten Feinden diene hiermit zur Nachricht, daß ihre in so reichlichem Maße und jedenfalls mit inniger Freude mir zugesendeten frankirten und unfrankirten, geschriebenen und gedruckten Feindschaftsbezeigungen ihren Zweck ganz und gar verfehlen. Ich lese diese Zusendungen nämlich niemals, kann mich demnach weder ärgern noch ändern und kann sie auch nicht beantworten.

3. Ich bin bis jetzt, wie ohne Zweifel auch viele Leser der Gartenlaube, der Meinung gewesen, ich schriebe ziemlich unverblümt, ja deutlich grob. Allein der große Haufen Briefe vor mir, der großentheils recommandirt oder mit „Anbei ein Paket, ein Kasten u. dergl.“ versehen ist, belehrt mich eines Bessern. – So hatte ich von den Geheimmitteln gegen die Leiden der Menschen mehrmals geschrieben, daß sie alle gemeine Schwindeleien wären und nichts Anderes bezweckten, als den Leuten das Geld aus der Tasche zu stehlen. Trotzdem wünscht eine ganz hübsche Anzahl von Geheimmittelfabrikanten von mir ganz im Ernste, ja sogar unter Beilage von Goldstücken, daß ich ihre Fabrikate in der Gartenlaube empfehlen soll. Man merke sich: ein Mensch, der ein wirklich heilsames Mittel gegen dieses oder jenes Leiden seiner Mitmenschen besitzt und es nicht ohne Entgelt der Öffentlichkeit übergiebt, ist ein liebloser Egoist. – Auch Personen, die meine Expectorationen über die Geheimmittel mit Vergnügen gelesen haben wollen, fragen bei mir doch noch über neue in Zeitungen angepriesene Geheimmittel an. So lassen mir die nicht körperlich-, sondern gemüthskranken Jugendsünder mit der Laurentius’schen Kräftigungstinctur nicht Ruhe, trotzdem daß ich wiederholt erklärt habe: dieselbe besteht hauptsächlich aus Eisen und Chinin, ist ganz nichtsnutzig und kostet 40 Thaler, obschon sie einen Werth von nur wenigen Groschen hat. – Eine Anzahl von Briefen enthält entweder allopathische Recepte oder homöopathische Pülverchen und die Absender wünschen mein Urtheil darüber, ob diese von ihren Aerzten verordneten Arzneien auch wirklich helfen werden. Hätten sich in diesen Briefen die Absender nicht mit ihren Namen und Stande unterschrieben, ich würde solche Anfragen für eine mystisicirende Verhöhnung halten. Zum Ueberflusse soll ich auch das dumme Zeug noch zurückschicken. – Zur Cholerazeit soll man sich den Bauch warm halten, aber nicht blos bei Tage, sondern ganz besonders auch bei Nacht; wie? ist ganz gleich. Auf diese Verordnung hin sitze ich jetzt zwischen Bauchbinden der verschiedensten Farbe und Façon. Jede soll ich prüfen und empfehlen. Wollte ich dies, so müßte ich mehr als einen Bauch haben. – An Hrn. A. L. stud. in Berlin. Ueber das Hoff’sche Malzextract habe ich mich in der Gartenlaube schon (im Jahrgang 1862 Nr. 19) ausgesprochen. Es ist ein gewöhnliches Braunbier, versetzt mit dem Auszuge einiger bitterer Kräuter und der Faulbaumrinde. Die Zusammensetzung erleidet aber von Zeit zu Zeit einige Aenderungen, damit dem Schwindel nicht sogleich von den Chemikern auf die Spur zu kommen ist. Alle andern vorhandenen Malzextracte sind, als Nahrungsstoffe, dem Hoff’schen vorzuziehen. Was die übrigen Hoff’schen Malzpräparate betrifft, so ist ihre Wirkung aus unseren Körper keine andere, als die von andern Zuckerarten und Syrupen. – An C. P. Mit den Cocapillen verhält es sich wie mit allen andern Mitteln, die bei vielen und ganz verschiedenen Krankheitszuständen helfen sollen: sie sind nichtsnutziges Zeug.

4. Rücksichtslos sind manche Briefschreiber darin, daß sie ihren Namen und bisweilen auch den Wohnort so unleserlich unterzeichnen, daß selbst die Postbeamten daraus nicht klug werden können. So bin ich denn in den Besitz einer ganz netten Zahl von Briefen mit „Retour“ und um verschiedene Groschens gekommen.

Bock.



(Wird fortgesetzt.)

  1. Nehrlich war auch Stimmbildungslehrer des Kronprinzen von Preußen, dessen wohllautende Sprache berühmt geworden ist, und Lehrer des einst großen Sängers Pischel, der in seiner Selbstbiographie offen bekennt, daß er seine Stimme nur ihm verdanke. Seine „Gesangschule“ war vergriffen. Noch vorgefundene Exemplare sind von der Hanke’schen Antiqurienhandlung in Berlin angekauft worden.