Die Gartenlaube (1868)/Heft 26
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No. 26. | 1868. | |
Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.
„Seid wohl schon drüben in der ‚rothen Birne‘ gewesen,“
fragte Meister Kleemann den jungen Menschen, „und habt Einen
über den Durst genommen?“
„Nein, Meister, – ich habe noch gar nicht getrunken und es ist mein Ernst: ich möchte bei Euch in die Lehre gehen. Nicht als Lehrbursche, – ich möcht’ nur ein Bischen von Eurem Handwerk lernen, so ein paar Kunstgriffe. Ich möchte es verstehen, das glühende Eisen auf dem Ambos zu bearbeiten und einen tüchtigen Brettnagel zu schmieden. Wollt Ihr mich annehmen zu Eurem Lehrburschen? das heißt, verstehen wir uns wohl: ich komme alle Tage zwei Stunden in Eure Schmiede, Ihr lehrt mich ein Wenig von Eurem Handwerk und ich zahle Euch dafür die Stunde, so viel Ihr wollt.“
„Scheint ein unbändig reicher Monsieur zu sein,“ sagte der Meister mit etwas gemilderter Stimme. „Wozu wollt Ihr denn durchaus lernen einen Brettnagel zu schmieden?“
„Weil man auf der Welt so viel als möglich lernen muß, Meister, und weil es mir eben so gefällt. Ich habe in der Mark ein kleines Gut und das will ich später bewirthschaften. Und da ist es nöthig, daß man Alles kann und seinen Leuten mit gutem Beispiel voranzugehen vermag. Das sagte mein Vater immer, und ich bin ein guter Sohn und thue gern, was mein Vater sagt. – Habe ich da nicht Recht, Jungfer Cläre? man muß thun, was die Eltern von ihren Kindern verlangen.“
Jungfer Cläre antwortete nicht, sondern fuhr eifriger mit dem Schneiden ihrer Bohnen fort.
Meister Kleemann nickte aber gravitätisch. „Darin hat Er sehr Recht, und meine Tochter kann von Ihm lernen, daß Kinder ihren Eltern gehorsam sein müssen.“
„Nun, und wie steht’s, will der Meister mich lehren, einen guten Brettnagel zu schmieden?“
Meister Kleemann nickte gravitätisch. „Will’s Ihn lehren, schon darum weil Er’s lernen will seinem Vater zu Gefallen. Ja, Er kann alle Tage zwei Stunden zu mir kommen in die Schmiede. Aber, versteht Er mich wohl, nicht in dem Anzuge da! Wer in die Schmiede eintreten will und lernen, der muß als ein ordentlicher regulärer Schmied erscheinen – mit dem ledernen Schurzfell vor und ordentlich und adrett angezogen, wie ein Schmiedegesell bei der Arbeit. Hat Er einen Anzug bereit?“
„Nein, Meister, das nicht! Aber morgen soll er bereit sein. Und das verspreche ich Euch, Ihr sollt mit mir zufrieden sein; – versteht sich vorläufig, was meinen Anzug anbetrifft.“
„Und was gedenkt der Monsieur mir für die Stunde zu geben?“ fragte der Meister.
„Was Ihr fordert, Meister. Macht Euren Preis!“
„Nun,“ sagte der Meister nach kurzem Besinnen, „ich denke, vier Groschen für die Stunde wird nicht zu hoch gerechnet sein. Denn Er wird mir anfangs manches Stück Eisen verderben, daß man es wieder in die Esse legen wird.“
„Vier Groschen ist durchaus nicht zu viel,“ erwiderte der junge Mann ernsthaft. „Ich zahle es Euch mit Vergnügen, wenn ich nur etwas Tüchtiges lerne. Und ich kann dann so viel Stunden, wie ich Lust habe, in Euerer Schmiede sein? Wir berechnen die Stunden.“
„Ja, Monsieur, wir berechnen die Stunden, und wenn’s Ihm recht ist, bezahlen wir täglich.“
Der junge Mann lachte laut auf. „Aha! Ihr denkt, ich könnte Euch eines Tages davon laufen, ohne zu bezahlen. Da habt Ihr Recht, man muß immer vorsichtig sein. Wir bezahlen täglich, ehe ich aus der Schmiede und aus dem Garten hinaus komme, – denn ich darf doch zuweilen in Eurem Garten sein?“
„Nein!“ rief Cläre aus der Laube heraus, „nein, das darf Er nicht, Monsieur! Der Garten ist mein, und der Vater hat gar nichts darüber zu sagen, denn ich halte den Garten in Ordnung und es wäre mir gar nicht recht, wenn Er hinein käme. Ist so schon jetzt ohne Erlaubniß hier. Der Weg nach der Schmiede geht neben dem Zaune entlang und über den kleinen Seitenweg da.“
Der junge Mann trat zu der Laube hin, nahm seinen Hut ab und sich tief verneigend sagte er ehrerbietig: „Gnädiges Schloßfräulein von der Laube, ich bitte um Entschuldigung. Werde mich niemals wieder unterstehen, in das Allerheiligste einzutreten, ohne dazu Erlaubniß zu haben.“
„Ich denke, es wird wohl ein Komödiant sein,“ murmelte der Meister vor sich hin, indem er sein Lederkäppel ein wenig seitwärts auf das Haupt drückte und bedenklich zu dem jungen Mann hinüber schaute. „Sicherlich ein Komödiant, solche Leute haben manchmal verrückte Einfälle.“
Cläre dacht’s vielleicht auch, daß er ein Komödiant sei, denn es hatte in ihrem Leben ja noch kein Mensch so zu ihr gesprochen, und nur auf dem Theater, das sie einmal in Magdeburg gesehen, als sie hinüber gegangen mit dem Vater, nur da hatte sie einen Liebhaber so zu seiner Liebsten sprechen hören. Das war ein Räuber gewesen, der sich als Graf verkleidet und in’s [402] Schloß eingeschlichen hatte. An den mußte die Cläre denken, wie der junge Mann sich tief vor ihr verneigte und so ehrerbietig sprach. Aber es schmeichelte ihr doch und wider ihren Willen umspielte ein Lächeln ihre frischen Korallenlippen.
Er sah es, als er jetzt seine braunen Augen zu ihr emporhob, und er lächelte auch und nickte ihr zu, daß sie tief erröthend versuchte ernsthaft zu sein und es doch zu ihrem eigenen Aerger nicht konnte.
„Ihr erlaubt es doch, gnädiges Fräulein von der Laube, daß ich noch ein klein Bissel in dem Garten bleiben kann?“ fragte der junge Mann mit ehrerbietiger Stimme. „Die Levkoyen hier und der Goldlack duften gar so prächtig, und mir scheint, die Schmetterlinge, die hier so lustig um die Laube flattern, sind blos um Euretwillen gekommen und sind Eure verkleideten Pagen, welche Euch die Grüße von den Engeln im Himmel herniederbringen.“
„Jetzt ist es klar, er ist ein Komödiant,“ brummte Meister Kleemann, gravitätisch mit dem Haupte nickend. „Mau muß Acht haben auf ihn, denn solches Volk ist gar zu frech, und wer weiß, was er im Schilde führt. – Wie heißt Ihr denn, Monsieur? und bei welchem Namen soll ich Euch nennen und in das Buch eintragen?“
„In welches Buch?“ fragte der junge Mann sich rasch umwendend zu Meister Kleemann.
„Nun, in das Lehrbuch, in welches ich Jeden einzeichne, der bei mir in der Schmiede lernt, und dann muß ich Euch ja such anmelden bei der Hochlöblichen Polizei.“
„Glaub’ nicht, daß das nöthig ist,“ erwiderte der junge Mann rasch. „Ich wohne im Gasthof und habe bei dem Gastwirth mich schon legitimirt, und da will ich auch ferner bleiben. Was aber Euer Buch anbetrifft, so schreibt nur hinein: Ludwig Preuß.“
„Schön, Ludwig Preuß. Und woher?“
„Aus Berlin. Mein Vater ist Hausbesitzer.“
„Ich denke, Ihr habt ein Gut in der Mark?“ fragte der Meister ein wenig argwöhnisch.
Der junge Mann nickte. „Ein Bauergut in der Mark und ein Haus in Berlin.“
„Da müßt Ihr ja höllisch reich sein,“ sagte der Meister Kleemann kopfschüttelnd, „und es wundert mich wirklich, daß Ihr das Schmiedehandwerk erlernen wollt. Es würd Euch überdies schwer werden, Eure Hände sind so weich.“
„Sie werden schon hart und schwielig werden,“ lachte der junge Mann, „wenn ich den Hammer führe und die Zange in der Hand halte. Nicht wahr, Meister Kleemann? dafür ist keine Noth, sie werden schon schwielig werden. Es können ja auch nicht alle Hände so sein wie die von Jungfer Cläre, so rein, so appetitlich und nett.“
Und ohne weitere Umstände trat der junge Mann in die Laube ein, nahm die Hand des jungen Mädchens zu ihrem größten Schrecken in die seine und drückte einen Kuß auf dieselbe. Sie entriß sie ihm hastig.
„Scheint mir ein schöner Wildfang zu sein,“ brummte Meister Kleemann. „Man wird Acht auf ihn haben müssen und er soll mir nicht oft im Garten sein. Aber vier Groschen für die Stunde ist doch auch eine hübsche Sache, und man wäre ein Narr, wenn man es sich entgehen ließe von so einem Narren, wie der mir zu sein scheint.“
Am nächsten Morgen in der Frühe trat der junge Mann „im regulären Schlosseranzug“ in die Schmiede ein. Meister Kleemann betrachtete. ihn mit prüfendem Blick und dann nickte er. Es war allerdings nichts auszusetzen an dem Anzüge, nur daß er im Ganzen feiner, zierlicher und eleganter aussah, als es sich eigentlich für einen Schmiedegesellen geziemt. Das lange, graue Beinkleid war von feinem Stoff, das Schurzfell war funkelnagelneu, und wie es so fest um die Taille geschnürt war, sah man, wie schlank und stark und prächtig diese Taille war. Noch niemals war ein Gesell in die Schmiede gekommen mit einer so prächtigen Weste von dunkelbrauner Seide, die im Rücken gerade so mit Seide gemacht war, wie vorn aus der Brust. Und die Hemdärmel, die aus der Weste hervorsahen, waren so fein und so puffig und bauschig, wie man es auch im Leben von einem Schmiedegesellen noch nie gesehen hatte, und was das für eine Mähne von dunkelbraun lockigen Haaren war, welche das hübsche Angesicht und die rothen Wangen umgab, und wie klug die braunen Augen dreinschauten, so fröhlich und so muthig!
Es war ein Vergnügen, einen solchen Schmiedegesellen anzusehen, und dem Meister selbst lachte das Herz im Leibe, als der junge Mensch mit so frischer und so froher Miene zu ihm herantrat, ihm die Hand bot und ihm guten Morgen wünschte.
„Verdammt weich sind Eure Hände, Mosje Preuß,“ sagte der Meister kopfschüttelnd. „Es wird Euch wehe thun und Schwielen machen, wenn Ihr den Hammer in die Hand nehmt.“
„Es thut Manches wehe, wenn man’s zuerst angreift,“ sagte der junge Mann mit munterer Stimme. „Aber man gewöhnt sich auch an Alles. Gebt nur den Hammer her und lehrt mich, was ich zu thun habe.“
Die Gesellen mit ihren rußigen Gesichtern schauten anfangs wohl verächtlich drein auf den geschniegelten, feinen Mosje, der sich unterstehen wollte, Schlosser zu werden mit den weißen, feinen Händen und den feinen, weißen Hemdsärmeln dazu.
Freilich, Kraft genug konnte er wohl dazu haben, denn groß gewachsen war er und breit gebaut, und stark waren die Schultern, aber die Hände, die weißen Hände!
Es war doch ein Scandal, daß so ein Mensch glaubte, den Hammer führen und das Eisen schmieden zu können. Meister Kleemann schien indessen sehr bemüht um den Mosje, der als Lehrjunge in die Schmiede eingetreten war, denn ein Lehrjunge, nichts als ein Lehrjunge, konnte er doch sein. Er bedeutete dem Obergesellen, der seinen Platz neben dem Meister hatte, sich weiter hinten an den Ambos zu stellen, der sonst nicht gebraucht ward, und dem fremden Mosje, dem wies er den Ambos an. Die Gesellen thaten alle, als sähen sie ihn gar nicht, hatten alle die Blicke auf ihre Arbeit niedergesenkt und schmiedeten das glühende Eisen.
Es würde sie geärgert haben, wenn sie gesehen hätten, mit welchen frechen, lustigen Blicken der Mosje sie anschaute und wie er Gefallen zu finden schien an der rußigen Schmiede und an dem blutrothen Feuer in der Esse.
„Jetzt, Ludwig Preuß,“ sagte der Meister mit würdevoller Miene, „jetzt nehme Er sich zusammen, denn jetzt geht’s los. Sieht Er da die Stange im Feuer, die so roth ist?“
„Ich sehe sie, Meister, sie sieht aus, als hätte des Teufels Großmutter sie eben zum Umrühren ihres Kaffees gebraucht.“
Der Meister sah mit zürnenden Blicken zu ihm auf. „Hör’ Er, Ludwig Preuß, die Witze, die lasse Er hier, die kann Er draußen verschenken an den, der sie mag; in der Schmiede ist man hübsch ehrbar.“
„Werd’s mir merken, Meister!“ erwiderte Ludwig Preuß ganz ehrerbietig, „gebt mir die Zange, daß ich die Eisenstange nehme.“
Der Meister reichte ihm die große Riesenzange dar und Ludwig Preuß nahm sie mit kräftigem Griff und trat an die Esse heran. Da erschallte rings umher in der Schmiede ein lautes Gelächter.
„Ein netter Kerl, wahrhaftig. Kommt so großnasig hierher und weiß von nichts!“
Und wieder tönte das höhnische Lachen der Gesellen und Burschen, und sie hielten einen Augenblick an in ihrer Arbeit und im Hämmern und schauten über die Ambose gelehnt hin zu dem Kecken, der da an der Esse stand und sein lachendes Gesicht zu ihnen umwandte und gar nicht empört und beleidigt war von ihrem Lachen.
„Nun, was giebt’s, Ihr Jungens? Warum lacht Ihr mich aus?“ rief Ludwig Preuß fröhlich.
„Jungens?“ riefen die Gesellen, „wie kommt der Bengel dazu?“
„Still, Ihr Alle, still!“ gebot der Meister, „Und Er, Ludwig Preuß, verhalt’ Er sich still und mucks’ Er sich nicht! Die Kücken, die eben aus dein Ei gekrochen sind und noch die Eierschale auf der Nase tragen, die dürfen sich nicht mucksen.“
„Hochehrwürdiger Meister,“ sagte der junge Mann mit drolliger Miene, „halten zu Gnaden, bin ich ein solches Kücken mit der Eierschale auf der Nase?“
„Natürlich ist Er’s und ich will Ihm ’jetzt sagen, was Er für eine Dummheit gemacht hat. Wenn man das glühende Eisen aus der Esse holt, thut man’s nicht mit der rechten Hand, denn die hat den Hammer zu führen, man nimmt die Zange in die [403] linke Hand, sieht Er, so, und da packt man nun das Eisen, sieht Er, wie ich’s jetzt mache, und dann schwingt man’s auf den Ambos.“
Und der Meister hob mit kräftigem Arm die glühende Eisenstange mit der Linken aus der Esse, schwang sie durch die Luft, daß sie einen glühenden Kreis beschrieb, und legte sie nun auf den Ambos nieder.
„Jetzt fast Er an, Ludwig Preuß, hier ist der Hammer.“
„Schön, ich fasse an,“ sagte Ludwig Preuß und nahm die Zange, aber ließ den Hammer liegen, nahm mit der Zange die glühende Eisenstange, hob sie empor, ließ sie einen Kreis schwingen und legte sie wieder in die Esse.
„Was soll das bedeuten?“ fragte der Meister.
„Das soll bedeuten, Meister, daß, wenn man ein Werk thun will, man es auch zuerst angreifen muß mit eigener Hand,“ rief der junge Mann frohgemuthet, und nun faßte er mit der Zange die Eisenstange wieder empor, ließ sie, gleich dem Meister, einen glühenden Kreis schwingen, und da lag sie jetzt auf dem Ambos, und dann hob er den Hammer.
Die Gesellen, die vorher höhnisch zu ihm hingeblickt hatten und gedacht haben mochten, er würde das schwere Eisen nicht heben können, die sahen jetzt ganz ernsthaft drein und keiner wagte zu lachen.
„Was geschieht nun, Meister, was hat man weiter zu thun, um einen Brettnagel zu schmieden?“ fragte der neue Lehrbursche.
„Man nimmt den Hammer und bearbeitet das glühende Eisen links und rechts, daß die Funken fliegen, und macht es spitz.“
Und rechts und links, daß die Funken davon flogen, bearbeitete Ludwig Preuß das Ende des glühenden Eisens und machte es spitz. Dann schaute er zu, wie der Meister, der neben ihm stand und es auch so machte, das dünn zusammengeschlagene und gespitzte Ende der Eisenstange auf die kleine Schneide emporhob und mit dem Hammer darüber hieb, daß das gespitzte Ende hoch emporflog und dann wieder nieder.
„Jetzt die glühende Eisenstange rasch zurück in die Esse und schiebt mir den spitzen Nagel nun hinein hier in die kleine Maschine. So, und jetzt noch mit dem Hammer drei tüchtige Hiebe gethan, daß ein Kopf draus wird.“
Drei tüchtige Hiebe that Ludwig Preuß, und dann schlug er unten mit dem Hammer dagegen, daß der spitze Stachel herausfuhr, hoch aus der Maschine heraus und hinein in das Wasser, das daneben stand.
Meister Kleemann hob den langen, etwas schief gebogenen Nagel aus dein Wasserbehälter hervor und reichte das kleine, dampfende Ding dem neuen Lehrjungen dar.
„Das ist der erste Nagel, den Er geschmiedet hat,“ sagte er mit feierlicher Stimme, „den muß Er sich aufheben sein Leben lang, und ich will Ihm wünschen, daß Ihm kein Nagel im Kopf und Herzen und Gewissen stecken bleibt, sondern daß Er unvernagelt und gesund und frei aller Orten ist!“
„Dank Euch, Meister, für den schönen, prächtigen Wunsch!“ rief der junge Mann, nicht mit der Ehrerbietung in der That, welche ein solcher Kiekindiewelt dem Meister zollen mußte. „Dank Euch für den prächtigen Wunsch! Hurrah, ich hätt’ nun meinen ersten Nagel geschmiedet! Und der große Gott wird geben, daß es kein Nagel zu meinem Sarge wird. Das Ding gefällt mir unbändig, Meister, und ich sag’s Euch vorher, werd’ nicht eher ruhen, als bis ich einen tüchtigen Brettnagel nach allen Regeln der Kunst fabriciren kann.“
Einen, zwei und drei Nägel schlug nun der neue Lehrjunge mit kräftigem Arm und tüchtiger Faust zurecht, und die Gesellen verziehen ihm seine weißen, feinen Hände und die feinen, weißen Hemdsärmel dazu. War er doch sonst ein ganz tüchtiger Mensch, wie es schien, und es war ganz unmöglich, daß der nicht schon früher den Hammer geführt, denn ein Lehrling kann nicht einen so raisonnablen Brettnagel fabriciren.
„Wenn’s Euch recht ist, Meister,“ sagte nach einer Weile der junge Lehrbursche, da er ein halb Dutzend Nägel fabricirt hatte, „wenn’s Euch recht ist, so ruhe ich jetzt ein wenig, bin eben noch ein Schwächling im neuen Handwerk, und die jungen Cyklopen werden mit mir Nachsicht haben.“
„Was ist das?“ fragte der Altgeselle, der eben den Hammer erhoben hatte, um einen zierlichen Halbnagel zu fabriciren. „was ist das für eine Rede? Wie nennt er uns? Ich glaube, er will uns schimpfiren.“
„Um Gotteswillen, nein,“ lachte der junge Mann, „hofiren will ich Euch, aber ich bitt’ Euch um Vergebung, wenn Ihr mich falsch verstanden habt. Ich meinte mir, ich hätte nicht so starke, kräftige Glieder, und bin nicht so anstellig, wie Ihr, aber Ihr dürft mich deshalb nicht verachten und Ihr müßt mir schon vergönnen, daß ich auf gute Cameradschaft heute mit Euch trinke. Ihr erlaubt doch, Meister, daß ich die hochlöblichen Gesellen und den Meister selber heut’ Abend einlade zu einem kleinen Abendbrod in der Herberge.“
Der Meister nickte gravitätisch, und die Gesichter der Gesellen nahmen einen freundlicheren Ausdruck an.
„Ich sehe, er weiß, was der Brauch ist,“ sagte der Meister, „und wir kommen und nehmen den Imbiß an in der Herberge.“
„Und ladet mir noch ein paar andere Meister und Gesellen ein,“ sagte Ludwig Preuß und seine Stimme klang gebieterisch, aber sie hörten’s gern jetzt, denn eine Einladung kann schon gesagt werden in welchem Ton sie will, sie klingt immer recht hübsch, „ladet mir noch ein paar andere Meister Eures Gewerkes dazu.
Auch wär’s gar nicht so übel, wenn Ihr ein paar hübsche Mädchen einlüdet, daß wir lustig sein und tanzen können.“
Die Gesellen ließen alle wie auf Commando mit einem lauten Gedröhn die Hämmer auf den Ambos niederfallen und schauten erschrocken und belustigt zu dem jungen Mann hin.
Das war unerhört in der ganzen Schmiede. Ein eben eingetretener Lehrjunge untersteht sich zu sagen, daß man hübsche Mädchen soll in die Herberge einladen!
„Das heißt, Er will einen Ball geben?“ fragte Meister Kleemann ganz erschrocken.
„Natürlich einen Ball,“ erwiderte der junge Mann; „wenn keine Mädchen dabei sind, ist’s langweilig, und unter uns können wir nicht tanzen.“
Aber der Meister schüttelte den Kopf. „So rasch macht sich das Ding nicht. Man fällt nicht aus den Wolken herunter und sagt zu den ehrsamen Frauen und Töchtern des Gewerkes: ,Kommt heut’ Abend und tanzt!’ Das muß fein sittsam gemacht werden, und dann geht’s heut’ nicht, dann müssen wir warten bis übermorgen.“
„Nun, so laßt uns warten bis übermorgen mit dem Ball, und heute Abend lade ich Euch Alte zum Imbiß ein.“
Das war erstaunenswürdig, man hatte nie dergleichen gehört. Wer konnte wissen, was das für ein Monsieur war? Meister Kleemann sagte zu sich selber: „Ein Schauspieler ist’s nimmermehr, denn die Kerls haben nie Geld und sind immer so pauvre, und der scheint Geld zu haben. Gleichviel was er ist, wenn er zahlt, ist’s gut, und das muß er in der Herberge.“ –
Die Cläre saß heut’ wie gestern in ihrer Laube im Garten, es war nichts Auffälliges dabei, sie saß da alle Tage, denn sie liebte die Blumen, das Grün und die frische Luft, und sie konnte da so gut wie in der Küche die Kartoffeln schälen und das Gemüse herrichten und konnte nachher noch dort sitzen und arbeiten und nähen, es war kein Zeitverlust und es arbeitete sich viel schöner in der lieben Gottesluft, als in der dumpfen Stube.
Aber die Cläre sang heute nicht und es schien, als lausche sie gar aufmerksam nach den Stimmen, welche aus der offenen Thür der Schmiede herausklangen.
Sie hatte ein feines Ohr, sie hörte, wie der junge Fremde davon sprach, daß auch Mädchen geladen werden sollten und Frauen, und daß er einen Ball geben wollte in der Herberge.
„Ich will nicht hingehen, ganz gewiß nicht,“ sagte sie leise zu sich selber, „er ist ein gar zu übermüthiger Mensch, wie mir scheint; ich will nicht hingehen!“
Und wie sie’s eben gedacht hatte, da trat ganz keck und übermüthig der junge Fremde an die Laube heran.
„Schön Clärchen, darf ich eintreten einen Augenblick?“
Sie schrak zusammen und senkte ihren Kopf nieder auf ihre Arbeit und dachte wohl, er sollte nicht sehen, daß sie dunkelroth geworden war.
„Wenn’s der Vater erlaubt hat, daß Er in den Garten kommen kann, so hab’ ich nichts dagegen,“ sagte sie.
„Und so darf ich eintreten?“ Er wartete gar nicht die Antwort ab und war schon eingetreten in die Laube und hatte mir nichts dir nichts auf der Bank gegenüber, auf der andern Seite [404] des kleinen Tisches, schon sich niedergelassen. Recht ängstlich ward der Cläre einen Augenblick zu Muth und ihr Herz klopfte so närrisch, wie es nie zuvor geklopft hatte. Aber das war eine Dummheit, und man muß sich zusammennehmen.
Sie hob rasch den Kopf empor und blickte auf, und dann zuckte sie zusammen, denn die großen braunen Augen ruhten auf ihr mit einem so leuchtenden Glanz, und das Lächeln, mit dem er sie ansah, war gar so keck und doch so angenehm!
„Jungfer Cläre,“ fragte er sie mit freundlicher, sanfter Stimme, „Jungfrau Cläre, ist’s noch immer so und bleibt’s dabei, will Sie dem Hans noch immer nicht Pardon geben und ihm wieder gut sein?“
„Pardon geben, davon ist gar nicht die Rede, Monsieur,“ sagte sie lebhaft, „er hat nichts verbrochen, er ist ein guter Mensch, der Hans!“
„Nun, und warum liebt Sie ihn nicht mehr?“
„Was geht’s Ihn an? Er ist nicht mein Beichtvater, Monsieur!“
„Ich wollt’, ich wär’s, Cläre! Was für süße und unschuldige Geheimnisse würden das wohl sein, die von diesen Rosenlippen tönten!“
Wie er das sagte, faßte er ihre Hand und drückte sie in der seinen, und es fuhr ihr wie ein Schauer durch den ganzen Körper. Sie wollte die Hand zurückziehen und konnte es doch nicht, obwohl er sie gar nicht so fest hielt und nur ganz leise, ganz sanft sie drückte.
„O Cläre, laß mich wissen von Deinen süßen, holden Geheimnissen, und sag’ mir, liebst Du den Hans nicht, liebst Du einen Andern?“
Ihr liebliches Gesicht war auf einmal wie mit Purpur übergossen. „Was das für närrische Fragen sind, Monsieur!“
„Sag’ mir’s, Cläre, möcht’s gar so gerne wissen, möcht’ aus tiefstem Seelengrund Dich bitten – liebst Du einen Andern, Cläre?“
Das war doch zu frech und zu stark, dabei mußte man doch bös werden und den kühnen Monsieur auszanken, daß er so etwas ein ehrsames Mädchen zu fragen wagte!
Sie zog die leicht geschwungenen Augenbrauen zusammen und schaute zu ihm herüber und sah, wie seine Blicke glühend und flehend zu ihr hingewandt waren, und es ging wieder ein Schauer über ihren ganzen Körper.
„O Cläre, holdselig Kind, so sag’ mir’s doch, liebst Du einen andern Mann?
„Nein,“ sagte sie ganz leise und beinahe wider ihren Willen, „nein, ich liebe keinen auf der Welt!“
„Und hast noch nie geliebt, schönes Clärchen?“
„O, sicherlich! Ich liebe den Vater und die Mutter und meine zwei kleinen Brüder auch; was soll’s noch weiter?“
„Das ist nicht Liebe, Cläre; das ist nur Gutsein! Hast das nie gehört, Du süßes Kind? Weißt Du nicht, daß Liebe ganz etwas Anderes ist, als wie man Vater und Mutter und Geschwister liebt?“
„Nein, wirklich,“ flüsterte sie beklommen und halb sich von der Bank erhebend, „das hab’ ich nie gehört und will’s auch nicht hören!“ fuhr sie dann mit kecker Stimme hastig fort, indem sie aufsprang, „und Ihr sollt mir’s auch nicht sagen, sonst geh’ ich hin und sag’s dem Vater, daß Ihr ein gar übermüthiger Herr seid!“
„Still, Cläre, still; will’s nicht mehr sagen, wenn Du nichts hören willst. Aber denk’ mir, Cläre, der arme Hans hat mich hergeschickt und hat mich gebeten, ich soll für ihn flehen; er ist ein gar so guter, armer Bursche, er grämt sich so.“
„Ich bitt’ Euch, sagt nichts davon dem Vater, denn sonst schilt er mich und wird sehr böse!“
„Um Alles in der Welt nicht, Cläre, möcht’ ich, daß der Vater auf Dich böse wird! Werde ihm nichts sagen. Aber Dir muß ich’s sagen, er hat bitterlich geweint über Deinen Brief!“
„Ihr wißt von meinem Brief?“ fragte sie erschrocken.
„Ich weiß davon, Cläre; er kann ja nicht lesen, der arme Bursch, ich mußt’ ihm den Brief vorlesen!“
„Es ist wahr,“ sagte sie schnippisch, „er kann nicht lesen, er ist ein gar so gutmüthiger dummer Mensch! Und jetzt begreift Ihr wohl, warum ich den Haus nicht heirathen will; er kann nicht lesen und nicht schreiben!“ Und mit neu gewonnenem Muth lachte sie laut auf und sprang aus der Laube heraus in den Garten.
Sofort war Ludwig Preuß an ihrer Seite.
„Eines noch hab’ ich vergessen, holdseligste Jungfer Cläre!“
„Was denn? ich bitt’ Euch, verschont mich mit dem Monsieur Hans, und wenn er Euch etwas aufgetragen hat, so behaltet’s für Euch, ich mag nichts von ihm hören! Hab’s schon lange gewußt, daß ich ihn nicht mag zum Heirathen, aber ich konnt’s ihm doch nicht in’s Gesicht sagen!“
„Wie gut Ihr seid, Cläre, Ihr mögt Niemand in’s Gesicht sagen, was ihn schmerzen könnte! Das lob’ ich, Jungfer Cläre!“
„Seht einmal!“ rief sie mit einem stolzen Blick zu ihm aufschauend, „der Mousieur lobt mich! Wer giebt Ihm denn ein Recht dazu? Wer hat’s Ihm erlaubt, daß …“ Sie verstummte, denn es war ihr Blick dem seinen begegnet und er schlug wie ein Blitz in ihr Herz ein; sie senkte die Augen nieder.
„Wer’s mir erlaubt hat, Jungfer Cläre? Mein Herz hat mir’s erlaubt!“ Das hatte er ganz leise gesagt, und nun fuhr er lauter fort: „Eines noch hab’ ich vergessen, Jungfer Cläre, wollte nur die Ehre geben, Euch und die Frau Mutter zu einem kleinen Ballfest einzuladen, das wir übermorgen in der Herberge anstellen wollen, und ich bitt’ Euch, mir auch die Ehre zu geben, an diesem Abend meine Tänzerin zu sein.“
Sie erröthete vor Vergnügen und machte einen leichten, kleinen Knix. „Dank’ Euch, Monsieur; wenn der Vater nichts dawider hat, nehm’ ich’s an.“
„Ich kam zu Euch mit Bewilligung des Meisters, Eures Vaters, und wenn’s Euch recht ist, führt mich jetzt zur Meisterin, daß ich auch ihr mein Compliment mache.“
Die Cläre knixte wieder und sagte, sie wolle ihn zur Mutter führen. Und er, mit einer leichten, zierlichen Verbeugung, bot ihr den Arm.
„Um Gottes willen, Monsieur, was fangt Ihr an? Es ist nimmer erhört, daß eine ehrsame Bürgerstochter Arm in Arm mit einem Mannsbild gehe!“
„Dann bitt’ ich um Vergebung, ich wußte das nicht!“
Er machte eine Verbeugung vor ihr und ging nun neben ihr dahin, die lächelnd und niedergeschlagenen Auges an seiner Seite trippelte. Er sah gar stolz und prächtig aus, sein jugendliches, edles Antlitz strahlte vor Freude und aus seinen Augen flammte die ganze Lust, der ganze Uebermuth der Jugend!
Die Frau Meisterin schien sehr geschmeichelt von der Einladung des fremden jungen Mannes und knixte und lächelte und nahm sie dankend an. Und dann mit einer Verbeugung, die so zierlich und so ehrerbietig war, daß die Frau Meisterin beinah’ davor erschrak, entfernte sich der junge Mann.
„Cläre,“ sagte die Meisterin, „ist das der junge Mann, von dem Du mir erzählt hast, daß er ’s Schmiedehandwerk lernen will?“
Die Cläre nickte und sagte nichts; es war ihr so beklommen, als ob ihr das Herz zugeschnürt wär’.
„Weißt Du, Cläre,“ fuhr die Frau Meisterin fort und schaute starr nach der Thür hin, hinter welcher er verschwunden war, „weißt Du, ich hab’ mein Lebtag nicht einen so hübschen Mann gesehen; aber ’s kommt mir gar nicht vor, als ob das ein richtiger Schmied werden könnte!“
„Und warum nicht?“ fragte Cläre beklommen.
„Ich hab’ mal wo gelesen,“ sagte die Meisterin, „ein Märchen vom verzauberten Engel Gabriel, den der liebe Gott auf die Erde geschickt hatte, damit er lernen solle, wie die Menschen es treiben. Er war in ein ganz gewöhnlich Menschenkind verzaubert und doch merkte ’s ihm Jeder gleich an, daß es was ganz Apartes mit ihm sein müßte, und Jeder witterte den Engel hinter dem Menschenkind. Und just so kommt mir der fremde Mousieur vor, Cläre!“
Die Cläre lachte laut auf, aber es klang nicht so natürlich und nicht so froh, wie sie sonst zu lachen pflegte. „Mutter, Märchen passiren nicht mehr in der Welt und sind nicht Wirklichkeit! Die Hauptsache ist, der junge Mann hat uns zum Ball eingeladen auf übermorgen, und nun sag’ mir, Mutter, was für ein Kleid zieh’ ich an dazu?“
Anfangs des Jahres 1862 übernahm ich, obwohl Preuße
von Geburt, die Stelle eines Generalbevollmächtigten über eine
bedeutende Herrschaft in Polnisch-Litthauen, deren Besitzer der
Adelsmarschall Graf C. war. Im Jahre darauf brach bekanntlich
die letzte polnische Insurrection aus. Zwar stand ich dem Aufstande
und seinen Zielen ganz fern, allein auf falsche Denunciationen
hin war ich vom Gouverneur des Departements verhaftet, im
Monat März 1864 vor die Untersuchungs-Commission berufen,
dann nach der Gouvernementsstadt Kowno transportirt und hier
zum Tode verurtheilt, nachmals aber zu lebenslänglicher Verbannung
nach Sibirien begnadigt worden.
Am Sonnabend vor Ostern des Jahres 1865 früh sieben Uhr trat ein Officier in meine Zelle und ertheilte mir die Weisung, mich sofort zu meiner traurigen Reise bereit zu machen. Nach wenigen Minuten führte man mich nach dem Gefängnißhof. Ich fand hier bereits etwa vierzig Personen, worunter auch Damen, die mein Schicksal theilten. Alle waren im Sträflingsanzuge und ein großer Theil in Ketten. Mir jedoch wurde aus besonderer Rücksicht – als Preußen – gestattet, in meinen eigenen Kleidern zu bleiben.
Die Sträflingskleidung der nach Sibirien Verbannten, ohne Unterschied des Standes, besteht in einem Hemde von grober Hanfleinwand, Beinkleidern von grobem, haarigem Stoff, plumpen ledernen Schuhen, einem langen Rocke vom Stoff der Beinkleider, auf dessen Rückseite ein gelbes Tuch aufgeheftet ist von der Form eines riesigen Carreau-As, und einer aus demselben Stoffe bestehenden Mütze nach dem russischen Militärschnitte, ebenfalls mit einem gelbem Carreau-As geziert. Fußlappen vertreten die Stelle der Strümpfe. Im Winter kommt dazu noch ein Schafpelz, welcher über den Rock gezogen wird. Eine etwa drei Fuß lange Kette an den Füßen vervollständigt das Ganze. – Dieselbe Kleidung müssen auch die nach Sibirien verurtheilten Frauen ohne Unterschied des Alters und bisherigen Standes tragen, jedoch mit Ausnahme der Beinkleider, wofür es ihnen gestattet ist, unter dem männlichen Sträflingsrocke ihre eigenen Kleider zu tragen; auch ist ihnen die Militärmütze erlassen und dafür jeder beliebige Kopfputz erlaubt.
[406] Ein schöner Zug der russischen Gerechtigkeitspflege – wenn man sich so ausdrücken darf – ist es, daß die nächsten Anverwandten die nach Sibirien Verbannten begleiten dürfen. Doch werden jene während des ganzen langen Transportes den Verurtheilten gleich geachtet und behandelt. Die Polen machen – ich muß es sagen – von dieser traurigen Vergünstigung den ausgedehntesten Gebrauch, und besonders zeichnet sich das weibliche Geschlecht in dieser Beziehung aus. Fast allen Verurtheilten unter uns, Männern oder Frauen, folgte die Gattin oder Tochter, die Schwester oder Braut, bereit, alles Ungemach über sich ergehen zu lassen, um dem geliebten Wesen einen Trost zu gewähren. Es ist dieses fürwahr kein geringes Opfer, wenn man bedenkt, daß die häufig noch jungen Damen, von Geburt aus an alle Annehmlichkeiten des Reichthums und der vornehmen Stellung gewöhnt, ihr comfortables Boudoir, ihre glänzenden Salons verlassen mußten, um sich in den engen, unsauberen, mit Leuten beiderlei Geschlechts und jeden Ranges und Alters bis zum Uebermaß angefüllten Transport-Käfig stecken zu lassen und später unter unendlichen Beschwerden und Entbehrungen eine fast ein Jahr dauernde Fußwanderung unter militärischer Aufsicht anzutreten! Und nie hörte ich, daß diese freiwilligen Opfer sich beklagten oder ihren Entschluß bereuten. Ehre diesen Edlen!
Wir wurden nach dem Kownoer Bahnhöfe transportirt und in einem Gefangenen-Wagen verladen. Derselbe, kaum groß genug, um uns Alle aufzunehmen, hatte an jeder Seite zwei kleine Fenster mit Eisengittern und glich ganz den Viehwagen auf unseren Eisenbahnen. Da sich noch eine Menge Soldaten mit uns in denselben Raum zusammen drängte, so reichten die Sitzplätze nicht aus, und Viele von uns mußten stehen.
Vier Stunden hatten wir dergestalt zugebracht, als wir in Wilna anlangten, der Wagen-Käfig geöffnet wurde und wir allesammt – ob verurtheilt oder nicht – vom Bahnhofe aus nach dem Zuchthause geführt wurden. Wegen der herannahenden Feiertage wurden wir vorläufig nicht weiter transportirt. In dem Gefängniß ging es uns nicht besser als im Eisenbahnwagen, denn da aus den verschiedenen Gouvernements noch mehrere Transporte politischer Gefangenen eingetroffen, so war der Raum so beschränkt, daß wir in den Zellen der gemeinsten Verbrecher mit untergebracht werden mußten. Ich kam mit einem Fürsten M. zu sechsundzwanzig solcher Subjecte. Die Tage unseres dortigen Aufenthaltes bleiben mir ihrer Scheußlichkeit wegen ewig im Gedächtniß.
Nach fünf Tagen, die uns eben so viele Monate gedünkt hatten, traten wir unsere Weiterreise nach St. Petersburg an, und unsere vorigen Leiden begannen auf’s Neue. Noch hundert Personen mehr wurden uns zugesellt. Das schöne und das starke Geschlecht waren drei Tage und drei Nachte lang in allen Abstufungen des Alters und Standes in einen engen Raum gepfercht, vor welchen sich statt des Engels Gabriel mit dem hauenden Schwert ein Soldat mit geladenem Gewehr stellte, um Niemand, weder bei Tag noch bei Nacht, aus dem Elysium herauszulassen. Die Damen waren unter dem Sträflingsrocke zumeist in feinster Toilette, an welcher die Crinoline nicht fehlte. Heiterkeit, Scherz, Gesang, Zeitvertreib aller Art mußte den Weg verkürzen; die feinsten Delicatessen wurden von schönen Händen freigebig vertheilt, denn Diejenigen, welche ihre verurtheilten Verwandten begleiteten, befanden sich ja im Besitze ihres Vermögens und hatten sich mit Geld, für welches in Rußland unter allen Umständen Alles zu erlangen ist, reichlich versehen. Der Maschinist gab aus der Maschine kochendes Wasser her, und so wurde denn der Genuß von Thee, Kaffee, Grog und Bouillon zu jeder Zeit möglich.
In St. Petersburg angekommen, wurden wir durch die belebtesten Theile der Stadt transportirt.
Hier muß ich einen Zug des russischen Volkscharakters hervorheben, der, wie ich glaube, in der ganzen Welt kaum seines Gleichen findet. Die russische Einwohnerschaft von Petersburg aller politischen Parteien soweit in Rußland von solchen überhaupt die Rede sein kann – verwünschte den polnischen Aufstand aus Herzensgrund, aber in uns, dessen Opfern, erblickten diese Leute nur Unglückliche, welche des Mitleids und Erbarmens bedürftig seien.
Auf dem Wege durch die Stadt drängten sie sich in solchen Massen an uns heran, um uns mit Geld zu beschenken, daß der Zug oft Halt machen mußte, weil es den Soldaten nicht gelang, die Menge von uns fern zu halten. Viele gaben zehn, fünfzehn, zwanzig Rubel und noch mehr. Die Aermeren begnügten sich mit Kopeken, deren wir nicht weniger als zweitausend zweihundert Stück erhielten! Noch vor dem Thore des Gefängnisses drängte sich ein kleines Mädchen an mich heran und drückte mir zwei Kopekenstücke in die Hand. Diese beiden Kupfermünzen zieren heute als ein mir werthvoller Schmuck, meine Uhrkette.
Unser Gefängniß zu St. Petersburg war ein großes stattliches Gebäude und das Schicksal, das manchmal wirklich komisch ist, gab uns hier einen mütterlichen Wink, daß wir uns künftig „recht artig“ betragen müßten. Unser Gefängnißhaus nämlich diente eigentlich zur Aufnahme – verwahrloster Kinder!
Wir fanden auch hier eine Menge Gefangener vor, die sich unserem Tansport, der in zwei Tagen fortgesetzt werden sollte, anzuschließen bestimmt waren. Man brachte uns in sehr großen geräumigen Zimmern unter, welche unverschlossen waren und uns den freien Verkehr innerhalb des Gebäudes gestatteten. Hier gelang es mir durch die Güte des als Commandant fungirenden Obersten, einen Brief direct in das hiesige preußische Gesandtschafts-Hotel zu befördern, in welchem Briefe ich meine Verurtheilung und mein Eintreffen in Petersburg meldete und die Bitte hinzufügte, mich persönlich dem preußischen Gesandten vorstellen und ihm meine Lage schildern zu dürfen.
Schon nach einer Stunde erschien als Vertreter des Gesandten Herr v. Magnus, der mir eine herzliche Theilnahme bezeigte. Derselbe war, in Folge der vielfachen Bemühungen der preußischen Regierung, meine Freilassung zu bewerkstelligen, schon früher in meinem Interesse thätig gewesen und höchlichst erstaunt über meine gegenwärtige Situation. Er rieth mir, ein Gnadengesuch an den Kaiser zu richten und dasselbe dem Consul in Moskau zu übergeben, den er veranlassen werde, es sofort dem Gesandten zu übersenden, welcher es in öffentlicher Audienz dein Kaiser vortragen würde. Ferner versprach er, dafür zu sorgen, daß in Moskau mein Transport so lange inhibirt würde, bis die Entscheidung des Kaisers einträfe. Ich erhielt von Herrn v. Magnus neben einer bedeutenden Geldsumme ein Empfehlungsschreiben an den preußischen Consul in Moskau und die Versicherung, daß er sogleich dem königlich preußischen Ministerium die nöthigen Mittheilungen über mein Schicksal machen werde. Er hat sein Wort gehalten.
Ich war getröstet und aufgerichtet und mein Herz von innigster Dankbarkeit erfüllt. Leicht und muthig fühlte ich mich, als wir wieder nach dem Bahnhöfe geführt wurden, um unsere Reise nach Moskau anzutreten. Wieder wurden uns auf dem Wege nach dem Bahnhofe milde Gaben zu Theil.
In Moskau war der Andrang des Volkes zu uns, um uns milde Gaben zu Theil werden zu lassen, so groß, daß sich der Transport nur sehr langsam fortbewegen konnte. Wir wurden auf einer prächtigen, von einem schönen Parke umgebenen Villa untergebracht, welche zuvor einem Kaufmann gehört hatte, der sich im Krimkriege mißliebig gemacht und dessen Vermögen im Betrage von etwa zwanzig Millionen confiscirt worden, während er selbst in Sibirien sein Ende gefunden hatte. In der Villa sowohl wie im Parke war uns freier Verkehr gestattet. Das sind russische, in Deutschland unbegreifliche Gegensätze.
Der wiederholte mehrtägige Transport in der oben geschilderten Weise halte meine schon durch die lange Haft angegriffene Gesundheit allmählich so geschwächt, daß man mich sogleich in ein freundliches und wohleingerichtetes Krankenzimmer brachte. Noch an demselben Tage besuchte mich der Generalarzt H., ein Deutscher, welcher die erkrankten Transportirten zu behandeln hatte. Er widmete mir seine vollste Theilnahme und erklärte, daß er meinen Weitertransport vor meiner völligen Wiederherstellung nicht zugeben werde. Auch stellte er selbst mein Empfehlungsschreiben dem hiesigen preußischen Consul zu. Vor Allem erfreute er mich aber durch die Uebersendung eines ganzen Jahrganges der „Gartenlaube“, und durch das Versprechen, mir außerdem jede Woche die neueste Nummer dieses Blattes mitbringen zu wollen. Der Leser wird ermessen, wie sehr mir durch diese angenehme Lectüre meine Haft erleichtert wurde und mit welchem Jubel ich jede neue Nummer begrüßte.
[407] Am folgenden Tage fühlte ich mich schon ein wenig kräftiger und schrieb nun ein Gesuch an den Kaiser, in welchem ich meine jetzige und frühere Lage, meine Untersuchungshaft, meine Freisprechung durch das Kriegsgericht und meine schließliche Verurtheilung durch den Generalgouverneur Murawieff darlegte. Ich bat Seine kaiserliche Majestät nicht um Gnade, sondern um Gerechtigkeit und um Revision meines Processes. Dieses Gesuch übergab ich dem preußischen Consul, welcher mich besuchte; auch er versprach, dafür zu sorgen, daß ich die Entscheidung meines Schicksals durch den Kaiser in Moskau abwarten dürfe. Ein mir verwandter preußischer General, der schon vielseitig in meinem Interesse gewirkt und mir dadurch manche Erleichterung verschafft, hatte sich ebenfalls beeilt, sich für mich bei dem Gouverneur von Moskau, dem Fürsten Obolinski, zu verwenden, letzterer besuchte mich denn auch und gab mir eine schriftliche Bescheinigung, daß ich vor Eintreffen der kaiserlichen Entscheidung nicht weiter transportirt werden solle. So durfte ich mich denn wohl der Hoffnung hingeben, einem schweren und unverdienten Geschicke noch in der elften Stunde zu entgehen. In der Etappe Moskau wird den Verbannten stets eine achttägige Rast gewährt. Während dieser Zeit durfte ich mich wieder am ungestörten Umgange mit dem Fürsten M. erfreuen, der beinahe drei Jahre eine Zelle und alle beiden des Gefängnißlebens mit mir getheilt. Unsere Verurtheilung erfolgte auch gleichzeitig und gleichlautend. Wir waren Beide nach dem Gouvernement Irkutsk verbannt und so war im Laufe der Zeit ein inniges freundschaftliches Verhältniß zwischen uns entstanden. Der Fürst war überglücklich, jetzt meine Erlösung für gewiß halten zu dürfen. Wir Beide vergaßen dabei, daß wir nach Ablauf der achttägigen Rast getrennt würden, um das wahrscheinlich für dieses ganze Leben zu bleiben.
Nur zu schnell kam der Tag der Trennung heran. Der Fürst lag weinend an meiner Brust. Er war jedoch stärker als ich. Denn während ich keines Wortes mächtig war, sprach er zum letzten Abschiede: „Wenn Du zurückgekehrt bist in Dein schönes Deutschland, in Dein geliebtes Preußen, o so vergiß des armen Freundes nicht! Sei glücklich, glücklich, glücklich!“ Der Zug setzte sich in Bewegung; ich konnte ihm nur ein halbersticktes Lebewohl nachrufen; meine Augen waren durch Thränen verdunkelt, er entschwand meinen Blicken für immer. Genug davon! Ich will die Leser nicht mit der Schilderung meiner Empfindungen behelligen.
In Moskau langten während meines dortigen Aufenthaltes wöchentlich Hunderte von Verbannten an, die ebenfalls immer nach achttägiger Rast weiterbefördert wurden. Es waren dies zum größten Theile Polen, welche nach der inzwischen niedergeworfenen Insurrection ihr Vaterland in Sibirien vergessen sollten, Männer und Frauen jedes Alters und Standes und vielfach begleitet von Verwandten, letztere zumeist weiblichen Geschlechts. Ich habe schon gesagt, daß uns hier in Moskau, in der Villa eines unglücklichen Kaufmanns, die größte Freiheit gestattet wurde und daß uns auch der dazu gehörige Park geöffnet war. Natürlich fehlte es nicht an militärischer Bewachung. Da mir von dem Generalarzt Bewegung in freier Luft empfohlen war, so besuchte ich den Park täglich und hatte hier abermals Gelegenheit, die Leichtlebigkeit der Polen zu bewundern. Das Loos der nach Sibirien Verbannten ist unter allen Umständen furchtbarer als es das der Aristokraten in der französischen Revolutionszeit war, die von kurzen Gefängnißleiden durch die Guillotine erlöst wurden. Aber wie diese Franzosen lächelnd das Blutgerüst betraten, so sah man hier nur an dem Sträflingsanzuge, nicht an den Mienen der Gefangenen, um was es sich handelte. Man erblickte in dem Park die elegantesten Toiletten von Damen, die ihren Sträflingsrock gleichsam wie einen Schmuck oder wie eine harmlose Verkleidung über die kostbarsten Stoffe, über die feinste Wäsche gezogen hatten. Hier führte ein Herr, mit der Kette an den Füßen, eine Dame im elegantesten Gesellschaftsanzuge unter dem schmutzig-gelben Rocke zu einer Verkaufsstelle von edlen Südfrüchten und feinen Delicatessen; dort tummelten sich Kinder des verschiedensten Alters, welche von der Krone ebenfalls mit der verhängnißvollen Kleidung versehen waren, unter den Bäumen im Grase. Das Ganze trug allerdings den Charakter der Ostentation: – „Seht, Leute, uns schickt die russische Regierung nach Sibirien!“
Unter den im Park Lustwandelnden waren auch eine bildschöne Comtesse und ein junger Edelmann, die sich im Gefängniß zu Kowno kennen gelernt und durch ein gar merkwürdiges Liebesalphabet verliebt, verlobt und geheirathet hatten. Die Gefangenen der beiden Flügel des Gefängnisses in Kowno nämlich unterhielten und verständigten sich durch eine ganz originelle Telegraphie, die so wenig Apparate brauchte, daß die berühmten Telegraphisten Siemens und Halske in Berlin dieselbe gewiß gern patentiren würden. Die vierundzwanzig eisernen Gittervierecke unserer Kerkerfenster stellten ebenso viele Buchstaben dar. Der Telegraphist stellte sich nun an das Gitter, fingerte wie der Blitz von einem Gitterviereck zum andern und schuf so Worte und Sätze. So oft ein Wort zu Ende, wurde dieses durch einen Doppelschlag mit dem Finger angedeutet. Auf diese Weise wurden Anekdoten, Schnurren erzählt, Räthsel aufgegeben, Erzählungen übermittelt, ja es wurde sogar eine Geschichte aus der Gartenlaube von hüben nach drüben telegraphirt. Vor allen Dingen aber diente diese Telegraphie als Sicherheitsmaßregel. Sie kündigte einen untersuchenden Beamten an, warnte vor Mittheilung geheimer Artikel aus dem Gefängniß- Kladderadatsch und schloß fast immer mit der Weisung, den Spürhunden eine tüchtige Nase zu drehen und gegenseitig Freundschaft zu halten. Studien in dieser Telegraphie wurden so sorgfältig gemacht, wie die Langfingerübungen eines Londoner Taschendiebclubs. Wie dieses Gitteralphabet zum Liebestelegraphen für das genannte Paar wurde, dürfte am wissenswerthesten sein. Die bildschöne Comtesse und der junge, geistreiche Edelmann, welche sich Beide früher nie gesehen, verliebten und verlobten sich, wie gesagt, auf diesem gewiß ungewöhnlichen Wege. Sie schrieben oder fingerten vielmehr einander so glühende, zärtliche billets-doux, daß Abälard und Heloise das glückliche Verhältniß gewiß beneidet hätten. Nach der Verlobung am Gitter wurde die Trauung vor der ganzen Gefangenschaft öffentlich gefeiert, was um so rührender ist, als die junge Comtesse bereits ihre Freiheit erlangt hatte und ihr Bräutigam zu lebenslänglicher Zwangsarbeit verurtheilt worden war. Sie entschloß sich aber dennoch, mit dem Manne in die Verbannung zu wandern, welchem sie ihr Herz geschenkt.
Im Park waren eine Menge Buden aufgeschlagen, aus denen man sich mit allen möglichen Lebensmitteln und Lebensbedürfnissen Genußmitteln, Luxusartikeln etc. reichlich versehen konnte. Hier wurde viel Geld verschwendet. Sogar ein Photograph hatte im Park sein Zelt aufgeschlagen, und es war den Gefangenen gestattet, sich einzeln oder auch in Gruppen photographiren zu lassen. Der Photograph war von früh bis spät beschäftigt und machte die glänzendsten Geschäfte. Alles lebte, die bevorstehenden Entbehrungen im Auge, im Genusse der immerhin noch heiteren Gegenwart, ohne der Vergangenheit und der späteren Zukunft zu gedenken. Es ist das eben polnisch.
Leider sollte meine Hoffnung auf baldige Befreiung getäuscht werden. Alle Versprechungen meiner Freunde waren redlich erfüllt worden, aber der Kaiser wie ich später erfuhr – war plötzlich nach Nizza gereist, wo sein ältester Sohn schwer erkrankt daniederlag und starb, und hatte keine Bestimmung für mich zurückgelassen. Nach drei Monaten also erklärte mir der Gouverneur von Moskau, daß er mein längeres Verbleiben nicht mehr verantworten könne und daß ich, da ich nun vollständig genesen, mit dem nächsten Transporte befördert werden müsse. Er drückte mir sein tiefstes Bedauern darüber aus. Die Interventionen des Generalarztes Dr. H., sowie die des Consuls blieben fruchtlos; die strengen Instructionen, welche der Gouverneur neuerdings hinsichtlich der nach Sibirien verbannten politischen Gefangenen erhalten, durften allein maßgebend sein.
So trat ich denn am 14. Juni 1865 in Gesellschaft von zweihundert und achtundfünfzig Unglücklichen die Weiterreise nach Sibirien an. Wie es die „Gartenlaube“ war, die mich von dem Tode rettete, zu welchem ich verurtheilt, und wie ich durch die Verwendung der preußischen Regierung, speciell des Grafen Bismarck, nach einigen Jahren der Verbannung der Freiheit in der Heimath wieder gegeben wurde, davon denke ich dem Leser in einem späteren Artikel zu erzählen.
[408]
Wie ein schönes Gedicht entstand.
Die meisten Menschen erfreuen sich an einem schönen Gedichte, wie an einer holden Blume. Sie lassen den Reiz beider still auf sich einwirken, ohne darüber zu brüten, aus welchen Keimen und durch welche Metamorphosen hindurch sich das anmuthreiche Gebilde zu solcher Vollendung entwickelt hat, und gegen diese Weise des Genusses ist auch im Allgemeinen nichts zu erinnern, da es nicht eines Jeden Sache ist, in die geheimnißvolle Werkstätte der Natur und des schaffenden Menschengeistes hineinzuspähen und dort den Entstehungsproceß des Schönen zu belauschen. Ja, Manche sind sogar der Meinung, es beeinträchtige den Genuß des Schönen, wenn man dergleichen Nachforschungen anstelle; es schade dies der Reinheit des Eindrucks eines schönen Natur- oder Kunstgebildes. Möge durch dies Bedenken sich indeß Keiner, der gern dem Wirken der Natur und des Menschengeistes nachspürt, davon abhalten lassen! Der Naturforscher, welcher die Entwickelung einer Pflanze studirt und zu diesem Behufe vielleicht eine große Anzahl Exemplare derselben zerlegt hat, ergötzt sich darum nicht minder an dein Anblick eines schönen vollentwickelten Exemplars, und der Aesthetiker, wenn er anders den rechten Sinn für das Schöne mitbringt, wird auch nach der sorgfältigsten Analyse eines wahrhaft schönen Gedichtes eine reine und volle Entwickelung, ja, sogar einen reicheren und stärkeren Eindruck seiner Schönheit empfangen.
Aber wer vermag; wird vielleicht mancher Leser fragen, die Entstehung eines Gedichtes zu belauschen? Das Werden und Wachsen einer Pflanze, einer Blume läßt sich allenfalls beobachten, doch wer kann die Genesis eines poetischen Gebildes in der Dichterseele verfolgen? Freilich in der Regel ist hier ein eigentliches Beobachten nicht so wohl möglich, als vielmehr ein Nachempfinden, ein innerliches Nachdichten, und dazu ist denn eine Art eigener dichterischer Begabung erforderlich, die nicht eben allzu häufig ist. Um so willkommener muß es uns sein, wenn sich in einem einzelnen Falle der Bildungsproceß eines Gedichtes mit besonderer Anschaulichkeit darstellt, und einen solchen Fall möchten wir dem freundlich theilnehmenden Leser im Nachfolgenden vorlegen.
An einem schönen Samstagnachmittage, in der ersten Hälfte des Juli 1828, besuchte der Dichter Gustav Schwab, der damals eine Gymnasiallehrerstelle in Stuttgart bekleidete, den ihm nahe befreundeten Pfarrer in X., einem benachbarten Städtchen. Er traf den schon bejahrten und verwittweten Freund mit seiner Tochter in einer Laube des Gartens beim Nachmittagskaffee mit einem Zeitungsblatte in der Hand. Vater und Tochter schienen ernst und in den Eindruck des eben Gelesenen vertieft, denn sie merkten das Herannahen des Gastes nicht eher, als bis er in die Laube trat. Nachdem die Grüße gewechselt und rasch eine Tasse für den willkommenen Freund herbeigeschafft war, begann Schwab über die Leidenschaft der Beiden für Politik zu scherzen; man könne ihnen meinte er, ungestört das Haus leer plündern, wenn sie eben über den Genuß ihres täglichen Zeitungsfutters säßen.
„Es waren nicht die Weltbegebenheiten,“ erwiderte der Pfarrer, „was uns eben so hingenommen hatte; wir dachten über diese ganz kurze Notiz in den vermischten Nachrichten nach: ,Am 30. vorigen Monats schlug zu Tuttlingen der Blitz in ein von zwei Familien bewohntes Haus und tödtete von zehn Bewohnern desselben vier Personen weiblichen Geschlechts: Urgroßmutter, Großmutter, Mutter und Kind, die erste einundsiebenzig, das letzte acht Jahre alt.’ Wie erschütternd ist die hier so schlicht berichtete Begebenheit! Großmutter, Mutter, Tochter und Enkelin, alle Vier durch einen Schlag getödtet! Das Kind, das in dem reizenden Vorhofe des Lebens spielt und noch nichts von Pflichten, Mühen und Sorgen weiß; die Mutter, die schon den Ernst des Lebens erfahren, aber noch ein offenes Herz für seine Freuden hat; die Großmutter, deren Empfänglichkeit für Lebensgenuß schon abgestumpft ist, die aber noch in redlicher Erfüllung ihrer Pflicht einigen Trost für vieles Verlorene findet; die Urgroßmutter endlich, die bereits am Rande des Grabes steht, die sich nicht mehr freuen und nicht mehr wirken kann und deshalb gern sterben möchte; – alle Vier rafft ein Moment hinweg!“
Der Dichter hörte ihm mit leuchtenden Augen zu, als wäre ein zündender Funke in seine Seele geworfen, und das Mädchen, dem dies nicht entging, meinte, „der Herr Professor, der so schöne Verse zu machen verstehe, brauche nur die berichtete Thatsache sammt den angeknüpften Betrachtungen des Vaters mit seiner gewohnten Kunstgewandtheit poetisch wiederzugeben, so müsse es ein schönes Gedicht werden.“
„Ja, auf das poetische Wiedergeben kömmt’s eben an,“ erwiderte der Dichter, „mit schönen Versen, und wenn sie mir noch so gut geriethen, wär’s nicht abgemacht. Soll aus der dürren Zeitungsnachricht ein Gedicht werden, so muß ich das, was Ihre und Ihres Vaters Phantasie hineingetragen haben, mit dem gegebenen Stoff auf’s Engste verbinden, aber nicht als angeknüpfte Betrachtung, als subjective Zuthat, sondern objectiv, als Erweiterung und Entwickelung des Gegenstandes, und zwar so, daß das Gedicht jene Betrachtung und die dazu gesellte Empfindung nicht etwa blos zufällig in poetisch gestimmten Gemüthern, wie die Ihrigen, sondern mit Nothwendigkeit in jedem Leser und Hörer erzeugt.“
„Davon habe ich gar keine rechte Vorstellung,“ sagte das Mädchen, „wie Sie das fertig bringen wollen.“
„Ich auch bis jetzt nicht,“ antwortete der Dichter. „Es müßte zu dem Ende das Kind, die Mutter, die Großmutter, die Urahne jedes nach seiner besondern Stellung zum Leben mit wenigen, aber kräftigen charakteristischen Strichen gezeichnet werden. Allein da stellt sich eben eine große Schwierigkeit in den Weg. Das Zusammensein der vier Personen muß selbstverständlich festgehalten werden, doch eben dieses Zusammensein erschwert die Charakteristik der einzelnen Personen. Wie soll ich in diesem Raume auf eine einfache, ungezwungene Art zugleich das Kind in der Fülle seines harmlos freien Daseins, die Mutter, die in der Mitte zwischen Ernst und Spiel des Lebens, die Großmutter mit überwiegendem Ernst der Lebensanschauung, die Urahne in ihrem entschiedenen Lebensüberdrusse darstellen?“
„Wir lassen Sie nicht nach Stuttgart zurück,“ unterbrach ihn der Pfarrer, „als bis Sie diesen Knoten gelöst haben. Morgen haben Sie dort keine Schulpflichten zu erfüllen, und die stille Umgebung unseres Städtchens ist solchen Problemen förderlicher als die Hauptstadt. Ich habe gegen Abend noch einmal meine morgige Predigt zu durchlesen; dann mögen Sie, während meine Tochter für unser Nachtessen sorgt, das Buchenwäldchen auf der Höhe besuchen, wo Ihnen die Muse schon oft sich günstig erwiesen hat.“ Der Dichter nahm die Einladung an. Auf seinem Abendspaziergange suchte er sich auf mehrfache Weise den Gegenstand zurechtzulegen und war eben auf der Buchenhöhe angelangt, als die Glocken den morgigen Tag des Herrn einläuteten. Mit stillem Genusse betrachtete er die vom Glanze der Abendsonne verklärte Landschaft, über der die milden Abendglockentöne verschwebten. Da mit einem Male durchfuhr ihn ein glücklicher Gedanke. „Wie wär’s,“ sprach er, „wenn ich auch das Ereigniß auf den Vorabend eines Sonntages, eines Feiertages verlegte? Wenn ich unmittelbar vor der Katastrophe die Gedanken aller vier Personen auf den morgigen Tag gerichtet sein und alle vier diese Gedanken aussprechen ließe? Dadurch befreie ich mich ja von der Beschränkung, die mir das Local auslegt, und treibe die Schilderung der besondern Stellung, welche jede der vier Personen zum Leben hatte, mehr in’s Innere, in die Gemüthswelt hinein, wo ich sie dann in der Form des Selbstgesprächs bequemer, kürzer und prägnanter aussprechen kann. Ja, so will ich’s machen! Das Kind, obwohl augenblicklich in die enge Stube gepfercht, ist mit seinen Gedanken schon im grünen, blühenden Hag, wo es den Feiertag spielend verleben wird; die Mutter rüstet ihr Feierkleid, freut sich im Voraus des morgigen Festgelages und wünscht sich Glück, daß solche Tage die Mühen und Sorgen des Alltagslebens bisweilen unterbrechen; die beiden Großmütter werden durch das bevorstehende Fest nur noch stärker daran erinnert, daß für sie die Freuden des Lebens verklungen sind. Wahrlich, so geht’s! Und zugleich ergiebt sich mir durch die Einführung des Feiertages noch ein anderer Vortheil. Die Betrachtung, wie unversehens und urplötzlich das Schicksal oft in unser Leben herniederfährt und mit Einem Schlage jede Hoffnung, jede Aussicht, selbst die nächste und scheinbar sicherste, vernichtet, diese Betrachtung, die der gegebene einfache Stoff in einem ernst und sinnig gestimmten Gemüthe leicht anregen kann, von der ich aber wünschen muß, daß sie [409] durch meine Darstellung des Stoffes unausbleiblich angeregt wird, springt ja dann wie von selbst aus dem Contrast des Unglücks und des gehofften Glücks hervor. Das Kind, das morgen den blumenreichen Anger, Thal und Höhen zu durchschweifen hofft; die Mutter, welche sich in Gedanken schon im Festkleide in heiterer Gesellschaft, beim frohen Male sitzen sieht; die Großmutter, die dann noch das Mahl zu kochen, das Kleid zu spinnen gedenkt: sie werden morgen Alle neben der lebensmüden Urahne aus der Todtenbahre ausgestreckt liegen!“
Ganz erfüllt von diesem Gedanken, trat der Dichter den Rückweg an und begann im Wandern schon den Stoff einzutheilen, zu formen und zu gestalten.
Als er in’s Haus trat, rief ihm der Pfarrer entgegen: „Willkommen! Ihr Aussehen kündet Gutes; die Muse scheint Ihnen ein Schäferstündchen geschenkt zu haben.“
„Ich glaube, der Spaziergang war nicht unfruchtbar,“ versetzte der Dichter.
„O, so lassen Sie uns hören, Herr Professor!“ bat ungeduldig das Mädchen, „bitte, sagen Sie uns das Gedicht her!“
„Es thut mir leid, Ihren Wunsch nicht erfüllen zu können,“ erwiderte der Dichter; „die Hauptsache ist, glaube ich, abgethan, aber von den Versen ist noch kein einziger fertig. Doch morgen werde ich, so Gott will, das Gedicht zum Frühstück auftischen.“
Dem Mädchen kam es bedenklich vor, daß noch kein Vers fertig war und doch schon das Hauptgeschäft abgemacht sein sollte.
Aber der Dichter hielt Wort. In der ersten Morgenfrühe aufgestanden, schrieb er, im Garten auf- und abwandelnd, das Gedicht in sein Schreibtäfelchen nieder, und als man sich später in der Laube zum Morgenkaffee niedergelassen hatte, las er:
Urahne, Großmutter, Mutter und Kind
In dumpfer Stube beisammen sind;
Es spielet das Kind, die Mutter sich schmückt,
Großmutter spinnet, Urahne gebückt
Wie wehen die Lüfte so schwül!
Das Kind spricht: „Morgen ist’s Feiertag;
Wie will ich spielen im grünen Hag,
Wie will ich springen durch Thal und Höh’n,
Dem Anger, dem bin ich so hold!“ –
Hört Ihr’s, wie der Donner grollt?
Die Mutter spricht: „Morgen ist’s Feiertag;
Da halten wir Alle fröhlich Gelag,
Das Leben hat auch Lust nach Leid,
Dann scheint die Sonne wie Gold!“ –
Hört Ihr’s, Wie der Donner grollt?
Großmutter spricht: „Morgen ist’s Feiertag’,
Sie kochet das Mahl, sie spinnet das Kleid,
Das Leben ist Sorg’ und viel Arbeit;
Wohl dem, der that, was er sollt’!“ –
Hört Ihr’s, wie der Donner grollt?
Am liebsten morgen ich sterben mag!
Ich kann nicht singen und scherzen mehr,
Ich kann nicht sorgen und schaffen schwer;
Was thu’ ich noch auf der Welt?“ –
Sie hören’s nicht, sie sehen’s nicht,
Es flammt die Stube wie lauter Licht:
Urahne, Großmutter, Mutter und Kind
Vom Strahl miteinander getroffen sind;
Und morgen ist’s Feiertag.
Kein Bravo erklang, als er geendet; aber die tiefe Bewegung in den Zügen des Pfarrers und ein paar Thränen im Auge der Tochter spendeten ihm den beredtesten Beifall. „Das ist vortrefflich!“ sagte endlich der Pfarrer, „Sie haben den Stoff in der That ganz und gar durchgeistet und ihn von aller Erdschwere befreit. Und wie schlicht und einfach ist die Form und doch wie so vollkommen dem Gehalt entsprechend! Nirgend ein Ueberfluß des Stoffes über die Idee, und nirgend ein Mangel! Wie haben Sie den Stoff so schön zu gruppiren gewußt! Erst die Exposition, dann treten der Reihe nach das Kind, die Mutter, die Großmutter, die Urahne mit ihren Wünschen, Hoffnungen und Aussichten auf morgen hervor, und schließlich die Katastrophe. Und wie harmonisch und gefügig schließt sich dieser ebenmäßigen Gruppirung des Stoffes die streng symmetrische Gliederung der metrischen Form an! Und wie bestimmt sondern sich die einzelnen Strophen durch die refrainartigen Schluß- und Anfangsverse der vier Mittelstrophen! Was mir aber besonders lobenswerth scheint, ist die schöne Anordnung, daß jedes Mal der Anfangsvers dieser Strophen auf den Feiertag, der Schlußvers auf das Gewitter hinweist. Dadurch bleibt der Gegenstand, dem die Gedanken und Wünsche der vier Personen zugekehrt sind, und das Schicksal, das ihnen allen droht, alle vier Strophen hindurch vor unserer Seele stehen, und eine hochtragische Empfindung muß sich nothwendig unser bemächtigen. Wahrlich, Freund, da ist Ihnen etwas gelungen, woran sich nach uns noch viele Tausende erfreuen werden!“
Der Pfarrer hat damals nicht zu viel gesagt. Die Nation betrachtet noch heute das Gedicht als ein Kleinod ihrer poetischen Literatur, und auch nach uns werden sich noch viele Tausende an der Schönheit desselben erquicken.
Bilder aus dem Berliner Rechtsleben.
Eine der merkwürdigsten Bibliotheken der Welt enthält das Berliner Stadtgericht. Mit Erstaunen und mit Grauen betritt man eine lange Reihe großer Zimmer, die von oben bis unten mit Folianten und Actenstücken vollgepfropft sind, und noch mehr wächst unsere Verwunderung, wenn wir erfahren, daß alle diese Tausende von Büchern nichts sind als Hypothekenbücher, – denn wir befinden uns in der Deputation für Hypothekensachen, die allein hinreichen würden, eine recht anständige Behörde zu bilden, größer als manches große Kreisgericht. Wären diese Bände leer, man könnte die Weisheit der theologischen Facultäten von ganz Deutschland hineinschreiben und behielte doch noch Platz genug für einige sinnige Anmerkungen! Wie im alten Rom die sibyllinischen Bücher nur von einem eigens dazu bestellten Priestercollegium eingesehen werden durften, so stehen die Hypothekenbücher nur dem Richter offen; für das Publicum sind die sogenannten Grundacten angelegt. Jedes der siebenzehntausend Grundstücke Berlins hat hier seine eigenen Acten; jeder Verkauf, jede Verpfändung, überhaupt jeder dasselbe betreffende Contract, befindet sich darin, so daß diese Acten oft ein höchst respectabeles Aeußere haben, vor dem der Aermste zurückschreckt, welcher zu ihrer Durchsicht verdammt ist. Dennoch ist eine derartige Beschäftigung bisweilen sehr interessant, denn man gewinnt so einen Ueberblick über den Werth der Grundstücke zu verschiedenen Zeiten. Dieser Werth hat sich in den letzten zwanzig Jahren ganz erstaunlich gehoben; Baustellen, die noch vor einem halben Menschenalter vielleicht für eintausend Thaler erworben wurden, sind jetzt für den zehnfachen Preis nicht feil. Seinen Höhepunkt hat indessen der Grundwerth bereits verlassen. Die Bauwuth, einen anderen Ausdruck kann ich nicht wählen, brachte es in den Jahren 1852 bis 1865 so weit, daß, wie man ermittelt zu haben glaubte, der Bedarf an Wohnungen noch auf zehn Jahre hinaus gedeckt sein sollte, eine Annahme, die sich jedoch schon in diesem Jahre als übertrieben herausgestellt hat. Das Gepräge dieses Zeitraumes ist übrigens ein so merkwürdiges, daß ich meinen Lesern eine Schilderung desselben nicht vorenthalten möchte.
Den sturmbewegten Jahren 1848 und 1849 folgte naturgemäß eine tiefe Stille auf politischem Gebiete, welche die Industrie mächtig begünstigte. In Berlin steigerte sich namentlich die Baulust in einer Weise, die man krankhaft nennen möchte. Der bis dahin ziemlich philiströse, meist nur auf Theater und Paraden beschränkte Gesichtskreis unserer guten Berliner hatte sich erweitert, Speculation trat an die Stelle der früheren engen Gevatterschaften, [410] und so wurde es auch ein beliebtes und einträgliches Geschäft, Häuser zum Verkaufe zu bauen. Dem Spießbürger fiel es zwar nach wie vor nicht ein, sich damit zu befassen; wer aber mit kühnem, berechnendem Unternehmungsgeiste nach Berlin kam, hatte die besten Aussichten. Zur Anzahlung auf Grund und Boden genügte gewöhnlich eine geringe Summe; wer nur diese erspart hatte, für den fanden sich bald Capitalisten, welche das zum Baue nöthige Geld hergaben und dafür Hypotheken auf das neue Haus nahmen. Auf diese Weise sind die neuen Stadttheile vor den Thoren beinahe durchgängig entstanden, und so hat sich ein Schlag von Berliner Hauswirthen herangebildet, der mit Recht einen gewissen, eigenthümlichen Ruf erlangt hat. Ihre ganze Laufbahn hat in der Regel nur vier Stufen: Arbeitsbursche, Hausknecht, Schankwirth (sogenannter Budiker), Hausbesitzer; in letzterer Eigenschaft führen sie den stolzen Titel „Rentier“. Der junge Mann kommt von seinem Dorfe nach Berlin und findet eine Stelle als Arbeitsbursche, Allmählich avancirt er zum Hausknechte, eine Stellung, deren Einkünfte das Gehalt eines Volksschullehrers gewöhnlich weit übersteigen und dem eines Richters bisweilen ziemlich nahe kommen sollen. Hat er hierbei einige hundert Thaler gespart, so kauft er zur Begründung eines eigenen Herdes eine sogenannte Budike, das Ideal aller Hausknechte und Droschkenkutscher. Ein nothdürftig ausgestatteter Keller ist sein Geschäftslocal, in welchem Droschkenkutscher, Arbeiter und Soldaten nach des Tages Last und Mühe – die ersteren auch während des Tages ein halbes Dutzend Mal – den inneren Menschen mit Weißbier, Kümmel und Wurst stärken. Solche Geschäfte, in denen übrigens das Sie zu den größten Seltenheiten gehört, blühen immer, und schon nach zehn oder fünfzehn Jahren hat der „Budiker“ ein Capital gesammelt, das zur Anzahlung bei einem Hauskaufe reicht. Die höchste Stufe seines irdischen Glückes ist erstiegen, Berlin um einen Rentier reicher.
Jetzt entfalten sich alle die schönen Eigenschaften, welche die gütige Natur in ihn legte. Hat er ehemals schwer gearbeitet, so stolzirt er jetzt in Schlafrock und Morgenschuhen, die Cigarre im Munde, vor seinem „Grundstücke“ auf und ab und beobachtet das Treiben seiner Miether, welche, Dank sei es den berüchtigten, von einem patriotischen Manne herausgegebenen Miethscontractsformularen, wenig mehr als seine Frohnleute sind. Versetze sich der Leser, in die Lage eines kleinen Handwerkers oder Beamten, der eine billige Wohnung sucht, d. h. hier für achtzig bis hundert Thaler jährlicher Miethe. Man trifft den Herrn „Wirth“ glücklich an, stellt sich ihm vor und hat ungefähr folgendes peinliches Verhör zu bestehen: Wo wohnten Sie bisher und weshalb wollen Sie ziehen? Können Sie die Miethe pränumerando zahlen? Haben Sie Kinder oder Hunde? etc. etc. Bejaht man die letzte Frage ganz oder theilweise, so ziehen schon bedenkliche Falten über das Antlitz des gestrengen Herrn. Kinder und Hunde sind ihm bei seinen Miethern grundsätzlich ein Gräuel; denn sie verletzen durch Ruhestörung möglicher Weise die Hausordnung, welche überall in großen Lettern mit der einfach erhabenen Unterschrift „Der Wirth“ prangt. Diese Hausordnung bis in’s Kleinste zu halten, muß sich jeder Miether ausdrücklich verpflichten, und so wird sie eine Quelle ewigen Zankens und Processirens. Wenn man den Gesetzen des Drako nachsagte, sie seien mit Blut geschrieben, so muß man der Hausordnung mindestens so viel lassen, daß sie höchst spitzfindig ausgedacht ist und eine Menge Klippen enthält, die kaum zu umgehen sind. Ein wenig auf die Treppe vergossenes Wasser, das vorübergehende Beherbergen eines zum Besuche anwesenden Verwandten reicht schon zur Anstrengung einer Exmissionsklage hin, denn die Hausordnung bedroht den geringsten Verstoß mit der Strafe sofortiger Ausweisung.
So geschieht es, daß ein guter Theil unserer Hauswirthe tägliche Gäste des Stadtgerichtes sind; freilich mißlingen ihre chicaneusen Versuche nicht selten, woran ihre erklärte Vorliebe für Winkelconsulenten viel beiträgt. Ich weiß mich eines Falles zu entsinnen, in dem eine Exmissionsklage angestellt und glänzend verloren wurde, weil der Miether einen Canarienvogel hielt, den der Herr Wirth unter die im Miethscontracte verbotenen Hausthiere zu rechnen beliebte.
Die Zahl dergleichen Winkelconsulenten ist in Berlin Legion; sie ergänzt sich aus gewesenen Justizbeamten aller Grade und gehört nicht zu den kleinsten Uebelständen unseres Rechtslebens. Auf ungefähr siebenhunderttausend Berliner kommen etwa siebenzig Rechtsanwälte, also im Durchschnitt einer auf zehntausend Menschen. Diese Zahlenangabe macht es Jedem deutlich genug, daß die Amtsthätigkeit jener Herren meistentheils nur größeren Processen zugewandt sein wird. Doch weiter! „Ohne Kreuzer kein Schweizer,“ sagte man in den Zeiten des heiligen Römischen Reiches deutscher Nation, und bei uns heißt es: „Ohne Kostenvorschuß kein Rechtsanwalt“. Der Arme ist also übel genug berathen; er muß, wenn er selber die nöthige Gewandtheit nicht besitzt, den Winkelconsulenten in die Hände fallen. Diese werthe Gilde verlangt nun zwar keinen Kostenvorschuß, so lange der Hülfesuchende kein Geld hat, zwickt und zwackt ihn aber nachträglich um so ärger und, was das Schlimmste an der ganzen Sache ist, verdirbt ihm gewöhnlich den Proceß. Dazu kommen die zahlreichen Betrügereien, welche von den „Winkelmännern“, wie man sie wohl am Stadtgerichte nennt, ausgeübt werden. Kein Monat vergeht, in dem nicht einer oder mehrere derselben auf die Anklagebank wandern. Wer es zu beobachten Gelegenheit hat, kann sein Vergnügen finden an der Amtswürde und dem komischen Aufwande anscheinend juristischer Gelehrsamkeit, mit welchem sie ungebildete Leute täuschen. „Das wollen wir schon machen,“ heißt es, „ich werde sofort eine Klage aufsetzen und die Verurtheilung des X. veranlassen.“ Dabei bleibt es aber dann auch. Kurz, die ganze Geschichte ist heillos, und sie wird nicht eher aufhören, als bis man sich zu der längst gewünschten und längst für nothwendig gehaltenen freien Advocatur entschließt.
In engem Zusammenhange mit der großartigen Entwickelung unserer Bauindustrie gestaltete sich aber auch ein neuer Zweig des modernen Schwindels: es entstand das berüchtigte System der vorgeschobenen Personen. Capitalien, die ihr Vermögen in kurzer Zeit verdoppelt und verdreifacht zu sehen wünschen, setzen sich mit irgend einem verdorbenen Subjecte in Verbindung, gewöhnlich wird es ein Commissionär oder Winkelconsulent sein. Dieser stellt sich nun dem Bauunternehmer, der soeben seine Ersparnisse zum Ankaufe von Grund und Boden verwendet hat, als den eigentlichen „Geldmann“ vor und schließt mit ihm einen Contract, nach welchem er Holz, Steine und die nöthigen Arbeitslöhne hergiebt. Der Unternehmer verpflichtet sich dagegen, in Höhe jener Lieferungen nach Vollendung eines Theiles des Baues Hypotheken für seinen Gläubiger eintragen zu lassen, und fängt frisch an zu arbeiten. Die Sache geht nun auch ganz gut, bis die erste Balkenlage gelegt und die versprochene Hypothek eingetragen ist. Kaum hat aber der Vorgeschobene sein Hypothekeninstrument in der Hand, so cedirt er es dem eigentlichen Capitalien, nimmt seine Belohnung in Empfang und denkt nun gar nicht mehr daran, seine weiteren Verbindlichkeiten aus jenem Contracte zu erfüllen. Eine Klage hilft gegen ihn nicht, denn wo nichts ist, hat der Kaiser sein Recht verloren.
Der arme, geprellte Unternehmer steht also vor seinem angefangenen Hause, ohne Mittel, es zu vollenden. Rathlos versucht er es, anderweitige Hülfsquellen zu eröffnen, da empfängt er einen recommandirten Brief. Er bricht das Siegel: die Hypothek ist ihm von ihrem jetzigen Besitzer gekündigt. Der Zahlungstermin kommt heran, er kann die bedeutende Summe nicht auftreiben, und das Ende vom Liede ist, daß ihm sein grausamer Gläubiger das Grundstück subhastiren (gerichtlich verkaufen) läßt. Ein solches Subhastationsverfahren ist aber ebenso langwierig wie kostspielig und für den Betroffenen nachtheilig. Der Capitalist ersteht natürlich das Grundstück, da er der alleinige Gläubiger ist, zu einem verhältnißmäßig geringen Preise, und sein armes Opfer ist um, die Früchte jahrelanger, mühevoller Arbeit gebracht.
Auf solche Weise pflegen unsere Blutsauger den Schweiß ihrer Nebenmenschen an sich zu bringen, und dabei ist es leider nicht einmal möglich, derartige Manöver zu bestrafen, da die Vereinbarung derselben zwischen den beiden Ehrenmännern nur in den allerseltensten Fällen nachgewiesen werden kann.
Zwei in Berlin häufig vorkommende andere Erscheinungen verdanken jener Industrie ebenfalls ihr Dasein. Es giebt hier eine große Anzahl Personen, von denen der Volkswitz sagt: „sie haben fünf Häuser und keine Schlafstelle,“ d. h. der Executor verfolgt sie so, daß sie sich nirgends blicken lassen dürfen. Dies sind entweder solche Hauseigenthümer, welche den oben beschriebenen Gaunern in die Hände gefallen sind, oder ohne jeden Pfennig eigenen Capitales zu bauen begonnen haben. Eine zweite für den Uneingeweihten merkwürdige Erscheinung sind die Inhaber der [411] sogenannten „faulen Hypotheken“, deren Vermögen auf dem Papiere nach Tausenden und Abertausenden zählt, während sie in Wahrheit keinen Groschen besitzen. Ihre Industrie ist eine höchst gefährliche und dem Strafgesetze leider zu häufig unerreichbare und besteht darin, daß sie auf irgend ein Grundstück Hypotheken auf Hypotheken eintragen lassen, weit über den Werth desselben hinaus, natürlich ohne einen Deut dafür zu zahlen. Die darüber ausgestellten Documente werden nun an geübte Schwindler abgetreten, welche sie an den Mann bringen. Das platte Land bietet meistentheils Gelegenheit genug dazu, wie folgender Fall darthut.
Ein Bauer wünschte wegen Kränklichkeit sein werthvolles Gut zu veräußern, um seiner Heilung in Berlin ruhig entgegensehen zu können und den Rest seiner Tage in Ruhe zu verleben. Kaum hat er eine dahin zielende Anzeige in die Blätter rücken lassen, so erscheinen einige höchst anständig gekleidete Herren mit den nie fehlenden schweren goldenen Uhrketten und Lorgnetten und stellen sich ihm als die früheren Rittergutsbesitzer und jetzigen Rentiers So und So aus Berlin vor. Der Bauer wird nun in der zuvorkommendsten Weise gebeten, sein Gut zu zeigen. Nachdem dies geschehen, reisen die Herren, die mit dem Kaufpreise ganz einverstanden sind, ab, und nach einigen Tagen macht sich der Landmann, einer verbindlichen Einladung folgend, schon auf den Weg nach Berlin, um hier den Verkauf abzuschließen. Sein Empfang ist glänzend; in den luxuriösen Zimmern eines Hotels wird der arme, von dem ungewohnten Glanze und der Herablassung seiner vornehmen neuen Bekanntschaft ganz geblendete Mann den Herren von So und So, dem Baron N. und Gott weiß, wem noch, vorgestellt. Beim Glase Champagner malt man ihm aus, wie ruhig und sorglos er in der Residenz leben könnte, wenn er sein Gut gegen „feine“ Hypotheken umtauschte, wie er sich daheim hart schinden und plagen müsse, hier dagegen nichts weiter zu thun habe, als vierteljährlich seine Zinsen in Empfang zu nehmen. Und wem sollte das nicht einleuchten? Der weinselige Betrogene willigt in Alles. Am nächsten Morgen noch ein delicates Frühstück, und dann zum Notar. Das Geschäft wird abgeschlossen, und unser biederer Uckermärker reist, von seinen nobeln Bekannten noch per Droschke bis zum Bahnhofe begleitet, mit einem ganzen Paket schöner, neuer Hypothekendocumente nach Hause, um „Muttern“ sein ungeahntes Glück und seinen vortheilhaften Handel zu erzählen. Die Gauner sind inzwischen aber auch nicht müßig gewesen. Noch an demselben Tage wird der Bauernhof gegen einen baar ausgezahlten Spottpreis an irgend einen Capitalisten veräußert, der von Hause aus mit der sauberen Sippschaft unter einer Decke steckte. In etwa acht Tagen sieht man einige hochgepackte Möbelwagen das Thor passiren. Sobald diese Betten und Möbel verkauft sind, ist aus einem behäbigen Bauersmanne ein Bettler geworden, welcher der Armenpflege zur Last fällt, wenn auch nicht auf lange Zeit, denn Gram und Kummer sichern dem armen Betrogenen bald den kleinen Sandhügel auf dem Armenkirchhofe.
Der Leser würde irren, wenn er glaubte, daß derartige arge Betrügereien zu den Seltenheiten gehören. Berlin birgt eine ganz respectable Zahl solcher Hochstapler, die freilich ihrer eigenen Sicherheit halber nach verübtem Verbrechen auf einige Zeit von der Bühne verschwinden und namentlich von ihrem Opfer nie wiedergesehen werden. Gelingt es der Criminalpolizei, sie zu fangen, so brauchen sie freilich wegen freien Quartiers auf lange Zeit außer Sorge zu sein.
Man sieht, die „Metropole der Intelligenz“ ist für Unerfahrene ein heißes Pflaster, auf dem manches frische Lebensglück zu Grunde geht. Allein es ist nicht zu ändern. Die ungeheure Entwickelung einer Stadt wie Berlin muß nebst vielem Guten naturgemäß auch Böses mit sich bringen, dem übrigens unsere Behörden, es darf dies nicht geleugnet werden, mit möglichster Thatkraft entgegen wirken.
Die letzten Jahre haben überhaupt den Grundbesitz in eine recht üble Lage gebracht. Der gesteigerte industrielle Verkehr läßt es dem Capitalisten vortheilhafter und bequemer erscheinen, sein Geld in industriellen Unternehmungen zu verwerthen, die ihm nicht allein schnelleren und höheren Ertrag versprechen, sondern ihm auch die Möglichkeit gewähren, jeden Augenblick in beliebiger Weise über sein Vermögen verfügen zu können. So wendet sich das Capital vom Grundbesitze ab der Industrie zu, und zwar mit vollem Rechte. Unsere Hypothekengesetzgebung ist noch eine so starre und unbequeme, daß ein natürliches Verhältniß zwischen Grund und Boden und der Arbeit nicht eher hergestellt sein wird, als bis es gelingt, eine den Grundsätzen des modernen Lebens angepaßte Gesetzgebung zu schaffen, eine Aufgabe, mit der sich sowohl der Staat als Private gleich emsig beschäftigen. Wünschen wir, daß es ihnen bald gelinge, das Räthsel zu lösen.
Zum Schlusse sei es gestattet, einige interessante Notizen der letzten statistischen Ermittelungen über die Berliner Grundverhältnisse mitzutheilen.
Die Zahl der bebauten und unbebauten Grundstücke Berlins betrug im Jahre 1866 sechszehntausend einhundertundfünf, von denen jedes im Durchschnitte mit 16,357 Thalern Schulden belastet war. Der Werth der bebauten Grundstücke betrug 348,762,995 Thaler, der der unbebauten 6,318,830 Thaler; die Privilegien und Gerechtigkeiten, welche mit Grund und Boden zusammenhängen, wurden auf 609,515 Thaler veranschlagt, so daß der Gesammtwerth des unbeweglichen Berlins, wenn ich mich so ausdrücken darf, die Summe von 355,655,340 Thalern erreichte. Dabei ist von Jahr zu Jahr eine Erhöhung des Werthes von etwa zehn Procent berechnet werden! Die Belastung stieg dagegen nur um fünf Procent. Der Durchschnittskaufpreis eines Grundstückes stellte sich unter den elfhundertundsiebenundzwanzig Verkäufen des Jahres 1866 auf 26,205 Thaler heraus, wozu allerdings noch einhundertundfünfneunzig unfreiwillige Verkäufe (Subhastationen) zum Durchschnittspreise von 15,824 Thalern (!) kamen. In jedem Jahre werden etwa vierhundertundfünfzig Neubauten begonnen.
Alle diese Gebäude wurden von dreiundzwanzig Gesellschaften mit 213,359,500 Thalern versichert und ihr Miethsertrag überstieg 21,750,000 Thaler, die von mehr als 150,000 Miethern gezahlt wurden. Von ihnen entrichteten: 47,200 Miether unter fünfzig Thaler, 54,000 zwischen fünfzig und hundert Thalern, 18,150 zwischen hundert und hundertundfünfzig Thalern, 10,000 zwischen hundertundfünfzig und zweihundert Thalern, 10,000 zwischen zweihundert und dreihundert Thalern, 5000 zwischen dreihundert und vierhundert Thalern, 3000 zwischen vierhundert und fünfhundert Thalern, 4600 zwischen fünfhundert und tausend Thalern, und 1600 über tausend Thaler Miethe.
Also fast ein Drittel aller Berliner wohnt in Räumen, die jährlich weniger als fünfzig Thaler Miethe kosten, das heißt in dumpfen, schlechten Löchern! Wer ahnte dies wohl, wenn er zum ersten Male die glänzenden Straßen der Hauptstadt des norddeutschen Bundes betritt? Es scheint in der That eins der dringendsten Erfordernisse zu sein, diesen gesellschaftlichen Uebelständen abzuhelfen; dann wird auch in Berlin nicht mehr erst der zehnte junge Mann zum Militärdienste körperlich brauchbar sein.
Der Schildknappe aus dem Thierreich.
Der Hund, aus grauer Vorzeit her der treueste Gefährte des Menschen, hat im Laufe der Jahrhunderte in seinem Geschlecht so außerordentliche Veränderungen erfahren und so viele Varietäten aufzuweisen wie keine andere Thiergattung. Klimatische Verhältnisse, Kreuzungen mit Verwandten, wie Wolf und Fuchs, Kreuzungen im eigenen Geschlecht, Verwendung, Fütterung, Pflege und Erziehung mögen die Factoren gewesen sein, so ganz verschiedene Thiere in Größe, Form, Behaarung, Farbe etc. zu bilden, welche wir sämmtlich ihrem Wesen und Charakter nach zur Familie des Hundes zählen. Manche Gattung ist wohl ganz ausgestorben, wie die der plumpen Möpse, oder die der früheren ziemlich glatt- oder stockhaarigen St. Gotthardshunde, andere sind vor Jahren neu geworden, wie die der possirlichen Affenpinscher oder die der prächtigen großen Leonberger Hunde. Die Liebhaberei, ich möchte fast sagen die Mode, spielt auch hier eine große Rolle, und daher kommt es, daß mancher Herr seinen winzigen borstigen Köter eben so liebt, wie ein Anderer seinen kolossalen vorzüglich gepflegten Racehund. Die Hauptsache bleibt aber auch hier die, daß der Hund dem Besitzer gegenüber seinen Zweck bestmöglich erfüllt, er mag aussehen, wie er will, und einer Race angehören,
[412]welcher er will. Richtige Wahl ist freilich zu treffen, aber diese fällt nicht schwer, denn fast zu jedem Gebrauche sind die Hunde durch Raceeigenthümlichkeit oder besonderes Individuell genügend gekennzeichnet.
Obgleich für Kinder oder besondere Liebhaber ein Bussel, welches tanzt, springt, hinkt, spricht, Pfote giebt, Rad dreht, Wache steht, Karten legt etc., von Werth sein mag, obgleich mancher Hund kleiner Race, wie Spitz, Pudel, Pinscher, Dächsel etc., in vielen Fällen ganz vorzüglich war und durch Wachsamkeit und Anhänglichkeit den Besitz oder das Leben seines Herrn vor Gefahr bewahrte, so denke ich doch für heute hauptsächlich an Hunde großer Racen, welche im Stande sind auf Befehl des Herrn den Gegner kräftig zu fassen und zu werfen.
Die Periode des Raubritterthumes ist zwar vorbei, ebenso die Zeit, in welcher fast jeder Reisende zu Fuß oder zu Wagen, persönlicher Sicherheit halber oder zum Schutz seiner Gelder und Waaren, einen oder einige arge Packans mit sich führte, aber dennoch tritt auch in unserer Zeit noch oft an Eigenthümer größerer Besitzungen oder an Herren, welche genöthigt sind, unsichere Gegenden zu bereisen, das Bedürfniß heran, sich einen soliden, starken Hund anzuschaffen, ein Thier, welches schon durch seine Größe und Figur imponirt und jedem Frevler an der Person oder dem Eigenthume seines Herrn muthig die Stirn bietet. Dergleichen Hunde sind nur aus den Racen der Doggen, der Neufundländer, der Wolfshunde, der Schäferhunde, der Jagdhunde und ganz besonders der Leonberger Hunde, die sich fast eines Weltrufes erfreuen, zu recrutiren.
[414] Obgleich ich als großer Liebhaber fast hundert Hunde der verschiedensten Racen unter den Händen gehabt habe, so muß ich doch der Leonberger Race als der körperlich schönsten, geistig befähigtsten und edelsten den entschiedenen Vorzug geben. Wer so wie ich Gelegenheit hatte, dreißig bis vierzig Exemplare dieser außerordentlich großen, vorzüglich voll und seidenweich behaarten Thiere in vorherrschend weißer Färbung mit großen rostbraunen oder schwarzen Flecken, seltener in gelblicher, graulicher oder ganz schwarzer Farbe, zu besitzen und in jeder Altersstufe zu beobachten, wird mir gern Recht geben.
Der bildschöne, große gedrungene Kopf mit hoher Stirn und breiter, schwarzer, feuchter, stets windender Nase, der mittellange Behang mit sehr langem, seidenweichem Schutzhaar, das große, klare, sprechende Auge, die breite Brust mit langer mähnenartiger Halskrause, der musculöse Nacken, überhaupt auch die ganze Haltung und das Tragen des prachtvollen, oft einen Fuß langen Federschweifes lassen das Thier höchst apart und nobel erscheinen. Dazu das treue, namentlich kinderfreundliche, Gemüth, die außerordentliche Anhänglichkeit, überhaupt die vorzüglichste geistige Begabung gerade dieser Race sind Grund genug, sich aus ihr einen Liebling und lieben Freund zu wählen.
Von einem Landwirth, Herrn Essig, in Leonberg bei Stuttgart, seit 1846 gezüchtet, sind dieselben eine eigene besondere Race, hervorgerufen durch langjährige Kreuzung der alten St. Bernhards- oder Barryrace mit Pyrenäen-Wolfshündinnen und Neufundlandshündinnen. Herrn Essig’s Bemühungen, welche namentlich dahin gingen, durch Größe, prächtige Behaarung und auffällige Intelligenz ausgezeichnete Thiere zu ziehen, sind glänzend gelungen, und es hat derselbe in der Zeit von zwanzig bis zweiundzwanzig Jahren Exemplare gezogen, welche sehr schön und würdig genug sind, jedem Maler oder Zeichner als Modell zu dienen. Er hat Thiere gezogen, die im dritten Jahre, wenn sie ausgewachsen waren, drei Fuß bis drei Fuß sechs Zoll Rückenhöhe und einhundertfünfzig bis einhundertachtzig Pfund Gewicht hatten, Thiere, deren Mähne und Behaarung an den Hinterschenkeln (Hosen) einen halben bis drei Viertel Fuß lang waren, Thiere, deren Gang, stolze Haltung und Wesen vollständig den Typus des Löwen trugen. Varietäten mit Doppelnasen, oder mit Wolfsklauen, sogar ohne Schwanz geborene Thiere, sogenannte Bärenhunde, haben bei Herrn Essig auch nicht gefehlt, sind jedoch eben nicht Repräsentanten der eigenen Race, sondern nur Spielarten und haben blos für besondere Liebhaber einen Werth, trotzdem sie in ihrer Originalität auch sehr schön sind.
Der Ruf der Leonberger Hunde, über deren Klugheit man außerdem wohl ein Buch schreiben könnte, ist aber auch zum Weltruf geworden. Sie haben Weg gefunden nicht allein nach dem Süden und Norden Deutschlands, sondern auch nach Nordamerika, Afrika, Brasilien, China, der Türkei, Sibirien, Italien, Spanien Frankreich, England, Neufundland, sogar nach Bethlehem etc. Selbst auf dem St. Bernhardsberge sind dieselben vor zehn bis dreizehn Jahren verlangt und mit großem Danke seitens des Prior Deléglise angenommen worden, sollen aber, wie mir der Prior G. Roh unterm 17. April und 13. Mai 1868 schrieb, leider gestorben sein, und die Ordensbrüder sind zur Zeit auf die degenerirten Barryabkömmlinge und auf einen großen der Barryrace ähnlichen Hund von einem Herrn Schuhmacher-Bachler in Hollingen bei Bern, der sich als guter Maronnier erweise, beschränkt. Glücklicher sind Herrn Essig’s Lieblinge auf dem St. Gotthard gewesen. Der Director des Hospizes, Felix Lombardi, schreibt mir unterm 17. März 1868, daß an Stelle der bei ihnen nicht mehr existirenden Barryrace seit dem Jahre 1861 die prachtvollen, sehr sanften und guten Hunde des Stadtrath Essig in Leonberg getreten seien und den Dienst in gleich vorzüglicher Weise versehen.
Was nun aber den eigentlichen Werth dieser Essig’schen Leonberger Hunde anlangt, so ist derselbe nicht allein in der körperlichen Schönheit, sondern hauptsächlich in der wirklich auffälligen Intelligenz und in der außerordentlichen physischen Kraft zu suchen. Ein dreijähriger ausgewachsener und von Herrn Essig selbst dressirter Hund leistet Alles, was man nur von einem vorzüglichen Racehunde fordern kann.
Von der Aufzucht und Dressur des Leonbergers sehe ich hier ab, da ich darüber in einem spätern Artikel ausführlich zu sprechen gedenke, ich will im Nachstehenden blos Einiges über die Dressur dieser Hunde auf den Mann sagen, eine Abrichtung, der man allerdings aus Gründen der Humanität nicht das Wort reden kann, die aber für gewisse Fälle, in denen die Vertheidigung durch einen treuen starken Hund nothwendig wird, sich dennoch unerläßlich macht und oft wirksamer ist als die Vertheidigung durch Schußwaffen.
Ist der Hund im Alter von einem bis anderthalb Jahr, hat er die niedere Schule gewissermaßen durchlaufen und ist sein Wesen ernster und gesetzter, sein Bau erstarkt und kräftig, so ist es Zeit, ihn auf den Mann zu dressiren. Die einfachste Art dieser Dressur ist aber folgende: Man läßt einen muthigen Mann, gekleidet in seine schlechtesten, zerlumptesten Alltagskleider, unter welchen er aber ein festes Lederwams trägt, zu sich etwas auffällig und geräuschvoll in’s Zimmer treten. Der Kopf und das Gesicht des Mannes müssen mit fester Lederkappe und Eisengitter verwahrt sein, den Hals muß eine sehr starke Lederbinde mit Blecheinzug umgeben, die Lederhosen müssen gut mit Werg wattirt und die Hände mit groben Lederhandschuhen gesichert sein. Die ganze Erscheinung muß dem Hunde gegenüber den Eindruck eines Vagabunden machen.
Schon beim ersten Anblick solches Eindringlinges wird der brave Hund ganz außer sich werden. Fängt der Fremde aber vollends an zu gesticuliren, zu lärmen, wohl gar nach dem Herrn zu schlagen, so ist’s mit der Ruhe aus, und das Thier wird unaufhaltsam dem Burschen zu Leibe gehen. Der Kampf beginnt. Der Fremde wehrt sich, schlägt bald nach dein Hunde, bald nach dem Herrn. Der Herr mengt sich schließlich mit ein, und indem er scheinbar mit dem Fremden ringt, ruft er fortwährend: „Allons, faß! Hetz, hetz, faß!“ oder „Brr! Brr!“, je nachdem er, das eine oder daß andere Stichwort wählt. Der Hund wird bald so wüthend werden, daß die Fetzen umher fliegen, faßt und reißt er doch, wo er nur kann.
Er muß aber regelrecht fassen und zwar am Halse des Gegners, denn es ist die Aufgabe einer guten Dressur, daß der Hund seinen Gegner nicht beißt oder gar zerfleischt, sondern nur festhält. Der Herr zeigt ihm einen rothen, apfelgroßsn Lederknopf, welcher vorstehet fest an der Halsbinde des Fremden angebracht ist, und ruft darauf zeigend: „Allons, faß hier!“ Sehr bald wird der Hund merken, daß sich’s an dieser Stelle leicht packen und festhalten läßt, und nun beginnt das Schütteln und Drängen, bis der Gegner, von der Gewandtheit und Wucht des Hundes überwältigt, fällt.
Keuchend und schnaubend wird der Sieger über dein Besiegten stehen, fest fixirend, ob sich derselbe noch bewegt oder etwa gar zu weiterer Fortsetzung des Kampfes anschickt. Beim geringsten derartigen Versuche ist es sicher, daß er schonungslos wieder packt. Der Herr lobt und liebkost jetzt den Hund durch: „So ist’s recht! so ist’s brav!“ und ruft ihn, sobald er sich etwas beruhigt hat, ab durch: „Hier! Zurück!“ Der gehorsame Hund folgt, und während der Herr ihn liebkosend am Halsgurt festhält, sucht der geschlagene Ritter das Weite.
Nach solchem Exercitium wird der Hund natürlich noch einige Zeit aufgeregt bleiben, und will ihn der Herr das sogenannte Nachschicken oder Nachgehen lehren, so braucht er nur die Thür zu öffnen und dem Hunde durch: „Allons, such, faß!“ erlauben, seinen Kampfgenossen zu suchen. Sobald er denselben erblickt, beginnt der Kampf von Neuem; am besten wird er so ausgehen, daß der Hund Sieger bleibt, um ihn anfänglich nicht zu entmuthigen. Der Herr ruft oder pfeift schließlich den Hund auch hier wieder ab und reicht ihm zur Belohnung ein Stück Fleisch oder einen anderen Leckerbissen.
Nach mehrtägiger Pause wird die ganze Uebung wiederholt, nur zuweilen mit dem Unterschiede, daß der Fremde dem Hunde beim Eintritte irgend welchen Lieblingsbissen als Lockspeise oder Beschwichtigungsmittel anbietet. Natürlich leidet der Herr unter keiner Bedingung die Annahme eines dergleichen Bestechungsobjectes, und fühlte sich der Hund ja versucht, zu naschen, so wird ein strenges Wort oder im Superlativ eine nachdrückliche Zurechtweisung mit der Hetzpeitsche ihm das rechte Verständniß beibringen. Sehr gut ist es auch, wenn der Fremde mehrere alte Röcke zu opfern hat, damit durch Abwechselung die Erscheinung immer eine andere wird und der Hund sich vielseitig ausbildet.
Obwohl nun namentlich in England die sogenannten Boxerhunde (Doggenart) oder im Würtembergischen die Leonberger, sowie die dort sehr üblichen Ulmer Dogs und die Wolfshunde so [415] dressirt werden, daß sie eine wirkliche Person zum Gegner haben, so ist es doch um der nicht zu verkennenden Gefahr und der dabei leicht eintretenden, das Leben des Angegriffenen bedrohenden Umstände halber, sowie auch des nicht zu vermeidenden Kostenpunktes wegen in Norddeutschland mehr Brauch, dem Hunde eine bewegliche Puppe zu bieten.
Hat man sich alte Kleider von einem Trödler verschafft, welche keine Witterung des Hauses in sich tragen, und dieselben durch festes Ausstopfen mit Werg oder Heu zu einer menschenähnlichen Figur geformt, so lehnt und befestigt man dieselbe an eine hohe, starke Brettwand am besten an die Wand eines Schuppens, welche mehrere Löcher hat, die so groß sind, daß ein Fremder bequem durchsehen und die Arme und den Kopf der Puppe bewegen kann. Die Puppe beginnt zu zappeln und zu gesticuliren, der Mann dahinter aber macht durch Geschrei und Spectakel einen derartigen Höllenlärm, daß der aufmerksame Hund sehr bald nach Zureden und Aufmuntern des Herrn der Puppe zu Leibe geht. Der Herr schlägt nach der Puppe und giebt sich auch hier den Schein, als ringe und kämpfe er mit derselben. Der Hund wird immer aufgeregter, besonders wenn er von dem versteckten Manne einige leichte Schläge bekommt. Das Packen, Rütteln, Schütteln und Zerzausen des gereizten Thieres wird zunehmend lebhafter. Der Herr zeigt ihm auch hier den üblichen großen Lederknopf, und der Hund wird sehr bald regelrecht den armseligen Wicht zu seinen Füßen liegen haben.
Ist diese Art zu dressiren auch weniger vollkommen, so ist sie doch gefahrloser und in vielen Fällen sogar sehr spaßig. Ein Hund von guter Befähigung wird bei öfterer Uebung auch nach letzterer Methode sehr gut.
Wenn ich nun hiermit in kurzen Umrissen angegeben habe, in welcher Weise die Dressur eines Hundes auf den Mann zur Ausführung gebracht wird, so verfehle ich nicht, zu gleicher Zeit darauf aufmerksam zu machen, daß je nach Lage der Umstände oder nach Befähigung des betreffenden Exemplares die Praxis oft auf Schwierigkeiten stößt, welche in so kurzem Raume nicht vollständig erwogen und ausreichend beleuchtet werden können. Daß die gesammte Dressur eines Hundes oftmals große Geduldproben und viel Zeitaufwand fordert, ist wohl leicht denkbar; ebenso erklärlich ist es aber auch, daß ein gut dresirter, namentlich ein ferm auf den Mann dressirter Hund, um des gebotenen Schutzes willen, viel, sehr viel Werth hat und fast unbezahlbar ist, daß daher oft Preise, wie es bei Herrn Essig der Fall ist, von fünfundzwanzig Gulden bis eintausend Gulden und darüber gezahlt werden, je nach Alter, Schönheit und Dressur der betreffenden Exemplare. Ebensowenig vergesse ich aber auch hinzuzufügen, wie es jedem Besitzer eines auf den Mann dressirten Hundes Pflicht sein muß, die größte Vorsicht und Ueberwachung seinem Hunde gegenüber stets zu beobachten; die Geschichte hat, und gerade in der jüngsten Zeit, traurige Fälle sorgloser und fahrlässiger Beaufsichtigung genug verzeichnet.
Für gewöhnlichen Hausbedarf oder als Gespiele der Kinder genügt auch vollständig ein Exemplar der Leonberger, welchem das Prädicat „auf den Mann dressirt“ abgeht. Ist wirklich Gefahr da oder wird der ernste Versuch gemacht, den Hund zu hetzen, so habe ich an meinen ganz vorzüglichen Leonbergern die öftere Wahrnehmung gemacht, daß sie recht wohl verstehen, ohne längeren Cursus durchlaufen zu haben, ihren Mann zu stellen. Die Hauptsache ist freilich, sich den Hund als Freund gezogen zu haben und seines unbedingten freudigen Gehorsams versichert zu sein; brutale, rohe Behandlung verfehlt auch hier den Zweck.
Blätter und Blüthen.
Der Tanz der Willis. Wer kennt das reizende Ballet „Gisela oder die Willis“ nicht? Es hat auf allen Bühnen Furore gemacht, doch ist es Niemanden eingefallen, nachzugrübeln, ob das Ganze blos eine poetische Idee, eine Erfindung sei oder eine auf eine Sage gegründete Volkssitte darstelle. Dies letztere ist indes der Fall, denn diese Sitte lebt noch jetzt unter dem Volke und zwar in Ungarn im Gömörer Comitat, unter den sogenannten Galóczen, deren Sprache sich von der anderer Ungarn nur durch die breitere, vollere Betonung der gedehnten Selbstlauter A und E unterscheidet. Die Sage selbst, die der Dichter Alexander Kisfaludy in Verse gebracht hat, ist die folgende: Der Ritter Lóránth zog mit dem Heerbanne Andreas des Zweiten nach Palästina und ließ daheim eine ihn liebende Braut. Als er nach mehreren Jahren aus dem heiligen Lande zurückkehrte, war sie bereits todt: er wanderte zu ihrem Grabe und benetzte mit seinen heißen Thränen die kühlen Matten, welche ihre irdischen Ueberreste deckten. In seinem Leid bemerkte er gar nicht, wie schnell die Stunden verstricken und daß der Mond hoch am Himmel und Mitternacht vorbei war. Mit Einem Male erblickte er die Gestalten mehrerer Mädchen und zwischen ihnen auch die seiner verstorbenen Braut; sie forderten ihn zum Hochzeitsreigen auf, und er mußte mit ihnen so lange tanzen, bis er, vorn Schlag getroffen, todt zu Boden stürzte und somit seiner Geliebten in’s Jenseits folgte. Bis hierher geht die Sage. Die Volkssitte aber besteht darin, daß, wenn eines jungen Mannes Braut stirbt, er von den Freundinnen der Verstorbenen nach dem Gottesacker gerufen wird und hier mit ihnen so lange tanzen muß, bis er wenigstens halb todt vor Erschöpfung zusammensinkt, ja, es geschieht sogar oftmals, daß er nie wieder aus eigenen Kräften aufsteht, sondern, vom Schlag getroffen, dem Beispiel des Ritters Lóránth folgt. Ich selbst war einmal Zeuge eines solchen Tanzes; zwar wohnte ich dem Ende desselben nicht mehr bei, doch erhielt ich vom traurigen Ausgange Kunde.
Es war in den ersten Tagen des Januarmonates, im Jahre 1849, als ich mit Ladislaus von Ujházi nach der unglücklich ausgefallenen Schlacht bei Kaschau in das Gömörer Comitat reiste; seine Gattin und drei seiner Kinder befanden sich dort im Hause seines Schwagers, Samuel von Dráskóczy, zu Harkács; diese wollte er von dort abholen und mit sich nach Debreczin nehmen, wo damals der ungarische Reichstag versammelt war. Bald nach unserer Ankunft kam ein junger Bursche, ein Stallknecht des Hausherrn, aus dessen Zimmer; er war in seinem besten Staat, hatte einen Blumenstrauß auf seinen Hut gesteckt und einen anderen an seine Brust, sah aber sehr traurig aus. Thränen glänzten in seinen Augen, seine Stimme war matt und gebrochen, man sah es ihm an, daß ihm ein großes Leid zugestoßen sei. Er bat seinen Herrn um Erlaubniß, auf die Hochzeit gehen zu dürfen.
„Deine Braut ist ja gestorben,“ bemerkte Dráskóczy, „und erst vor Kurzem; Du bist ein leichtsinniger Bursche, daß Du nicht einmal das Ende der Trauerzeit, sechs Wochen, abwartest, sondern jetzt schon eine Andere heirathest. Ihr habt Euch ja so sehr lieb gehabt, daß ich glaubte, Ihr könntet ohne einander nicht leben.“
„So ist es auch, gnädiger Herr,“ entgegnete der Bursche mit von Thränen halberstickter Stimme, „ich kann auch ohne meine Panni nicht mehr leben; eben deshalb will ich heute Abend Hochzeit an ihrem Grabe halten, die Willis werden dort sein, sie erwarten mich.“
„Das ist ein noch größerer Unsinn, und gut, daß Du es mir meldest, denn jetzt laß ich Dich durchaus nicht fort. Ich werde es meinem Beschließer sagen, daß er Dich in’s Loch steckt; dann werden Dir alle diese tollen Gedanken vergehen.“
Dráskóczy ertheilte die nöthigen Befehle, man sollte ein wachsames Auge auf den Burschen haben, und der Beschließer versprach, ihn auf’s Strengste beobachten zu lassen.
„Der Martzi wird dennoch durchgehen,“ sagte der Kutscher dem Sohne Dráskóczy’s und mir, als wir hinabgingen, um die Wagenpferde einiger Herrschaften zu besehen, die soeben als Gäste hierher gekommen waren.
„Glaubst Du?“ fragte der junge Dráskóczy.
„Ich weiß es gewiß; die Dorfmädchen werden ihn in Freiheit setzen; und wenn er unter der Erde verborgen wäre, sie fänden ihn doch auf, und die Bursche und alle Leute werden ihnen dabei helfen, der Herr Beschließer mag thun, was er will.“
„Es wäre vielleicht gut,“ meinte ich, „wenn ihn Dein Vater aus dem Comitate senden würde.“
„Er käme zurück, ohne daß man es ahnete,“ sagte der junge Herr. „Uebrigens, lassen wir den Leuten ihre Sitten, wenn sie sich dabei wohl befinden; es ist doch der poetischste Selbstmord, den der Bursche an sich begehen kann, und nicht bei allen diesen Tänzen folgt nothwendig der Tod. Der Mensch wird so lange tanzen, wie ihn seine Beine tragen; stürzt er einmal zusammen, dann lassen sie ihn liegen. Er schläft seinen Rausch aus, hat der Sitte und seinem Gewissen genug gethan und darf heirathen, denn nur wenn er den Willitanz glücklich überstanden, darf er es thun; eher würde ihm kein Mädchen die Hand am Altar reichen. Wenn Du willst, komm’ mit mir um Mitternachtszeit in den Friedhof, Du kannst diesem Todtenballe beiwohnen; ich selber habe noch keinen solchen gesehen, sondern nur davon gehört. Ich werde Dich abholen.“
„Ich aber werde Alles versuchen, um ihn zu verhindern,“ sagte ich.
Es war nicht möglich etwas dagegen auszurichten; weder der alte Herr von Dráskóczy, noch der Beschließer, noch auch ich konnten den Tanz hindern, die Bauern wären ohne Zweifel zum Aeußersten geschritten, wenn man Gewalt gebraucht hätte.
Gehen elf Uhr nahm mich der junge Dráskóczy bei Seite und fragte mich, ob ich mit ihm auf den Friedhof gehen wolle. Ich hoffte, noch immer den Menschen retten zu können und folgte meinem Freunde. Als wir in die Einzäunung traten, erblickten wir bereits einige Mädchen in weißen Gewändern, mit aufgelösten Haaren und Rosmarinkränzen auf den Häuptern. Wir lehnten uns mit dem Rücken an die Wand der Capelle und warteten hier. Bald kam die Zigeunermusikbande, darauf der Bursche von zwei Willis geführt: offenbar hatte er schon mehrere Glas Wein hinabgestürzt. Die Mädchen sangen, die Musikanten spielten, er begann den bacchantischen, [416] orgienartigen Csárdás mit der Schwester seiner verstorbenen Braut, dann mit einer Andern, mit einer Dritten, und nach jeder Tour ließ man ihn wieder trinken; er taumelte bereits. Ich forderte den jungen Dráskóczy auf, dagegen einzuschreiten, und wir versuchten es die Leute zu überreden, doch es war nicht möglich; am Felsen der Vorurtheile scheiterten alle unsere Vernunftgründe. Als wir ihn aber fortreißen wollten, bemächtigten sich die Willis unserer Personen. Drei, vier von ihnen überfielen Jeden von uns, sie drehten uns im wirbelnden Kreisel, dem wir nicht widerstehen konnten, und wir waren froh, als sie uns endlich losließen und wir den Friedhof verlassen durften, ohne selber zu Tode getanzt zu werden. Am nächsten Morgen erkundigte ich mich nach Martzi; er war in total bewußtlosem Zustande nach Hause gebracht worden und mußte das Bett hüten.
Im Herbste desselben Jahres, als ich wieder mit dem jungen Dráskóczy zusammentraf, erfuhr ich von ihm, daß sich der Bursche in jener Nacht eine Lungenentzündung zugezogen, an deren Folgen er wenige Wochen darauf starb.
Ein Künstlerleben. Unsere Leser erinnern sich gewiß gern zweier Genrebildchen „O bete, Kind!“ und „Sein Bild“, von welchen wir jenes im vorigen Jahrgang, Nr. 49, dieses im laufenden, Nr. 21, der Gartenlaube mittheilten. Beide Male ist es versäumt worden, den Namen des begabten Künstlers zu veröffentlichen; um so mehr freut es uns, nun in den Stand gesetzt zu sein, mit diesem Namen zugleich das interessante Bild einer rüstigen Künstlerlaufbahn „von der Pike auf“ in raschen Zügen verbinden zu können.
Theodor Thieme lebt als ein vielgesuchter Portrait- und Genremaler in Dresden. Wie vielen seiner Kunstgenossen drückten die Armuth der Eltern und der Drang nach einer der Kunst möglichst nahe stehenden Thätigkeit ihm die kalte Nadel des Lithographen in die Hand. Bekanntlich erfreute, wie die Musik, auch die Lithographie sich früher der zunftmäßigen Behandlung ihrer Glieder; so kam auch Thieme zu einem schlesischen „Meister“ in die „Lehre“, mußte, da er kein „Lehrgeld“ bezahlen konnte, dasselbe durch verlängerte „Lehrzeit“ abverdienen und das bekannte Lehrlingsschicksal jener guten alten Zeit bis in sein achtzehntes Jahr ertragen, wo er als Wanderbursche in die Fremde zog. An selbstständigen Erwerb schon in der Kindheit gewöhnt, – denn noch als Zögling der untersten Classe des Görlitzer Gymnasiums, an welchem sein Vater den Zeichenunterricht ertheilte, hatte Thieme durch Malen von Stammbuchblättern, Landkarten und dergleichen für seine Mitschüler sich Rock und Stiefeln zu seiner Confirmation verdient – fand er bald lohnende Arbeit, zeichnete namentlich in Polen eine Menge Heiligenbilder in Kreide auf Stein und faßte, von dem ungewöhnlichen Geld in der Tasche ermuthigt, den Entschluß, jetzt noch, im einundzwanzigsten Jahre, auf eigene Faust Maler zu werden. Er eilte nach Dresden, erlangte (1844) den Aufnahmeschein zur Akademie und warf sich mit aller Kraft lang gehemmter Sehnsucht auf seine geliebte Kunst, des Leibes Nahrung und Nothdurft dem lithographischen Erwerb in seinen Freistunden anvertrauend. Dieses Vertrauen bewährte sich jedoch so wenig, wie der Ruf eines allgemein gepriesenen reichen „Beschützers der schönen Künste“, der ihn mit einer dringend empfohlenen Bitte um Unterstützung zurückwies, „weil er, nach seinen Kleidern zu urtheilen, der Hülfe noch nicht bedürfe“. Das Jugendglück half über den knurrenden Magen hinweg, Thieme schwang sich durch alle drei Classen der Akademie hindurch bis zu Julius Hübner’s Atelier empor und war gerettet. Empfehlung und glückliche Leistungen verschafften ihm lohnende Bestellungen, deren klingendes Resultat er anwandte, um sich auf der Akademie zu Antwerpen weiter auszubilden und nach vollendetem Cursus Brüssel und Paris zu besuchen und dann nach Dresden zurückzukehren. Dies geschah im Jahre 1853. Seitdem hat Th. Thieme den Kunstsitz an der Elbe nicht wieder verlassen. Hier war sein nächstes Streben, den Portraitbildern mehr dauernden Werth dadurch zu sichern, daß er Portraitgruppen im Charakter von Genrebildern componirte, gewiß das beste Mittel, dergleichen Gemälde vor dem Schicksal, von undankbaren Enkeln in die Rumpelkammer geworfen zu werden, zu bewahren. Von diesen genreartigen Portraits ging er zur Genremalerei selbst über, und zwar mit eben so vielem Geschick wie Glück. Seine „alte Muhme“ und „die Verlassene“, sowie „die Wittwe“ (von uns als „Sein Bild“ bezeichnet) und „O bete, Kind“, gehören zu den trefflichen Originalwerken, die mit Recht die Freude ihrer Besitzer sind. Möge dem Künstler noch mancher so glückliche Wurf gelingen, wie bisher! Der Ernst seiner Bilder ist stets der Art, daß er das Mitgefühl erregt, aber ohne es zu hart zu beladen oder gar zu verletzen.
Ein beharrlicher Druckfehler. Es ist gewiß wünschenswerth, daß die neuen Classikerausgaben, die wir nach dem Erlöschen des Cotta’schen Privilegiums zu erwarten haben, uns die Werke unserer großen Dichter in möglichst fehlerfreier und vollkommener Gestalt bieten. Um dies zu erreichen, sollte Niemand, der im Stande ist, zu Beseitigung der schon früh eingedrungenen und beharrlich von einer Ausgabe in die andere fortgeschleppten zahlreichen Druckfehler beizutragen, mit seinem Scherflein zurückhalten, und vielgelesene Blätter, wie die Gartenlaube, können sich ein wahrhaftes Verdienst erwerben, wenn sie derartigen Berichtigungen ihre Spalten öffnen. In der Hoffnung, daß sein Beispiel Nachahmung finde, will der Einsender dieses hiermit einen sinnverwirrenden Druckfehler in Platen’s Werken berichtigen.
In der „verhängnißvollen Gabel“ (Ausgabe von Platen’s Werken in fünf Bänden, Stuttgart und Tübingen, Cotta, 1854. – Vierter Band Seite 12) erzählt der Jude Schmuhl seinem Universitätsfreund, dem Schultheiß Damon:
„Noch in Leipzig ergab ich mich ganz, wie Du weißt, Schwarzkünsten und chemischen Studien,
Und die Chiromantie und die Pyromantie und die Nekromantie des Agrippa, Drauf las ich für mich Pfaff’s Astrologie und in Göttingen trieb ich Punktirkunst.“
und fährt dann fort:
„Als einst bei Nacht ich im Mondschein saß auf der Pleiße romantischen Trümmern,
Und ein Zephyr strich durch’s Buchengezweig, weit über die Felder der Eb’ne,
Da erschien ein Gespenst mir …“
Platen’s Leipziger Leser werden in Verlegenheit sein, wo sie an ihrem heimischen Flusse die romantischen Trümmer und die Buchenwaldungen zu suchen haben, und ihre Rathlosigkeit wird steigen, wenn sie bald darauf lesen:
„Sie (die Erscheinung) verschwand und es theilte der Nachtflor sich, tief sanken zu Thale die Nebel,
Ich selbst ließ drauf nach Arkadien mich einschreiben im Göttinger Posthaus.“
Die Lösung des Räthsels liegt einfach darin, daß statt „Pleiße“ zu lesen ist: „Plesse“. So heißt nämlich eine von Studenten zu Platen’s Zeit und auch jetzt noch vielbesuchte Burgruine in der Nähe von Göttingen.
Dresden. M. K.
Der Unions-Präsident Johnson ist, wie unsere Leser längst wissen, mit neunzehn gegen fünfunddreißig Stimmen freigesprochen. Eine einzige Stimme fehlte zur Zweidrittelmajorität, welche das Gesetz für die Verurtheilung erfordert. Niemand wird dieser Art Freisprechung ein bedeutendes moralisches Gewicht beilegen, auch wenn die vielfach verkündete Untersuchung wegen Bestechung zu Gunsten des Angeklagten sich in ein Gerücht auflösen sollte. Gleichwohl ist der Jubel der dort sogenannten demokratischen Partei, welcher Johnson angehört, außerordentlich und spricht sich in Verhöhnungen und Angriffen aus gegen Alle, welche während des Processes auf der Seite der Ankläger gestanden. Zu letzteren gehörte die „Gartenlaube“ insofern, als sie über diesen Gegenstand den unseren Lesern bekannten, Johnson’s Parteitreiben scharf rügenden Bericht eines ihrer langjährigen Mitarbeiter veröffentlichte. Gegen diesen erhebt soeben ein New-Yorker Journal seine Stimme, indem es ihm vorwirft: „er habe seinen Namen verschwiegen, weil er sich fürchte, öffentlich blamirt zu werden.“ Daß dieser Verfasser sich nicht fürchtet, hat er oft genug der amerikanisch-demokratischen Partei bewiesen. Er gehört zu den hervorragendsten Männern der Union und hat als Staatsmann wie als Publicist sich eine einflußreiche Stellung zu erringen gewußt. Schon deswegen brauchten wir uns nicht zu bedenken, einen Artikel aus seiner Feder in die Gartenlaube aufzunehmen. Wir haben aber auch außerdem in dem vorliegenden Fall die liberale Presse Deutschlands ohne Ausnahme auf Seite der republikanischen Partei Nordamerikas gefunden und ihr nach unserer Ueberzeugung uns angeschlossen. D. Red.