Die Gartenlaube (1868)/Heft 25
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No. 25. | 1868. | |
Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.
„So dehnt sich ein Tag wie der andere hin,“ seufzte Prinz Louis Ferdinand, „und so schleicht eine Woche nach der anderen hin in eben demselben Jammer und eben derselben Langeweile! Ich wollte, König Friedrich Wilhelm der Dritte, mein vielgeliebter König und Vetter, hätte mir keinen Pardon gegeben und wäre nicht so gnädig gewesen gegen mich! Ich wollte, er hätte mich auf die Festung geschickt und ich säße hier, weil ich ein Revolutionär und Empörer bin! Dann wüßt’ ich doch, warum ich litte und daß es für das Vaterland ist, daß ich mich so grenzenlos langweile. Ich hatte es doch wahrhaftig verdient, daß ich so behandelt wurde! Hatte mich hinreißen lassen von meinem Schmerz zu tollen Wuthausbrüchen damals im vorigen Jahre, als der unglückselige Friede bekannt ward.[1][WS 1] Bin aber ohne Strafe davon gekommen und bin jetzt General der Infanterie, d. h. bin so hoch gestiegen, wie ein unglückseliger, apanagirter Prinz dritter Linie steigen kann, und habe nun das ganze Leben vor mir wie eine Ebene, in welcher kein einziger Hügel ist, den ich mir erklimmen kann. Es ist ein erbärmliches Leben!“
Er sprang auf und rannte in wilden Sätzen im Zimmer umher so lange, bis er erschöpft und athemlos auf einen Divan niedersank.
„Dieses abscheuliche Garnisonleben! Weiß es Gott, ich wollte, ich wäre ein Handwerksbursch und dürfte auf der Landstraße umherziehen mit dem Ränzel auf dem Rücken. Warum hat mich das Schicksal zu so einem kleinen, jämmerlichen Prinzen gemacht, bei dem selbst der Ehrgeiz schon Hochverrath und die Thatenlust schon Empörung ist! Aber was hilft’s, darüber nachzudenken? Man muß ausharren in Geduld, wenn man sterben und wüthen möchte vor Langeweile!“
Er sprang wieder auf und ging heftig auf und ab, und allgemach ward der zornige Ausdruck seines Angesichts milder, und seine Augen blickten sanfter. Er trat heran zu dem Flügel, der immer geöffnet in seinem Zimmer stand, ließ sich nieder vor demselben und begann zu spielen. Stürmisch anfangs in wilden Phantasien, als ob der Schmerz, der in ihm tobte, sich ausklingen wollte in Tönen, dann allgemach wurden seine Phantasien milder, und es klagte und seufzte das Instrument unter seinen Fingern, und sein schönes Antlitz strahlte auf in tiefer Bewegung. Die Fenster des Gemaches waren offen, er hatte nicht darauf geachtet, er wußte es nicht, daß auf der stillen Straße die Vorübergehenden stehen geblieben waren, um zu lauschen auf diese wunderbare Musik und sich zu freuen über den lieben Prinzen Louis Ferdinand, der ein so großer Künstler sei.
Sie liebten ihn alle, die guten Einwohner von Magdeburg, sie freuten sich, wenn er auf der Straße erschien, und blieben stehen und grüßten ihn und schauten seiner stolzen Gestalt nach mit leuchtenden Blicken. Er war der Liebling von ganz Magdeburg, Soldaten, wie Bürger beteten ihn an, und seine tollen Streiche und die lustigen Gelage und die Ausschweifungen allerlei Art, welchen der Prinz mit seinen Freunden und Officieren sich ergeben, fanden bei den guten Bürgern Magdeburgs immer Entschuldigung und Nachsicht.
Es war ja so natürlich, daß ein junger Herr, schön und gefeiert wie der Prinz, nicht leben konnte wie andere Menschenkinder; natürlich, daß alle Weiber sich in ihn verliebten und danach strebten, dem Prinzen zu gefallen; natürlich, daß er das gute Glück annahm, welches von allen Seiten sich ihm darbot.
Man darf gegen einen so ausgezeichneten Helden nicht so strenge sein, wie gegen andere Menschenkinder.
Und dann andererseits wußte man so viel Gutes von ihm zu erzählen. Er war ein so milder herablassender Herr, er sprach mit dem gemeinen Soldaten so freundlich und gütevoll, er erwiderte so vertraulich die Grüße der Bürger, war so wohlthätig gegen die Armen, so gütig gegen Jedermann, der sich an ihn wendete und Hülfe von ihm begehrte.
Ja, er war der Liebling von ganz Magdeburg, und sie konnten wahrlich nicht dafür, daß er sich in der stillen Festung langweilte und daß sein glühender Feuergeist sich hinaussehnte aus diesen engen Räumen, aus diesem Garnisonleben, das gar keine Abwechselung, gar keine Erhebung darbot.
„Mich langweilt Alles, Alles,“ murmelte er vor sich hin, gleichsam als den Text zu den Phantasien, die er noch immer dem Flügel entlockte, „ich glaube an nichts mehr, ich hoffe auf nichts mehr. Das Leben liegt wie eine Oede vor mir, ach, und ich habe Alles versucht, dieses Leben mit neuen Blumen zu schmücken! Ich bin ein wilder Geselle geworden aus Ueberdruß am Leben. Ich habe mich betäuben wollen und zerstreuen. Habe es versucht mit der Liebe und dein Spiel, mit Allem, was andere Menschenkinder [386] erstellt und zerstreut, mir hat’s nicht gelingen wollen. Ich weiß, daß Alles nur ein Traum ist, die Liebe und das Glück, weiß es und bin doch noch so jung, und bin doch schon so alt, ein Greis, der auf nichts mehr hofft!“
Und immer noch klagten die Töne unter seinen Fingern, und es rauschte und sang und tobte und jammerte aus den Tasten.
„O, wenn ich Dich nicht hätte, Du meine einzige Trösterin, Musik, Du bist meine Freundin, der ich alles vertrauen kann, die Schwesterseele, die meine Schmerzen ausklagt, wenn sie in mir nur schwelgen und stumm sind.“
Lange saß er und phantasirte, aber dann auf einmal schloß er diese klagenden Phantasien mit einem grellen Accord und sprang auf.
„Ich will die Officiere heute einladen zu einem Nachtessen,“ sagte er hastig vor sich hin, „wir wollen trinken, wir wollen spielen, ich muß mich betäuben. Die Erinnerungen steigen wieder in mir auf, ach, sie machen mich rasend! Leonore, Leonore, Du hast mein Leben vergiftet, ich kann Dich nicht vergessen! Muß immer an Dich denken, mich immer nach Dir sehnen, suche Dich in jeder anderen Frau und finde Dich nimmer, nimmer! Narrheiten!“ rief er dann auf einmal laut, „es ist die Langeweile, die so aus mir klagt und Litaneien wimmert! Ich will es aber nicht! Ich bin jung und lebensfroh und ich will mein Leben genießen in Tollheit und in Lust! Giebt’s keine Lorbeeren zu erobern, so wollen wir uns das Haupt schmücken mit Rosen und Myrthenkränze zerfetzen und Schleier zerreißen und Frauenherzen brechen, da wir nicht in Männerherzen unsere Schwerter bohren können. Ich will ein Fest geben, ein großes Fest, heute, morgen, alle Tage!“
Er nahm die Handklingel, schellte heftig und befahl dem eintretenden Kammerdiener, sofort die sämmtlichen Officiere der Garnison zum Souper heut einzuladen. „Und morgen soll ein Ball arrangirt werden, ein glänzendes Fest, von dem die gute Stadt Magdeburg wieder acht Tage sich erzählen und unterhalten kann!“
Der Kammerdiener ging hinaus, um es dem Haushofmeister des Prinzen zu melden. Nach wenigen Minuten schon kam dieser herein mit verlegenem Gesicht und ängstlicher Miene.
„Königliche Hoheit haben befohlen ein Fest für heute Abend?“ Der Prinz nickte. „Ein schönes Fest, lieber Werner, alle Officiere sollen dazu geladen werden. Der Champagner soll in Strömen fließen und Alles, was es an Leckerbissen in der Stadt Magdeburg nur giebt, soll auf meiner Tafel stehen. Aber zu morgen Abend miethen Sie mir den großen Ressourcensaal. Ich will ein Ballfest geben, alle Damen der Stadt Magdeburg sollen dazu eingeladen werden. Lassen Sie mir den Saal mit Blumen und Guirlanden decoriren und merken Sie sich, mein Lieber, beim letzten Ballfest war die Erleuchtung nicht hell genug. Hundert und aberhundert Wachskerzen müssen Sie anzubringen suchen, es muß Tageshelle sein überall! Sorgen Sie auch für geschmackvolle Geschenke, die man beim Cotillon den Damen vertheilt, aber nicht so mesquin, wie das vorige Mal. Kaufen Sie allerliebste Sachen ein, die den Damen gefallen können und an denen sie Freude haben. Nun, mein Lieber, warum machen Sie denn ein so trauriges Gesicht, warum antworten Sie mir gar nicht?“
„Königliche Hoheit, ich bin in der That verlegen und traurig, denn es thut mir leid, Ihnen widersprechen zu müssen und die schönen Phantasien Ew. königlichen Hoheit nicht ausführen zu können.“
Der Prinz stutzte. „Wie meinen Sie das, Werner?“
„Ich meine, königliche Hoheit, daß leider Ihre Casse nicht erlaubt, solche Wunderfeste aus Tausend und Eine Nacht zu veranstalten.“
„Sind wir schon wieder auf dem Trocknen?“ fragte der Prinz lachend, „sind unsere Quellen schon wieder verstopft?“
„Vollständig, königliche Hoheit, und es sind gar keine Mittel vorhanden, sie wieder flott zu machen!“
„Unsinn, lieber Werner,“ lachte der Prinz, „wozu giebt es denn Wucherer? Wenn wir kein Geld haben, so borgen wir!“
„Damit, königliche Hoheit,“ bemerkte der Haushofmeister, „haben wir uns schon seit langer Zeit beschäftigt, und ich glaube, es ist in Magdeburg kaum noch ein Wucherer vorhanden, bei dem wir nicht schon geborgt hätten.“
„Dann setzen wir das Geschäft fort!“ rief der Prinz lachend, „haben wir bis jetzt zwanzig Procent gegeben, so bieten wir den Wucherern fünfzig Procent. Und wenn’s in Magdeburg nicht mehr geht, so wenden wir uns nach Burg oder wo’s sonst ist. Schacherer und Wucherer giebt’s in der ganzen Welt und darum verzagen Sie nicht, mein lieber Haushofmeister Werner, arrangiren Sie immerhin die beiden Feste und nehmen Sie das Geld, woher Sie es bekommen können.“
Der Haushofmeister seufzte und wagte doch nicht, zu widersprechen. Es war immer das alte Lied, immer dieselbe Noch. Wer konnte ihr steuern? Wo war der Hercules, der es vermocht hätte, Ordnung in diese Dinge zu bringen?
Wie oft hatte der Prinz Ferdinand schon versucht, den verschwenderischen Sohn mit Zürnen und Schelten, mit Drohungen und Vorwürfen zur Sparsamkeit zu bekehren!
Wie oft nicht schon hatte Prinzessin Ferdinand, die zärtliche Mutter des schönen und geliebten Sohnes, mit Thränen und Bitten ihn zu rühren gesucht, daß er ein wenig Ordnung in seine Verhältnisse bringe, mit etwas mehr Sparsamkeit schalte und walte! Es war Alles vergeblich gewesen.
Der freigebige und großherzige Sinn des Prinzen ließ sich nicht beschränken und in Fesseln einengen. Das Leben war da, um genossen zu werden, und wie sollte man rechnen und zählen, wenn es galt, sich oder Anderen irgend einen Genuß zu verschaffen?
Gab’s denn eine Zukunft? Sollte man mit ängstlichem Blick das Auge auf sie hinwenden und darüber der Gegenwart vergessen und des Momentes, in welchem man lebt und glücklich sein könnte? –
Es war ein glänzendes, üppiges Fest, das an diesem Abend der General Prinz Louis Ferdinand den Officieren seiner Garnison gab. Man trank und jubelte und sang und lachte die ganze Nacht hindurch.
Aber am andern Tag war’s doch wieder dieselbe Langeweile, derselbe elende Trödel des Paradedienstes und das öde, unausgefüllte Dasein.
Dann kam jedoch wieder der Abend und das Ballfest, welches der Prinz im großen Redoutensaale veranstaltet hatte. Die ganze schöne Welt von Magdeburg hatte sich zu demselben eingefunden.
In ihren glänzendsten Toiletten waren die Damen gekommen und ihre schönen Augen blitzten ihn an, und ihre purpurnen Lippen lächelten ihm, dem schönen, angebeteten Prinzen.
Der Ballsaal glänzte von hundert und aber hundert Wachskerzen wie in Tageshelle, Blumenguirlanden schmückten die Wände, reich geziert waren alle Räume, die köstlichsten Erfrischungen belebten die Tänzer und Tänzerinnen, die reizendsten und auserlesensten Geschenke winden den Damen im Cotillon überreicht, und ihre Wangen glühten höher auf, und ihre Lippen lächelten verheißungsvoller dem freigebigen Wirthe dieses köstlichen Festes. Und er schien glücklich, sein Auge strahlte, und die Damen flüsterten einander zu, daß er schön sei wie Achill, stolz und herrlich wie Apoll!
Aber am andern Morgen war’s doch wieder dieselbe Langeweile, und der Prinz saß einsam in seinem Zimmer und dachte der vergangenen Nächte nach, und ein unendlicher Ueberdruß und eine tiefe, schmerzliche Erschöpfung waren in ihm.
„Ach, wär’ ich nur ein Handwerksbursch, der mit dem Ränzel auf dem Rücken dahergeht! Muß es immer wieder denken! Möchte jetzt frei sein, nur ein paar Wochen frei von all’ diesem Trödel der Prinzenherrlichkeit und der Generalsepauletten und des Gamaschendienstes! Sie haben meine Seele todtgeschlagen, glaube ich, damals mit dem Tractat von Basel, und wie ich damals den Degen in die Scheide steckte, da habe ich auch mein besseres Ich hineingesteckt, und nun bin ich nichts als ein Gamaschenheld und ein Prinzlein, das nicht weiß, wohin mit seiner Kraft und Lebenslust! Ach, wär’ ich doch ein Handswerksbursch! Und warum, bin ich’s nicht?“ fragte der Prinz auf einmal ganz laut, „warum füge ich mich in diese öde Langeweile und halte aus in dieser Erbärmlichkeit? Warum? Weil ich muß!“ unterbrach er sich dann selber, warf sich auf den Divan und nahm das Buch, das aufgeschlagen auf dem Tisch daneben lag. Dann, wie er las, ward es still in seiner Seele und die Wolken wichen von seiner Stirn und seine edle Miene erhellte sich.
Egmont, Goethe’s Egmont war’s, was er las, sein Lieblingsgedicht! Seine eigenen Schmerzen, sein eigenes Denken und [387] Empfinden, sein eigenes Ich fand er in der Gestalt des Dichters wieder, in der schönen, frischen Gestalt Egmont’s.
„Wer nur auch so ein Clärchen hätte! Ein holdes Lieb, das vertrauend sich in die Arme schmiegt und nichts verlangt und nichts begehrt als nur Liebe! O seliger, beneidenswerther Moment! Wer doch auch nur so ein Clärchen hätte!“
Er legte das Buch wieder hin und, das Haupt rückwärts gelehnt, schaute er zur Decke empor und träumte von der Vergangenheit und Zukunft, von Liebe und Glück.
Draußen auf der Straße war’s still und einsam, wie immer; nichts störte ihn in seinen Träumen und er erschrak fast vor seiner eigenen Stimme, als er jetzt laut wiederholte: „Wer doch auch so ein Clärchen hätte!“
Dann lachte er und sprang auf, trat an’s Fenster und schaute hinunter und sah der Schildwache zu, die langsam, in gleichmäßigem Schritt, vor seinem Hause auf und niederging. Wie eben der Soldat an dem zu ebener Erde gelegenen Zimmer, in welchem der Prinz sich befand, vorüber kam, begegnete zufällig der Blick des Prinzen den Augen des jungen Menschen, und er sah, daß diese trübe und vom Weinen geröthet waren.
„Hast geweint, Hans?“ fragte der Prinz den Soldaten.
Der aber schien’s nicht gehört zu haben und ging weiter im gleichmäßigen Schritt.
Als er wieder vorüber kam, fragte der Prinz zum zweiten Male:
„Hast geweint, Hans? Seh’ Dir’s ja an, drum leugne es nicht! Mach’ keine Umstände, gieb Antwort und setze Dein Gewehr ab!“
Der Soldat nahm das Gewehr bei Fuß und blieb nun vor dem offenen Fenster stehen, hinter welchem Prinz Louis Ferdinand stand.
„Nun, sag’ mir, Hans, hast sonst immer so fröhlich ausgesehen und warst ein so lustiger Bursche; was giebt’s denn jetzt, was trauerst Du?“
„Gnädigster Herr Prinz,“ sagte der Soldat, „kann nicht darüber reden, es thut mir im Herzen zu weh und weiß nicht, wie ich’s sagen soll.“
„Gieb Dir nur Mühe, Hans, es wird schon herauskommen. Was ist es, hast Schulden gemacht?“
„Schulden? Herr Gott behüt’ mich, mein Alter würd’ mich umbringen!“ rief der Soldat erschrocken. „Keine Schulden, Herr, und was würd’ der Herr Hauptmann dazu sagen?“
„Es ist wahr, ich vergaß,“ sagte der Prinz mit einem leisen Lächeln, „was ist’s denn sonst? Ist Dir Dein Liebchen untreu geworden? Nicht wahr, das ist’s? Bist ganz blaß geworden, Hans, nun sag’, hab’ ich’s errathen?“
Der Soldat nickte. „Ja, königliche Hoheit, zu Befehl, dem ist so, die Cläre will nichts mehr von mir wissen.“
„Wie? Cläre heißt sie?“ fragte der Prinz rasch, „und ist sie hübsch und jung?“
„Ja, gnädigster Herr Prinz, eine Alte würd’ ich nicht lieben, und hübsch ist sie auch, das schönste Mädchen in ganz Burg, alle Mannsleute laufen ihr nach, aber sie will von Keinem etwas wissen, ’s ist ein gar sprödes Mädel, aber gegen mich war sie doch immer gut und freundlich, und unsere beiden Alten hatten es so verabredet, daß wir uns heirathen sollten, und ’s war so ausgemacht, daß ich frei gekauft werden sollte vom Soldatendienst und dann die Bäckerei übernehmen sollte vom Alten und wir sollten uns heirathen.“
„Nun, das war ein ganz hübscher Plan, warum wird’s denn nun nichts?“ fragte der Prinz.
„Nun, weil die Cläre nicht will!“ rief der Soldat ungestüm; „hat mir geschrieben einen schändlichen Brief, möchte noch nicht heirathen und wir Beide paßten auch nicht für einander! Es thut wehe, und ich könnte heulen und schreien! O Herr Gott, da kommt der Hauptmann!“
Der Soldat nahm hastig sein Gewehr auf die Schulter und setzte seinen gleichmäßigen Gang mit ehrbarer Miene fort. Aber als der Hauptmann vorübergegangen und die Straße wieder leer war, rief der Prinz die Schildwache wieder an, wie sie jetzt vorüberkam am Fenster.
„Also Cläre heißt sie, Hans, und hübsch ist sie?“
„So schön, wie kein anderes Mädchen auf der Welt!“ betheuerte Hans, „und ich glaube, daß es auch kein einziges Mannsbild auf der ganzen Welt giebt, welches das nicht sagen muß – natürlich königliche Hoheit ausgenommen!“ verbesserte er sich dann erschrocken, „für so einen Prinzen ist das ganz etwas Anderes!“
„Wer weiß auch, wer weiß!“ lächelte der Prinz. „Trägst den Brief bei Dir von Deiner grausamen Cläre?“
Der Soldat nickte. „Trag’ ihn bei mir unter’m Rock, es brennt aber wie Nessel auf meinem Herzen!“
„So gieb ihn mir, laß mich lesen, Hans, vielleicht kann ich Dir helfen.“
Der Soldat fuhr rasch mit der Hand in den Uniformrock hinein und zog ein kleines, zusammengefaltetes Papier hervor, das er dem Prinzen durch das Fenster darreichte.
„Ich möcht’ Eure königliche Hoheit um eine einzige Gnade bitten,“ sagte der Soldat dann, zu dem Fenster hintretend und Gewehr bei Fuß setzend.
„Nun, was ist’s, Hans?“
„Ich bitte, daß königliche Hoheit die Gnade hätten, mir den Wisch noch einmal vorzulesen. Ich hab’s Lesen nicht gelernt und ich denke, es wäre möglich, daß der Feldwebel, der mir den Brief vorgelesen, es falsch gesehen hat, und wenn’s nicht allzu sehr gegen den Respect verstößt, so möcht’ ich bitten, daß Eure königliche Hoheit ihn lesen.“
„Will’s thun, Hans, hör’ zu!“
Der Prinz entfaltete das Papier, und zu dem Soldaten geneigt las er:
„Hör’, Hans, ich hab’ Dir heut’ ’was zu sagen, und will’s nicht thun mit vielen Redensarten und vielem Brimborium von Worten. Dein Vater und der meine haben gesagt, wir Zwei sollten Mann und Frau werden, aber uns haben sie nicht gefragt, und Du hast mich auch nicht gefragt, ob ich’s auch will und ob ich’s auch gern thue, daß ich Deine Frau werde. Und nun will ich Dir’s sagen ungefragt, ich habe Dich lieb von ganzem Herzen, als wärst mein eigener Bruder. Und wie kann’s auch anders sein! Wir Zwei sind ja zusammen aufgewachsen und kennen uns, so lange wir leben. Aber weißt Du, Heirathen ist ein gar schnurrig und curioses Ding, und ich meine, ich habe noch keine Lust dazu und will warten, bis Der kommt, der mir Lust macht. Du bist’s nicht. Nimm mir’s nicht übel und behalte lieb
„Er hat’s Alles richtig gelesen,“ murmelte der Soldat, indem er sich verstohlen und hastig eine Thräne aus dem Auge wischte.
„Weißt Du, Hans,“ sagte der Prinz, immer noch den Blick fest gewandt auf das Papier mit den großen, geschnörkelten Buchstaben, „weißt Du, Hans, Deine Cläre gefällt mir sehr. ’s muß ein prächtig Mädel sein!“
„Das ist sie auch, Herr,“ betheuerte Hans, „und darum kann ich’s gar nicht glauben, das ich sie aufgeben soll. Ich wollt’, Eure königliche Hoheit hätten sie einmal gesehen, dann würden Sie ’s wohl begreifen, daß ich so unglücklich bin!“
„Nun, wer weiß, vielleicht sehe ich sie einmal,“ sagte der Prinz gedankenvoll und lächelnd. „Wahrhaftig, ich bin neugierig, diese Cläre zu kennen! In Burg wohnt sie?“
„Ja, königliche Hoheit, in Burg. Ihr Vater ist der Schlossermeister, und mein Vater ist der Bäckermeister, die Häuser liegen eins dicht neben dem anderen, und im Garten haben wir zusammen gespielt als Kinder.“
Er konnte nicht weiter sprechen vor tiefer Wehmuth, nahm sein Gewehr auf und ging im tactmäßigen Schritte wieder dahin.
„Ich glaube,“ sagte der Prinz zu sich selber, „es giebt doch noch gute Geister und hülfreiche Genien. Sie haben vielleicht meinen Jammer gesehen, erbarmen sich meiner und senden mir das, wonach mein Herz sich seht! Senden mir ein Clärchen! Zum Mindesten eine Zerstreuung!“ -
Am andern Morgen flog eine Neuigkeit durch ganz Magdeburg. Prinz Louis Ferdinand war fort! – Die Einen sagten, er sei nach Berlin gegangen; die Andern erzählten, er mache einen Ausflug nach Hamburg und er werde wohl in einigen Tagen schon wieder zurückkommen.
Sein Adjutant erzählte, er habe von dem Prinzen in der Frühe die Anzeige bekommen, daß er mit Bewilligung des Königs auf einige Wochen Magdeburg verlasse. Aber er hatte nicht gesagt, wohin.
Die ganze schöne Welt von Magdeburg war beunruhigt [388] darüber. Alle die schönen Damen interessirten sich für den Prinzen und jede war in ihrem Herzen eifersüchtig bei dein Gedanken: es könne eine Dame sein, welche seine rasche Entfernung von Magdeburg bewirkt habe.
Fort war er. Das war ein nicht abzuleugnendes Factum. Aber wohin?
Vier Tage unterhielt man sich in Magdeburg von nichts Anderem, als vom Prinzen Louis Ferdinand. Und die Wucherer gingen mit gar ernsten und traurigen Gesichtern umher und erkundigten sich an jedem Morgen bei dem Haushofmeister des Prinzen, ob er noch nicht wisse, wohin die königliche Hoheit gegangen, und ob es wohl wahr sei, daß er vom König nach Berlin berufen worden?
Und der Haushofmeister, der selber nichts wußte, machte ein ernstes und bedenkliches Gesicht und sprach von wichtigen Missionen und besondern Aufträgen des Königs, die der Prinz auszuführen habe.
Das tröstete die Wucherer ein wenig; denn wenn der König den Prinzen mit wichtigen Missionen betraut hatte, so konnten sie vielleicht hoffen, daß Se. Majestät auch nachher die Schulden des Prinzen bezahlen werde. Und so beruhigten sie sich und hofften, gleich den schönen Damen, gleich ganz Magdeburg, auf die baldige Wiederkehr des Prinzen.
In der Schmiede des Meisters Kleemann in Burg ging es heute wie alle Tage sehr arbeitsam zu. Die Schmiede war nach dem Garten zu gelegen und durch die geöffnete Thür derselben sah man die dunkelrothen Feuergluthen auf dem Heerde und die kräftigen schwarzen Gestalten, die hinter dem Ambos standen und mit den großen Zangen das glühende Eisen auf dem Ambos hielten, das sie mit schweren Hämmern bearbeiteten. In gleichmäßigem Tact fielen die Hämmer nieder auf die Ambose und es schien den Gesellen Freude zu machen, diese Hammerschläge, gleichsam wie in einer Melodie, einen nach dem andern ertönen zu lassen.
Der Meister Kleemann nahm den ersten Platz an dem großen Ambos ein und ging seinen Gesellen voran mit einem guten Beispiel in der kräftigen Bearbeitung des glühenden Eisens. Kein Wort ward gesprochen, nur das Feuer knisterte in der Esse, die Hämmer schlugen ihre Tacte und draußen im Garten in der dichten Fliederlaube saß die Tochter des Meisters, die schöne Cläre Kleemann, brach mit geschäftigen Händen die grünen Bohnen, die in der Schürze in ihrem Schoß lagen, und warf die gebrochenen und abgehäuteten in den irdenen Napf, der vor ihr auf dem weißen Holztische stand. Sie war der Hammerschläge und des Getöses schon gewohnt, daß sie es gar nicht mehr hörte und lustig und frisch für sich ein Liedchen sang, welches wie fröhlicher Lerchenklang durch die Luft schallte.
Auf einmal, mitten im Lied, verstummte sie und blickte mit ihren großen blauen Augen erstaunt nach der Gitterthür, die von der Straße hereinführte in den Garten. Da stand ein junger Mann in einfacher bürgerlicher Tracht, aber von hoher, stolzer Gestalt und mit einem Angesicht, so frisch und so schön, und mit Augen, so groß und so glänzend, daß es der Cläre war, als schauten sie ihr tief in das Herz hinein. Der Fremde blieb stehen und schaute forschend in dem Garten umher, als suchte er Jemand. Die Cläre hatte sich erhoben und die Zipfel ihrer Schürze aufraffend, damit die Bohnen nicht herunterfielen, trat sie an den Eingang der Laube.
Die großen braunen Augen des jungen Mannes hatten sie sofort entdeckt und er eilte zu ihr hin.
„Das ist die Jungfer Kleemann, nicht wahr?“ fragte der junge Mann mit einem leichten Neigen des Kopfes.
Und Cläre erröthete, denn sie fand die Manieren und den Gruß des Fremden gar zu vertraulich und beinahe beleidigend.
Es ärgerte sie, die Tochter des reichen Meisters, daß der, welcher sicherlich nichts weiter war, als ein wandernder Handwerksbursch, so ungenirt sich zu ihr benahm.
„Ja,“ sagte sie mit einem etwas schnippischen Ton, „ja, das ist die Jungfer Kleemann! Und weiter, wenn’s beliebt. Hat Er vielleicht Bestellungen an mich, oder will Er blos, wie ich denke, meinen Vater sprechen und von dem Meister Kleemann etwas fordern?“
„Vielleicht auch das,“ nickte der junge Mann. „Aber zuerst wollte ich die Jungfer Kleemann selber sprechen, die schöne Cläre, und ich biete Ihr die Hand zum guten Tag.“
„Thut mir leid,“ sagte sie unwillig, „nehme nicht von Jedermann die Hand und es hat Niemand das Recht, mich bei meinem Vornamen zu nennen, wenn ich ihn nicht kenne.“
„Aber ich kenne Sie, Jungfer Kleemann,“ sagte der junge Mann.
Und indem er sie betrachtete, mußte etwas Magnetisches in seinen Augen liegen, denn sie hob ganz wider ihren Willen, wie es schien, den Blick empor und begegnete dem seinen. Und da erröthete sie. Denn in diesen Augen stand geschrieben, was sein Mund nicht sagte: „Du bist schön, Cläre, bist wunderbar schön und Du gefällst mir sehr.“
„Ich habe Ihr einen Gruß zu bringen, Jungfer!“ sagte der junge Mann.
„Einen Gruß? Von wem, Herr?“
„Von Ihrem Bräutigam aus Magdeburg, dem Soldaten Hans Werner.“
„Hat er Ihnen gesagt, daß er mein Bräutigam ist?“ fragte sie.
„Ja, schöne Jungfer! Und er hat mir noch mehr gesagt. Hat mir gesagt, daß Ihr nichts von ihm wissen wolltet, und darüber ist er traurig geworden und ganz desperat, und in seiner Desperation hat er mit mir gesprochen und mir sein ganzes Unglück anvertraut. Ich war bis jetzt ein Camerad von ihm, stand auch in Magdeburg als Soldat, aber, Gott sei Dank, meine Dienstzeit ist um. Und wie er nun hörte, daß ich nach Burg ginge, da hat der Hans Werner mir Alles geklagt und mich gebeten, zu Euch zu gehen und ein gut Wort für ihn einzulegen.“
„Bemühe Er sich nicht,“ sagte sie, das Haupt zurückwerfend. „Es ist schon manches gute Wort von Vater, Mutter und Freunden eingelegt und hat nichts geholfen. Wüßte nicht, wie der fremde Monsieur dazu kommen sollte und was es helfen könnte!“
„Aber warum mag Sie denn den Hans nicht?“
„Geht Ihn nichts an!“ sagte sie schnippisch, indem sie ihm den Rücken zukehrte.
Der junge Mann aber, statt sich dadurch beleidigt zu fühlen, lachte vor Vergnügen und stand mit einer raschen Bewegung nun gerade wieder vor ihr.
„Geht mich nichts an! Das ist wahr, schöne Jungfer. Aber ich wüßte es doch gern. Warum mag Sie den Hans nicht?“
„Nun, wenn Er es doch durchaus wissen will, um es ihm wieder zu sagen: weil er mir nicht gefällt! Und jetzt ist es genug, – habe die Ehre, mich zu empfehlen, Monsieur.“
Sie machte ihm einen leichten schnippischen Knix, trat wieder in die Laube zurück und begann wieder geschäftig ihre kleinen Händchen zu rühren und die Bohnen zu schneiden und abzuziehen.
Der junge Mann schaute ihr einen Moment mit sichtlichem Vergnügen zu und hätte es vielleicht noch länger gethan, wenn nicht Meister Kleemann eben aus der Schmiede hervorgetreten und mit raschen Schritten zu ihm herangekommen wäre.
„Sucht Er mich, Monsieur?“ fragte der Meister mit einem stolzen Kopfnicken, wie es wohl einem ehrbaren Zunftmeister geziemt gegen einen jungen Menschen, der wahrscheinlich kommt, um Arbeit zu suchen.
„Ja, Meister Kleemann,“ sagte er, und es gefiel dem Meister gar nicht, daß der junge Mensch auch nur mit einem kurzen Kopfnicken antwortete und gar nicht ehrerbietig war. „Ja, ich suche Euch. Ich möchte bei Euch in die Lehre gehen.“
Meister Kleemann schaute mit verwunderten Blicken die lange, schlanke Gestalt an und schüttelte dann langsam den Kopf.
„Schnurriger Gedanke! – in die Lehre gehen! – Mir scheint, zu einem Lehrburschen seid Ihr schon zu sehr ausgewachsen. Wenn man so lang ist wie eine Bohnenstange, kann man keinen Sprenkel mehr abgeben.“
Der junge Mensch lachte laut auf. „Ihr erklärt mich für eine Bohnenstange. Ein allerliebster Gedanke! – Aber seht, die Bohnenstange hätte doch Lust, sich zu einem Sprenkel zusammen zu krümmen und bei Euch in die Lehre zu treten.“
Meister Kleemann zog die Augenbrauen zusammen und sah den Verwegenen, der mit lachendem Munde vor ihm stand, gar grimmig an.
Nicht blos Bücher, auch Lieder haben ihre Schicksale, oft gewaltigere, als viele bändereiche Werke, und um so tiefer in das Leben ihrer Gegenwart und Zukunft eingreifende, je höher die Zeitwoge ging, auf welcher sie als Signal einer Strömung der Geister, als Leuchte oder Fahne, im rechten Augenblick auftauchten. Die zwei mächtigsten Lieder Europas, welche für „ihre Sache“ Tausende und Millionen zur Begeisterung und zu Thaten erhoben und noch heute in Ehren stehen, sind Luther’s „Eine feste Burg“ und die „Marseillaise“ des Rouget de Lisle. Ihnen gehört noch die Zukunft. Andere solcher Lieder beschränken sich auf engere Kreise, wie das nur den Deutschen eigene Vaterlandslied des alten Arndt, das, wenn Deutschland sein Ziel erreicht haben wird, an seinem Ende steht. Die sogenannten Nationalhymnen können wir, soweit sie vorzugsweise der Dynastenverherrlichung dienen, nicht hierher ziehen. Bereits der Geschichte verfallen sind das „Schleswig-Holstein stammverwandt“ und Becker’s „Rheinlied“. Dagegen lebt August Binzer, den wir unsern Lesern im Bilde vorführen, mit seinem „Stoßt an!“ in der glücklichsten Jugend fort, und sie wird, bis das freie Bürgerthum den Stolz ihrer Bevorzugung grundlos gemacht hat, mit keckem Humor fortsingen:
„Die Philister sind uns gewogen meist:
Sie ahnen im Burschen, was Freiheit heißt!“
Zuerst und in weitesten Kreisen bekannt ist er aber geworden durch den Ausdruck des Schmerzes, den er der Burschenschaft in den Mund legte, als sie ihre Auflösung durch den deutschen Bund zu beklagen hatte. Sein tief ergreifendes Lied: „Wir hatten gebauet etc.“ war das letzte gemeinsame, das die edlen Jünglünge und jungen Männer, zum Theil mit den Ehrenzeichen des Befreiungskrieges auf der Brust, sangen, ehe sie damals für immer von einander schieden. Diese beiden Lieder, der Grabgesang der Burschenschaft und jenes Triumphlied des freien und frohen Studentenlebens, haben Binzer’s Namen weiter getragen, als alle die Schriften, mit welchen der stille, einem inneren Leben mit Vorliebe zugewandte Mann in späteren Jahren vor sein Volk trat. Mit beneidenswerthem Hochgefühl spricht über die Ehre des Namens, den er mit diesem Dichterglorienschein vom Vater geerbt, sein Sohn Karl, der als Maler und Schriftsteller in Paris lebt. „Seit fünfundzwanzig Jahren,“ sagt er, „durchstreife ich alle deutschen Gaue, dringe in die entlegensten Thäler, spreche bei Pastoren und Schullehrern der kleinsten Dörfer ein, strauchle auf den schlüpfrigen Parquets vornehmer Paläste, füge mich an die zufällige Gruppe lustiger Reisender, feiere Feste mit Künstlern und Dichtern, berühre die trauten Kreise gebildeter Männer und Stätten wahrer Cultur, begegne dem Jäger auf hoher Alp, finde deutsche Colonien in Rom, Neapel, Venedig, in der Schweiz, Belgien, Lyon und Paris, und überall empfängt mich dasselbe tieffreundliche Lächeln, wenn ich meinen Namen nenne, überall wirft es einen Sonnenglanz über die erste Begegnung.“ Wir glauben ihm dies und wissen sogar, [390] daß er jenseits der Meere, soweit Deutsche ihr Liederbuch mit in die Fremde genommen haben, denselben, ja wohl sogar noch herzlicheren Empfang erlebt hätte, denn der Werth des heimathlichen Liederschatzes wächst mit der Ferne des Vaterlandes.
Binzer ist von allen Mitgliedern der alten Burschenschaft der Glücklichste gewesen. Durch Geburt und Erziehung – sein Vater war dänischer Generalmajor – sah August Daniel Freiherr von Binzer sich frühzeitig zu einer Selbstständigkeit erhoben, zu welcher der liebe Brodkorb die Mehrzahl der Studireuden oft durch ihr ganzes Leben nicht gelangen läßt. Er konnte schon für einen erfahrenen Mann gelten, als er nach Jena kam. Er hatte im elterlichen Hause den berühmten Philosophen Reinhold zum Lehrer gehabt, hatte bereits in Kiel studirt, Schweden und England besucht und in schweren Seestürmen dem Tod in’s Auge gesehen; die Romantik jener Tage aber war überall mit ihm gezogen, ja er selbst war eine der bewundertsten Gestalten derselben. So wohlgebildet und -gebaut war er, daß er nur, und mit vollem Recht, „der schöne Binzer“ genannt wurde und Aller, die sich ihm nahen durften, erklärter Liebling gewesen sein würde, auch wenn nicht sein dichterisches und tonkünstlerisches Talent, der Wohllaut seiner fleißig geschulten Stimme, seine Fertigkeit im Guitarrespiel und sein tiefgemüthliches, edles, sittenreines Wesen ihm noch höheren Werth verliehen hätten. Als der Bundestag den Befehl der Auflösung der Burschenschaft hatte nach Weimar ergehen lassen, wurde darum Binzer an die Spitze der Deputation gestellt, welche die großherzogliche Regierung zur Beschützung der großen Verbindung vermögen sollte. Mit der abschlägigen Bescheidung war jedoch diese politische Rolle ausgespielt und der Lyriker trat wieder in seine Rechte. Im Postwagen, der ihn von Weimar nach Jena zurückfuhr, entsprang in dem erregten Herzen frisch und warm sein berühmtes Klagelied:
„Wir hatten gebauet
Ein stattliches Haus
Und drin auf Gott vertrauet
Trotz Wetter, Sturm und Graus.“
Zeitgenossen jener Tage versichern, daß Binzer zur Burschenschaft weniger durch die politische als die sittliche Seite derselben hingezogen worden sei. Von den Nothschreien in und für Schleswig-Holstein hat der des edlen Lornsen ihn bis zum Heraustreten aus das offene Feld des Streits aufgeregt. Er zeigte sich männlich und fest, zog sich dann aber wieder in sein reiches und vielbewegtes inneres Leben zurück. Daß auch später der Drang zu öffentlichem Wirken von Zeit zu Zeit in ihm lebendig wurde und daß er ihm nachgab, wenn sein persönliches Hervortreten möglichst wenig damit verbunden war, davon zeugt die publicistische Thätigkeit, der er sich in seinen jüngeren Jahren mehrmals zuwandte. So redigirte er, nachdem er erst in Altenburg die Redaction des ersten Bandes von dem später Pierer’schen Universallexikon besorgt hatte, längere Zeit in Leipzig die „Zeitung für die elegante Welt“, später in Köln das „Allgemeine Organ für Handel und Gewerbe“ und war im Anfang der vierziger Jahre in Augsburg für die bekannten, stets durch ihren gediegenen Inhalt ausgezeichneten „Beilagen zur Allgemeinen Zeitung“ thätig. Auch ein Erziehungsinstitut leitete er längere Zeit in Neumühlen bei Altona, und daß sein Herz immer bei der Nation war, dafür spricht seine „Beantwortung der Frage: was kann zur Förderung des allgemeinen Wohlstandes in Deutschland geschehen?“
In einem freien Staate, wo nicht jeden Volksgedanken Censur und politisches Gericht in die grausige Mitte genommen hätte, vor Allem in der von der Burschenschaft am liebsten geträumten alten Herrlichkeit von „Kaiser und Reich“ würde Binzer der Barde jedes großen, allgemeinen Gefühls des Jubels und des Schmerzes seines Volks geworden sein, denn Lied und Melodie flossen beide ihm gleich leicht vom Herzen und von den Lippen. Seine Familie bewahrt einen großen Schatz davon, von dem nur Weniges aus dem Heiligthum des Familientempels, den er sich gegründet, hinausgetragen worden ist. Und da der Himmel und seine Wahl ihm in der Freiin Emilie von Gerschau eine auch geistig ebenbürtige Frau zugeführt, so genossen Wissenschaft und Kunst bei ihnen eine wahre Ehepflege. Neben der Poesie war es die Musik, die, wie sein Sohn äußert, „den Grundstoff seiner Seele bildete. Sein Phantasiren am Clavier glich einem musikalischen Strome, dessen Fluthen idyllische Fluren bespülen, um sich wieder durch enges Geklüft brausend Bahn zu brechen.“ Auch die Schriftstellerei wurde zur Familienfreude. Gemeinsam mit seiner Gattin hat Binzer unter dem Namen A. T. Beer drei Bände voll Erzählungen und Novellen erscheinen lassen; ebenso ist das treffliche Buch „Venedig im Jahre 1844“ wohl eine gemeinsame Arbeit beider Gatten, wie bei solcher Harmonie des Genießens und Schaffens es sich kaum anders denken läßt.
Mit seinem innern Frieden wußte Binzer ein ziemlich bewegtes äußeres Leben zu verbinden; sein Familientempel mußte sehr leicht transportabel eingerichtet sein, denn wir finden ihn abwechselnd in Kiel, Altona, Hamburg, Leipzig, Köln, Augsburg, Linz etc.; aber dennoch war er geräumig genug, um für die Gastfreundschaft gar umfänglichen Platz zu bieten. Binzer’s Haus war allenthalben der Sammelpunkt der Hochbegabten, der Lieblinge der Götter; Gelehrte, Dichter, Musiker, Maler schwärmten dort ein und aus, es giebt wenige berühmte Namen dieser Art, deren Träger nicht einmal irgendwo bei ihm eingesprochen wären. Als das mahnende Grau in seinem stets sorglich gepflegten Vollbart vorherrschend wurde, sah er den Kranz seiner Kinder um sich emporgeblüht, und kam immer näher an die Aehnlichkeit mit einem ehrwürdigen Patriarchen, der den Wanderstab endlich feststeckt in einer Scholle. Ihm führte dazu ein tiefer Schmerz die Hand: sein jüngster Sohn war österreichischer Officier geworden und fiel, ein zweiundzwanzigjähriger Jüngling, im Kampf gegen die Ungarn.
„Hier schläfst nun Du mit Deinen Knabenwangen
Und Deiner Heldenseele, junge Blume!“
So rief Zedlitz ihm nach; Vater Binzer aber wollte von der Zeit an den Boden Oesterreichs, der seines Sohnes Grab trug, nicht wieder verlassen. Mit Zedlitz suchte er eine Hütte für das Alter in der Alpenwelt Obersteiermarks. Sein Sohn Karl erzählt: „Ich war an seiner Seite, als er zum ersten Mal durch die Traunschlucht in das Hochthal von Alt-Aussee eindrang, das ihm zur neuen Heimath werden sollte. Mitten im tiefen Wald hielt er plötzlich inne und lauschte. In silberhellen Glockentönen drang ein vielstimmiger Jodler von den Sennhütten des Saarstein an unser Ohr. Das war der rechte Gruß für den Neueinwandernden, der durch fünfundzwanzig Jahre der Vater des kleinen Volks sein sollte.“ Und dies wurde er nicht nur als Wohlthäter aller Hülfsbedürftigen, er ward sogar der stille Priester der hier noch von den Zeiten des oberösterreichischen Bauernkriegs her erhaltenen evangelischen Familien. Jeden Sonntagmorgen versammelte er die kleine Gemeinde in seinem Hause um sich, leitete ihren Kirchengesang, hielt ihr die Predigt und ertheilte ihr, ein von der Gottheit Ordinirter, frommen Glaubens den Segen.
Auch in’s Gebirg wußte er den Zug seiner Freunde und Verehrer zu lenken, denen der rüstige Alte dann Führer und Dolmetscher ward durch die Thäler und Mundarten des Hochlandes. Endlich aber wurden seine Beine und seine Freunde alt, die Wege wurden kürzer gewählt, die Umgebung wurde einsamer und der Winter, den er im schönen Linz zu verleben pflegte, länger ausgedehnt. In köstlicher Behaglichkeit ließ hier der Greis allen Gaben deutschen Geistes, jedem neuen Werk der Dicht- und Tonkunst freundlichen Empfang und, wenn es sich deren würdig erwies, dankbare Pflege zu Theil werden; die musikalischen und declamatorischen Freuden seines Hauses gehörten zu den Zierden der Stadt, Binzer war der unermüdlichste Hausconcertmeister derselben, ein glücklicher Alter, der jeder schönen Blume noch mit Jugendaugen entgegenjubeln konnte.
Endlich schloß des Sängers Fahrt ganz mit poetischer Gerechtigkeit. Der alte Wandervogel durfte nicht im heimischen Neste entschlummern. Seine älteste Tochter ist die Gattin des preußischen Obersten von Colomb in Neisse. Sie besuchte er, begleitet von seiner Gattin, und dort ist er, glücklich, wie er gelebt hatte, nach kurzem Krankenlager am 20. März d. J. seinen Jugendgenossen Hanisch, Scheidler, Cotta, als ein Greis von fünfundsiebenzig Jahren „zur ewigen Wartburg“ nachgefahren.
So war der Lebens- und Heimgang des fahrenden Sängers August Binzer. Das Jahr 1866 hat durch den Sturmlauf überwältigender Thaten das Urtheil des Volks über den Werth solcher stillen Größen getrübt; Leute, die nur auf Sänger- und Turnerfesten ihre Thaten verbrachten, waren in der Schätzung gesunken – aber nicht für immer – und wir können uns vollständig der Auffassung Karl’s von Binzer anschließen, dessen Worte dieser Erinnerung an seinen Vater zum Schluß dienen mögen:
[391] „Die Frucht, die in der alten Burschenschaft reif war, – der Gedanke an das einige Deutschland, – war noch nicht reif in der Geschichte. Die Welt hat da eine ganz eigene Sprache, sie nennt das Utopien, sie spreizt sich in ihrer Praxis, und von diesem Standpunkte aus verachtet sie das Ideal. Und sie hat Recht, wenn es zum Handeln kommt. Man kann nur Gleiches mit Gleichem bekämpfen; ein paarmal hunderttausend Zündnadelgewehre greifen besser durch, als ein Kölner Sängerfest oder ein Leipziger Turnerzug mit Fahnen und Kränzen. Nur würde sich die Welt täuschen, wenn sie vergessen wollte, daß Sängergeist und Turnergeist die Zündnadelgewehre geführt haben. Und wenn man das wirklich vergessen wollte, so würde der neue Bau abermals zusammenstürzen und wir – d. h. die dem alten Burschengeist für das ganze Deutschland Getreuen – würden abermals singen:
Das Haus mag zerfallen,
Was hat’s denn für Noth?
Der Geist lebt in uns Allen
Und unsre Burg ist Gott!“
Meerüber send’ ich meinen Sang, meerüber meines Grußes Wort!
Dem Sängerbund’ am Seegestad’ den Gruß von deutschen Rheines Bord!
Im Römer perlt der Traube Saft, die hier der Sonne Strahl gereift;
Hoch über meinem Haupt im Blau mit Jubellied die Lerche schweift.
Der Kukuk ruft; aus grünem Busch der Duft der wilden Rose quillt;
Um mich herum in Blüthenpracht das ganze, weite Lenzgefild.
Wie blankes Silber blitzt der Strom; die Wogen rauschen murmelnd hin,
Als sängen sie den Chor zum Lied der holden Sängerkönigin.
So schön ist’s hier, und heute doch die Sehnsucht ihre Schwingen hebt;
Mein Auge späht der Wolke nach, die leisen Flugs gen Westen schwebt.
O, flinke Lerchenflügel mir, damit ich westwärts eilen kann!
Zu Sängern zieht’s den Sänger hin, den deutschen Mann zum deutschen Mann!
Ich möchte grüßen mit Hurrah des Freistaats deutschen Sängerbund,
Und drücken jede Manneshand und küssen jeden Sängermund!
Die Fäuste, die das Schwert geführt, als einst zur Schlacht die Freiheit rief,
Die einst mit Blut besiegelt kühn der Menschheit ew’gen Adelsbrief,
Die möcht’ ich pressen fest und warm und rufen: Ob am Strand des Rheins,
Ob drüben in Amerika – wir sind im tiefsten Wesen eins!
Wir Alle eins und ungetrennt, wir Alle, die wir in’s Gefecht
Getreten sind und kämpfend steh’n für Volkes Freiheit, Volkes Recht!
All’ sind wir eins, die wir ja all’ der einen Mutter Kinder sind,
Wir Alle, denen deutsches Blut hochwallend durch die Adern rinnt,
Wir Alle, deren Lippe singt in einer Sprache süßem Ton,
Wir nennen uns mit freud’gem Stolz die Söhne deutscher Nation!
O, also spräch’ ich heute gern und stände mitten in der Schaar
Der sangeskund’gen Brüder dann und hört’, wie voll, wie frisch und klar
Das deutsche Lied zum Himmel klingt, wo hoch das Sternenbanner weht!
Ach, an die Scholle bindet fest das Leben heute Dich, Poet!
Nicht darfst Du steh’n im Sängerkreis, nicht in die lieben Augen schau’n
Der Brüder in Amerika! – Wohlan, von meines Rheines Au’n
Meerüber denn, mein Flügelroß! Wohlan, mein Lied verkünden muß,
Was zehnmal lieber ich gesagt mit Händedruck und Bruderkuß!
Heil euch, die ihr das deutsche Lied im fernen Westen hegt und pflegt!
Das deutsche Lied! Wer sagt es aus, was es in sich verborgen trägt?
An unsrer Wiege hat’s getönt, wenn Dämm’rung leis den Schleier zog,
Wenn sich die Mutter liebevoll zu unsern Kissen niederbog.
Durch unsre Knabenjahre ist sein heller, klarer Ton erschallt,
Wenn wir uns lustig tummelten im maiengrünen Buchenwald.
Aus unserm Herzen stieg’s empor und gab der Seele Wort und Laut,
Wenn in ein schönes Augenpaar wir gar zu tief hineingeschaut.
Und, wenn die Trauer uns erfaßt, wenn unsrer Freuden Beet verdorrt,
Dann fangen wir uns doch den Gram zuletzt aus unserm Busen fort!
Das deutsche Lied, es goß den Muth dem Krieger in das Herz hinein!
Das deutsche Lied, es rief und ruft: „Ihr sollt der Freiheit Kämpen sein!
Der freie Geist, des Lichtes Geist, hat als Apostel euch gesandt,
Auf daß ihr schafft in jedem Land dem freien Geist ein Vaterland!
Der freie Geist, die Welt für ihn!“ – Was heut’ du bist, er gab es dir,
Amerika! Er hat entrollt dein siegreich sternbesät’ Panier.
Ihm gilt es ein Johannes sein! O, feine Morgensterne sind’s,
Die Sterne deines Fahnentuches, umspielt vom Hauch des Sommerwind’s.
Zum Kampf denn für den freien Geist, und immer vorwärts, nimmer Halt,
Bis über aller Völker Stirn’ der Freiheit Sonnenfahne wallt! –
Wer hat nicht lieb das Fleckchen Welt, wo er der Kindheit Traum verbracht,
Wo ihn in vollem Rosenlicht das junge Leben angelacht?
Wer streichelt nicht verstohlen gern des alten Baumes rauhen Bast,
In dessen Schatten mit dem Lieb’ er koste, Hand in Hand gefaßt?
Wen zieht es nach dem Friedhof nicht, darauf das Grab der Eltern liegt?
Wer sehnt sich nach dem Hüttchen nie, darin die Mutter ihn gewiegt?
O Gott, ist’s uns im Herzen nicht, als ob auch an dem Kleinsten hing
Ein Stück von uns’rer Jugendzeit, ein Theil von uns am ärmsten Ding?
O, da ist Alles so bekannt! Was längst vergangen, aufersteht!
Das Spielzeug selbst, der Kindertand, er redet mächtig, stummberedt.
Und dennoch, dennoch sag’ ich euch: Hier oder dort – die Heimath ruht
Im Herzen, in der Scholle nicht! Im Herzen wohnt der Heimath Gut!
Die Muttersprache, wahret sie! Sie haltet fest in aller Welt!
Sie ist die Mutter, die das Herz, das deutsche Herz umschlungen hält!
Weh’, wenn das Kind die Mutter läßt und Buhlschaft treibt mit fremder Art!
Das Kind verliert die Führerin und irr’ wird seine Lebensfahrt.
Es sitzt, ein Knecht, am fremden Tisch, nie als des Hauses Sproß geehrt,
Ein Lohnlakai, von dessen Kraft hohnlachend dann der Fremdling zehrt!
Und deutsche Sprache, deutscher Laut! Nur deutsche Sprache hat ein Lied,
Nur sie das Wort, das Alles faßt, was durch die tiefste Seele zieht!
In finst’ren Mittelalters Nacht rief sie den ersten Kampfruf zu
Tyrannenmacht und Pfaffenmacht, als man erhob den Bauernschuh,
Als von der Wartburg Zinne flog des Luther’s Wort wie Donnerschlag. –
Hoch uns’re Muttersprache, hoch! Ihr treu bis zu dem letzten Tag!
Wo sie ertönt, da fühlen wir vereinigt uns von festem Band,
Da haben eine Heimath wir, da haben wir ein Vaterland!
Die Sprache birgt das Heimathrecht! Ich ruf’s euch zu beim Sängerfest:
„Gruß jedem deutschen Herzen! Fluch für Jeden, der die Mutter läßt!“
Meerüber send ich meinen Gruß, meerüber send’ ich meinen Sang,
Und rufe: Segen eurem Fest! Gesegnet eurer Lieder Klang!
Den Handdruck jeder Bruderhand, den Ruß für jeden Sängermund.
Bin ich auch fern – es ist bei dir mein Herz, du deutscher Sängerbund!
1.
Sobald der Nordostwind über die Haferstoppeln saust und alles Leben in der freien Natur zum Scheiden und Ersterben sich rüstet –, dann bereitet sich in meinem kleinen Vogelparadiese, welches Bewohner aller Zonen birgt, ein neuer Frühling vor, eine neue Zeit der Liebe und Wonne. Alle diese fremdländischen Vögel halten nämlich auch bei uns an den Jahreszeiten ihrer Heimathsländer treu fest und nisten daher nur in unserm Winter, im Allgemeinen etwa in dem Zeitraum vom September bis gegen den Mai hin.
Darum wird in der Vogelstube alljährlich im Spätsommer eine gründliche Reinigung und zugleich neue Einrichtung von Nistgelegenheiten, namentlich aber auch eine Erneuerung des frischen Grüns, das heißt ausdauernder Topfgewächse, vorgenommen. Und diese große, mehrere Tage in Anspruch nehmende Umwälzung, bei der die Vögel entweder sämmtlich eingefangen oder in ein anderes Zimmer gejagt werden, muß zugleich den vielen Wanderlustigen unter dem beweglichen Völkchen den Zug mindestens annähernd ersetzen. In jeder andern Hinsicht aber bemühe ich mich, [392] so viel als es im beschränkten Raume nur irgend möglich ist, naturgemäße Verhältnisse herzustellen. Dieser ersten Regel danke ich auch zweifellos meine bisherigen Erfolge in der Zucht dieser Vögel.
Mit Einschluß der schon selbstgezüchteten Jungen ist meine befiederte Gesellschaft bereits bis auf einige neunzig Köpfe angewachsen. Unter ihnen sind einerseits Bewohner aller Welttheile vertreten und andererseits besitze ich mindestens je ein Paar sämmtlicher bei den Vogelhändlern von Berlin, Hamburg, Antwerpen und Paris gangbaren Finkenarten, namentlich der durchgängig allerliebsten Prachtfinken oder Amadinen, und sodann eine Anzahl der kleinsten Papageien. Von deutschen Vögeln habe ich nur zwei sehr schöne Bartmeisen.
Wenn wir Hineintreten, schwirrt alles kleine Volk scheu auseinander und flüchtet schleunigst in die Dickichte oder andere Verstecke. Denn zur durchaus naturgemäßen Behandlung gehört auch der Ausschluß jeder Zähmung, mit alleiniger Ausnahme der ganz freiwilligen Annäherung. Letztere ist denn auch bei manchen bereits in hohem Grade vorhanden, jedoch nur gegen mich selbst und meine Frau; sie zeigt sich aber niemals in Gegenwart Fremder. Dennoch, sobald wir auf dem zur Beobachtung bequem eingerichteten Sopha Platz genommen und uns durchaus regungslos verhalten (gesprochen darf werden), entfaltet sich bald ein gar buntes, lustiges Leben rings um uns her.
Die Dreistesten oder Zutraulichsten umschwirren uns in größter Nähe. Goldbrüstchen (vom Senegal), ein zierliches, goldgelbes Vögelchen, mit seitwärts reizend gebändertem Gefieder, hat eine große Feder gefunden und sucht den Schaft derselben weichzuknabbern. Das kann aber der Amaranth (wissenschaftlich Carmin-Astrild, aus Senegambien), ein ganz dunkelrother, in den Sonnenstrahlen förmlich erfunkelnder Vogel, nicht leiden, denn er braucht die Feder zum Auspolstern seines Nestes ja ebenfalls. So beginnt nun ein gar hitziger, im Grunde jedoch sehr harmloser Kampf, an dem sich auch ein wunderniedlicher, blutrother und weißgepunkteter Tigerfink (aus Ostindien), von den Händlern „Kleiner Senegali“ genannt, ferner ein zartgrauer, rosenroth überhauchter Astrild (aus Abessinien, Kordofan, Guinea etc.) und das noch viel schönere, ebenfalls graue, jedoch dunkelroth überhauchte und zierlich dunkelgewellte Fasänchen (aus Süd- und Mittelafrika) betheiligen. Nicht lange aber, denn der Streit wird schnell entschieden, indem Elsterchen (aus Westafrika) mit schwarzem, metallgrünglänzendem Kopf, reinweißer Brust und dunkelm Oberkörper, welches kaum größer, jedoch das keckste und muthigste von allen ist, herbeistürzt und mit Hülfe einiger nach allen Seiten ausgetheilten Schnabelhiebe sich des Zankapfels bemächtigt. Doch Elsterchen kann die Feder nicht brauchen; es baut nur aus Halmen und Fäden sein Nest und wirft daher die nur zum Zeitvertreib aufgegriffene bald wieder fort. Sowie sie aber kreiselnd hinabfällt, geht die Jagd der genannten kleinen Helden in eifrigster Weise wieder an und wird meistens erst dadurch entschieden, daß einer der gewandtesten, das schön hellaschgraue Orangebäckchen (vom Senegal), mit hübschen gelben Wangen, oder der graue Schönbürzel (bei den Händlern Gris-bleu, aus Westafrika), mit duftig, gleichsam bereift blaugrauem Gefieder und dunkelblutrothem Schwanze, oder der außerordentlich zarte Schmetterlingsfink (bei den Händlern Cordon-bleu oder „Benguelift“, ebenfalls aus Westafrika), welcher an der Unterseite glänzend lichtblau, oberhalb bräunlichgrau ist und lebhaft rothe Bäckchen hat, die Feder hurtig auffängt und damit in’s Nest schlüpft.
Die bis hierher genannten Vögel, welche kaum über die Größe unseres deutschen Zaunkönigs hinausgehen, haben mit Ausnahme des Elsterchens sämmtlich schönrothe Schnäbel und der des Fasänchens ist sogar wundervoll glänzend korallenroth. Einige von ihnen: Goldbrüstchen, Astrild und Fasänchen haben auch hübsch rothe Augenbrauen, das heißt einen rothen Strich vom Schnabel über dem Auge bis zum Ohr. Sie alle gehören zu den von Brehm so treffend benannten Prachtfinken, deren Zucht und Lebensbeobachtung ich mir vorzugsweise zur Aufgabe gemacht habe und für die ich auch die Theilnahme der Leser erwecken und möglichst in Anspruch nehmen möchte. Bevor ich jedoch in näheren Mittheilungen über sie mich ergehe, müssen wir uns noch weiter in der Vogelstube umsehen.
Auf dem Futterplatze tummelt sich eine andere Gesellschaft.
Ein Stahlfink, seines herrlich blauschwarzen Gefieders mit weißem Schnäbelchen und rosenrothen Füßen wegen, von den Händlern „Atlasvogel“ genannt (aus Abessinien, Nubien oder vom Senegal), sucht mit sonderbarem Geschrei die andern zu verscheuchen. Ihm hält jedoch ein Silberfasänchen (aus Nubien, Sennaar, Sudan oder Kordofan), mit schlicht weißlich-grauem, sein gewelltem Gefieder, tapfer Stand. Ringsherum hüpfen ziemlich friedlich untereinander die Weibchen der schon genannten, ferner ein Paar noch andere Silberfasänchen (aus Indien und Bengalen), dem vorigen sehr ähnlich, nur ein wenig dunkler; dann ein Paar Muskatvögel (aus Ostindien, besonders von Java), welche oberhalb dunkelbraun und unterhalb weiß, überall sehr hübsch braun gepunktet sind; auch bräunlich-graue Bandvögel (aus Kordofan und Dongola), von denen das Männchen einen breiten, sammetrothen Streifen um die Kehle und eine rothbraune Rebhuhnszeichnung auf der Brust trägt.
Plötzlich prallt die ganze Gesellschaft auseinander, denn ein Tropfenfink (bei den Händlern „Diamantvogel“, aus Südaustralien), welcher größer als alle andern, mit Ausnahme des Bandvogels, ist, kommt herbei. Dieser „Diamant“ ist hinsichtlich des bunten und zugleich geschmackvollen Gefieders wirklich ein selten schöner Vogel; oberseits aschgrau, Kehle, Brust und Bauch reinweiß, an der Brust und dem Bauchrande tief sammetschwarz, mit mehreren Reihen weißer, knopfähnlicher Punkte an beiden Seiten unterhalb der Flügel, mit prachtvoll scharlachrothem Bürzel, dunkelrothem Schnabel und Rändern um die Augen. Fast noch farbenprächtiger ist sein Landsmann, der braunwandige Bänderschwanzfink (bei den Händlern „Zebradiamant“, aus dem Innern Australiens), mit oberhalb braungrauem, unterhalb hellerem, sehr bunt und geschmackvoll gewelltem oder seingebändertem Gefieder, an dem namentlich die lebhaft kastanienbraunen Backen angenehm in’s Auge fallen.
Eine wahrhaft bewundernswerthe Erscheinung gewähren aber jene sonderbaren Vögel, etwa von der Größe des deutschen Edelfinken, deren Schweif ihre eigene Länge wohl um das Doppelte und Dreifache übertrifft und im Fluge gar malerisch durch die Luft wallt, während er beim Sitzen oder Gehen ebenfalls sehr zierlich getragen wird. Dies sind die sogenannten Wittwen, ganz besondere Mitglieder der zahlreichen Finkenfamilie. In meiner Vogelstube giebt es ihrer zwei: die Paradieswittwe (aus Angola), welche in Frankreich, ihres ansprechend rothgelben Halses und Nackens wegen, „Wittwe mit dem goldenen Halsband“ genannt wird, und die etwas kleinere, lieblich weißbunte und sehr lebhafte Dominicanerwittwe (aus Südafrika), mit hübsch rothem Schnäbelchen.
Diese Wittwen, der vorhin genannte Stahlfink, eine Anzahl sehr farbenreicher Weber und noch einige andere haben eine ganz eigenthümliche, sehr auffallende Eigenschaft. Sie erscheinen nämlich den größten Theil des Jahres hindurch, zwischen sieben bis neun Monaten, in schlichtgrauem, meistens sehr unansehnlichem Gefieder und nur zur Zeit ihrer Liebe verfärben sich die Federn, jedoch ohne auszufallen, allmählich zu glänzendster Farbenpracht. Der Stahlfink wird schwarz, die Weber werden feuerfarben und schwarz, „Orangevögel“, richtiger Feuerfinken (aus Nubien, Abessinien und vom Senegal); oder prächtig gelb und schwarz, „Napoleonsvögel“, richtig ebenfalls Feuerfinken (aus Südnubien), und die Wittwen erhalten, außer dem bunten Gefieder, auch jetzt erst die langen Schwänze, während diese bis daher nur denen aller übrigen Vögel gleichen.
Als die Perle meiner Vogelgesellschaft betrachte ich jedoch einen ganz einfach lichtgrauen Finken, der oberhalb dunkler, unten heller, fast weißlich ist, mit ganz weißem Bürzel, und der sich zunächst nur durch seine Haltung und sein edles Wesen kenntlich macht. Doch nicht lange, da beginnt er seinen herrlichen Gesang, der schmetternd, aber keineswegs gellend, nach Brehm’s Urtheil zwischen dem der Haidelerche und des Canarienvogels in der Mitte steht. Der Vogel, Fringilla leucopygos, aus dem Innern Afrikas, heißt in Paris, von wo ich mir das erste Pärchen mitbrachte, „Chanteur d´Afrique“ und hat bis jetzt noch keinen deutschen Namen. Daher darf ich es mir wohl herausnehmen, ihn hiermit „grauer Edelfink“ zu taufen, indem ich ihn zugleich als einen sehr liebenswürdigen und leicht zu züchtenden Vogel den Lesern angelegentlichst empfehle.
Auch ein anderer, erst seit Kurzem häufig nach Deutschland gekommener Fink, Euethia cauora aus Cuba, wird im Handel [393] bis jetzt nur französisch „Chanteur de Cuba“ genannt. Da er ein liebliches, olivengrünes Vögelchen, mit sehr breitem, lebhaft gelbem Halsband und von sehr anmuthigem Benehmen ist, so möchte ich ihn unter dem Namen „Shakespeare-Kragen“ ebenfalls empfehlend einführen.
Eine große Anzahl noch anderer, mit denen ich im Laufe der Zeit gewechselt und zu denen wir gelegentlich noch ebenfalls gelangen, machen den Beschluß meiner finkenartigen Vögel. Der Besucher ist unterdessen aber bereits davon belehrt, daß es hier auch noch andere Bewohner giebt. Auf der Tanne vor uns wiegt sich eine ganze Familie der allerliebsten kleinen Sperlingspapageien aus Brasilien, von denen die Weibchen ganz einfach schön grün, die Männchen ebenso gefärbt sind, aber wundervoll blaue Unterflügel haben. Ich halte diese Zwergpapageien für die lieblichsten fast aller Stubenvögel. Gegen die Zärtlichkeit der Gatten untereinander oder der Eltern zu den Kindern ist die sprüchwörtliche der Turteltauben gar nichts; damit vereinigt sich ein außerordentlich intelligentes und geistig begabtes Wesen und noch viele andere ruhmenswerthe Eigenschaften. Um so mehr erfreut bin ich deshalb darüber, daß ich die Gelegenheit fand, diese lieben Vögel in ihrem Familienleben genau zu beobachten, indem sie – zweifellos in Europa zum ersten Male – in meiner Vogelstube bereits drei Bruten erzogen haben und die zuerst flügge gewordenen Jungen ebenfalls schon nisten.
Auch noch andere Zwergpapageien, sowie Wellensittiche, Korellas und andere sind in meiner Gesellschaft, jedoch getrennt in einzelnen Käfigen, zu finden. Da ich aber mit ihnen allen bisher noch keine Erfolge gehabt, so übergehe ich sie vorläufig.
Es ist meine Absicht, in diesen Mittheilungen aus meiner Vogelstube den Lesern zugleich thatsächlichen und möglichst reichen Nutzen zu bringen. Um das aber befriedigend zu ermöglichen, muß ich auf die Absichten und Gesichtspunkte, die bei der Einrichtung maßgebend waren, kurz eingehen.
Alle einsichtigen Natur- und Menschenfreunde stimmen darin überein, daß der Fang und bezüglich das Gefangenhalten unserer einheimischen Singvögel ein Ende nehmen müssen, wenn nicht das Aussterben der meisten Arten unvermeidlich und damit zugleich der Ertrag der Felder, Gärten und Wälder, durch immer mehr überhand nehmende Insectenplagen, auf das Ernstlichste gefährdet werden soll. Längst schon ist auf diese die Menschenwohlfahrt bedrohende Wahrheit von Männern wie Roßmäßler, beide Brehm[WS 2], Karl Vogt und Andere mit immer größeren: Nachdruck hingewiesen worden. Dies „Schutz den Vögeln!“ habe auch ich seit einer Reihe von Jahren als einen ernsten Theil meiner Lebensaufgabe erachtet, indem ich in zahlreichen Zeitschriften und in meinen Büchern unablässig nicht allein daran gemahnt, sondern die Leser auch über die Wichtigkeit und Unentbehrlichkeit der Singvögel aufzuklären gesucht habe.
Im Gegensatz zu diesen: Streben stehen nun aber meine eigene und die Vogelliebhaberei vieler anderer Leute. Immerhin wird man zugeben müssen, daß eine Liebhaberei, die in edlen Motiven – entweder in der Sehnsucht nach einem lebendigen Wesen in der Nähe oder in der Freude und dem Genuß, welche der Vogelfang bietet, oder auch in der Beobachtung und dem Studium des Vogellebens – fußt, doch zweifellos billige Berücksichtigung, ja, noch viel mehr, eine volle Berechtigung beanspruchen darf. Hier würden also die Rücksichten auf das Allgemeinwohl mit denen einzelner Interessen in gar argen Widerspruch gerathen, wenn nicht zufällige Verhältnisse einen guten Ausweg bieten könnten. Und diese möglichst auszunützen, ist der erste Zweck meiner Vogelstube.
Seit vielen Jahren werden nämlich aus Ost- und Westindien, namentlich aber aus Afrika und neuerdings auch aus Australien und Nordamerika zahlreiche Schiffsladungen von allerlei Schmuck- und Ziervögeln auf die europäischen Märkte gebracht, wo sie, trotz der noch recht hohen Preise – welche von zwei, drei, vier bis zehn, zwölf und fünfundzwanzig Thaler für das Pärchen nur der kleineren Arten wechseln – doch stets willige Käufer finden. In diesen Vögeln vermögen wir vollen Ersatz für die einheimischen zu finden. Denn nicht allein hohe Farbenpracht und anmuthiges Benehmen, sondern auch den herrlichsten Gesang bieten sie uns. Es ist ein arges Vorurtheil, daß nur deutsche Vögel schön singen; wir werden in den weiteren Schilderungen exotischer Vögel noch manchen wundervollen Sänger kennen lernen.
Diese fremden Vögel, d. h. vorzugsweise die Prachtfinken und kleinsten Papageiarten, in jahrelang unausgesetzt fortlaufenden Versuchen zu züchten, sie als Stubenvögel in der Weise des Canarienvogels und besonders zum vollen Ersatz für die einheimischen Singvögel – zu acclimatisiren und, wenn irgend möglich, zu verallgemeinern, das war die Veranlassung, welche mich die Vogelstube begründen ließ. Auf dem Wege, den ich, freilich mit außergewöhnlichen, trotz aller Vorsicht keineswegs erwarteten Schwierigkeiten, eingeschlagen, hoffe ich nun Folgendes zu erringen: Zunächst eine genaue Beobachtung der Lebensweise aller dieser Vögel, die zum großen Theile im Freileben bis jetzt noch wenig oder gar nicht beobachtet worden sind. Wenn auch die Gefangenschaft in dieser Hinsicht immerhin Hindernisse birgt, so ist die Freiheit in der Vogelstube doch mindestens eine annähernd entsprechende – namentlich in Anbetracht der langen, martervollen Gefangenschaft, welche alle diese Thierchen durchmachen mußten. Ich hoffe recht beachtenswerthe Ergebnisse zu erlangen – und habe sie bereits erlangt–, deren reinwissenschaftlichen Theil ich in Cabanis’ „Journal für Ornithologie“ zu veröffentlichen gedenke. Sodann werde ich, nach eigenen und auch fremden Erfahrungen, zuverlässig ermitteln, welche dieser Vogelarten sich in der Stube ohne große Schwierigkeiten fortpflanzen und damit also immer billiger anschaffen und auch für minder wohlhabende Leute verallgemeinern lassen. Diesen werde ich schließlich meine ganze Sorgfalt zuwenden, um sie durch populäre Lebensbilder Jedermann bekannt, beliebt und geschätzt zu machen. Vielleicht ist dadurch – selbstverständlich erst im Laufe der Zeit und auch nicht durch die Versuche des Einzelnen, sondern durch die zahlreich erweckte und recht allgemein und eifrig betriebene Zucht vieler Liebhaber – es zu ermöglichen, daß einerseits die einheimischen Singvögel als Stubengenossen wirklich entbehrlich gemacht werden können und daß andererseits zugleich der Einfuhr der fremden, dem massenhaften Hinmorden und der damit ebenfalls drohenden Ausrottung in ihren Heimathsländern endlich ebenfalls ein Ziel gesetzt werde. In dem nächsten Abschnitte theile ich meine bisherigen Erfahrungen und Erfolge mit.
Bilder aus den Alpen.
„Wenn der Kukuk ruft, wenn erwachen die Lieder, wenn mit Blumen die Erde sich kleidet neu, wenn die Brünnlein springen im lieblichen Mai“, da lebt nicht nur der einzelne Mensch wieder frisch auf und schüttelt die Sorgen des langen Winters von sich, sondern auch die Staatsorganismen treiben im freien Schweizerlande ihre Blüthen. Obschon in politischer Beziehung nicht mehr zu Deutschland gehörend, ist dennoch die Schweiz das Land, in welchem sich altdeutsche Rechtsinstitute am längsten erhalten haben. Wie im alten Frankenreiche das März-, später Maifeld den Eintritt des Frühlings im Staatsleben verkündete, so wiederholten sich diese Versammlungen der Freien im Kleinen in den vielen städtischen und ländlichen Gemeinwesen, in welche das große Reich zerfiel.
Immer, wenn der Frühling herannahte, traten die Freien zusammen und wählten sich ihre Vorsteher und Räthe. Viele dieser Gemeinwesen verloren aber durch Kriege und Eroberungen ihre Freiheit, sie wurden mit anderen zu größeren Staaten verschmolzen, und es dauerte lange, bis sie wieder zum Genusse bürgerlicher Rechte kamen, aber in ganz anderer, modernerer Weise. Von diesem Assimilirungsprocesse machten nur wenige, durch Berge und Seen von der übrigen Welt abgeschlossene Thäler eine Ausnahme und behielten ihren altdeutschen Wahl- und Abstimmungsmodus bei. Die Landsgemeinde, in welcher derselbe seinen Ausdruck findet, ist nicht nur ein Staatsact, sondern ein Volksfest im wahren Sinne des Wortes, es ist die Huldigung, welche das Volk [394] jährlich seiner eigenen Freiheit und Majestät darbringt. Man hat vielfach das Wesen und den Kern der Landsgemeinde mit ihren Formen und den äußeren, sie begleitenden Umständen verwechselt. Unseres Erachtens sind aber diese theilweise veralteten und selbst fortschrittfeindlichen Formen und Umstände zu reformiren, ohne die Grundlage des Institutes anzutasten, und diese Grundlage besteht in praktischer Verwirklichung des Grundsatzes, daß das Volk in seinem Lande Herr und Meister ist und sich seine Gesetze und Behörden selbst giebt. In mehren größeren Cantonen der Schweiz hat man bereits mehr oder weniger weit gehende Versuche gemacht, den Grundsatz der Selbstregierung mit modernen Formen zu verbinden; ganz in alter Weise aber hausen noch einige der kleineren Alpencantone, so: Uri, Glarus, die beiden Theile von Unterwalden: Ob- und Nidwalden, und die beiden Theile von Appenzell: Inner- und Außerroden.
Das Ländchen Appenzell, aus herrlichen grünen Matten, lieblichen Hügeln und imposanten Bergen bis zum ewigen Schnee des Säntis hinauf bestehend, bildet eine Stufenfolge der abwechselndsten, von jenem Höhepunkt nach und nach immer tiefer bis in die Nähe des Rheins und Bodensees sich niedersenkenden Landschaften. Es ist ein von Natur zusammengehöriges Ganzes, das sich nach allen Seiten durch Bergabhänge ziemlich scharf von den es umgebenden Gegenden sondert. Im Mittelalter größtentheils dem nahen Kloster St. Gallen verschrieben, befreite sich Appenzell im Beginn des fünfzehnten Jahrhunderts durch die unsterblichen Freiheitsschlachten bei Vögelinseck und am Stoß gegen den Abt und dessen Verbündete und setzte sogar die ganze Nachbarschaft bis tief nach Tirol hinein durch Raubzüge in Schrecken, bis die Macht der Ritter und die bevormundende Bundesgenossenschaft der schweizerischen Cantone dem aufbrausenden Geiste der Zügellosigkeit Schranken anlegten.
Die Reformation führte im folgenden Jahrhundert den größeren Theil des Ländchens dem neuen Glauben zu, und ohne allen Zwist und Hader lebten volle fünf Jahrzehnte die Anhänger beider Confessionen zufrieden neben einander, bis die Ränke des römischen Nuntius den Glaubensfanatismus unter den appenzellischen Katholiken gegen ihre reformirten Brüder so anzuschüren wußten, daß eine ernste Krise hereinbrach und nur durch die 1897 erfolgte Trennung des Cantons in die katholischen inneren und die protestantischen äußeren Roden (Abtheilungen, Gemeinden, Rotten) zu beseitigen war. Seither bestehen auf diesem kleinen Fleck Erde, rings von dem größeren (seit 1803 gebildeten) Canton St. Gallen umgeben, zwei souveraine Kleinstaaten, jeder mit tirolischer „Glaubenseinheit“ und beide mit unter sich ähnlicher Verfassung. Das Gebiet dieser beiden Stäätchen ist auf die wunderlichste Weise untereinander vermengt und verquickt, so daß Inner- und Außerroder, wenn sie in ihre beiderseitigen Landsgemeinden ziehen, sehr oft ihre Straßen gegenseitig durchkreuzen und einander „Guten Morgen“ bieten können. Innerroden treibt nämlich einen mächtigen Keil zwischen die beiden Theile von Außerroden „vor und hinter der Sitter“, und ein District im Nordosten des Cantons, der, wie es scheint, bei der Theilung vergessen wurde, ist noch so desorganisirt, daß die dort wohnenden Katholiken Inner- und die Protestanten Außerroder sind, obschon ihr Gebiet gar nicht ausgeschieden ist. Seitdem indessen die neue Bundesverfassung allgemeine Niederlassungs- und Glaubensfreiheit und allgemeines Stimmrecht der Schweizer eingeführt hat, verliert die Trennung immer mehr ihren Sinn, indem auch in Außerroden Katholiken und in Innerroden Protestanten sich ansiedeln und ihr Stimmrecht ausüben dürfen.
Am letzten Sonntage im April jeden Jahres versammeln sich in jedem der beiden Halbcantone die sämmtlichen stimmberechtigten Bürger (oder wie man in den kleinen Cantonen, wo es keine Städte giebt, officiell sagt: „Landleute“) auf einem bestimmten Platze zur Landsgemeinde, in Außerroden abwechselnd zu Trogen und zu Hundwil, in Innerroden immer zu Appenzell, dem ursprünglichen Hauptorte des ganzen Cantons. Jede der beiden Landsgemeinden hat ihre Eigenthümlichkeiten. In Außerroden ist sie weit zahlreicher, da dieser Halbcanton die mehr als vierfache Bevölkerung des andern hat, und bietet das Bild eines wohlhabenderen, gebildeteren Volkes dar. In Innerroden ist sie origineller, alterthümlicher und durch die eigenthümliche Tracht der zuschauenden Frauenwelt anziehender. Außerdem aber bringt die Zeit oft Verhandlungsgegenstände mit sich, die in dem einen oder andern Halbcanton mehr Interesse darbieten.
Das in größerem Maße dem Fortschritt huldigende Außerroden hat bereits vor zehn Jahren seine Verfassung zeitgemäß reformirt und seine Landsgemeinde ist blos noch das alte Kleid eines neuen Körpers. In Innerroden dagegen ist bisher jeder Antrag auf Verbesserung beharrlich abgewiesen worden, und der Wahlspruch des dortigen, größtentheils aus Sennen bestehenden Volkes war stets: „Nüts Neu’s!“ (nichts Neues!) Nachdem nun aber selbst die stabilsten Cantone, Uri und Unterwalden, dem Zeitgeist Concessionen gemacht haben, kann Appenzell-Innerroden kaum mehr zurückbleiben. Die jüngere Generation, dem Fortschritte zugeneigt, hat deshalb alle Triebfedern in Bewegung gesetzt, ihrem Ländchen nicht mehr den letzten Platz in der Stufe schweizerischer Civilisation angewiesen zu sehen, und heute, den 26. April 1868, ist der Tag, an dem sich diese Frage auf dem großen Platze im Dorfe Appenzell entscheiden soll. Unsere Wahl fällt deshalb nicht schwer, indem in Trogen heute Geschäfte von untergeordneter Bedeutung abgesponnen werden. Frisch auf daher, nach Appenzell, wenn auch der Himmel umwölkt ist und die Sonne umsonst kämpft, ihren rechtmäßigen Platz am blauen Gewölbe zu behaupten. Die Luft ist indessen warm und angenehm, der Boden trocken und schneefrei; nur die Spitzen der Berge und höheren Hügel sind noch weiß bedeckt. Herrlich grünen die Wiesen, besäet mit den goldgelben Frühlingsblumen. Unser Weg führt am hohen Ufer der Sitter, sie mehrmals überschreitend auf altersgrauen bedeckten Brücken, zuerst in der romantisch-schauerlichen Schlucht von Zweibrücken, zu welcher wir auf der steilen, halsbrechenden Hundwilerleiter hinabsteigen, und dann, jenseits des weithin sichtbaren Dorfes Stein, bei der malerischen Capelle von Lank vorüber.
Die Gegend bietet die anziehendsten Scenen, bald Fels-, bald Waldpartien, und dazwischen zerstreute Weiler und Höfe mit braunen Häusern, auf deren Gesimsen Bienenstöcke prangen. Von Zeit zu Zeit begegnen uns Männer, alte und junge, im Sonntagskleide, den Cylinderhut auf dem Kopfe und einen Degen, Säbel oder Hirschfänger, – nicht etwa angeschnallt, sondern an Griff oder Scheide in den Händen tragend oder auch mit dem Regenschirm zusammengebunden; es ist dies das Symbol des freien Mannes, das seit Menschengedenken in die Landsgemeinden mitgenommen wird; doch hält man sich nicht mehr streng daran, und man sieht viele Stimmberechtigte, namentlich wenn sie nicht geborene Appenzeller sind, ohne Waffen erscheinen. Der Tag der Landsgemeinde gilt allgemein als ein Ehrentag des Volkes, und selbst die ältesten Männer lassen es sich nicht nehmen, den oft viele Stunden betragenden Weg zurückzulegen.
Endlich erreichen wir das Gebiet von Innerroden. Wir erkennen es an zweierlei Dingen: erstens an den häufigen Capellen und Bildstöcken, und zweitens leider an dem – Bettel! Vor einem Jahrzehnt war dieser Uebelstand indessen noch ärger. Man konnte in Innerroden absolut keinem Kinde begegnen, ohne um den „Landsgmändchrom“ (Landsgemeindekram) angegangen zu werden. Jetzt huldigt nur noch ein Theil dieser verwerflichen Unart, und zwar darunter ganz wohl gekleidete Kinder, denen man keinen Mangel ansieht, ja deren frische und fröhliche Gesichter eher das Gegentheil anzuzeigen scheinen. Die besser erzogenen aber halten sich ruhig vor ihren Häusern und verrathen damit, daß sie von vernünftigen, anständigen Eltern stammen. Auf der letzten Sitterbrücke vor dem Dorfe Appenzell, das in einem Thalkessel zwischen den emporragenden Bergeshäuptern liegt, beginnt bereits der Landsgemeindemarkt. Confect und Ellenwaaren werden auf demselben feilgeboten.
Bald sind wir nun im Dorf und Laudeshauptort. Sein Inneres ist städtisch gebaut, mit aneinanderstoßenden Häusern, gepflasterten Straßen und Petroleumbeleuchtung. Auf dem größten Platze, den früher eine uralte Linde, die Zeugin der Ereignisse von Jahrhunderten, schmückte, wird die Landsgemeinde gehalten. Wie zu den Zeiten der Väter steht hier die Bühne da, bekleidet mit den Landesfarben schwarz und weiß, an ihren beiden Enden die „Schwerter der Gewalt“ aufgepflanzt, ihr gegenüber eine einfache Erhöhung für die „Hauptleute“ (Vorsteher, Schulzen) der einzelnen Roden und seitwärts eine solche für die Rathsmitglieder, die man, nicht sehr demokratisch, „Rathsherren“ nennt.
Noch ist die Stunde der Eröffnung des Volksthings nicht gekommen, und wir durchbummeln daher den Flecken noch ein wenig. Die Straßen sind sehr belebt. Ueberall Verkaufslocale; Leckerbissen aller Art, Kinderspielzeug, Kleidungsstücke werden feil geboten [395] und gekauft. An einem Laden hängt eine ganze Sennentracht in Miniatur für einen Knaben (Lederkäppchen, rothe Weste, gelbe Hosen, messingbeschlagene Träger mit darauf abgebildeten Kühen). Die Männer, die zur Landsgemeinde kamen, sind indessen nicht so gekleidet, sondern feierlich schwarz, mit dem unvermeidlichen Zylinder. Die Frauen dagegen tragen ihr malerisches buntes Landescostüm: rothe Mütze, gold- und silberblitzendes Mieder und färben- und faltenreichen Rock. Die in Trauer befindlichen schmücken das Haupt mit einer großen schwarzen Flügelhaube. Alles summt und schwirrt durch einander, man unterhält sich angelegentlich über die Fragen des Tages, kritisirt die Vorübergehenden, macht Geschäfte ab und fragt dem Befinden der Familie nach, wohl auch mit oft ebenso vielem Interesse jenem des lieben Viehes. Und könnten wir nun unbemerkt diesen Gesprächen lauschen, so vernähmen wir ohne Zweifel manche dankenswerthe Aufschlüsse über das Land und seine Verhältnisse.
Sonst nahmen die von der Landsgemeinde zu treffenden Wahlen an diesem Tage das ungetheilte Interesse in Anspruch. Es war von ungeheurer Wichtigkeit, wer Landammann, Landeshauptmann, Landesfähnrich (diese Aemter sind noch Ueberreste früherer kriegerischer Zeiten) werden sollte. Heute aber sind diese persönlichen Angelegenheiten von untergeordneter Bedeutung; die Frage der Verfassungsrevision beschäftigt alle Gemüther in der eingreifendsten Weise. Wird sie dem Lande zum Wohle gereichen oder nicht? Müssen wir uns dem Zeitgeiste beugen? Müssen wir Neues einführen, blos weil es Andere thun? Oder sollen wir im Fortschritt zurückbleiben, blos weil wir den Eigensinn haben, nichts Neues zu wollen? So ungefähr hören wir fragen.
Die Verfassung von Appenzell-Innerroden – fügen wir zur Erläuterung dieser Fragen bei –, eines Ländchens von zwölftausend Seelen auf sieben und einer halben Quadratstunde, die zur Hälfte von unbewohnbaren Bergen und Felsen eingenommen sind, datirt von 1829, eigentlich aber von mehreren Jahrhunderten her und ist die einzige der Schweiz, welche noch ganz den ursprünglichen, von der französischen Revolution nicht beeinflußten Geist verräth. Ihre größten Uebelstände (von vielen anderen zu schweigen) sind die Wahlart der Behörden und die Vermengung der Staatsgewalten. Die (nach der Landsgemeinde) oberste Behörde, der Große Rath, wird nämlich nicht nach der Volkszahl, sondern zu gleichen Theilen von den sieben Roden gewählt, und diese bilden nicht etwa abgegrenzte Gebietstheile, sondern jede besteht aus einer gewissen Anzahl von Geschlechtern, die im ganzen Lande zerstreut sind und sich zur Vornahme der ihnen zustehenden Wahlen besonders versammeln. Ferner sind die vollziehenden und richterlichen Functionen denselben Behörden übertragen, und es giebt kein von der Regierungsgewalt unabhängiges Gericht, also keines, das einem Privaten gegen den Staat Recht geben könnte und würde. Endlich ist trotz der Demokratie die gesammte Verwaltung und Rechtspflege geheim und selbst ihre Resultate werden weder durch den Druck veröffentlicht, wie in allen anderen Cantonen, noch sonst bekannt gemacht.
Doch horch, – es schmettert Blechmusik, und – bum – bum – fällt die große Trommel dazwischen. Alles läuft zusammen, Alles rennt den festlichen Klängen entgegen. Vom Schulhause aus, das am Landsgemeindeplatz liegt, und vor welchem Recruten in Uniform mit aufgepflanztem Bajonnet Wache halten, bewegt sich die Festmusik, alle Mitglieder in schwarzer Kleidung und Hut. Es ist dies eine Neuerung in Innerroden. Bis vor wenigen Jahren war es ein Trupp Trommler und Pfeifer, die mit einem eigenthümlichen, alten, dudelnden Marsche die Beamten des Landes zur Landsgemeinde abholten, jetzt ist die modernere türkische Musik an ihre Stelle getreten, die jedoch in noch weiter vorgeschrittenen Orten bereits überall der reinen Blechmusik gewichen ist.
„Und feierlich nach alter Sitte, mit langsam abgemessnem Schritte“ ziehen die Festmusiker nach dem Rathhause, das beinahe am anderen Ende des Fleckens liegt. Nur kurzes Warten im summenden Menschenschwarme, und sie kehren zurück, hinter ihnen in schwarzen Mänteln, wie man sie manchen Orts bei Leichenbegängnissen trägt, schreiten die Beamten: der „regierende Landammann“, Herr Rechsteiner, einem alten Militär nicht unähnlich, ein freundliches und doch kräftiges röthliches Gesicht mit kurzem Schnurrbart und hoher Stirn; der Landschreiber, Herr Sonderegger, ein intelligent aussehender blasser junger Mann, trotz seiner Jugend der Führer der Revisionslustigen und Verfasser einer gut geschriebenen Broschüre dieser Tendenz; der Landweibel im schwarz und weißen Landesmantel, wie ihn früher die Diener der Gesandten sämmtlicher Cantone an der selig verstorbenen Tagsatzung trugen und damit in der Bundesstadt ein seltsames Farbenspiel darboten; hinter ihnen die Hauptleute und Rathsherren.
Landammann, Schreiber und Weibel nehmen ihren Platz auf der Bühne, hinter den Schwertern der Gewalt. Der Landschreiber legt feierlich das Landesgesetzbuch, in schwarzes Leder eingebunden und mit Silber beschlagen, vor sich nieder auf die Brüstung, und es entsteht lautlose Stille unter der auf dem großen Platze sich verbreitenden Menge der Landleute, die nach dem Beispiel des Landammanns nun alle die Häupter entblößen. Nur die die Versammlung umschwärmenden Frauen und Kinder sind keineswegs ruhig. Zwei Bundesräthe (Mitglieder der obersten schweizerischen Vollziehungsbehörde in Bern), Näff und Schenk, und Regierungsrath Saxer aus dem Nachbarcanton Sanct Gallen befinden sich bescheiden unter der zuhorchenden Menge.
Still, jetzt beginnt die Eröffnungsrede des Landammanns, wegen seines nicht sehr starken Organs und der unruhigen Umgebung schwer zu verstehen. Und das war schade; denn sie wäre würdig, weit hin in die Lande gehört zu werden. Statt, wie gewöhnlich, sich, in Ermangelung wichtiger Geschäfte, in der ausländischen Politik umzusehen, hielt der erste Beamte des Ländchens mit edlem, männlichem Freimuthe dem Volke, das heute über seine Stellung zu verfügen hatte, einen Spiegel vor von dem, was es bisher gewesen und was es werden sollte. Es war bisher seines starren Festhaltens an althergebrachten Formen wegen sprüchwörtlich geworden und man war rings umher geneigt, ihm jede Befähigung zum Fortschritte abzusprechen. Dieser „Verleumdung“ trat der Landammann entgegen und äußerte die frohe Hoffnung, Innerroden werde dieselbe Lügen strafen. Er zeigte klar, daß die Bestrebungen, eine Verbesserung der Zustände herbeizuführen, nur das Wohl des Volkes und Landes bezwecken, daß sie keineswegs, wie Manche fürchteten, die Regierungsgewalt befestigen oder stärken, sondern vielmehr die Rechte des Volkes vermehren und sichern werden. Bisher gab das Ländchen für Armenunterstützungen (diejenigen der einzelnen Roden nicht einmal gerechnet) etwas mehr aus, als für Straßen, Erziehung, Polizei und andere gemeinnützige Unternehmungen zusammen. Solche Zustände müssen sich gründlich ändern, wenn Appenzell-Innerroden nicht mehr als das Eldorado des Müßiggangs und des geistigen Stillstandes bezeichnet werden soll.
Auf diese in gutem Deutsch gesprochene treffliche Eröffnungsrede folgten nun die jährlichen Erneuerungswahlen sämmtlicher Beamten. Zuerst kam der „regierende Landammann“ (dem in den „reinen Demokratien“ immer ein „stillstehender Landammann“ als Stellvertreter zur Seite steht) an die Reihe. Die Abstimmung geht nach altväterischer Weise so vor sich, daß jeder berechtigte Theilnehmer an der Versammlung zur lauten Nennung eines Namensvorschlags befugt ist, wovon indessen stets sehr mäßiger Gebrauch gemacht wird. Diese Namensvorschläge werden vom Vorstände der Versammlung notirt und der Reihe nach mit dazwischen eintretenden Pausen vorgelesen. Wer für einen Vorschlag stimmt, hebt bei Nennung desselben die rechte Hand in die Höhe, nicht selten, bei erregter Stimmung, mit dem markdurchdringenden Rufe „uuf“ (auf)! Diejenigen, welche nach dem Urtheile des Vorstandes und seiner Assistenten (der neben ihm stehenden Beamten) die wenigsten Stimmen auf sich vereinigen, fallen aus der Wahl und es wird zwischen den Übrigbleibenden auf’s Neue abgestimmt, bis es sich nur noch um zwei Namen handelt, und wer von diesen die meisten Hände aus sich vereinigt, wird als gewählt bezeichnet. In Innerroden wird dieser Wahlact noch schleppender als anderswo, einerseits durch die Vorschrift der Verfassung, daß in der Regel nur ein Vorschlag ausfallen darf; andrerseits durch die bei jedem Wahlgange übliche lange Anrede: „Hochgeachteter Herr Landammann, hochgeachtete Herren, getreue, liebe Landleute und stimmberechtigte niedergelassene Schweizerbürger,“ ein Zopf, welchen die angestrebte Reform abschneiden dürfte. Da nun als regierender Landammann der bisherige, Herr Rechsteiner, auch wieder vorgeschlagen wurde, so trat er von der Bühne herab, ließ sich den schwarzen Amtsmantel abnehmen, stand als einfacher Bürger da, und der Landschreiber leitete die Abstimmung. Rauschendes Mehr bestätigte aber den bisherigen Landesvorstand; man zog ihm den [396] Mantel wieder an, und er bestieg die Bühne von Neuem. Als nun die Reihe an den Landschreiber kam, wiederholte sich der nämliche Vorgang. Der Landschreiber und der Landweibel sind die einzigen wirklich, das heißt, so besoldeten Beamten des Ländchens, daß sie von ihrem Amte leben können; diese beiden Stellen allein sind nicht bloße Ehren-, sondern auch Brodämter. Es war daher früher üblich, daß bei Erledigung derselben durch Tod, Resignation oder dergleichen die Bewerber auf die Bühne traten und das Volk um ihre Ernennung bitten durften. Dabei fielen denn oft recht klägliche und entwürdigende Scenen vor.
Der Verfasser dieser Zeilen sah selbst vor mehreren Jahren einen solchen Candidaten, dem nach Uebung zu diesem Zwecke der schwarzweiße Weibelmantel umgehängt worden, auf der Bühne auf die Kniee fallen und das Volk um Gnade für seine armen „ungezogenen“ (statt „unerzogenen“) Kinder bitten. Man erzählt übrigens auch Witze, die bei solchen Gelegenheiten vorkamen. Jemand soll einem Weibelcandidaten zugerufen haben, er sei zu klein und schmächtig, um einen Dieb abzufassen. Dieser aber, nicht verlegen, entgegnete mit echt appenzellischer Schlagfertigkeit: „Es ged (es giebt) nüd luter dera großa wie Du bist.“ Alle naturwüchsigen Innerroder dutzen sich nämlich und erlauben sich dies, jedoch immer seltener, bisweilen auch gegen Fremde. Ob solche Scenen sich wieder ereignen könnten, wissen wir natürlich nicht. An der heutigen Landsgemeinde kamen die beiden Stellen nicht in Frage und ihre beiden Inhaber wurden wieder gewählt, wofür sie mit ruhigen, würdigen Worten, ohne alle Kriecherei, dankten.
Gerade das Gegentheil von Bewerbung findet bisweilen bei den unbesoldeten Aemtern statt. Jeder Landmann ist nämlich verpflichtet, ihm von der Landesgemeinde übertragene Aemter anzunehmen. Es giebt kein Mittel, ihnen zu entgehen, als die Auswanderung. So hatte gerade heute ein solcher seine Demission mit der Bemerkung anzeigen lassen, er habe, um eine Wiederwahl zu verhindern, sein Haus verkauft und das Land verlassen, und so mußte er ersetzt werden. Es dauerte lange, bis die für ein so kleines Gebiet sehr große Anzahl von elf Regierungsgliedern gewählt war, die alle ihre charakteristischen Titel führen. Es sind: die beiden Landammänner, der Landesstatthalter, der Landseckelmeister (Finanzminister), der Landeshauptmann (Kriegsminister), der Landesbauherr (Director der Bauten), der Landesfähnrich, der Armenleutenseckelmeister, der Armenleutenpfleger, der Landeszeugherr und der – Reichsvogt! Sonderbar, aber wahr: in Appenzell-Innerroden besteht das heilige römische Reich deutscher Nation dem Namen nach immer noch. Der Reichsvogt führt die Aussicht bei – Hinrichtungen, welche bekanntlich im ehemaligen Reiche nicht ohne kaiserliche Autorität vollzogen werden durften. Es kommen solche übrigens selten mehr vor.
Endlich war die Wahlfolter beendigt und das Hauptgeschäft des Tages, die Revision, kam an die Tagesordnung. Der Landammann eröffnete über dieselbe die Discussion. Bange Erwartung lag über der Versammlung und den Zuhörern. Der Himmel hatte sich verdüstert, durch die dunkeln Heere seiner Wolken den letzten Sonnenstrahl verdrängt und einzelne Regentropfen begannen zu fallen. Aber die Mannen der Berge ließen sich hierdurch nicht irren und harrten mit entblößten Häuptern auf dem Platze aus.
Nur ein Mann übernahm die undankbare Aufgabe, gegen den Fortschritt zu sprechen; es war der College des Vorstandes der Versammlung, der „stillstehende Landammann“, Herr Broger. Aber auch er wagte es nicht, die Nothwendigkeit einer Reform zu leugnen; er wollte blos Verschiebung. Seine Gründe widerlegte bündig der Rathsherr Julius Dörig (dieser Familie gehören sämmtliche Berg-Gastwirthe des Appenzellerlandes und die besten Fremdenführer an), und den Ausschlag gab eine kräftige Philippika des Landammanns Rechsteiner gegen den Schlendrian. Mit Jubel flogen sämmtliche Hände für Vornahme einer Revision in die Höhe, keine einzige dagegen, und Bravos erschallten aus dem Munde der zuhörenden Nichtappenzeller. Und nun folgte noch die langwierige Wahl einer Revisions-Commission von sieben Mitgliedern; sie fiel außer dem genannten Broger auf lauter Reformfreunde. Dieser Zahl fügte dann noch jede Rode, deren Mitglieder sich nach der Landsgemeinde noch besonders versammelten, zwei weitere Mitglieder bei, so daß Innerroden einen Verfassungsrath von vierundzwanzig Mitgliedern besitzt. Die Landsgemeinde aber schloß nach alter Uebung mit dem feierlichen Eide, den sämmtliche Landleute, die Hände gen Himmel erhoben, mit lauter Stimme nachsprachen und in welchem sie gelobten, dem Lande und seinen Gesetzen treu zu sein. Es sind dies Momente, in denen ein unwillkürlicher Schauer das Herz des Vaterlandsfreundes hebt.
Hoffen wir nun, es werde mit dem Werke der Reform erfreulicher gehen, als im Jahre 1853. Damals wurde ebenfalls die Revision beschlossen, der fertige Entwurf aber im nächsten Jahre von der Landsgemeinde verworfen. Wird die Arbeit des Verfassungsrathes eine rationelle, volkstümliche, Freiheit und Fortschritt begünstigende und stimmt ihr die nächste Landsgemeinde bei, dann werden die beiden letzten Aprilsonntage von 1868 und 1869 in der Geschichte der Schweiz als Ehrentage von Appenzell-Innerroden glänzen.
Die Johannisfeier im heiligen Köln.
Mit wie berechtigten, Stolze wir auch der Vorzüge unserer Zeit gegenüber einer vorangegangenen uns rühmen, so giebt es doch auch so Manches, bei dessen Vergegenwärtigung wir Grund genug haben, den Blick recht demüthig zu Boden zu schlagen und die Ueberlegenheit unserer Vorfahren anzuerkennen.
Sonst war es jedem Privatmann, der über die Mittel verfügen konnte, Bedürfniß, das Einerlei des Alltäglichen durch die Pflege, das Nothwendige durch die Weihe der Kunst zu verschönen. Brunnen, Bauten, Wandmalereien und Alltagsgeräth erzählen uns davon, wie man es verstanden, den Funken der Göttlichkeit auch da hinein leuchten zu lassen, wo uns heute die nackteste Alltäglichkeit, der roheste Materialismus ohne jede verschönernde Hülle entgegentreten. Nur erst in der neuesten Zeit hat man angefangen, einen Schritt zum Besseren zu thun und in: Allgemeinen zu begreifen, daß der Künstler nicht ein überflüssiges Glied der großen Kette ist und daß er seine hohe Mission empfangen hat, ebensowohl wie der Lehrer der Religion und Moral, daß der monumentalen Kunst eine Aufgabe zugefallen, die durch nichts Anderes gelöst werden kann. Wo kein Wort mehr Boden findet, vermag oft ein Stein, ein Bild oder ein Tonwerk vielleicht ein gedeihliches Korn zu pflanzen, und wir dürfen uns dessen dankbar erinnern, daß die sächsische Kammer vor Jahren den Beschluß faßte, eine Summe für monumentalen Schmuck öffentlicher Gebäude etc. zu bestimmen.
Leider ist auch der kindliche Sinn, der in staunender Hochachtung das Kunstwerk nur auf sein Gemüth wirken ließ, die Unbefangenheit, die dazu gehört, sich am Schönen wahrhaft zu erfreuen, verloren gegangen; der Geist der Zeit betrachtet in der Regel alles derart Gebotene nur als dazu vorhanden, das Licht seiner reifen oder unreifen Beurtheilung darüber leuchten zu lassen, und der Genuß, von Anderen, wie er sich einbildet, für einen Kunstverständigen gehalten zu werden, ist sehr häufig die einzige Wirkung, die ein solches Kind unserer Zeit davon trägt. Doch wird auch diese Durchgangsperiode überwunden werden und einer besseren Platz machen.
Unter diejenigen Städte nun, die angefangen haben, in der Weise ihrer Väter die Kunst zu pflegen, gehört auch Köln, und abgesehen von den durch Privatleute hervorgerufenen nicht unbedeutenden Meisterwerken, hat die Stadt in der Ausschmückung des kleinen Gürzenichsaales einen Anfang gemacht, der freilich so sehr bedauern läßt, daß es eben nur ein Anfang geblieben, daß der Genuß des Gebotenen wesentlich dadurch beeinträchtigt erscheint. Die Verstimmung über die Engherzigkeit, die nach einem solchen Anfang auf die Fortsetzung verzichten konnte, verbittert ganz wesentlich die Freude an dem Vorhandenen. Dies Gefühl wirkt schon störend bei Besichtigung des kleinen Saales, steigert sich aber bei Betrachtung des großen, dem jeder Bilderschmuck fehlt, so sehr, daß die Empfänglichkeit für die sonstigen Schönheiten desselben fast
[397][398] verloren geht. Wandgemälde sind ein so unbedingtes Erfordernis; für den Abschluß dieses Bauwerkes, daß es, so lange sie fehlen, Jedem als etwas Unfertiges erscheinen wird.
Die Bilder im kleinen Saale, von A. Schmitz in Düsseldorf gemalt, gehören zu dem Bedeutendsten der Art, was in unserer Zeit geschaffen wurde, und man muß bedauern, daß der beste Holzschnitt nur eine Andeutung der Schönheit eines solchen Bildes zu geben vermag. In dem Hauptbilde, welches sich bis auf die linke Seitenwand herüber zieht, mit so geschickter Benutzung der Zimmerecke, daß dieselbe sogar als Nothwendigkeit erscheint, ist die Einzugsfeier der Prinzessin Isabella, die, dem Kaiser Friedrich dem Zweiten als Braut bestimmt, der Stadt Köln zur Obhut übergeben wurde, dargestellt.
Das zweite Bild hat einen auch aus dem Sagenkreis der Stadt Köln gewählten Stoff zum Gegenstände, den sogenannten „Holzfahrttag“.
Zur Zeit des römischen Imperators Vespasianus wurde Köln von einem der Gegenkaiser belagert und durch Mangel an Lebensmitteln auf das Aeußerste gebracht. Man war schon nahe daran, sich zu übergeben, als ein glücklicher Einfall des Marsilius die Stadt rettete. Die Frauen mußten mit Karren und Geräth, als wollten sie Holz holen, zu einem Thore hinausziehen, und als dann, wie erwartet, die Feinde ihr Lager verließen, um sie zu fangen, fielen ihnen die Kölner in den Rücken und besiegten sie. Dieser Tag ist von den Kölnern unter dem Namen „Holzfahrttag“ alljährlich am Donnerstag nach Pfingsten bis auf die neueste Zeit gefeiert worden.
Der über den Hauptbildern hinlaufende Kinderfries ist im Zusammenhang mit dem Isabellenzug gedacht, enthält aber auch zugleich Beziehungen zu dem praktischen Zwecke des Saales, in welchem Vorlesungen, Concerte, Hochzeiten etc. abgehalten werden, und so umfassen die drei Felder der zweiten Hauptwand eine Darstellung des Mummenschanzes, welcher in natürlicher Folge sich bis zum ausgesprochenen Katzenjammer entwickelt. Das letztvollendete Bild, darum das noch am wenigsten gekannte, ist das, welches unsere Illustration wiedergiebt. Es stellt die Johannisfeier dar, wie sie Petrarca in einem Reisebericht beschreibt, welchen uns Karl Simrock mitgetheilt. „Das ganze Ufer,“ schreibt er, „war mit einer herrlichen Schaar von Frauen und Jungfrauen bedeckt, und der Sänger ,Laura’s’ erstaunte über ihre Schönheit. Ein Theil war mit wohlriechenden Ranken umgürtet, und mit zurückgestreiftem Gewande wuschen sie die weißen Arme und Hände im Flusse, wobei sie wohllautende Sprüche wechselten.“ Es war dieses Waschen ein uralter Gebrauch der Frauen, welche glaubten, alles im ganzen Jahre bevorstehende Elend dadurch wegzuspülen, so daß sie hofften, von den kommenden Tagen nur Frohes erwarten zu dürfen.
Wir müssen wiederholen, es ist zu beklagen, daß die Vollendung dieses Wandschmuckes so lange auf sich warten läßt.
Aus Ungarns Räuberleben.
Im Sommer des Jahres 1837 wurde Sóbri’s Adjutant Franz
Milfait, nachdem er in einem Gefechte gegen die Panduren eine
schwere Fußwunde erhalten und sich einige Zeit in einem Bauerngehöfte
des Bakonyer Waldes verborgen hatte, durch Verrath einer
Dirne gefangen und kam unter das Standrecht. Man befrug ihn
über Sóbri und wollte ihn bereden, dessen Aufenthaltsort anzugeben,
doch Milfait verweigerte es.
„Ich helfe mir dabei doch nicht,“ sagte er den Standrechtsrichtern, „man wird mich jedenfalls hängen, und Sóbri war mir ein zu guter Herr und Freund, als daß ich ihn verriethe. Zudem würde es Ihnen auch wenig nützen; ihn bekommen Sie doch nicht, er hat die Bande verlassen, als er erfuhr, daß man mich gefangen habe, er versprach mir, dies zu thun. Wenn Sie ihn auch je kriegen sollten, thun Sie ihm doch nichts, denn Sóbri ist der Sohn eines großen Herrn.“
Diese Worte Milfait’s wurden, wie seine ganze Aussage, zu Protokoll genommen und die Actenstücke darüber befinden sich noch jetzt im Archiv des Veszprimer Comitates, wo die Hinrichtung Milfait’s stattfand.
Es ist gewiß, daß nach Milfait’s Hinrichtung die Räubereien, obschon sie nicht ganz aufhörten, dennoch abnahmen, auch waren sie nicht so geschickt entworfen und ausgeführt, wie früher. Die Räuber wurden immer mehr auf ein engeres Terrain gedrängt und endlich im Februar des Jahres 1838 im Walde von Szekesö im Tolnaer Comitate von den kaiserlichen Uhlanen angegriffen und theils niedergemacht, theils gefangen genommen. Einer der Räuber, als er sah, daß kein Ausweg zum Entkommen sei, erschoß sich, so daß sein Gesicht ganz unkenntlich wurde; diesen hielten Viele für Sóbri, er war es aber nicht, sondern einer seiner Bande und zwar Pap Andor, obschon die Aussagen der gefangenen Räuber sich in dieser Beziehung widersprachen. So viel ist gewiß, daß weder Sóbri noch Pap Andor lebendig gefangen wurde, und da der Letztere niemals wieder zum Vorschein kam, so ist die Annahme, daß Sóbri die Bande gleich nach der Gefangennahme Milfait’s verlassen habe, die richtigere.
Ein weiterer Beleg hierzu ist der Umstand, daß der junge Graf, von dem sein Vater über ein Jahr nichts gehört, im Augustmonate in einem Badeorte, einem Besitz seines Vaters, plötzlich erschien; er kam dort mit zwei glänzenden Equipagen und drei wunderschönen Reitpferden au. Als sich sein Vater wunderte, wo sein Sohn dies Alles und noch achtzigtausend Gulden in Banknoten, die er ihm vorwies, nebenbei auch sehr kostbare Ringe, Uhren, Uhrketten etc. hergenommen habe, sagte der junge Graf lachend: „Dort her, wo der König sein Land.“
Im Jahre 1841 befand sich der junge Graf in Pest. Er lebte flott, machte Schulden, hatte eine Equipage, Reitpferde und war mit allen Cavalieren sehr intim, denn das Gerücht, er und Sóbri seien eine und dieselbe Person gewesen, wurde durch andere neuere verdrängt; man hielt ihn sogar nicht für energisch genug, um Stückchen, wie sie Sóbri begangen hatte, auszuführen. Er selbst aber strafte diese Gerüchte Lügen.
Ich befand mich in jener Zeit ebenfalls in Pest. Ein ehemaliger Jäger, der auch bei mir gedient hatte, bat mich, ihn Jemandem, der ihn in Dienst nehmen würde, zu empfehlen. Ich sagte ihm, er möge zum Grafen Joseph L… gehen; dieser suche, wie ich vernommen, einen Jäger. Der Bursche ging dahin und trat bei ihm in den Dienst. Ich begegnete ihm einige Zeit später und fragte ihn, ob er mit seinem Dienste zufrieden sei.
„Es mag hingehen; wenn er Geld hat, geht es einem gut, wenn nicht, dann hungert man. O, ich kenne ihn schon seit lange her, noch aus jener Zeit, als er Sóbri hieß und sich im Bakonyer Walde und in den Vérteser Gebirgen herumtrieb. Damals begegnete ich ihm einmal, er fand Gefallen an mir, denn ich that in seiner Gegenwart ein paar gute Schüsse; er wollte mich bereden, in seine Bande einzutreten, ich wollte es jedoch nicht, ich hatte keine Lust zum abenteuerlichen Leben, wo man am Ende doch gehangen wird. Jetzt ist’s etwas Anderes, jetzt ist er wieder Graf, obschon nicht so bei Casse, wie damals.“
„Sollte denn dies wirklich wahr sein?“ fragte ich ungläubig.
„Es ist so gewiß, wie das Amen im Gebet. Er beschenkte mich damals mit einem aus Lindenholz geschnitzten Trinkbecher, den ich noch gegenwärtig besitze.“
„Und es genirt ihn nicht, Dich bei sich zu halten, der Du ihn als Räuber gekannt hast?“
„Er nahm mich blos deswegen auf, verbot es mir aber, Jemandem darüber etwas zu sagen, daß ich ihn zu Devecser schon gesehen habe, denn dort war es, wo ich ihn als Hauptmann der Szegény legények (wörtlich: arme Kerle; diese Benennung führen die Bakonyer Räuber) antraf. Ich habe es auch Niemandem außer Ihnen gesagt, gnädiger Herr, und Sie werden mich sicherlich nicht verrathen. Ich werde es jedoch nicht lange bei ihm aushalten, entweder ich gehe ihm oder er geht mir durch.“
[399] Einige Monate darauf befand ich mich zu Devecser im Abaújvárer Comitate, im Hause des Herrn von Fáy, als der Graf L… ebenfalls hierher kam. Wir saßen Alle auf dem Balcone, als seine Equipage in den Hof fuhr. Das Stubenmädchen, welches soeben, von der Hausfrau citirt, zu uns herantrat, rief, als sie den Grafen erblickte, entsetzt aus: „Jesus Maria, das ist ja der Sóbri!“ Sie wurde dabei todtenbleich. Ihre Herrin nahm sie in’s Verhör; sie war aus der Gegend von Veszprim gebürtig und hatte Gelegenheit gehabt, den Räuber öfters zu sehen, und diesen erkannte sie in dem soeben angekommenen Gast.
Nimmt man alle diese sprechenden Umstände zusammen, so bilden sie ein nur zu starkes Conglomerat von Beweisen, daß der Graf Josef L… in seiner Jugend ein Räuberleben geführt habe. Wem fiel es aber jemals ein, als Kläger gegen den Grafen aufzutreten? Sein Vater war einer der reichsten und angesehensten Magnaten Ungarns, er würde seinen Sohn nicht haben stecken lassen. Die ganze Sóbri’sche Geschichte gerieth in Vergessenheit. Zu jener Zeit konnte so etwas noch angehen, heutzutage würde es schwerer fallen, eine ähnliche Sache zu vertuschen. Damals war der Adelige ziemlich straffrei; man mußte ihn bei einer That erwischen, um ihn vor Gericht ziehen zu können, ja es ereigneten sich sogar Fälle, wo der Adelige auf frischer That ertappt wurde und dennoch mit heiler Haut davonkam. –
Nicht minder berüchtigt als Sóbri war der Betyár Rósza Sándor, der sich zu einer historischen Celebrität emporschwang. Nicht als ob er kühnere Thaten verübt hätte, als irgend einer der von mir zu Anfang dieser Bilder angeführten Räuber, sondern weil er das Räuberleben mit dem eines Guerillaführers vertauscht hatte. Im Sommer des Jahres 1848, als der Krieg gegen die Raizen in der Bácska ausgebrochen war, hielt Rósza Sándor um eine Amnestie bei der ungarischen Regierung an, welcher er sich und seine berittene, achtzig Mann starke Betyárenbande als Freiwillige zur Verfügung stellte; er erlangte sie auch und hielt seinen Einzug zu Szegedin, woraus er in’s ungarische Lager gesendet wurde. Diese Bande that sich in offenen Feldschlachten niemals stark hervor, sie war nur gut bei kleinen Scharmützeln, bei Ueberfällen, zum Fouragiren; doch sie hielt ziemlich streng auf Mannszucht und man hatte keine Ursache, sich über sie zu beschweren. Sie machte den Krieg in der Bácska mit und kam später unter Dembinski’s Commando, endlich aber unter dasjenige Görgey’s.
Nach der Waffenstreckung des Letzteren bei Világos am 13. August 1849, hatte sich die Bande Rósza Sándor aufgelöst.
Von Görgey bethört und in dem Wahne, Rußland werde sich mit den Ungarn gegen Oesterreich verbünden, hatten sich die Allermeisten der Görgey’schen Armee den Russen ergeben. Dennoch fanden sich Einzelne, die heller sahen, als die Uebrigen, und es vorzogen, sich entweder bis nach Komorn durchzuschlagen, oder wie dies nach Beendigung der meisten Feldzüge, zumal nach Revolutionen, zu geschehen pflegt – Freibeuterbanden zu bilden und den Krieg auf eigene Faust fortzusetzen. Zu den Ersteren, zu jenen, die nach Komorn zu kommen trachteten, um hier den Ausgang der Revolution abzuwarten, gehörte ich und auch andere meiner Freunde. Wir konnten es jedoch nicht wagen, in Karawanen zu reisen; Jeder that es für sich, so gut er es konnte, denn es war keine Kleinigkeit, eine Strecke von fünfundsechszig Meilen, wo man sich überall durch die Lager der Russen und Oesterreicher durchschleichen mußte, zu durchwandern. Ich kannte jedoch alle Straßen im Lande sehr genau und machte mich auf den Weg.
Zwischen Berettyó-Szent-Márton und Berettyó-Ujfalu begegnete ich einem reisenden Bauer. Ich hatte nur zu Keresztes-Püspöki einen Wagen genommen und lud den Mann ein, mit mir zu reisen, denn er schien mir sehr ermüdet. Als er aufblickte, erkannte ich in ihm sofort den ehemaligen Betyár und zuletzt Guerillamajor Rósza Sándor. Er nahm mein Anerbieten an und setzte sich an meine Seite. Obschon er mit mir gleich im Range war, erkannte er doch den Abstand, den Geburt und Erziehung zwischen uns gezogen hatten: er wollte mich nicht „Du“ nennen, wie dies in der ganzen österreichischen Armee bei allen Officieren von gleichem Range Brauch ist, ich mußte ihn dazu nötigen.
„Was gedenkst Du zu unternehmen?“ fragte ich ihn.
„Ich werde meine Leute wieder finden, wir fangen den Krieg von Neuem an!“ entgegnete er.
„Trachtet nach Komorn zu kommen!“
„Zu Klapka – ah, der wird’s auch nicht besser machen, als der Verräther Görgey; er ist im Stande, mich und meine Leute den Oesterreichern auszuliefern.“
„Dies ist aber das ungünstigste Terrain für einen Guerillakrieg, die offene Haide, man sieht Euch ja auf tausend Schritte.“
„Im Gegentheil, für Leute wie ich und die Meinigen ist es das beste; denn erstens ist mir das Landvolk hier überall zugethan, ich kann mich verpflegen, die Leute haben Getreide in großer Menge; ferner sind die Ortschaften von einander sehr entlegen, die Feinde können uns niemals erwischen, denn wir besuchen niemals größere Ortschaften, und geschieht es ja, so wissen wir, ob sie von unseren Feinden und wie stark sie besetzt sind; wir können sie leicht überfallen. Werden wir hingegen stark gedrängt, so finden wir in den sumpfigen Gegenden bessere Rückzugspunkte und Schlupfwinkel, als in Wäldern und Gebirgen, wo wir am Ende doch ausgehungert werden können.“
Rósza Sándor stieg vor der Stadt Debreczin vom Wagen herab.
Seine späteren Räubereien tragen zumeist ein politisches Gepräge; niemals beraubte er Jemand, von dem er wußte oder auch nur ahnte, daß er der Sache Ungarns zugethan und ein Revolutionsmann gewesen sei; es ist sogar gewiß, daß er mehreren im Lande sich verbergenden Patrioten Mittel an die Hand gab, aus Ungarn in’s Ausland zu entkommen, und daß er auch den nach Ungarn gesendeten Emissären Kossuth’s seine Dienste anbot.
Er verband sich gleich nach seinem Entkommen aus Világos mit Joseph Geszten, einem der energischsten und stärksten Betyáren. Dieser Joseph Geszten war einer der schönsten Männer, die ich jemals gesehen. Er gerieth noch vor der Revolution in Gefangenschaft; man ließ ihn im Februar frei und er erhielt den Auftrag, Moritz von Szentkirályi, Havas, Máthus, und selbst den Fürsten Windischgrätz, wenn er ihnen beikommen könnte, niederzustechen; man versprach ihm dafür einen Hut voll Ducaten. Im ersten Augenblick ging Geszten auf den ihm gemachten Vorschlag ein; sowohl das Wiedererlangen seiner Freiheit, als das Gold reizte ihn; doch später reute es ihn. Er kam zu mir nach Erlau, wo ich Regierungscommissär war.
„Das ist keine Aufgabe für mich,“ sagte er; „Jemand aus dem Hinterhalt zu erstechen, das mag gut sein für Walachen, aber nicht für einen Ungar. Ich habe es den Herren in Debreczin zugesagt, kann es aber nicht halten. Sie sind hier Regierungscommissär, schicken Sie mich gebunden zurück, denn ich mag kein Meuchelmörder werden!“
Ich übergab ihn einem Courier, den ich nach Debreczin entsendete; Geszten benutzte die Gelegenheit nicht, um zu entwischen, denn er hatte mir darauf sein Wort gegeben; deshalb ließ ich ihm keine Fesseln anlegen. Als er jedoch nach Debreczin kam, wurde er auf Kossuth’s Befehl, dem ich zu Gunsten Geszten’s eiligst geschrieben hatte, frei gelassen. Uebrigens hatte Geszten viel von seiner ehemaligen Energie und Kraft eingebüßt; er war durch einen Schuß im Halse schwer verwundet, so daß ihn Rósza Sándor nicht viel benützen konnte.
Alle die damals im Lande zerstreuten Banden erkannten auch später niemals einen Andern denn Kossuth als Staatsoberhaupt an und empfingen durch seine Emissäre die gemessensten Verhaltungsbefehle; diese waren jedoch mehr verbietend als gebietend, es wurde ihnen niemals geheißen, Diesen oder Jenen zu berauben, sondern verboten, sich an dem Eigenthums wahrer Patrioten zu vergreifen.
Zur Zeit, als man in Komorn mit den Oesterreichern über die Uebergabe dieser Festung unterhandelte, war der Regierungscommissär Kaspar von Noszlopy, aus einer der urältesten adeligen Familien Ungarns, noch aus Arpád’s Zeiten (im zehnten Jahrhundert n. Chr.), in Veszprim geblieben, um hier für die Besatzung von Komorn Recruten zu werben. Er fand keine Gelegenheit, sich wieder in die Festung einzuschleichen, und blieb draußen. Auch er gehörte unter die Proscribirten Haynau’s. Aus den angeworbenen Recruten bildete er eine Guerillabande und hielt sich mehrere Jahre im Bakonyer Walde mit bestem Erfolge. Von ihm hatte Rósza Sándor ebenfalls Befehle erhalten, sie fanden sogar einmal Gelegenheit, ihre Banden zu verbinden, und da war es, als sie mit den kaiserlichen Jägern und Gensd’armen zusammengeriethen; es kam zu einem äußerst mörderischen Gefechte zwischen Abony, Nagy-Körös und Kecskeméth; die Guerillas hatten den Vortheil des Bodens, den sie genau kannten, für sich, [400] der größte Theil der Kaiserlichen wurde hier niedergemetzelt. Diejenigen, welche von den Betháren aufgegriffen wurden, ließ Rósza Sándor oder, wie Andere behaupten, Noszlopy aufknüpfen, es sollen sechsundzwanzig (? d. R.) gewesen sein, für jeden der durch die Oesterreicher hingerichteten Ungarischen Generale zwei Oesterreicher. Die Nachrichten über dieses Gefecht wurden von der kaiserlichen Regierung so gut wie möglich vertuscht, dennoch erfuhren wir in London Alles, trotzdem daß die österreichischen und ungarischen Zeitungen hierüber das tiefste Stillschweigen beobachteten. Rósza Sándor ließ einmal die kaiserlichen Gensd’armen hart an sich herankommen, es war vor dem Thor des Hortobágyer Wirthshauses; erst als sie auf Sprachweite waren, rief er ihnen ein „Eljen Kossuth!“ zu, schwang sich in den Sattel und war davon gesprengt.
Bis zum Jahre 1853 stand Rósza Sándor sowohl mit Noszlopy als mit Kossuth selbst – mit letzterem freilich nur mittelbar - in Verbindung; es ist gewiß, daß sowohl der Erstere als der Letztere von Kossuth Ernennungen, und zwar Noszlopy als Statthalter von Ungarn, Rósza als General, erhielten, wogegen alles das, was über die von ihm begangenen oder auf sein Geheiß vollzogenen Mordthaten geschrieben und gedruckt wurde, in den Bereich der Unwahrheiten gehört; es hat sich niemals herausgestellt, daß er selber Jemanden ermordet hätte, kein einziger der Zeugen, die ihm bei seinem Verhöre entgegengestellt wurden, sagte es, und nur diesem Umstand hat er es zu verdanken, daß die vom Gerichtshöfe gegen ihn ausgesprochene Todesstrafe auf dem Wege der Gnade in jene der lebenslänglichen Gefangenschaft verwandelt wurde. Auf welche Art er in die Hände der Gensd’armen gerieth, wie er verurtheilt worden, wo er gefangen sitzt, wenn das Gerücht seiner Begnadigung falsch sein sollte, sind zu allgemein bekannte und durch Zeitungen veröffentlichte Thatsachen, als daß sie hier neuerdings aufgewärmt werden sollen. Rósza Sándor überlebte die meisten seiner Genossen, wie den Regierungscommissär Noszlopy, welcher im Jahre 1854 hingerichtet wurde, Joseph Geszten, welcher im Comitätskerker zu Nagy Kálló starb, Patkó, der im Jahre 1863 gefangen und hingerichtet wurde, und endlich den alten Bogár und sechs seiner Söhne, welche ebenfalls theils standrechtlich hingerichtet wurden oder im Kampfe gegen die Gensd’armen und Comitatspanduren fielen.
So sind wohl auch die meisten übrigen der damaligen Betyáren gefallen; doch das Betyárenthum selbst besteht noch jetzt. Ob es aber einem geregelteren Staatsleben und geordneteren Rechtsschutz, wie die jüngste Zeit Beides mit dem gesammten österreichischen dem Volk und Lande der Ungarn verheißt, Trotz bieten wird? Darüber hat die Zukunft allein zu entscheiden.
Blätter und Blüthen.
Die Hofkirche zu Gotha ein Gretna-Green. Dr. August Beck erzählt in seiner so eben erschienenen Geschichte der Regenten des gothaischen Landes folgenden Zug der Freisinnigkeit des regierenden Herzogs Ernst von Coburg-Gotha in Kirchensachen: Als im Jahre 1857 preußische Geistliche im Widerspruch mit dem preußischen Landrecht sich weigerten, gerichtlich geschiedene Eheleute bei einer zweiten Verheirathung einzusegnen, und selbst der preußische Oberkirchenrath Bedenken trug, einer solchen zweiten Ehe die kirchliche Sanction zu ertheilen, bat ein preußischer Beamter das Oberconsistorium zu Gotha, ihm zu gestatten, daß seine zweite Trauung in der Hofkirche zu Gotha vollzogen werde. Der Staatsminister von Seebach, der in der Sache mit dem Oberconsistorium einverstanden war, legte dieselbe doch dem Herzoge zur endgültigen Entscheidung vor, mit dem Bemerken, daß die Gestattung der Bitte nicht ohne Consequenzen bleiben, die Hofkirche vielmehr in deren Folge zu einem Gretna-Green werden könne. An den Rand dieser Vortragserstattung, schrieb der Herzog eigenhändig: „Die vorgetragene Angelegenheit gehört in den Bereich der Fälle, wo die protestantisch-ultramontane Kirche ungeachtet der gesetzlichen Bestimmungen neue Regeln aufzustellen sich bemüht und die gewichtige Hand ihrer Macht die einzelnen Individuen nach Willkür fühlen läßt. Ich halte es von dem von mir eingenommenen Standpuncte aus für eine freudige Pflicht, nicht nur offen jener Kirchenpartei entgegenzutreten, sondern auch in Fällen wie der gegenwärtige den unterdrückten Glaubensgenossen Beistand zu leisten. Stehen bei uns keine gesetzlichen Bestimmungen entgegen, so mag in Gottes Namen die Hofkirche ein Gretna-Green werden.“
Und sie wurde es für viele geschiedene Eheleute, die im preußischen Staate die kirchliche Sanction zu ihrer Wiederverheirathung nicht erlangen konnten.
Eine Freundschaft auf – Gegenseitigkeit. Mein Bruder, ein
Oekonom in der Nähe Leipzigs, besitzt zur nächtlichen Bewachung seines
Besitzthums einen Kettenhund, der sich durch seine Wildheit ebenso sehr, wie
durch seine Abneigung gegen alle anderen Thiere des Gehöftes, besonders
das Federvieh, bemerklich macht. Hinsichtlich letzterer Eigenschaft jedoch
macht er zum nicht geringen Erstaunen der Hausbewohner bei einer Henne
von ganz gewöhnlichem Schlage eine Ausnahme. Nicht blos, daß genannter
Hund derselben gestattet, an seiner jedesmaligen Mahlzeit zu participiren, er
schenkt ihr auch seine Freundschaft im Umgang und seinen Schutz in der Hütte.
Diese auffallende Erscheinung klärte sich endlich nach langer Beobachtung durch folgende interessante Thatsache auf. Jene so bevorzugte Henne nämlich fand dann besonders Schutz und Aufnahme in der Hütte, wenn sie – gewöhnlich am Vormittage – ein Ei zu legen beabsichtigte. Freundlich bewillkommnet schlüpft sie alsbald in die Hütte, wo sie im hintersten Theile derselben sich ein Nest, so gut es immer geht, bereitet, der Hund aber - legt sich an den Ausgang der Hütte, um seine Freundin den Blicken habsüchtiger Menschen zu entziehen. Ist das Ei gelegt, so verzehrt er es schnell und entläßt dann seine Freundin mit allen Zeichen der Freude und Erkenntlichkeit, deren ein Hund ja in so reichem Maße fähig ist. Die Henne aber fordert darauf beim Mittagsbrod von ihrem Freunde ein ähnliches Aequivalent, das ihr auch gern gewährt wird.
Die Wallfahrt zum Schillpark bei Braunschweig ist eine freie Huldigung der Vaterlandsliebe, welche an jedem einunddreißigsten Mai – Schill’s Todestage – viele Bewohner der herzoglichen Welfenstadt vereinigt, um „Deutschlands trüber Zeit“ und ihrer unglücklichen Opfer zu gedenken. Das Denkmal, welches im Jahre 1836 Schill und den hier standrechtlich erschossenen vierzehn Männern und Jünglingen seiner Schaar (vergl. diesen Jahrg. S. 158) errichtet worden ist, wird sammt Capelle und Wächterhäuschen von einem kleinen Parke umgeben. Das Thürmchen der Capelle trägt eine Glocke, welche alljährlich an Schill’s Todestage Morgens, Mittags und Abends, jedes Mal in drei Pausen, geläutet wird. Bis jetzt ist ihr Laut noch nie vergeblich erklungen: Park und Capelle werden nicht leer an diesem der Erinnerung ihrer Todten geweihten Tage. Den Hauptschmuck des Inneren der Capelle bilden Neben der trefflichen Bronzebüste Schill’s die lebensgroßen Oelbildnisse des Erzherzogs Johann, Andreas Hofer’s und des Herzogs Friedrich Wilhelm von Braunschweig. Außer allerlei Waffen- und Uniformstücken, Briefen, Wappen der Schill’schen Officiere und sonstigen Erinnerungszeichen an jene Zeit, die in der Capelle aufgehoben werden, birgt das Piedestal des Denkmals Schill’s Haupt, während sein Körper in einem Friedhofe Stralsunds vermodert:
Für die Herausgabe von Schill’s Haupt aus der anatomischen Sammlung zu Leyden, wo es bekanntlich fast ein Vierteljahrhundert in Spiritus aufbewahrt und als Rarität gezeigt worden, sowie für die Herstellung des Denkmals und seines Parks und der Sammlung für die Capelle hat sich die größten Verdienste ein Mann erworben, der ebenfalls nicht vergessen werden darf: Herr v. Bechelde. Ihm hat noch mancher der eisgrauen Helden des Kampfes vom Jahre Neun die Hand dafür gedrückt, und einem jener Männer, Herrn E. Heusinger, Officier a. D. in Braunschweig, verdanken wir die Mittheilung dieser Kunde.
Erklärung. Wie uns von mehreren Seiten mitgetheilt wird, findet sich in verschiedenen süddeutschen Blättern das nachstehende Inserat:
wird nachgewiesen, wie sich ein Jeder, vermittelst eines ‚Geheimnisses’ und einer ,höchstwichtigen Erfindung’ mit 35 fl. alljährlich ein sicheres Einkommen von mindestens 1000 fl. verdienen und ersparen kann.
Briefe franco an
Nachschrift: Die Erfindung ist von der Gartenlaube zu Leipzig zur Ueberzeugung, daß die Sache auf größter Reellität beruht, theilweise angekauft und durch dies weit verbreitete Blatt außer Nord-Deutschland in Polen, Schweiz, Holland, Süd-Rußland etc. eingeführt. Hochachtungsvollst
Wir sehen uns hierdurch genöthigt, die Angabe des Herrn Marquard, als haben wir sein „Geheimniß theilweise angekauft“, als eine freche Lüge, zu erklären und zu versichern, daß wir bereits die nöthigen gerichtlichen Schritte veranlaßt haben, einem solchen unverschämten Mißbrauche unseres Namens zu begegnen.
- ↑ Es war der Friede von Lunéville (1802). Prinz Louis Ferdinand, der Vetter des jungen Königs, hatte heftig gegen denselben geeifert und den König beschworen, diesen Frieden mit der Republik Frankreich nicht abzuschließen, sondern das Schwert zu erheben gegen Bonaparte, den ersten Consul. Als der König die Wünsche seines leicht erregten Vetters zurückwies, hatte dieser zu den leidenschaftlichsten Aeußerungen sich hinreißen lassen. Der König indessen hatte ihn nicht dafür zur Rechenschaft gezogen, sondern dem Prinzen befohlen, sich nach Magdeburg in seine Garnison zu begeben.
- ↑ Der Dichter war vom Festcomité zur Theilnahme an dem großen deutschen Sängerfeste in Chicago eingeladen worden, konnte aber dem Rufe nicht folgen und sendet durch die Gartenlaube diesen schwungvollen Sängergruß über den Ocean hinüber. D. Red.
Anmerkungen (Wikisource)
- ↑ Vorlage: Luneville
- ↑ Gemeint sind Christian Ludwig Brehm und Alfred Brehm.