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Die Gartenlaube (1869)/Heft 15

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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Keil
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Entstehungsdatum: 1869
Erscheinungsdatum: 1869
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[225]

No. 15.   1869.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.


Wöchentlich bis 2 Bogen.    Vierteljährlich 15 Ngr. – In Heften à 5 Ngr.



Reichsgräfin Gisela.
Von E. Marlitt.
(Fortsetzung.)


„Hüten Sie sich, Herr!“ rief Sievert und legte seine Hand ohne Weiteres warnend und zurückhaltend auf den Arm des Portugiesen. „Das ist sie, wie sie leibt und lebt! … Es fehlt nur die kleine rothe Schlange am Halse – sonst steht sie wieder da mit dem weißen Gesicht und den langen Haaren, die elende Erbschleicherin! …. So hob sie auch die Hände, und – mein Herr war ein verlorener Mann! … Sie freilich modert, und ihre fluchwürdigen Hände können kein Unheil mehr anrichten – aber ihre Brut lebt fort!“ – Er zeigte auf das todtenbleiche junge Mädchen – wie eine der alttestamentlichen Gestalten, die den Fluch ihres Gottes herabbeschwören, stand der alte Mann mit dem finster dräuenden Gesicht auf der Terrasse. „Sie ist nicht um ein Haar besser,“ fuhr er mit erhobener Stimme fort; „ihr Herz ist kieselhart! Sie ist gefühllos wie ein Stein gegen ihre Leute und fragt den Henker danach, ob die Menschen um sie her vor Hunger wie die Mücken umfallen! … In Greinsfeld und Arnsberg wird für die Armen gebetet, aber sie satt zu machen, das fällt Niemand ein! … Herr, lassen Sie sie nicht über die Schwelle! Wo das Geschlecht seinen Fuß hinsetzt, da geht Unheil auf!“

Die junge Gräfin schlug die zitternden Hände vor das Gesicht und floh, aber schon nach wenigen Schritten fühlte sie sich zurückgehalten – der Portugiese stand vor ihr und nahm ihr die Hände sanft vom Gesicht.

Er schrak zurück vor dem blutlosen Mädchengesicht, das die Augen in Schmerz und Entsetzen zu ihm aufschlug. Vielleicht fühlte er für einen Augenblick Erbarmen – er hielt ihre Hände mit pressendem Drucke fest und zog sie jäh gegen sich, als wolle er sie schützend an seine Brust nehmen – aber genau mit demselben scheuen Zurückweichen, wie vorhin auf der Waldwiese, ließ er sie rasch wieder sinken.

„Sie hatten einen Wunsch, Gräfin; ich sah es an Ihrem Gesicht!“ sagte er mit unsicherer Stimme. „Darf ich ihn nicht mehr hören?“

Gisela hüllte ängstlich die verabscheuten Hände in die Falten ihres Muslinkleides.

„Im Walde liegt eine arme Frau,“ flüsterte sie tonlos. „Sie ist wahrscheinlich vor Erschöpfung umgesunken – ich kam an dies Haus, um Hülfe für sie zu suchen.“

Dann schritt sie mit niedergeschlagenen Augen an ihm vorüber – dem Walde zu. … Sie war vernichtet – die Beschuldigungen des alten Mannes hatten sie wie Keulenschläge[WS 1] getroffen …

War das dieselbe junge Dame, die vorgestern mit stolzem Nachdruck alle ihre hohen Titel hergezählt und mit ihnen betont hatte, daß sie unter allen Umständen die Hochgeborene bleibe? … Wo war das stolze Blut der Reichsgrafen Sturm und Völdern, das ihr eben noch überwältigend nach den Schläfen gebraust war und ihrem Gesicht den Ausdruck hochmüthiger Verachtung ausgeprägt hatte? – Seine Elemente bestanden aus Ehrbegier, Herrschsucht und Egoismus – es bäumte sich gegen jegliche äußere Verletzung seiner Hauptthesen – aber der edlen Sprache des Gewissens gegenüber schwieg es und sank mit all’ seinem hohlen Phrasenthum kläglich zusammen.

Die arme Frau war während Gisela’s Abwesenheit zum Bewußtsein gekommen; sie sah die zurückkehrende junge Dame mit vollem Verständniß an, aber sprechen konnte sie noch nicht und war außer Stande, sich zu erheben. Den kleinen Jungen hatte es jedenfalls beschwichtigt, die Augen der Mutter offen zu sehen – er schrie nicht mehr, sondern streichelte lallend und unbeholfen mit den dicken Händchen das blasse Gesicht des Weibes.

Gisela hörte Männerschritte vom Waldhause herkommen – sie wußte die Hülfe nahe, und nun wollte sie, ohne noch einmal den Kopf umzuwenden, weitergehen; denn bei aller Zerknirschung kam jetzt doch auch ein anderes Gefühl mächtig zum Durchbruch: der weibliche Stolz. … Und wenn auch der Neuenfelder Wohlthäter, der Menschenfreund, allen Grund hatte, sie zu verurteilen – er durfte doch nicht gestatten, daß sein Diener sie beleidigte. … Aber er hatte das furchtbare Anathem des schrecklichen alten Mannes mit keiner Silbe gerügt – es war offenbar zu sehr im Einklang mit seiner eigenen Anschauung gewesen, und obgleich ihn ein momentanes Bedauern überschlichen, er hatte doch die bittere Lehre für die hartherzige Gräfin Sturm ganz am Platze gefunden und sie in keiner Weise zu mildern gesucht.

Jetzt schwoll das Herz des jungen Mädchens in Bitterkeit, und von diesem Gefühl überwältigt, verließ es die Unglückliche in dem Moment, wo der Portugiese in Sievert’s Begleitung herzutrat. Der alte Soldat trug verschiedene Erquickungen auf einer Platte, aber kaum hatte das Kind das alte, finstere, bärtige Gesicht erblickt, als es auch gellend aufschrie und zitternd vor Furcht das Köpfchen an die Brust seiner Mutter drückte.

Gisela blieb erschrocken stehen – die Augen des hülflosen Weibes ruhten angstvoll auf ihr; sie verstand die stumme Bitte sofort und kehrte zurück. Einige Erdbeeren, die am Wege standen, pflückte sie und hielt sie dem Kinde hin – es lachte unter Thränen und ließ sich gutwillig von ihr auf den Arm nehmen. … Dieser [226] eine Augenblick entsühnte ihre ganze liebeleere Vergangenheit, ohne daß sie es wußte – sie gab das tiefbefriedigende Recht der Wiedervergeltung auf gegenüber dem Mitleiden, der Barmherzigkeit.

Der Portugiese schien es anders aufzufassen – er griff rasch nach dem Kind, um es von ihrem Arm zu nehmen. Seine dunklen Augen hefteten sich durchdringend auf ihr Gesicht.

„Das schickt sich nicht für Sie, Gräfin Sturm!“ sagte er – wie schneidend klang die so oft gehörte Phrase aus diesem Munde! Seine Stimme hatte genau jenen eiskalten Klang mit der Beimischung von Hohn, wie vorgestern. „Sie halten Ihr Wort schlecht!“ fuhr er fort. „Ich hörte, wie Sie vorgestern versprachen, sich nie mehr in der Weise vergessen zu wollen. … Sie sind auf dem gefährlichen Weg der Verheimlichung – denn Sie können doch unmöglich im weißen Schlosse erzählen, daß Sie das Kind auf dem Arme gehabt haben!“

Er erinnerte sie an jenen schwachen Moment, wo sie sich der kleinen unschuldigen Gesellschaft im Kahn geschämt und mit ihrem Versprechen zugegeben hatte, daß sie die lieblosen Gesinnungen ihrer Standesgenossen theile. Er war ungesehener Zeuge gewesen; in der rücksichtslosen Art und Weise aber, wie er sie darauf zurückführte, trat seine ganze, von Frau von Herbeck betonte Feindseligkeit zu Tage, und das reizte die eben erst beschwichtigte Mädchenseele abermals zum Trotz.

„Ich werde meine Handlung zu verantworten wissen!“ entgegnete sie stolz und legte nun auch ihren linken Arm fest um das Kind.

Er trat zurück und bog sich wieder über die Frau. Seine Bemühungen blieben ohne Erfolg; er flößte ihr wiederholt Madeira ein und rieb ihre Hände und Schläfe mit einer starken Essenz, aber sie hatte jedenfalls zu lange Mangel gelitten – sie war unfähig sich aufzurichten und konnte noch immer vor Schwäche nicht sprechen.

Langes Besinnen schien nicht Sache dieses Mannes zu sein – er hob plötzlich die Leidende wie eine Feder vorn Boden auf und trug sie auf seinen Armen nach dem Waldhause.

Wie gewaltig, und doch wie leicht die majestätische Gestalt dahinschritt! Welch’ ein Unterschied zwischen ihm, der das Elend mit starkem Arm stützte und es barmherzig an seine Brust nahm, und dem Mann im weißen Schlosse! … Seine Excellenz sprengte ganze Salven luftreinigender Essenzen um sich her, wenn ja einmal ein „Individuum“ mit dem Stempel der Dürftigkeit in seine Nähe gerathen war.


16.

Nun stand Gisela doch wieder auf derselben Stelle, die sie vorhin entsetzt fliehend verlassen hatte. Sie war den voranschreitenden Männern stillschweigend gefolgt, gleichsam magnetisch angezogen durch die Augen der Frau, die zurückgewendet während der ganzen Wegstrecke unablässig auf ihr und dem Kinde geruht hatten. Die Leidende war in’s Haus getragen worden, und nun wartete die junge Dame unter ängstlichem Herzklopfen, bis Jemand kommen und ihr den Kleinen abnehmen würde.

Wie vortrefflich hatte sie sich in ihre Rolle gefunden! Sie zeigte dem Kinde das Aeffchen, den Papagei und trug es nach der Fontaine. … Das junge Mädchen mit dem durchsichtig herabfließenden, seeblauen Gewande, mit dem langwallenden, blonden Haar stand in seiner hinreißenden Lieblichkeit neben der funkelnden Wassergarbe wie die verlockende Brunnennixe selbst – erst mit dieser Erscheinung vollendete sich der Märchenzauber, der um das alte Waldhaus webte und wehte.

Endlich trat der Portugiese wieder auf die Terrasse, und die Haushälterin folgte ihm. Die Frau hatte offenbar keine Ahnung, bei wem sich das Kind befand, das sie holen sollte, und sprang bei Gisela’s Anblick ganz erschrocken die Treppe herab. Sie knixte tief und ehrerbietig.

„Aber, gnädige Gräfin, das ist doch wahrhaftig kein Geschäft für Sie! … Der schwere, schmutzige, kleine Kerl!“ rief sie in halbem Entsetzen und reichte hastig nach dem Kinde. Aber da kam sie schlimm an. Der Kleine schlug beide Aermchen um Gisela’s Hals und warf den Kopf abwehrend und schreiend zurück.

„Still, still, kleiner Schreihals!“ beschwichtigte die gute, dicke Frau ängstlich. „Deine arme Mutter erschreckt sich!“

Alle Bemühungen, das Kind vom Arme der jungen Dame zu locken, scheiterten. Der Portugiese war inzwischen auch die Treppe herabgesprungen – ihn schien das Wehren und Sträuben des Knaben in eine seltsame Aufregung zu versetzen – seine Augen loderten und hafteten selbstvergessen in leidenschaftlicher Unruhe, ja, mit einer Art von Ingrimm auf den kleinen Armen, die beharrlich und immer fester den zarten, weißen Hals umschlangen, während das Köpfchen sich tief in die blonden Haarmassen der jungen Dame wühlte.

Das südliche, jähzornige Naturell des Mannes kam plötzlich erschreckend zum Durchbruch – er stampfte leise mit dem Fuße auf und hob wiederholt die Rechte, als wolle er den kleinen Trotzkopf von dem jungen Mädchen fortschleudern und ihn wie einen Wurm zertreten.

Ueber Gisela’s Gesicht lief eine jähe Purpurröthe – sie sah mit einem schweren Blick nach dem Hause – es war unverkennbar, sie kämpfte mit sich selbst. Bei der heftigen Bewegung des Portugiesen jedoch drückte sie den Knaben beruhigend an sich.

„Still, mein Kind – ich bringe Dich zu Deiner Mutter!“ sagte sie mit entschlossener und doch so süß beschwichtigender Stimme und ging festen Schrittes über den Kiesplatz und die Treppe hinauf.

Sievert hatte den Auftritt von der Thür aus mit angesehen.

Als Gisela auf die Schwelle trat, blieb sie einen Moment vor ihm stehen. Sie hatte sich hoch und stolz aufgerichtet, aber in der Art und Weise, wie sie das schöne Haupt zu ihm hinneigte, kam die ganze kindliche Unschuld, das Jungfräuliche in ihrer Erscheinung hinreißend zum Ausdruck.

„Seien Sie unbesorgt,“ redete sie ihn mit leise zuckenden Lippen an. „Wenn mir auch das Unheil auf dem Fuße folgt, wie Sie sagen – in dem Augenblick hat es gewiß keine Macht, denn ich gehe den Weg der Barmherzigkeit.“

Der alte Soldat schlug, vielleicht zum ersten Mal in seinem Leben vor einem Menschen, die Augen nieder, während die junge Gräfin in die Halle trat.

Die nachfolgende Haushälterin öffnete eine Thür, die in das südliche Thurmzimmer führte. Da lag auf einem Feldbett, in sauberen, weichen Hüllen das arme Weib und streckte seinem Kinde angstvoll die Hände entgegen – es hatte jedenfalls sein Schreien gehört. Gisela setzte den Kleinen auf das Bett; dabei wurde ihre Hand mit schwachem Druck festgehalten – die Leidende zog sie an ihre müden, bleichen Lippen. Welch schweres Opfer ihr, dem armen, verachteten Weibe, in diesem Augenblick von der stolzen Hochgeborenen gebracht wurde, ahnte sie darum nicht.

Die junge Gräfin hatte von jener Sturmnacht, wo sie mit ihrem Stiefvater Zuflucht im Waldhause suchte, nur noch dunkle, unklare Vorstellungen – hatte man doch auch Alles gethan, die Erinnerung an den Vorfall in ihrer Seele zu unterdrücken. Sie erkannte das Zimmer nicht wieder – sie wußte nicht, daß sie in diesem Augenblick auf derselben Stelle stand, wo einst die unheimliche blinde Frau ihre kleine Hand ingrimmig von sich geschleudert hatte. Jener furchtbare Moment hatte mithin keine Gewalt mehr über sie. Gleichwohl fühlte sie das Herz von einer unerklärlichen Bangigkeit zusammengeschnürt.

Ihre Augen glitten scheu durch das Zimmer – es machte einen so düsteren, freudlosen Eindruck mit seinen tiefen, in klafterdicke Mauern eingebrochenen Fensternischen. … Alte, abgenutzte Möbel, wie sie im weißen Schloß kaum die Domestikenstuben aufzuweisen hatten, standen an den Wänden, und darüber hingen verblichene Pastellbilder in schwarzen Holzrahmen, Portraits mit schlichtem Ausdruck und in anspruchsloser, bürgerlicher Kleidung. … Hier hauste sicherlich der unheimliche alte Mann – dieser augenblicklichen Annahme widersprach jedoch eine sehr elegante goldene Uhr, die auf einer Kommode pickte, wie auch ein kleiner Tisch in einer der Fensternischen, der mit zierlichem Schreibgeräth bedeckt war.

Ueber dem Kopfende des Feldbettes wallte ein dunkler Vorhang, und er war es hauptsächlich, der so geheimnißvoll beklemmend auf das junge Mädchengemüth wirkte. Er schien offenbar mehr dazu bestimmt, profane Augen, als das verderbliche Sonnenlicht abzuwehren – bis in diese Ecke vermochte kein Strahl zu dringen. … Bei den Bemühungen um die Kranke war ohne Zweifel unabsichtlich an der niederhängenden Schnur des Vorhanges gezogen worden, er zeigte sich in der Mitte getheilt – es war ein schmaler Spalt, aber er genügte gerade, um zwei Augen in die Welt sehen zu lassen – zwei melancholische, von dunklen, [227] über der Nasenwurzel zusammenstoßenden Brauen beschattete Augen, bei denen der Beschauer unwillkürlich an ein tragisches Menschenschicksal denken, mußte.

Gisela hatte dieses wunderschöne, schwermüthige Männergesicht mit dem blond niederwallenden, vollen Bart vor langen Zeilen gesehen – „vielleicht in einem der colorirten Heldensagen-Bücher, die sie als Kind so unbeschreiblich geliebt hatte.“. Es lag etwas Unirdisches in dem Gesammtausdruck der Züge – entweder der Mann war nie auf Erden gewandelt, oder die Malerhand hatte in diesem Kopf eins Lebens- und Leidensgeschichte meisterhaft verklärt.

Dieses halbverhüllte Oelbild im Verein mit den Gerätschaften aus längstvergangener Zeit machten das düstere Zimmer zu einer Art von Reliquienschrein. Gisela meinte, mit der Luft auch den Hauch und Staub vertrockneter Blumenreste einzuathmen, ihr war, als müsse man hier in einsamen Stunden ein leises Geflüster aus dunkler Vergangenheit herüber hören können.

Sie nahm hastig alles Geld, das sie bei sich trug, legte es auf das Bett der Kranken und forderte sie auf, nach ihrer Genesung sofort nach Arnsberg zu kommen – sie wolle für das Kind sorgen; dann verließ sie das Zimmer.

In der Halle schrak sie zusammen vor einem ausgestopften Tiger, der am Boden kauerte und, den Kopf aus die Vorderpfoten gelegt, tückisch nach ihr hinüber stierte; die zottigen Felle unter ihren Füßen, die gleißenden Waffen an den Wänden, auf denen das Sonnenlicht funkelte, – das Alles erschien ihr wildfremdartig wie der Herr des Hauses selber. … Und dort in einer halboffenen, gegenüberliegenden Zimmerthür stand der alte Mann, mit finsteren Augen, in sichtlicher Spannung des Moments wartend, wo die Eingedrungene, „der das Unheil auf dem Fuß folgte“, das Haus verlassen würde.

Sie floh hinaus auf die Terrasse und legte draußen tiefaufathmend die Hand auf ihr heftig klopfendes Herz.

„Sie haben sich gefürchtet in meinem Hause?“ fragte die Stimme des Portugiesen neben ihr – er hatte, so lange sie im Waldhause war, dasselbe nicht betreten.

„Ja,“ flüsterte sie scheu weggewendet und schritt an ihm vorüber. „Ich fürchte mich vor dem alten Mann, und auch –“ sie schwieg.

„Und auch vor mir, Gräfin,“ vollendete er in eigenthümlich bedeckten Tönen.

„Ja, auch vor Ihnen!“ bestätigte sie muthiger, indem sie sich langsam auf der obersten Treppenstufe nach ihm zurückwandte und mädchenhaft schüchtern, aber doch mit dem Ausdruck ernster Aufrichtigkeit in seine Augen sah.

Dann stieg sie die Stufen hinab und schritt über den Kiesplatz. Am Springbrunnen blieb sie einen Augenblick stehen, hielt ihre weißen Hände in den niederfallenden Sprühregen und legte sie an die klopfenden Schläfe.

„Rache ist süß!“ schnarrte droben auf der Terrasse der Papagei und schwang sich wild auf seinem Ring. Die erschrockene junge Dame sah, wie der Portugiese, der ihr offenbar folgen wollte, einer Bildsäule gleich am Fuß der Treppe stehen blieb und mit bleichem Gesicht zu dem Thier hinaufstarrte.

„Wer weiß, was der Mann für eine Vergangenheit hat – selbst sein Papagei schnaubt Rache!“ hatte die schöne Stiefmutter gesagt. Und in der That, in seiner Erscheinung lag, wenn auch nur augenblicklich, etwas Wildes, Ungebändigtes. … Das war sicher ein Charakter, der nicht vergab, noch vergaß, der das Wort: ,Aug’ um Auge, Zahn um Zahn’ unerbittlich zur Geltung brachte und auf seinem Schilde trug!

Die Aeußerung der Mama hatte sehr verdächtigend gelautet – seltsam – die junge Dame wußte, daß der Mann ihr ausgesprochener Widersacher war, und dennoch, in dem Augenblick, wo er ihr sein edelschönes Antlitz wieder zuwandte, kam ihr ein Gefühl der Beschämung, fast ein stechendes Weh darüber, daß die zweideutige Bemerkung in ihrer Seele wiedergeklungen hatte.

Er stand mit wenigen Schritten neben ihr. Mittels einer leichten Bewegung seiner Hand fing auch er einige der niederfallenden Tropfen auf.

„Schönes, klares Wasser – nicht wahr, Gräfin?“ fragte er. Vorhin war seine bedeckte Stimme weich und wohllautend gewesen – jetzt mit dem häßlichen Rachegeschrei des buntgefiederten Thieres war der finstere Geist wieder über ihn gekommen. „Was für Wunder stecken doch in solch’ einem köstlichen Waldquell!“ fuhr er fort. „Die Gräfin Sturm läßt sich Stirn und Hände benetzen, und – weggespült ist das Werk der Barmherzigkeit, die Berührung mit einer Welt, außerhalb der sie steht! … Sie kann getrost in’s weiße Schloß zurückkehren und unter strenge Augen treten – es haftet nichts mehr an ihr!“

Gisela erblaßte und wich unwillkürlich einen Schritt von ihm zurück.

„Nun, fürchten Sie sich abermals, Gräfin?“

„Nein, mein Herr – in diesem Augenblick sind Sie nur feindselig – nicht jähzornig wie vorhin. … Ich bebe nur vor der blinden Heftigkeit.“

„Sie haben mich jähzornig gesehen?“ Es lag viel Betroffenheit in seinem Ton.

„Würde ich wohl je in das Haus dort getreten sein, wenn ich nicht für das hülflose, unvernünftige Geschöpfchen auf meinem Arme gezittert hätte?“ fragte sie. Jetzt brach auch ihr tief beleidigter weiblicher Stolz in Blick und Stimme durch.

Die zwei verhängnißvollen Linien auf der Stirn des Portugiesen vertieften sich und ein leichtes Roth trat in die braunen Wangen – seine Lippen aber zückten spöttisch.

„Sie haben wirklich geglaubt, ich würde mich an dem armen, kleinen, eigensinnigen Tropf vergreifen?“ sagte er.

„Ja, mein Herr,“ entgegnete das junge Mädchen und sah, trotz ihrer energischen Haltung, mit den weitaufgeschlagenen braunen Augen fast kindlich unschuldig zu dem hohen, gewaltigen Mann empor. „Ich bin noch sehr unerfahren – ich verstehe gar nicht, in den Gesichtszügen Anderer zu lesen, denn mein Leben ist ein sehr einsames –“

„Aber den Jähzorn im menschlichen Auge kennen Sie?“

„Ja – und ich weiß auch, daß die Hand keiner Leidenschaft so schnell gehorcht, wie ihm.“

Sein Blick hing an ihrem Gesicht.

„Wie mag Ihnen dieses Stück Nachtseite der Menschenseele nahe gekommen sein!“ murmelte er mehr wie für sich. … Und in der That, sie stand da vor ihm mit der keuschen Stirn und den leidenschaftslosen Zügen, wie eine jener Gestalten, denen die Maler den Palmzweig in die Hand drücken. „Und so wild und unbeherrscht wollen Sie auch mich gesehen haben?“ fügte er nach einem augenblicklichen Schweigen hinzu.

Ein leises Erröthen lief über ihr Gesicht. „Ich habe diese Ausdrücke nicht gebraucht,“ versetzte sie, abermals scheu zurückweichend. „Aber ich mußte vorhin bei Ihren Augen denken, daß ich sie früher schon einmal gesehen habe.“

Wie von einem elektrischen Schlag getroffen, wandte der Portugiese plötzlich sein Gesicht nach der entgegengesetzten Richtung, so daß die junge Dame nicht einmal die Linie seines Profils sehen konnte.

„Sie waren in Brasilien, Gräfin? … Denn wo sonst könnten Ihnen meine Augen begegnet sein?“ fragte er in erzwungen leichtem Ton, wobei er angelegentlich die niederfallenden Tropfen der Fontaine zu zählen schien.

Diese Art Nonchalance von Seiten eines Mannes, der in seiner ganzen majestätischen Erscheinung ihr so gewaltig imponirte, dessen Handlungsweise, gegenüber den Menschen, sie bewunderte, verletzte sie tief.

„Ich kann begreiflicherweise nur von einer Aehnlichkeit sprechen,“ sagte sie kühl zurückhaltend, „von einer Aehnlichkeit, die vielleicht nur im augenblicklichen Ausdruck liegt. … Ich wurde als Kind von einem Mann im heftigsten Jähzorn thätlich gemißhandelt – an diesen Moment dachte ich, als ich mich vorhin – überwand und den Knaben in das Haus, unter den Schutz seiner Mutter trug.“

„Hatten Sie den Mann gereizt?“

„Nein, mein Herr – absichtlich gewiß nicht! … Ich war vor das weiße Schloß gelaufen, um meine neuen, schönen Kupferdreier“ – ein flüchtiges Lächeln glitt im Rückblick auf diesen opfermuthigen Kindergedanken um ihre Lippen – „den Neuenfelder Armen als Unterstützung zu schicken. … Der Mann, den ich vorher nie gesehen hatte, schleuderte mich weit hin – ich glaubte, er wolle mich tödten. Er nannte mich ein häßliches, gebrechliches Menschenkind – und dann hatte er Recht – ich muß wohl ein sehr schwaches Geschöpf gewesen sein, denn der eine Augenblick des Schreckens und Entsetzens machte mich krank und [228] elend für viele Jahre – er hat mich von allem Glück, allen Freuden der Kindheit ausgeschlossen.“

Wie ergreifend klang die leise Klage und Trauer in der kinderklaren Stimme des jungen Mädchens!

Der Portugiese hatte ihr längst wieder sein Gesicht zugewendet – auf seiner sonst so bleichen Stirn lag beharrlich ein dunkelrother Streifen – innere Bewegung schien alles Blut auf diese eine Stelle zu concentriren.

„Kein Wunder dann, daß der Moment so unverwischbar in Ihrer Seele hängen geblieben ist!“ sagte er in jenen bedeckten Tönen, die vorhin schon so eigenthümlich beklemmend das Herz der jungen Dame berührt hatten. Es kam ihr vor, als bebten seine Lippen, als er frug: „Aber wissen Sie auch genau, daß der Mann lediglich im Zorn handelte? … Wer weiß, vielleicht litt seine Seele tausend Schmerzen.“

Gisela senkte nachdenklich die Stirn.

„Wer weiß es!“ wiederholte sie betroffen. „Man hat mir erzählt, er sei ein bösartiger Mensch gewesen, ein Mensch, der sich nicht gescheut haben würde, uns das Haus über dem Kopfe anzuzünden – so behauptet Frau von Herbeck. … Er soll auch dem Papa sehr schlimme Dinge gesagt haben –“

„Der Vermessene!“ unterbrach sie der Portugiese heiser auflachend. „Ich hoffe doch, Seine Excellenz, der Minister, wird bei seiner entschiedenen Vorliebe für die gesetzliche Ordnung nicht einen Augenblick gezögert haben, jenen Menschen auf die eclatanteste Weise zur Rechenschaft zu ziehen?“

Die junge Gräfin sah erstaunt empor – ein wahrhaft dämonischer Zug entstellte seinen schöngeschwungenen Mund – sie sah zum ersten Mal die weißen, festen Zähne hinter den höhnisch geschürzten Lippen.

„Nun, Gräfin,“ fuhr er fort, „wurde er nicht vor strenge Richter gestellt? … Man weiß ja, daß sie hier zu Lande mit den Ohren Seiner Excellenz hören und mit seiner Zunge sprechen – lauter brave, wackere Leute, die ihre Stellung mit beneidenswerthem Tact begreifen! … Wie, sitzt er noch in Ketten und Banden, der freche Attentäter, muthmaßliche Brandstifter –“

„O mein Herr, nicht ein Wort weiter über ihn! Ich kann es nicht hören!“ unterbrach ihn das junge Mädchen und streckte ihm abwehrend die Rechte entgegen. „Sie haben eben selbst in Zweifel gezogen, ob er allein der Schuldige war!“ – Ein leises Beben lief durch ihre Glieder. – „Der Unglückliche ist noch in derselben Nacht ertrunken!“

„Er ist ertrunken,“ wiederholte der Portugiese mit sinkender Stimme – der rothe Streifen auf seiner Stirn war plötzlich wie weggelöscht; selbst die Lippen erschienen bleich. „Wie, Gräfin, Sie fühlen Mitleiden für ihn?“

„Ein tiefes.“

„Sie haben nie gewünscht, ihn bestraft zu sehen?“

„Niemals.“

„Aber er hat Ihnen das Glück, die Freuden der Kindheit geraubt – Sie wären in der That im Stande, das zu verzeihen?“

„Die schlimme Zeit liegt hinter mir,“ sagte sie mit einem sanften Lächeln – es flog wie ein Schein der Verklärung über ihr Gesicht. „Ich habe seit meinen Kinderjahren nie mehr über jenes Ereigniß gesprochen, und wenn ich’s heute that, so geschah es nur, um meine Furcht und meine Besorgniß um meinen kleinen Schützling zu motiviren.“

Sie wußte nicht, wie ihr geschah – sie fühlte ihre Hand ergriffen und von zwei heißen, zuckenden Lippen berührt – dann stand sie plötzlich allein neben dem rauschenden Wasserstrahl – der Portugiese kehrte mit raschen Schritten, ohne sich auch nur einmal umzuwenden, in das Waldhaus zurück.

Fast unmittelbar darauf erschien der alte Soldat auf der Terrasse und trug den Papagei hinein in das Haus. Gisela sah, wie er die ganze Länge der Halle durchschritt und dieselbe durch die entgegengesetzte Thür wieder verließ. Er schaffte das schreiende Thier offenbar in ein Hintergebäude – wahrscheinlicherweise aus Rücksicht für die leidende Frau.

(Fortsetzung folgt.)




Thier-Charaktere.

Von Karl und Adolph Müller.
6. Aus dem Räuberleben des Hühnerhabichts.

Ich durchstreifte buschirend die Flur, als außer Schußweite ein sogenannter Dreiläufer (ein noch nicht ausgewachsener Hase) aufstand und über das frischgepflügte Feld dem nahen Walde zurannte. Da drang plötzlich heftiges Rauschen durch die Luft mir ins Ohr, und kaum hatte ich überrascht den Blick aufwärts gerichtet, so sauste schon ein Hühnerhabicht wenige Ellen über dem Hasen nieder und schlug im Nu seine Fänge in dessen Weichen. Der Hase brach unter der Wucht des Anpralls zusammen und klagte laut in dem ihm eigenthümlichen näselnden Ton. Doch suchte er sich wieder zu erheben und die Last abzuwerfen. Mit den Hinterläufen zappelte und schlug er aus, den Leib schnellte er mit Anstrengung aller Kräfte empor, er überschlug, wälzte sich und rutschte niedergehalten am Boden hin. Mit ausgebreiteten Flügeln deckte ihn der Habicht, der ihn mit Fängen und Schnabel zu verwunden und zu betäuben strebte. Zuweilen löste sich die Wolle des Hasen in kleinen Fetzen, und ein Fang gleitete nieder, eilig aber schlug ihn der Habicht von Neuem in den Balg ein, um sein Opfer sicher zu bannen. Wild funkelten des Räubers Augen, Wuth, unbeschreiblich leidenschaftliche Hingebung an den Augenblick der That, eine Art Berauschung unter der Wirkung der Mordgier fesselte ihn an das widerstrebende Opfer.

Jetzt aber ward meine Aufmerksamkeit durch eine neue Erscheinung getheilt. Mehrere Krähen kamen eilend mit lautem Feldgeschrei herbei; ihr scharfes Gehör hatte die Klagetöne des Hasen vernommen, und ihr weitschweifender Blick entdeckte aus der Ferne die feindliche Scene. Entschlossen griffen sie den Habicht an, indem sie sich mehrere Ellen hoch über ihn erhoben und dann ihre Schnabelhiebe herabstoßend auf ihn richteten. Dieser beugte sich jedoch zurück und wehrte den Angriffen mit freigehaltenem Fang. Das machte die Krähen vorsichtig, so daß es selten eine derselben wagte, dicht genug auf ihn zu stoßen. Die Stellung des Habichts wurde indessen immer schwieriger und unhaltbarer. Verzweiflungsvoll krallte er sich an den Hasen fest, während er mit dem abwehrenden Fang nach den Krähen hieb. In buntem Durcheinander ward der Kampf so eine Zeit lang mit großer Erbitterung einerseits und mit hartnäckigem Widerstand andererseits fortgesetzt. Wolle vom Hase und Federn von zuweilen sich überpurzelnden Krähen und dem Habicht flogen davon. Endlich konnte sich der Räuber nicht mehr in seiner Doppelstellung halten, er mußte in der Bedrängniß den Raub fahren lassen, und mit dem Aufgeben desselben war auch sein Abzug von dem Schlachtfelde verbunden. Aber die Krähen, noch nicht zufrieden mit ihrem Sieg, verfolgten den weichenden Feind unter stets erneuerten Angriffen, wobei der Fliehende nur selten sich zur eigentlichen Wehr setzte, sondern sein ganzes Streben darauf richtete, außerhalb des Bereichs der feindlichen Zeugen seines Raubanfalls und seiner ungestümen Dränger zu kommen. Weit in die Ferne ward er von ihnen getrieben, und dann erst kehrten diese nacheinander zurück. Wäre der Hase von den Fängen des Habichts tödtlich getroffen worden, unfehlbar würden die Krähen ihn nun zerfleischt haben, wie sie es mit anderen Beuten auch machen, welche sie dem Raubgesindel abjagen.

Wer ergründet aber die ganze Absicht der Krähen, dieser anscheinenden Polizeiwacht der Felder, mit Sicherheit? In dem vorliegenden Falle hatten offenbar zwei Beweggründe Antheil an dem Unternehmen der schwarzen Gesellen, einerseits der unaustilgbare Haß gegen den Räuber der Lüfte, und anderntheils ein innewohnender Trieb, einem bedrohten und bedrängten Thiere, vorzugsweise einem ihnen wohlbekannten, behülflich zu werden. In vielen Fällen mag die eigne angeregte Raublust ein wirksamer Antrieb sein.

[229] 

Der Hühnerhabicht im Kampfe mit Krähen.
Originalzeichnung von C. F. Deiker.

X. A. v. R. Brend’amour.

[230] Der hervorragendste Charakterzug des Habichts ist in dem eben geschilderten Erlebniß klar genug ausgesprochen. Die ganze Familie der Habichte, von der unser Hühnerhabicht Haupt und Repräsentant ist, theilt diesen unbändigen Trieb zum Raub und Mord. Wenn schon der gemeine Sperber, ein vergleichsweise kleiner Räuber, sich in Zeiten der Noth an alte Eichhörnchen wagt, wie vielmehr lassen sich derartige und weit verwegenere Angriffe von dem viel größeren und stärkeren Hühnerhabicht erwarten! Wir selbst haben einen Angriff des Sperbers auf ein Eichhörnchen im vorigen Winter beobachtet und nicht nur die Gewandtheit und List des Vogels, sondern auch seine Ausdauer zu bewundern Gelegenheit gehabt. Einer unserer Freunde, dessen Angaben wir völliges Vertrauen schenken dürfen, schilderte uns einen mit geringen Unterbrechungen über eine halbe Stunde dauernden Versuch des Habichts, eines Eichhörnchens habhaft zu werden. Fehlgehende Stöße, vergebliche Sprünge von Ast zu Ast, mißlungene Anwendung des Kreisens um den Baumstamm und die Aeste, erfolgloses stilles Auflauern – alle diese Unternehmungen zeugen von der großen Leidenschaft für Raub, Mord und Fraß. Die ersten Angriffe sind immer jäh und von blinder Hingabe an den Augenblick begleitet.

Ein Habicht, der auf Sperlinge stieß, welche sich in die Hecken stürzten, verwickelte sich vor unseren Augen dergestalt in das Dorngebüsch, daß er von uns erschlagen werden konnte. Ein zweiter sauste während des Stoßes auf eine in meiner Nähe Schutz suchende Taube so dicht an meinem Kopf vorbei, daß ich den Luftdruck deutlich fühlte. Ein dritter stieß mitten in die Fensterscheiben eines Hauses unserer Geburtsstadt, daß die Scherben klirrten und der Ungestüme bis in das Zimmer eindrang. Es war dies ein um so wichtigerer Beweis für die rasende Mordgier des Räubers, als er es vermag, während des Stoßens scharfe Wendungen zu machen. Wird aber der einmal fehlstoßende Berauschte ernüchtert, so handelt er mit Ueberlegung und Benutzung seiner Erfahrung. Je älter und erfahrener der Habicht ist, desto mehr List und Schlauheit wendet er zu seinem Vortheil und zur Täuschung der ausersehenen Opfer an.

Auf dem Hofe eines uns befreundeten Fabrikanten waren die Tauben durch die häufigen Nachstellungen von Seiten der Habichte äußerst vorsichtig und mißtrauisch geworden. Dennoch wurden sie durch die Klugheit ihrer Feinde überlistet und durch deren Ausdauer und Geduld überwunden. Halbe Tage lang saßen die Habichte auf der Lauer, die Gunst des Augenblicks mit reger Wachsamkeit bei anscheinender Gleichgültigkeit benutzend. So lange der Sohn des Hauses, ein Waidmann, ihnen mit der Flinte aufpaßte und manchen ihrer Sippschaft erlegte, wagten sie sich nur am frühsten Morgen in die Nähe des Hofes; kaum war dieser aber aus seiner Heimath weggezogen, so wurden sie wieder dreist und verwegen. Der Habicht weiß sich also trotz seiner Mordlust gewissermaßen und nach Umständen zu beherrschen, ja, er vermag dies sogar in solchen Fällen, wo das in’s Auge gefaßte Thier ganz in seiner Nähe wandelt, aber die Umstände noch immer einige Zeit Geduld erheischen.

Der ältere, erfahrene Hühnerhabicht ist ein verschmitzter, verschlagener Räuber voller Verstellungsgeschicklichkeit. Wahrlich, man steht es dem Stilllauernden nicht an, daß sein Naturell heißblütig, rasch, entschlossen, zur That fortwährend bereit ist. Mit aufgeblasenen Federn verweilt er stundenlang an einem und demselben Plätzchen fast regungslos, um das Ziel seiner Hintergedanken zu erreichen. Aber in seinem wachen Blick leuchtet unheimlich und verstohlen das Feuer der Mordlust; der Bau seiner kurzen, abgerundeten Schwingen, die jetzt lose am Leibe herabhängen, spricht für das Vermögen, den Vogel wie einen Pfeil unter mächtigem Rauschen durch die Luft zu tragen, und der über acht Zoll lange Schwanz verräth seine Eigenschaft als wirksames Steuerruder im Meere der Lüfte. Und nun gar die zum Greifen und Schlagen so tüchtigen „Fänge“ an den hohen befiederten „Läufen“ und der seitlich zusammengedrückte, von breiter Wurzel in einer Wölbung scharf zulaufende, gedrungene Schnabel – welche nachdrucksvollen Waffen gegenüber der unbewehrten Schaar der Vögel, Säugethiere und Lurche!

Ja, dieser unermüdliche Wegelagerer, der aus seinem Hinterhalt hervorstößt, oder aus der Höhe herabrauscht, oder tief an der Erde her, womöglich in gedecktem Flug die Thiere überrascht, diese sogar nach unseren mehrfachen eignen Beobachtungen auf der Erde im Sprunglauf (worin er nicht ungeschickt ist) durch Gestrüpp und bis in die Hecken hinein verfolgt, er lehrt das ganze Contingent der befiederten Wald- und Feldbewohner vom Auerhahn bis zum kleinsten europäischen Vögelchen, dem Goldhähnchen, vom Rebhuhn bis zur Pieplerche, er lehrt das Federvieh auf dem Bauernhof von der Gans bis zum Zwerghuhn, von der leichtbeschwingten Taube bis zum Küchlein herab die ihnen zu Gebote stehenden Rettungsmittel gebrauchen, die weitaus am meisten nur Mittel der Flucht sind. Der todesmuthige, tapfere Haushahn weiß ihm freilich manchmal zu begegnen und durch seine Tollkühnheit Achtung einzuflößen. Im Frühjahre vorigen Jahres stieß ein Habicht vor unseren Augen auf ein Huhn in einem Gehöfte. Der herbeieilende Hahn stürzte sich muthig auf den Räuber, der nach einem wiederholten vergeblichen Stoß auf das Huhn durch den mit Nägeln, Schnabel und Flügeln gegen ihn Wüthenden zum Rückzug gebracht wurde. Nicht selten greift auch der Habicht den Hamster und selbst das sich windende und beißende Wiesel vom Boden auf, oder er gleitet in leisem Flug über das Wasser des Flusses oder Teiches hin, um das Bläß- und Teichhuhn oder die Ente zu erfassen, welche sich überraschen läßt oder im Eifer des Ernährungsgeschäftes den Kopf unter das Wasser oder zu tief in die Wasserpflanze gesteckt hat. Sein scharfer Sinn hat mit Hülfe des vortrefflichen Gedächtnisses die Absicht des wiederholt am Bachufer nach den Wildenten schleichenden Schützen erforscht. Er weiß, daß er die Wildente im Flug ohne große Schwierigkeit stoßen kann, während sie auf dem Wasser fast immer vor ihm sicher ist. Wachen Auges folgt er dem Schützen und benutzt kühn entschlossen den Augenblick, wo sich die Enten vor diesem erheben. Dann fährt er plötzlich unter sie, „schlägt“ eine derselben und strebt mit ihr wiehernd vorwärts. Sein Ungestüm ist da zuweilen Ursache, daß er, vom Hagel getroffen, die Ente fahren lassen muß und statt ihrer oder auch mit der gleichfalls Getroffenen zum letzten Mal den Weg zur Erde zurücklegt.

Manchmal verfolgt er die Enten in geradeaus gehendem Flug. Mehrmals waren wir Zeugen dieser interessanten Verfolgung. Bei dem Wechseln der Enten von einem Gewässer zum andern halten sich die Flüge immer hoch, so daß der lauernde Habicht, wenn er nicht etwa in der Höhe schwebt, genöthigt ist, erst aufzusteigen und dann hinter den Flügen herzukommen. Eines Tags an der Nidda in der Wetterau auf der Entensuche thätig, bemerkten wir plötzlich von fern zwei immer näher sich rückende Punkte in der Luft. Bald erkannten wir deutlich eine Stockente, welche von einem Hühnerhabicht gejagt wurde. Die Ente, anfänglich dem Verfolger bedeutend voraus, hatte sich allmählich in schiefer Richtung gesenkt und jetzt noch einen Raum von mehreren hundert Schritten bis zum Bett der Nidda zurückzulegen. Immer kleiner wurde der Raum zwischen ihr und dem Habicht. Da auf einmal über dem Spiegel des Bachs fuhr die Ente mit ihrem langen Halse nach unten und stürzte sich vor dem nur noch einige Schritte hinter ihr her und nun über sie hinweg sausenden Dränger thurmhoch jäh in die Nidda herab. Ein andermal waren wir Zeugen, wie sich mehrere Pfeifenten, auf dieselbe Weise vom Habicht verfolgt, aus bedeutender Höhe in sausendem Fluge gerade vor uns in eine größere Pfütze sumpfiger Wiesen warfen, daß das Wasser um die Einfallenden mehrere Fuß hoch spritzte. Der über die Wasserfläche dahinstoßende Habicht ließ sogleich von der Verfolgung der im Schilfe sicheren Enten ab.

Auch die Elster ist vor dem Habicht, diesem lebendigen Schreck aus der Höhe, nicht sicher; er „schlägt“ und trägt leicht davon die von einem Baume zum andern oder über freie Feld- oder Wiesenflächen strebende Diebin. Die Geschlagene stößt verzweiflungsvolle Töne aus, und ihre Gefährten erheben unter sehr erregtem Gebahren lautes Gezänk. Insbesondere zeigt er sich zu derartigen Angriffen bei Schnee und Kälte geneigt. Tritt solche ungünstige Witterung noch zur Zeit der Paarung oder Nestbereitung ein, so wird, wie ich mich noch am ersten März dieses Jahres überzeugte, der eine und andere Gatte der Elsternpaare eines Habichts Beute. Die beliebten Plätze, wo er seinen Raub verzehrt, sind in Gärten vorzüglich Laubhütten und im Felde deckende Hecken und Hohlwege.

Bei solchem fortwährenden Bedacht auf Raub und Mord, selbst dann, wenn die schwer zu stillende Freßgier befriedigt sein sollte, läßt sich das Einzelleben des Habichts und seine entschiedene Abneigung gegen jegliche Geselligkeit, sogar mit Seinesgleichen außer der Brautzeit, zur Genüge erklären. Hielten sich die Habichte [231] nicht gegenseitig in Respect, es würde sicherlich wenigstens zur Zeit der Noth einer den andern stoßen. Ein merklich verletzter wird von einem andern ihn wahrnehmenden gesunden ohne Weiteres getödtet und aufgefressen. Besonders zeichnet sich durch Unternehmungslust das stärkere und das Männchen um fünf Zoll überragende Weibchen aus. Die Ehe, welche mit Freudentönen und neckenden Flügen über den Horst einen friedlichen Anfang und bei keinerlei Mißgeschick eines Familiengliedes auch einen solchen Verlauf nimmt, endet, wenn einer der Gatten z. B. in Folge eines Schrotschusses erkrankt oder lahmt, mit unerbittlichem Morden von Seiten des gesunden.

Von zwei jungen, welche auf dem Horste schon zur stattlichen Größe herangewachsen waren, gelang es, das Weibchen wegzuschießen. Das Männchen, hierdurch scheu gemacht, kehrte nur selten mit Futter zum Horste zurück. Als der Schütze von seiner Bemühung abstand, das alte Männchen ebenfalls zu erlegen, und den Baum nach einigen Tagen besteigen ließ, worauf der Horst mit den Jungen stand, war der ältere junge Habicht nur noch allein am Leben oder vielmehr überhaupt noch vorhanden, der jüngere war ihm zur Beute geworden, wovon noch kaum nennenswerthe Ueberreste Zeugniß ablegten. Aehnliche Beispiele sind von den besten Forschern verbürgt, so daß kein Zweifel darüber waltet, der Habicht achte unter Umständen die Bande des Familienlebens nicht im Geringsten, und wenn man gar seinen Charakter im Gefangenleben kennen gelernt hat, kann man sich des natürlichen Abscheues nicht erwehren, denn da ist nichts als Mord, der an den Genossen fremden und verwandten Geschlechts begangen wird, sobald diese nur bezwingbar sind.

Trotz dieser unumstößlichen Thatsachen haben wir und Andere uns hinlänglich von der großen Anhänglichkeit der Habichte zu ihrer Brut überzeugt. Nie vergessen wir die haarsträubende Scene, wie ein armer Junge, der als guter Kletterer bekannt war und dem es sonst wahrlich an Muth nicht fehlte, am Horste von dem Habichtpaare angegriffen wurde, als er die Jungen ausnehmen wollte. Sie setzten ihm durch Flügelschläge und das Weibchen sogar durch Ankrallen an seine Kleider so zu, daß er beinahe alle besonnene Haltung verlor und in bedauerlichem Zustande mit genauer Noth vom Baume herabkam.

Die Unersättlichkeit der jungen Habichte nimmt die Sorge der Eltern fortwährend in Anspruch. Dadurch werden diese noch verwegener und furchtloser bei ihren Räubereien. Es ist Thatsache, daß die Hühnerhöfe eines bei Alsfeld gelegenen Dorfes während des Vorsommers von Habichten, welche im nächsten Hochwalde ihre Jungen pflegten, in wahrhaft erschreckender Weise geplündert wurden. Dicht vor den Augen der Leute raubten die Dreistgewordenen das Geflügel und fielen sogar in ihrer Frechheit alte Gänse an.

So kennzeichnet sich selbst der mit Recht von Beschützern der nützlichen und herzerfreuenden Thiere gründlich gehaßte Habicht, und bei der geringen Ausdauer und der noch geringeren Geschicklichkeit, mit der ihm nachgestellt wird, treibt er leider sein verheerendes Unwesen in der ausgedehntesten Weise. Zwar nöthigt er durch seine Gewandtheit und Schnelligkeit, durch seine Schlauheit und insbesondere durch seinen zum Schutz der Nachkommenschaft hochsteigenden Muth dem mit diesen Zügen Vertrauten eine gewisse Achtung ab, aber als Mörder, der keine Grenzen einhält und oft Seinesgleichen nicht schont, und als widerwärtiger Nimmersatt, sowie als Feind des geselligen Lebens und Urbild der ausgeprägtesten Selbstsucht verdient er es, ebenso wenig eines Menschen wie eines Vogels Freund zu sein.

Karl Müller.     


Literarische Briefe.

An eine deutsche Frau in Paris.
Von Karl Gutzkow.
III.

Ja, da haben wir nun ein schönes Unglück –! Ihr nun rege gewordener Eifer für die vaterländische Literatur will meinen Briefen und Anleitungen schon zuvorkommen, Ihr Gatte unterstützt denselben, bringt ein Convolut Zeitungen aus seinem Casino mit, Ihr Auge fällt auf eine glänzende Empfehlung des neuen Romans „Hermann Stark. Deutsches Leben von Oscar von Redwitz. Drei Bände (Stuttgart, Cotta)“, die in der Allgemeinen Zeitung gestanden hat, Sie schicken in eine der deutschen Buchhandlungen, deren sich Paris mehrer zu erfreuen hat, lassen sich die drei kolossalen, geschmackvoll ausgestatteten Großoctavbände kommen, lesen und – schreiben mir: „Ist es denn aber erhört, daß man noch den Deutschen ein solches Buch anbieten kann! es sogar anempfiehlt! in einer der ersten Zeitungen Europa’s! Im ersten Capitel wohnt in einer langweiligen kleinen Stadt (die Langeweile wird beschrieben) ein Advocat in der Nähe des ‚Storchenthurms‘ mit seinem Ehegespons und hat jahrelang eine kinderlose Ehe zu beklagen. Im zweiten Capitel kommt endlich ein Spätling, wird getauft und sowohl die ‚nudeldicke Hebamme‘ wie die Pathen werden beschrieben auch wird der Grund für die Wahl des Namens Hermann erörtert. Im dritten Capitel sieht man den jungen Helden in den Windeln, im Einschlag, und allmählich wächst er in die Hosen. Im vierten spielt er mit bleiernen Soldaten und weckt so günstige Hoffnungen, daß der Vater vor Freude manchmal ‚einen Schoppen mehr aus dem Wirthshause kommen läßt als gewöhnlich‘. Im fünften (wir sind schon auf Seite 44) verwildert das Hermännchen, hat Prügeleien mit Nachbarkindern und nimmt, ein rechter ‚Ruinirjunge‘, Nester aus, wobei die Hosen draufgehen. Im sechsten findet sich eine große dramatische Scene, wie sich die Metzgersfrau beklagt, deren Söhnchen ‚des Stark’s Hermann‘ ich glaube den Rock zerrissen hat. Zur Strafe dafür soll er fasten, trotzdem daß es Schweinebraten giebt, wohingegen eine mitleidige Köchin durch heimlich zugesteckten Pfannenkuchen dem Verhungern abhilft. Damit stehen wir schon auf Seite 81! Nein, das ist denn doch wahrlich zu kindisch! Solche Sachen schreibt man jetzt in Deutschland?! Und erste Classikerbuchhandlungen verlegen sie?! Und erste Zeitungen, die Allgemeine in Augsburg, verkündigen sie als neue Eroberungen des guten Geschmacks und der deutschen Poesie?!“

Ich bin beschämt, meine erzürnte Freundin! Denn ich habe gegen Ihre Entrüstung nicht ein Wort der Widerlegung aufzubringen. Ich bin so starr wie Sie über diese drei Volumina, die ich weiter gelesen habe. Der Held kommt auf die Schule, macht in einem Städtchen Frankens alle üblichen Schülerschwänke und Leiden eines Gymnasiasten durch, bezieht die Universität, paukt sich, trinkt Bier, singt die üblichen deutschen Commerslieder und der erste Band von 424 Großoctavseiten ist zu Ende. Der zweite Band von 372 Seiten führt uns den Helden als Rechtspraktikanten, Advocaten, glücklichen Vertheidiger verschiedener Angeklagten, Bräutigam, jungen Ehemann vor. Der dritte Band von 497 Seiten läßt ihn Deputirter werden, er bringt es beinahe bis zum Minister, entwickelt in einer Posa-Scene vor Seiner Durchlaucht dem Herzog seine Ansichten über Welt und Zeit (jedes dritte Wort lautet dabei: „Halten zu Gnaden, Durchlaucht“), verdient als Advocat viel Geld, wendet es aber thöricht an, indem er einen altgräflichen Grundbesitz kauft, der sich nicht rentirt, er fallirt, hebt sich jedoch wieder empor; er wird wieder Advocat, aber, ach! – sein Vater ist gestorben und später auch seine Mutter. Und die alte Dorothea, die ihm damals den Eierkuchen zugesteckt, als es Schweinebraten gab und er fasten mußte, ist auch todt. Doch seine Kinder versprechen sich zu entwickeln. Schluß.

Bei einer solchen geradezu unglaublichen Verirrung eines Schriftstellers von Ruf möchte man sagen: Ihr habt es ja nicht anders gewollt! Ihr schwärmtet für „Amaranth“ (auch Sie werden das zierliche Goldschnittbuch als erste Grundlage einer selbstständigen Jungfrauenbibliothek über Ihr epheuumwundenes Schreibpult gestellt haben!), und so demaskirt sich der „Idealismus“, wenn er einmal die bunten Gewänder schöner Phrasen abgelegt [232] gelegt hat und seinen inneren Kern darlegen will! Es giebt einen Lyriker, den ich nicht nennen will – er ruht mit einem Lorbeerkranz im kühlen Grabe an der Elbe und eine seiner Gedichtsammlungen hat so eben die vierzehnte Auflage erlebt – wenn dieser „Novellen“ schrieb, so wurde auf jeder dritten Seite Kaffee gekocht.

Und meine Befangenheit und mein Kleinmuth will heute nicht aufhören. Denn in dem Convolut Zeitungen, das ihnen Edgar von seinem Casino mitbrachte, befanden sich auch die gelesensten Wiener Blätter, und nach den Recensionen, die Sie darin gefunden haben, brennen Sie vor Begierde auf Robert Hamerling’s „König von Sion“ (Hamburg, Richter), und ich besorge, auch hier, bald nach dem Beginn der Lectüre eines Heldengedichts von mehr als neuntausend Hexametern, begiebt sich etwas Unerfreuliches, zum Mindesten werden Sie mit Polonius im Hamlet, als dem Dänenprinzen ein Schauspieler die Zerstörung Troja’s vorträgt, den feurigsten Schwung der Rede und die erhabensten Bilder und Wendungen mit den Worten einer nüchternen Kritik unterbrechen: „Das ist zu lang –!“

Wir haben zwei unbedingte „Idealisten“ vor uns – Oscar von Redwitz und Robert Hamerling. Letzterer mag mir die Zusammenstellung mit dem Anwalt freiheitsfeindlicher Richtungen vergeben. Hamerling’s Seele glüht im heiligen Feuer der Hingebung an die großen Fragen der Menschheit, buhlt nicht mit der Gunst der Großen, leiht sein schönes, formgewandtes Talent nicht der Verherrlichung einer Romantik, die unter schimmernden Außenseiten von Poesie, unter Blumengewinden und „goldner Saiten Klange“ nur die gemeine, platte Reaction, Despotismus und Pfafferei vertritt.

Durch die Zeitungen ging die Kunde, der Sänger der Amaranth, welchen einst hochfürstliche Gönnerinnen nach Wien berufen hatten, um auf einem dortigen Lehrstuhl den Geist der Zeit, wozu er sich ausdrücklich erboten hatte, in Wissenschaft und Kunst zu bekämpfen, wäre in sich gegangen, bereute die Wege, die er früher gewandelt, und würde in diesem „Hermann Stark“ eine ernste Abrechnung mit seinem Jahrhundert und mit sich selbst halten. Ich habe aber in diesen drei Bänden vergebens nach einer Stelle gesucht, die jene Kunde wahr gemacht hätte. Denn die Reden, die der Advocat Stark hält, die Briefe, die Tagebücher, die er schreibt, gehen jenen allgemeinen Mittelweg der politischen Phrase, der uns übrig bleibt, wenn unsere Gesinnung nicht Fisch, nicht Fleisch ist. Advocat Stark will nicht Demokrat heißen, beileibe nicht, aber er will „verfassungsmäßiges politisches Leben“, „ein einiges Vaterland“ und ähnlichen Wortkram, der, in’s Praktische übersetzt, bei keiner einzigen Abstimmung die liberale Probe halten würde. Nur Entrüstung muß es wecken, einen Autor, der im Stande war, so die akademische Zeit zu durchleben, wie sie sein Held „Arminius Stark“ durchlebt, so die Lieder der Freiheit zu singen, so die Maienblüthe, den Jugendlenz deutschen Lebens durchzuschwärmen mit geschwungener bunter Mütze, mit bunten Bändern über die Brust, dennoch übergegangen zu wissen in die Reihen der Feinde des Zeitgeistes, ja aufgetreten gerade an einer deutschen Hochschule als öffentlicher Ankläger der Gefühle und Gedanken derselben jungen Generation, mit deren Seelenschwung er nun in edelster Begeisterung nach den Schilderungen dieses Buches mitgelebt haben will –!

Der Gegensatz des Idealismus und Realismus wurde ein besonders bezeichnender für die neuere deutsche Literatur. in die Sprache übersetzt, die Ihnen geläufiger sein wird, ist dies der Gegensatz zwischen einer künstlerischen, in unserem Falle dichterischen Schaffensweise, bei welcher ein Idealist die Gegenstände und Personen, die er schildert, den allgemeinen Schönheitsgesetzen näherzurücken sucht und sie mit erklärenden Lichtern umgiebt, während ein Realist sein Talent mehr im Erfassen und Wiedergeben des unmittelbaren Eindrucks und demnach so zu bewähren sucht, daß er Dinge und Menschen bis auf die täuschendsten Einzelheiten ihrer Natürlichkeit schildert. Das Wesen des Realismus, die Wahrheit, ist durch die Kritik der letzten Jahrzehnte mit besonderer Strenge betont worden und hat in der That den Ausschweifungen einer überfliegenden, die Maßstäbe zutreffender Richtigkeit allzusehr verschmähenden Phantasie ein lehrreiches Halt! geboten. Darüber ist man jedoch ebenfalls schon wieder einverstanden, daß beide Weisen, die reale und ideale, ohne einander nicht bestehen können.

Ein nackter Realismus, die baare und platte Darlegung der Wirklichkeit, wenn auch noch so charakteristisch, kann nicht befriedigen ohne Anknüpfung an diejenigen Empfindungen des Wohlgefallens und der höheren ästhetischen Befriedigung, von welchen in meinem vorigen Briefe gesprochen wurde. Sie kennen die Leistungen eines unbedingten Realismus in den Malereien des Franzosen Gustav Courbet, denen sich jetzt auch schon deutsche Leistungen, in München kürzlich ein Bild von Markart, zu nähern anfangen. Die Poesie ist vor den Gefahren dieser immer weiter zu gehen drohenden Anwendung des bei Shakespeare von den Macbethhexen ausgesprochen Satzes der Umkehr: „Schön ist häßlich, häßlich schön!“ durch den Umstand bewahrt, daß sie nicht das bestechende Material, die Farbe, besitzt, um die nackteste Natürlichkeit bei alledem einschmeichelnd darzustellen. Gegen eine Anerkennung des tiefen Zuges im Zeitgeiste, das gleichsam auf den Kopf gestellte Schöne zum Ausdruck des Einspruchs gegen die Voraussetzung, als wäre diese Welt die beste aller möglichen Welten, zu machen und hinter dem Zerrbilde eine Welt der Leere, der Trauer, der Unzufriedenheit, kurz dessen, was man Weltschmerz nennt, ahnen zu lassen, versperre ich mich bei alledem keineswegs.

Robert Hamerling hat sich leider in seinem Ihnen so anempfohlenen Gedicht nicht als ein Idealist gezeigt, der vom Realisten so viel mit aufgenommen hat, um ein Werk der vollkommenen Harmonie hervorzubringen. Die realistische Zuthat zu seiner im Ganzen phantastischen, wenn auch historischseinsollenden Schilderung ist an sich ausgezeichnet; sie bringt herrliche Schlachten-, Aufruhrs-, Naturbilder. Aber die lebendige Farbengebung derselben, ja die den Chroniken entsprechende Treue in diesen Partieen ersetzt nicht das Verfehlte der Hauptidee selbst. „Der König von Sion“ ist jener „Prophet“, den Sie aus Meyerbeer’s Oper kennen – bei Meyerbeer Alles in Allem ursprünglich ein Kellner, den die einem ersten Tenor geziemende Liebenswürdigkeit zur Zeit der Münster’schen Wiedertäuferunruhen (1534) zum König eines erträumten irdischen Sion, eines der nahen Wiederkunft Christi vorausgehenden Weltreiches macht. Hamerling hat aus Jân Bockelson von Leyden einen fahrenden Gaukler, Halbpoeten, Halbschauspieler gemacht. Freiholde nannte man im Mittelalter solche fahrenden Phantasten, Narren, Clowns besserer Art. Die Geschichte giebt dem Dichter dafür allerdings eine Anlehnung. Aber wäre er ihr nur ganz gefolgt! Welche phantastische Posse macht Hamerling aus einem Ereigniß der deutschen Geschichte, das so klar, so in allen Einzelheiten anschaulich vor uns steht!

Das Münster’sche Wiedertäuferreich hat sich von seinen ersten, aus den Kämpfen um die gereinigte christliche Lehre hervorgegangenen Anfängen an bis an das entsetzliche Ende, das es gefunden, so grell in die Annalen der deutschen Geschichte eingeschrieben, daß eine unrealistische Behandlung desselben, eine Idealisirung dieser so gräulich beirrten Menschen, die zwölf Frauen zu gleicher Zeit nahmen und diejenige, die ihnen Ursache zum Mißfallen gab, mit eigener Hand auf offenem Markte köpften, ein Verbrechen am Genius der Geschichte ist, der ohnehin ein poetischer Genius an sich ist und durch die Fortschritte unserer Geschichtschreibung auch in letzterer selbst immer mehr seine Schwingen entfaltet. Wo die Geschichte in so flammenden Zügen geschrieben hat, wo das Ende jener dem Psychologen und Dichter gewiß im höchsten Grade zu empfehlenden gräßlichen Episode des biederen deutschen Volkslebens ausgesprochen liegt in jenem noch jetzt zu sehenden eisernen Käfig am Lambertithurm zu Münster, in jenen eisernen Henkerinstrumenten, mit denen die Achtsexecutoren den König von Sion an allen Gliedern brennen, zerreißen, zerfleischen ließen, wie kann da ein Dichter kommen und uns eine Erfindung glaublich machen wollen von einem träumerischen Jüngling, der, von Zaubergewalten verführt, die Brust von Idealen gehoben, in eine Wirrniß des Lebens geräth, aus welcher ihm zuletzt eine phantastisch ersonnene Frauengestalt, dann der Dolch – des Selbstmordes heraushilft! Klio zeigt dabei auf ihre ehernen Tafeln, und alle ihre Schwestern liefern ihr den Dichter, als einen Verräther am Musenhain, gebunden aus.

Die Geschichte ist das größte Gedicht. Die Ereignisse, in ihren Urquellen erfaßt, die Thaten, in ihren Beweggründen erkannt, spotten alles Menschenwitzes, der sie erklären und auf seine Weise deuten will. Die Riesenharfe, die der Weltgeist spielt, hallt in so mächtigen Tönen wider, daß die Leiern aller Dichter wie Heimchentöne dahinschrillen im rollenden Donner. Wo sich [233] die dem Dichter gewordene Offenbarung nicht befähigt zeigt, die eherne Sprache der Dinge, wie sie wirklich waren, zu fassen, zu deuten, annähernd wiederzugeben, da soll die Hand fern bleiben, die mit Rosen kommt, wo die Wirklichkeit Feuergluthen hatte, mit Träumen und Mondscheinwandeln, wo Alles die grellste, nur zu gewisse Tageshelle beleuchtete. „Ik, Johann von Leyden, mit myner eegnen Hand ontertekent –“ unterzeichnete sich der König von Sion, sprach ein holländisches Plattdeutsch und kam in seiner Bildung über einen verdorbenen kleinen Schulmeister, den er neben dem Schneider machte, nicht hinaus. Er hatte, wie damals die Handwerker alle („die Meistersinger von Nürnberg“ bringen’s ja jetzt auf der Bühne in Töne), Verse gemacht der Art, wie man damals Verse machte. Man wiederholte die Sprache und die Anschauungen der Bibel. Die Pracht der salomonischen Zeit, die Bilder in den holländischen Kirchen waren Bockelson geläufig. Er führte in sein Königreich Pracht und Herrlichkeit ein mit der Phantasie eines Schneiders aus jenen costümliebenden Zeiten, die sich in den unsrigen nur noch bei den Damenschneidern erhalten hat. Welche Hamlet-Empfindungen, welche Spinoza- Raisonnements legt ihm Hamerling unter! Darf man das? Ich bestreite es sämmtlichen Feuilletonisten der österreichischen Zeitungen gegenüber, ja, ich erkläre die wirkliche Geschichte des Königs von Sion für viel poetischer, als die für ein Ballet-Libretto passende Erfindung Hamerling’s. Es ist die: Ein Syndicus aus Leipzig, der sich nach Münster zurückgezogen hatte, brachte ein schönes, leichtsinniges Weib mit sich, ein Weib voll Liebreiz und Anregungsbedürftigkeit. In einem schönen Garten versammelte sie Alles um sich, was in Münster Musik, Tanz, Freuden der Tafel, Liebreiz der Frauen zu schätzen wußte. Ein edler lutherischer Geistlicher, der Tonangeber und geistige Beherrscher Münsters, Rottmann, wurde das Opfer ihrer Künste. Ihr Gatte starb. Sie hatte ihn vergiftet, sagte man. Rottmann ehelichte sie. Die innere Unruhe, die Angst des Gewissens trieb ihn zu religiöser Exaltation. Er befürwortete die Wiedertaufe, das Anziehen eines neuen Menschen. So traf ihn der Wanderapostel der Wiedertäufer, Matthiesen, der aus Holland kam mit einem jungen Weibe Diwara (Deborah). Diesem folgte Jân Bockelson, ebenfalls beweibt. Schaaren von Wiedertäufern wanderten in Münster ein. Bockelson trat in einen bereits überspannten Kreis, der die Sünde im Fleisch durch den Geist sühnen wollte, in einen Kreis, der sich mühte, in jenem Bezirke einen Anker zu werfen, in welchem es, wie Schiller sagt, keinen giebt, im Bezirk der Phantasie. Auch ihn verlangte nach Diwara. Diese hatte nicht nöthig, ihren Gatten zu vergiften. Er fiel schon vor dem Feinde. Da erfanden sich die glühenden Leidenschaften und jene inneren Stimmen, die uns für die Leidenschaften die Verantwortlichkeit ausreden wollen, eine Wiederaufnahme dessen, was einst den Patriarchen erlaubt gewesen wäre. Diwara wurde des Königs Weib zu demjenigen, das er schon hatte, und noch zu zehn anderen hinzu, die nur die symbolische Zahl voll machen sollten, ohne daß sie Jân berührt zu haben scheint. Die Schwärmerei der Frauen, nicht für die Entfesselung der Sinne, nicht für das sehr zweifelhafte Glück, auf Gerathewohl einem Manne als sein zwölftes Weib zugewiesen zu werden, sondern die wirkliche Liebe für Einen, den sie schwach erkannten, unglücklich fanden um eine Leidenschaft, die ihn verzehrte, kam dem wüsten Wahn zu Hülfe, und es thürmte sich aus schmerzlichen Wahrheiten und den grauenvollsten Irrthümern im Menschenherzen eine Welt voll Gräuel auf, die zu schildern den Dichter reizen kann. Hamerling hat den Kern der Frage nicht getroffen. Nicht einmal die Wiedertaufe, diesen eigentlichen Quell einer solchen moralischen Sündfluth, hat er an irgend einer Stelle seines Gedichts in ihrer tieferen Bedeutung dargestellt, noch irgend etwas von dem entwickelt, was für sie sprechen und durch sie hervorgerufen werden sollte.

Dagegen hat sein unhistorischer Rahmen allerdings eine Füllung erhalten, die uns anzieht durch beschreibende Schönheiten, aber auch abstößt durch Hereinziehen aller der Fragen, die dem Nachtleben – unserer Zeit angehören! Selbst eine Vertreterin jener Form der „freien Liebe“ fehlt nicht, die den Frauen das Vorrecht sichern will, sich ihre Männer selbst auszuwählen, wie sich bei Hof die Fürstinnen ihre Tänzer selbst aufrufen! Fehlt denn unsern Tagen diese Freiheit? Auf jeder letzten Seite unsrer Zeitungen bieten Frauen, „denen es an Herrenbekanntschaft fehlt“, ihre Hand aus. Diwara’s Liebe fehlt auch unserm Gedicht nicht. Sie ist des „edlen Schwärmers“ Jân Bockelson, des Vertreters des „Schönheitsprincips im Leben“, böses Princip. Warum aber als Zigeunerin? Die Kinder des „wandernden Stammes“ spielen in dem wüsten Hexensabbath, wie ihn der Dichter schildert, eine entscheidende Rolle. Würde das damals unter Christen geduldet worden sein?

Diwara ist die vollständige Deborah der Bühne. Die theatralische Attitüde waltet überall vor, nicht blos die des Ballets, der Massengruppirungen mit blauer und rother Beleuchtung, sondern auch das theatralische Pathos der Empfindungsübergänge. Eine Nonne, Hilla, kniet erst vor dem Muttergottesbilde und stößt den Gegner des Nazarenerthums, Jân Bockelson, mit Abscheu von sich, es folgt ein Duett mit Ja! Nein! Nein! Ja! und beim Finale trinken sie sich schon wie Jener gesagt hat, einander ihre Seelen zu. Diwara, die ihrerseits von Bockelson (bei Hamerling) nicht geliebt wird, hat „als Königin, Rächerin, Heldin“ gesiegt, sie hofft es nun auch zum Siege „als Weib“ zu bringen. Man hört einen förmlichen Actschluß des Fräulein Wolter vom Burgtheater.

Gleichviel, ob Sie nun mir, der ich an sich Hamerling’s schönes Talent und seine freiheitsfrische Gesinnung schätze, oder jenen Zeitungen vom Casino folgen wollen, mir lag daran, Sie mit den Gegensätzen zwischen Idealismus und Realismus vertraut zu machen, die eine Zeitlang eine tiefe Kluft in unsre literarischen Debatten gerissen hatten. Sie fängt an sich zu schließen. Doch dürfte in meinen Briefen noch öfters Gelegenheit eintreten, auf sie zurückzukommen.




Der Engel von Brabant.
„Musik ist der Schlüssel zum Herzen."     
Seume. 

„Aus Euch wird Nichts hier in Kopenhagen, der König und das Weibervolk geben Euch zu viel Zuckerbrod zu essen,“ brummte der berühmte Capellmeister und Sänger des Königs Friedrich des Dritten von Dänemark, Caspar Förster, und schlug etwas heftig den Deckel des Spinetts auf. „Es thut mir leid um Eure Stimme, aber ich sag’s Euch noch einmal: es wird Nichts aus Euch, Franciscus de Minde. Ihr habt zum Unglück ein zu glattes Lärvchen und gefallt dem Frauenzimmer, und das macht faul und eitel. Ich wünsche Euch einen regelrechten Hieb in’s Gesicht von den Schweden, die uns just auf den Hals rücken, oder eine andere Luft, dann könntet Ihr der erste Sänger der Welt werden, mein Sohn. Und nun singt Eure Scalen und Solfeggi, geht frisch hinausf in das hohe C und schont Eure Lunge nicht. Die Natur gab Euch einen ganz respectablen Blasebalg, aber Ihr habt’s trotzdem noch lange nicht so weit gebracht wie ich. Und dahin eben, wohin der Caspar Förster kam, muß ein Franciscus de Minde auch kommen, sonst verdient er die Stimme nicht, die ihm in der Kehle steckt. Gebt Acht!“

Nach diesen derben Worten richtete der dänische Capellmeister seine Riesengestalt in ihrer ganzen Länge auf und setzte piano pianissimo das tiefe A ein. Langsam schwoll der Ton an, immer voller, immer gewaltiger, immer mächtiger, es war die vox humana einer Orgel, noch stärker wurde der Klang, er wuchs von Secunde zu Secunde, der Athem der Riesenbrust schien unerschöpflich, endlich war’s leibhaftiger Posaunenschall – die Wände bebten. Der junge Zuhörer, eine schlanke Pagengestalt, griff mechanisch nach der Lehne eines Sessels, bleich und bleicher wurde sein reizendes Gesicht, die großen blauen Augen starrten den Sänger halb bewundernd, halb angstvoll an – da dämpfte Caspar Förster die Stimme allmählich, bis sie endlich im leisesten Piano erstarb.

„Wenn ich das lernen könnte, thäte ich Alles!“ stammelte Franciscus de Minde, noch ganz befangen von dem Eindruck des Gehörten.

[234] „Andere Luft, mein Söhnchen, kein Lob und keine weichen Händchen, die Euch die Wangen streicheln, Ihr seid zu etwas Besserem als zu einem Pagen geboren! Um mich hat sich freilich weder in meinem Elternhause noch sonst irgendwo ein Weib gekümmert, ich mag sie aber auch nicht, die Katzen. Die Mutter starb, als ich eben geboren war, und da ließ man mich denn schreien stundenlang. Das hat mir vielleicht die gute Lunge gegeben. Nachher war auch das Leben rauh mit mir und die Lehrzeit hart, aber die Stimme wuchs vielleicht eben deswegen wie ein Baum, und singen gelernt habe ich von der Orgel. Mein Vater ließ mich neben sich stehen, wenn er spielte, und mit dem Orgelton mußte ich die Stimme schwellen und sinken lassen – da gab es denn manche Ohrfeige, wenn ich immer nur laut schrie, ohne mich zu mäßigen. So lernte ich’s, und eines Tages zupfte mich mein Vater an den Haaren, was seine größte Liebkosung war, und sagte: nun ist’s gut, nun wollen wir ein Sänger werden. Da steckte man mich zuerst in eine Capelle und dann wurde Scacchi[WS 2] mein Lehrmeister. Später ging ich nach Rom und Venedig, und jetzt bin ich hier im Norden, wie Ihr seht. Eine Sängerlunge aber, welche die Luft Italiens geathmet, kann unter dem grauen Himmel hier nicht lange ausdauern – meines Bleibens wird nicht von großer Dauer sein. Und dann ärgert mich die ganze Frauenzimmerwirthschaft und die kleine kokette Teufelin vor Allen, die Angelique la Barre mit ihrer dünnen Stimme und ihrem Ziegentriller, die Euch Alle verhext. Sie ist schlimmer als die Schweden, denn sie verdirbt mir das ganze Theater und meine besten Schüler, und somit auch Euch. Seht, wie Ihr roth geworden seid, kleiner Thor! O, ich weiß Alles, weiß, wie sie Euch schmeichelnd ihren Landsmann nennt, obgleich Euer Vaterland Brabant von dem Schlangennest Paris beinah so weit sein mag, wie Kopenhagen von Rom, und wie sie Euch zu sich lockt, um mit Euch zu kauderwelschen. Das Herz dreht sich mir um, wenn ich das Alles höre und doch nichts ändern kann, weil Ihr Alle toll seid. In’s Wasser möchte ich sie werfen, die schlaue Katze! Nun singt – ich habe mich ausgetobt!“

Und die klare, wunderschöne Discantstimme sang, aber Francesco war nicht mit der Seele bei den Tönen. Die Strafpredigt seines Lehrmeisters, an dem er hing mit aller Leidenschaft eines jungen feurigen Herzens, war nicht ohne Eindruck auf ihn geblieben. Früh verwaist, hatte der schöne Knabe mit entfernten Verwandten sein geliebtes Vaterland mit dem fremden Dänemark vertauscht. Sehr bald hatten seine Schönheit und seine bezaubernde Stimme in der nordischen Hauptstadt Aufsehen erregt, man sprach sogar dem musikliebenden Könige von dem jungen Fremden. Friedrich der Dritte liebte vorzugsweise zwei Dinge, schöne Menschen und schöne Stimmen. Franciscus gefiel ihm in der Grazie seines Wesens auf den ersten Blick, und der Vortrag eines kleinen Brabanter Volksliedes, das der Knabe vor ihm sang, entzückte den königlichen Herrn dermaßen, daß er fortan den Sänger täglich zu hören wünschte. Er übergab ihn sogleich zur ersten Ausbildung einem tüchtigen Musiklehrer, ließ ihn auch in den Wissenschaften unterrichten, überhäufte ihn mit Geschenken, und der Liebling des Herrschers wurde bald der Liebling des ganzes Hofes und der Aristokratie Kopenhagens. Man schmeichelte dem zierlichen Pagen, wie man ihn nannte, und so wuchs er auf wie ein kleiner Prinz. Nannte ihn sein hoher Gönner doch selber oft „mein lieber Sohn“! So gingen Jahre hin, als zwei Gestalten in das Leben Francesco’s traten, die demselben eine andere Wendung geben sollten: die reizende Sängerin Angelique la Barre kam von Paris und nahm ein Engagement an der Oper an, und – Caspar Förster wurde als Capellmeister nach Kopenhagen berufen.

Bei Gelegenheit eines Festes im Palaste eines reichen und vornehmen Kunstfreundes geschah es, daß die französische Sängerin und Schauspielerin den schönen Pagen zuerst sah und hörte. Ueberrascht von seiner Anmuth, trat sie ihm mit lieblicher Freundlichkeit entgegen und erbot sich ohne weitere Einleitung seine Singmeisterin zu werden. Geblendet schaute er auf zu dieser Erscheinung aus einer fremden Welt, zu dieser Fee, die aus einer rosenrothen Wolke von Seidenstoff und Spitzen ihm zunickte und lächelte. Eine berauschende Duftwelle umhüllte ihn, sie strömte aus dem Strauß zu ihm herüber, der an ihrer Brust blühte, dunkle Augen strahlten ihn an, und es war ihm, als hätte er noch nie schönere Lippen gesehen als die, welche soeben in der Sprache seines Heimathlandes flüsterten: „wollt Ihr mich als Eure Singmeisterin annehmen?“

Wer hätte auf eine solche Frage ein „Nein“ zu antworten vermocht?

Alle Tage dürfe er kommen, hatte sie ihm später zum Abschied noch gesagt, und da ging er denn auch hin zu ihr und stand neben der Harfe, die sie meisterlich spielte, und versuchte die zierlichen Triller und Rouladen nachzusingen, welche sie ihm mit der Stimme eines kleinen Vogels vorzwitscherte. Wie viel Zeit blieb ihm dazwischen, sie zu bewundern! Zierlich war Alles an der verführerischen Pariserin, die Gestalt, die Hände und Füße, der Mund und das Näschen, nur die Augen waren groß und von dem gefährlichsten Feuer. Besonders geduldig war sie nicht, diese reizende Lehrmeisterin; wie oft schob sie die Harfe zurück, stampfte mit den kleinen Füßchen den Boden und rief: „tu chantes comme un petit fou!“ (Du singst wie ein kleiner Narr.) Es war freilich reizend, diese ungeduldigen Füßchen in den hohen Hackenschuhen von hellem Atlas zu sehen! Oder sie warf sich zurück in ihren Sessel bei einem Triller, in dem ihrem Schüler der Athem ausging, oder bei einer ungeschickten Roulade, und lachte wie ausgelassen. So sehr nun auch Franciscus erröthete bei solchem Mißlingen, so hätte er doch am liebsten fortwährend schlecht gesungen, nur um sie lachen zu sehen und zuletzt – selber mit zu lachen. Es gab nichts Hübscheres auf der Welt nach seiner Meinung, als die lachende Angelique, sie war eben zum Lachen und Fröhlichsein geschaffen, wie die Sonne zum Leuchten. Die Augen blitzten, die Perlenzähne schimmerten zwischen den rothen Lippen hervor, überall tauchten Grübchen auf, und der Ton dieses Gelächters erinnerte an silberne Glocken.

Zuweilen geschah es freilich auch, daß sie in diesem Ausbruch der Heiterkeit ihren jungen Schüler beim Kopfe faßte und ihn auf die Stirn küßte, und dieselbe Liebkosung wurde ihm zu Theil, wenn er eine kleine Arie oder eine schwierige Stelle ohne Fehler nachgesungen. Es war seltsam, daß er aber nachher viel weniger gut sang. Nicht selten gebot sie ihm, sich nach der Stunde noch eine Weile auf einen Schemel zu ihren Füßen zu setzen, und dann mußte er ihr von seinem Daheim erzählen und von seiner Kindheit und der todten Mutter, die ihm so zahllose Lieder singen gelehrt mit der süßesten Stimme der Welt, und von seinem schönen Vater, der so früh gestorben, und von der alten wunderlichen Tante, die ihn mit nach Kopenhagen gebracht, und von seinem hohen Schützer und dem Leben im Königsschloß. Und während er redete, tanzten die kleinen Füße vor ihm auf und nieder und eine kleine unruhige Hand spielte mit den Locken seines blonden Haares. Die Singstunden wurden auch zuweilen durch Besuche unterbrochen, wie denn überhaupt die Wohnung der gefeierten Sängerin einem Taubenschlage glich. Elegante Cavaliere erschienen, um nach dem Wohlergehen der Bühnenkönigin zu fragen, niedliche Colleginnen hüpften herein, um Zuckerwerk zu naschen und pikante Geschichten zu erzählen.

Die Fortschritte des schönen Pagen waren also nur gering bei dieser Art des Unterrichts, aber das kümmerte ihn wenig, er lebte eben das sorglose Leben einer Blume, die sich von Jedermann bewundert sieht in ihrer ersten frischen Blüthe.

Da erschien Caspar Förster in der dänischen Hauptstadt und übernahm auf den besondern Wunsch des Königs die Leitung der Oper. Auf leuchtenden Flügeln war sein Ruhm ihm vorausgeeilt. Als Franciscus ihn bei einem Hoffeste zum ersten Mal hörte, stand er starr und regungslos hinter dem Thronsessel seines hohen Schützers, sein liebliches Gesicht erschien todtenblaß und die Thränen strömten unaufhaltsam über seine Wangen. Und am andern Morgen schon hatte er an die Thür Förster’s geklopft und ihn gebeten, ihn als Schüler anzunehmen. Der Gang kostete ihm große Ueberwindung, denn im tiefsten Herzen fürchtete er sich vor dem neuen Capellmeister, den ihm seine schöne Freundin als eine Art Menschenfresser und Eisbären zugleich geschildert hatte. Der berühmte Mann empfing ihn auch nicht sonderlich freundlich. „Der König hat mir schon von Euch gesprochen, mein Sohn,“ sagte er, „aber Ihr habt eine Frau zu Eurer Lehrmeisterin gehabt. Singt mir zuerst eine kleine Probe, damit ich selber höre, ob ich’s mit Euch versuchen kann!“

Zitternd und erregt bis in’s Innerste der Seele, sang Franciscus, und erwartungsvoll hingen die blauen Augen an dem strengen Antlitz des großen Sängers.

„Ihr müßt Alles wieder verlernen, was Ihr bis zur Stunde [235] gelernt,“ sagte Caspar Förster. „Fühlt Ihr die Kraft dazu in Euch, dann will ich Euer Lehrmeister werden. Aber versteht wohl, von Weibern lasse ich kein Wort hineinreden in meinen Unterricht. Wenn Ihr den Muth habt, Euch in meine Hände zu geben, so bedenkt, daß ich Euch ganz allein haben will.“

„Ich habe nichts mehr zu bedenken,“ lautete die Antwort, „ich verschreibe mich Euch mit Leib und Seele.“

Und so geschah es. Noch in derselben Stunde verfügte sich Franciscus zu seiner bezaubernden Lehrmeisterin und gestand ihr, daß er sich fortan einem Mächtigern ergeben. Heimlich fürchtete er einen Ausbruch zärtlicher Bitten und Beschwörungen und fragte sich zagend, wie er denen wohl widerstehen solle. Aber sie bat nicht, die schöne Pariserin, sie gerieth vielmehr in den heftigsten Zorn und machte dem hübschen Pagen das Scheiden leichter, als er zu hoffen gewagt. Die lockenden Lippen sprudelten über von den bittersten Reden, sie überhäuften abwechselnd le monstre von Capellmeister und den ehemaligen Liebling mit Schmähungen, die niedlichen Hände zerrissen verschiedene Spitzentücher und endlich wies die Sängerin dem Erschrockenen in aller Form die Thür – für immer – wie sie ihm noch nachrief. Zwar sandte sie am nächsten Morgen schon einen Boten zu ihrem ehemaligen Schüler mit dem Befehl, sich sofort zu ihr zu begeben, dem Franciscus aber nicht nachkam, und später fand eine Art Versöhnung statt, allein die Sing- und Plauderstunden hatten ein Ende, und der junge Sänger mühte sich in der That, mit aller Energie zu vergessen, was er bis zur Stunde gelernt. Und nun – wie bitter traurig war’s jetzt noch hören zu müssen: „Mein Sohn, es wird nichts aus Euch!“

Franciscus de Minde zerbrach sich seit jenen Worten seines gestrengen Lehrmeisters vergebens den hübschen Kopf, wie wohl das Leben zu ändern sei, das er in Kopenhagen nun schon seit Jahren führte, und das ihm halb unbewußt zur süßen Gewohnheit geworden war. Sein königlicher Schützer lachte ihn aus, als er ihm von den Befürchtungen des Capellmeisters redete, und die schönen Frauen, Angelique la Barre an der Spitze, verdoppelten ihre verführerische Freundlichkeit gegen ihn, um den „Weiberfeind“, der sich durch keinen schmachtenden Augenaufschlag, durch kein Lächeln blenden, durch kein süßes Schmeichelwort fangen ließ, zu kränken. Zudem brauchte der hohe Herr die Gesellschaft seines Lieblings jetzt nöthiger als je, er bedurfte der Zerstreuung. Das Heranrücken seiner Feinde, der Schweden, machte ihm schwere Sorgen. Die Nachrichten aus dem Lager lauteten täglich bedrohlicher. Immer neue Truppen, die besten Söhne des dänischen Landes, rückten den Schweden entgegen und immer neue Kämpfer verlangte man. Man redete nur vom Kriege und sah rings umher angstvolle Gesichter.

Eines Abends saß Caspar Förster einsam in seinem Arbeitszimmer, in alte Notenheften blätternd und dann und wann eine Stelle leise vor sich hin summend. Es sah nicht eben behaglich aus in diesem Asyl des berühmten Sängers und Capellmeisters, eine ordnende Frauenhand war in dies Heiligthum nie gedrungen. Fingerdick lag der Staub auf den Büchern und Notenheften, das kleine Spinett ächzte unter der Last von Musikalien und Kleidungsstücken, die darauf ihren Platz gefunden und gewöhnlich mit einem Ruck herabgeschleudert wurden, wenn Caspar Förster den Deckel aufschlug. Ein paar Stiefeln dienten einer Laute als Unterlage, und auf einer gewaltigen Baßgeige hing die etwas desolate Perrücke des Sängers. Die Reste eines frugalen Mahles hatten unter dem großen Sessel ihren Platz gefunden. Da klopfte es leise an die Thür, und auf den rauhen Zuruf erschien die zierliche Gestalt des hübschen Pagen auf der Schwelle, aber er trat nicht mit der gewöhnten liebenswürdigen Freundlichkeit seinem Lehrmeister entgegen, bleich und unruhig sah er aus, und eine ungewöhnliche Erregung leuchtete aus seinen Augen.

„Was wollt Ihr hier zu dieser Stunde?“ fragte Förster erstaunt.

„Still, still! Heimlich Abschied nehmen!“

„Abschied? Will Euch etwa die la Barre nach Frankreich entführen als ihren Schleppenträger?“

Helle Gluth stieg jetzt in die Wangen Francesco’s.

„Ihr denkt sehr gering von mir, aber eben um Euch besser von mir denken zu lehren, gehe ich. Lebt wohl, es soll doch noch etwas Ordentliches aus mir werden, – oder gar nichts. Fragt nicht, wohin ich gehe – ich habe Tage und Nächte nachgedacht, ehe ich zum Entschluß gekommen, Ihr werdet Gutes von mir hören oder – nichts mehr. Ihr hattet Recht: so konnte es nicht fortgehen und ändern ließ sich hier nichts! Auf Wiedersehen! Ich danke Euch für jedes Scheltwort und werde Euch ewig lieben! Sagt Niemandem, daß ich Abschied von Euch genommen, ich sagte Niemandem ein Lebewohl: Francesco de Minde soll für Alle verschwinden.“

Und ehe er’s verhindern konnte, hatte der Jüngling die Hände Caspar Förster’s ergriffen, an Brust und Lippen gedrückt und das Zimmer verlassen. Der schöne Page war entflohen aus Kopenhagen, und Keiner wußte, wohin er gegangen.

Vielleicht drei Monate nach dieser kleinen Scene näherte sich in den Abendstunden eines heißen Schlachttages ein kleiner Trupp schwedischer Soldaten dem Zelte ihres Feldherrn, des tapferen General Wrangel. Sie führten einen Gefangenen in ihrer Mitte, der mit verbundener Stirn so leicht und fröhlich einherschritt, als gälte es einem heiteren Feste entgegenzueilen. Vor dem Zelte machten sie Halt – der wunderliche Gefangene hatte durchaus verlangt zum Feldherrn gebracht zu werde. Der Posten vor dem Zelte machte eine abwehrende Bewegung mit der Hand – wie gebannt blieben die Soldaten stehen. Die Töne einer Geige wurden laut, – der berühmte General überließ sich nach den Mühen und Gefahren des Tages seiner höchsten Leidenschaft: dem Geigenspiel. Sie kannten sie alle an ihm und wußten, daß nur die Ueberbringer wichtiger Botschaften ihn in einer Passage oder einem Adagio stören durften. Es war ein seltsamer Contrast diese weichen süßen Klänge, die über ein Soldatenlager zogen und denen sie Alle so gerne lauschten.

Heut spielte der Tapfere mit besonderer Lust, wie es schien, ein Läufer reihte sich an den anderen, ein Triller folgte dem anderen, aus einem kecken Allegro ging er über, ohne anzuhalten, in ein schmelzendes Adagio – die Geige wurde nicht müde zu singen. Und immer größer wurde der Kreis der leise herbeischleichenden Hörer, man lagerte sich auf den Boden in zwanglosen Gruppen, und die Töne zogen über die Häupter hinweg wie leichtbeschwingte Friedensengel. Mit strahlendem Angesicht lauschte aber der junge Gefangene.

„Man hat mir nicht zu viel erzählt von meinem Herrn Collegen,“ sagte er lächelnd, „aber ich hoffe, meine Geige soll ihm auch gefallen!“

Und als eben jetzt der Spieler in jene bekannte Melodie überging, deren Text die Thaten des Königs Gustav von Schweden feierte, da fiel der Gefangene plötzlich mit heller Silberstimme ein und sang das Lied. Niemand wagte, ihm Schweigen zu gebieten, wie ein Zauber umfing es Alle. Der Klang war so süß und rein, die Stimme von einer Frische und Weichheit ohne Gleichen. Die Geige Wrangel’s begleitete leise und leiser, sie verstummte endlich ganz. Der Sänger schien es nicht zu bemerken, denn er hielt eben nach dem Beispiel Caspar Förster’s, seines Lehrmeisters, eine Fermate aus, die endlos schien und den Zuhörern den Athem zu nehmen drohte. Da hob sich dann der Vorhang des Zeltes und die Heldengestalt des Feldherrn wurde sichtbar. Die Geige hielt er noch in der Hand, und die Feueraugen hefteten sich mit einem Ausdruck des Staunens und der Bewunderung auf den jungen Sänger. Furchtlos begegnete Francesco diesem Blick, und als die Fermate schloß, legte Wrangel sanft seine Rechte auf die Schulter des Jünglings und sagte:

„Dankt Gott für Eure Stimme, mein Sohn, Ihr werdet die Welt von Euch reden machen. Woher kommt Ihr und was sucht Ihr im Kriege?“

„Eine Narbe für mein Gesicht und – den guten Rath meines berühmten Collegen, des General Wrangel,“ lautete die Antwort.

„So kommt mit mir in mein Zelt und erzählt mir Alles!“ lächelte der Feldherr, und die Vorhänge des Zeltes schlossen sich hinter den Gestalten der beiden Collegen. –

Was die Beide nun miteinander so vertraulich verhandelt haben, zum maßlosen Staunen der Soldaten, ist nie bekannt geworden, historisch ist aber, daß Francesco de Minde den General nicht mehr verließ, ihn später nach Schweden begleitete, wo der Feldherr den Sänger als die „beste Kriegsbeute“ dem Könige gleichsam zum Geschenk machte. Hier in den Prunkgemächern des königlichen Schlosses zu Gothenburg wiederholte sich die Geschichte Saul’s und David’s: der kranke Herrscher konnte die süße Stimme [236] und das heitere Geplauder des jungen Sängers bald keinen Tag mehr entbehren und ernannte ihn zu seinem Kammersänger. Seine Lieder allein vermochten den schwermüthigen König zu zerstreuen, seine düsteren Gedanken zu verscheuchen.

„Ich habe einen zweiten königlichen Vater gefunden,“ schrieb Francesco nach Kopenhagen, „aber mein geliebter König in der Heimath Dänemark ist doch der rechte und mein hiesiger Gönner nur ein gütiger Stiefvater. Meine Narbe trage ich mit Stolz, und wenn mich auch die Frauen leider um ihretwillen noch nicht hassen, so fühle ich doch, daß ich noch etwas Rechtes werden kann, um meinem theuren Lehrmeister Ehre zu machen.“

Der König Friedrich hatte längst seinem Liebling die anscheinende Treulosigkeit verziehen und schickte sogar dann und wann ein Geschenk für ihn nach Gothenburg, unter Anderem ein Paar kostbare, mit Perlen besetzte Armbänder. Erst nach des Königs Tode verließ de Minde Schweden; es zog ihn nach Deutschland, er wollte lernen und hören. Hamburg war zunächst das Ziel seiner Wünsche. So wanderte er denn fort mit einem schmalen Bündelchen und wenig Geld, denn Schätze zu sammeln lag nicht in seiner Natur, er gab von jeher mit vollen Händen, so lange er selber etwas zu geben hatte, und pflegte über dem Heute stets das Morgen zu vergessen, unbekümmert genoß er die Gegenwart. Da war es wohl kein Wunder, daß er sich in Wismar plötzlich mit leerem Beutel wiederfand, sein letztes Goldstück hatte er draußen vor den Thoren einem Bettler in den Hut geworfen. Etwas beklommenen Herzens trat er, die Laute auf dem Rücken, ein echter fahrender Sänger, in den ersten Gasthof der Stadt und bat um ein Nachtquartier. Es war ein Glück, daß die vorgerückte Dämmerung den Zustand seiner Reisekleider mitleidig verschleierte, trotzdem war aber der Wirth im Begriff, den unscheinbaren Wanderer abzuweisen, da er „vornehme Fremde“ beherberge, die in „Carossen“ vorgefahren, und sich mit Fußgängern nicht einzulassen Lust habe.

In der Wirthsstube brannten ein paar Kerzen, und der Schein des Lichtes fiel auf das schöne Gesicht Francesco’s und auf die leichtgebräunte Stirn mit der Narbe, und das frische, hübsche Wirthstöchterlein hinter dem Schenktisch sah das Alles, und ihre braunen Schelmenaugen begegneten den blauen des jungen Gastes und – sein Geschick war entschieden. Leise bat sie den Vater für ihn, und er durfte bleiben.

Da zog er sich denn seinen Schemel in die Nähe seiner Schützerin und begann mit ihr so heiter und anmuthig zu plaudern, daß das Mädchen oft hell auflachte und meinte, nie einen fröhlicheren Gesellen gesehen zu haben.

„Ihr würdet der Rechte sein für die vornehme Frau dort oben, die einen Diener sucht für die Reise nach Hamburg und Paris,“ sagte sie im Laufe des Gesprächs. „Ihr scheint überall zu Hause und habt die Welt gesehen. Freilich müsse ihr Begleiter etwas von der Musik verstehen, hat die Dame gesagt,“ schloß sie seufzend, „und davon werdet Ihr wohl nicht viel wissen, ich hätte Euch sonst bei ihr gern das Wort geredet!“

„Wer weiß, ob ich nicht davon so viel verstehe wie jene Donna,“ lachte Francesco, „aber das Wort möchte ich mir am liebsten gleich selber reden! Wo wohnt sie?“

„Ich will Euch hingeleiten! Kommt!“

Und sie führte ihn mit leisen Schritten eine Treppe hinauf in einen matterleuchteten Gang. Der Weg war etwas lang, die Stufen steil, und die niedliche Führerin gebot ihm oftmals, ihre Hand recht festzuhalten. Das that er denn auch so treulich und neigte sich sogar sehr oft mit den Lippen auf die warmen vollen Finger, um sich zu versichern, daß die kleine Hand ihm nicht entschlüpfe und wirklich noch seine Gefangene sei.

„Hier ist die Thür,“ sagte sie endlich zögernd. „Ich wünsche Euch Glück!“

„Bleibt noch einen Augenblick,“ bat er – „das Glück verläßt mich, wenn Ihr geht!“

Sie blieb denn auch, und er nahm seine Laute in den Arm und stimmte ein Lied an zum Preise der Frauen, das er selber in Musik gesetzt. Wie ein Lichtstrom quoll die unvergleichliche Stimme durch den dunkeln Raum – athemlos, zitternd, wie im Traum lauschte das Wirthstöchterlein. Solche Töne waren noch nie hier laut geworden! Welch’ ein Gesang! Hinreißender hatte Francesco selbst vor dem Zelte Wrangel’s nicht gesungen.

Unten im Gasthofe lief man zusammen bei den Tönen des modernen Orpheus, aus allen Winkeln kroch es hervor, man drängte sich auf die Treppe, daß die alten Stufen ächzten, das ganze Haus war in nie gesehener Aufregung. Aber als der letzte Ton verhallt war, da wurden wie mit einem Schlage zwei Thüren nebeneinander mit Gewalt aufgestoßen. Auf der Schwelle des einen Gemachs, den silbernen Leuchter mit der brennenden Kerze in der schönen Hand, im weißen spitzenbesetzten Gewande, unter dessen leichtgeschürztem Saum der kleine Fuß im rothen Hackenschuh sichtbar wurde, das leichtgepuderte Haar lose auf die blendenden Schultern herabhängend, das Lächeln einer Circe auf den Lippen, erschien, noch immer reizend, noch immer verführerisch – Angelique la Barre.

„Her zu mir, Francesco de Minde!“ rief ihre Silberstimme.

Da aber umfaßten ihn zwei Riesenarme, da fühlte er ein bärtiges Gesicht an seiner Wange, eine übermächtige Kraft drückte ihn an eine breite Brust und die Stimme eines Löwen donnerte in sein Ohr:

„Her zu mir, mein Sohn! Ihr seid auf gutem Wege! Ein Glück, daß ich Euch gefunden! Bei mir geblieben, wenn Ihr ein ganzer Sänger werden wollt!“ rief der Capellmeister von Kopenhagen, Caspar Förster. –

Wie die beiden Feinde, die ohne ihr Wissen und Willen seit wenigen Stunden unter einem Dache weilten, über den Gegenstand ihrer gemeinsamen Neigung sich einigten, kann Niemand erzählen. Das aber weiß jedes Tonkünstlerlerikon zu erzählen, daß eben Francesco Minde der größte Sänger geworden. Man nannte ihn den Engel. Ob Caspar Förster oder Angelique la Barre an seinem Ruhme den größeren Theil hat – wer kann es sagen? – Bekannt aber ist, daß Franciscus de Minde, welcher um das Jahr 1640 in Brabant geboren war, später durch seine herrliche Stimme und ganz vortreffliche Singkunst, wohin er auch kam, das größte Aufsehen erregte. Nach den hier erzählten Abenteuern wandte er sich nach Hamburg, wo man ohne ihn kaum ein Concert mehr veranstalten mochte und wo namentlich auch sein Gesangunterricht bald überaus gesucht wurde. In Hamburg starb er auch, nachdem er vorher zum Protestantismus übergetreten, und ward im Dome beigesetzt. Seine Stimme hat in allen ihren Wandelungen, in dem Klange des Discant wie in dem Timbre des Alt und endlich als unvergleichlicher Tenor die höchste Bewunderung aller Zeitgenossen erregt. Er gehörte zu jenen Glücklichen, denen Könige und schöne Frauen ihre Gunst bewahrten bis an ihr Ende.




Aus dem englischen Rechtsleben.

Zwischen den hundert englischen Geviertmeilen hügeligen Bodens, welche jetzt London bedeckt, verbergen sich unzählige Merkwürdigkeiten, die der Fremde auch während eines langen Aufenthaltes entweder nie entdeckt, oder die er mühsam aufsuchen muß. Dazu gehört ganz entschieden ein eigenthümlicher grüner Platz mit geheimnißvoll alten Gebäuden ringsum, der zwischen die beiden Hauptverkehrsstraßen eingekeilt ist, welche sich von Süd-und Nordwest her citywärts zuspitzen. Die nordwestliche Straße, Oxfordstreet, welche jetzt über eine prachtvolle, massive, vierzehnhundert Fuß lange Brücke gradlinig das Holbornthal ebnet, ist durch mehrere enge Querstraßen mit der südwestlichen Hauptader des Verkehrs verbunden. Zwischen zwei derselben breitet sich der lachende grüne Platz aus, dessen wunderliche Gebäude ringsum den Fremden ganz besonders räthselhaft anstarren, zumal wenn er die Menge von schwarzmänteligen Männern mit grauweißen Perrücken durch Thüren und Corridore geschäftig hin- und herflitzen sieht. Was mag das für eine wunderbare Welt sein? Chancery. Aber was heißt Chancery? Das beste Lexikon wird hier nichts helfen; denn auch „Canzlei-Gerichtshof“ ist uns nur ein ziemlich unbekanntes Wort für eine ganz räthselhafte Sache. Wer freilich Dickens ordentlich gelesen hat, wird sich erinnern, welche Mördergrube von Hoffnungen und Rechtssprüchen damit

[237]

Der Canzleihof in London.
Nach der Natur aufgenommen von C. Dammann.

[238] bezeichnet wird. Einer von seinen juristischen Helden, der immer auf ein dumpfhohlklingendes Schreibepult klopft und zu seinen Clienten sagt, das sei ihr Fels, auf den sie bauen können, und der hernach zum Sarge für den betrogenen Jüngling wird, ist echter Vertreter dieser Canzleijuristen. Mitten in den freundlichsten Straßen mit lachenden Fenstern fällt uns manchmal ein ganz verfallenes, gleichsam zerlumptes Haus auf, in welchem die Jungen nach und nach alle Fensterscheiben zerschmettert haben. Wenn wir fragen, warum das Haus so gespenstisch und hohläugig dastehe, erhalten wir immer zur Antwort: „It is in Chancery“. (Man streitet sich darum im Canzlei-Gerichtshofe.) Während des Processes, der früher oft halbe oder ganze Menschenalter dauerte, gehört es Niemandem und darf also nur von Fledermäusen und Spinnen bewohnt werden. Neuerdings sind einige Reformen in diesem Canzleigericht eingeführt worden, namentlich ein kürzeres Verfahren, aber im Uebrigen erben sich immer noch Gesetz und Rechte wie eine ewige Krankheit fort.

„Vernunft wird Unsinn, Wohlthat Plage;
Weh Dir, daß Du ein Enkel bist!
Vom Rechte, das mit uns geboren ist,
Von dem ist leider nie die Frage.“

Ja, die Gerichtshöfe sind, und nicht blos in England, oft nur Schlachthäuser des Rechtes, welches nach Arndt „in jedem Erdensohne fließt und in uns quillt wie Herzensblut“.

England ist allerdings insofern ein freier Staat, als Niemand durch Haß- und Verachtungsparagraphen und dergleichen Bestimmungen im Gebrauche seiner Meinungs-, Gedanken-, Schreibe- und Preßfreiheit gestört wird, aber desto schlimmer wirthschaften und wüthen Gesetze, Parteien und Gerichte über Mein und Dein. Das Canzleigericht gehört zu den verrufensten Anstalten dieser Art. Man sieht es diesen grimmigen, staubigen, verzerrten Gebäuden um den schönen grünen Platz des Lincoln’s-Inn-Feldes gleich an, daß sie weder guten Menschen noch guten Zwecken zur Herberge dienen können. Die großen Vorhöfe sehen so mürrisch auf das ärmliche Gras zwischen den Steinen herunter, die Mauern, Pfeiler und Stakete sind so verwittert und verrostet, daß es jedem guten Menschen bei diesem Anblick schon bange wird. Es liegt aber doch ein unheimlicher Reiz darin, wie in allem Grauenhaften. Selbst was nur grau vor Alter ist, ist ja oft schon dem Menschen heilig. Auch giebt es wirklich einen verschönernden Rost der Jahrhunderte.

Etwas der Art zieht uns an in diesen Mauern. Die ganze Ostseite des Platzes, eine Backsteinmauer mit schnörkelhaftem Thorweg und phantastischen Thürmchen auf Balustraden, dazu schweren, mit Eisenstäben und Bolzen mißtrauisch geschlossenen Thüren mit einem Wappenschildungethüm darüber, welches nur in einer vorsündfluthlichen Zeit gelebt haben kann, da es keiner gegenwärtigen Thiergestalt entspricht, sieht schon wie eine massive Abschreckung für das außerhalb vorüberströmende Leben aus. Nur der schöne, auch im Winter grüne Rasen auf dem Platze innen giebt uns Muth, ohne Furcht einzutreten und damit sind wir also in Lincoln's-Inn, dem Canzleigerichtshofe. Wir sehen auch gleich einen anderen grünen Platz vor uns, auf dessen linker Seite ein merkwürdiges Bauwerk von Backsteinen architektonisch an eine Kirche und Festung und für die Nase an irdische Herrlichkeiten des Essens erinnert. Befestigte Kirche zu einem Speisesaal verweltlicht – das ist gewiß charakteristisch und erklärt auch den Namen Inn (Wirthshaus).

Als nämlich noch die schnöden Advocaten des alten angelsächsischen gemeinen Rechts (Common Law) durch die Geistlichkeit von den Universitäten und den geistlichen Gerichten ausgeschlossen waren, bewilligte ihnen der König verschiedene Wohnsitze, die deshalb Inns of Court (Gasthäuser des Hofes) genannt wurden. Hier richteten sie sich zunftmäßig ein und sorgten natürlich vor allen Dingen für einen guten Speisesaal. Dieser bildet noch jetzt den Prüfstein für juristische Thätigkeit, insofern jeder Student dieser Zunftjuristen mindestens dreimal im Jahre hier gespeist haben muß, wenn ihm die Studienzeit angerechnet werden soll.

An dieser Halle vorbei schreiten wir gerade aus auf eine Reihe niedriger, klösterlich düsterer Gebäude, unter denen der eigentliche Canzleihof, wie wir ihn in der Abbildung sehen, fast den ganzen Raum im Vordergrunde einnimmt. Die Veranda desselben von steinernen Balustraden überragt, erinnert, wie die ebenfalls so geschmückten Dächer, an Festungsarchitektur der Normannen, wie diese nebeneinander aufgerichteten Steinplatten, vier bis sechs Zoll auseinander, den in England noch sehr häufig vorkommenden Baustil kennzeichnen. Im Mittelgrunde unseres Hofes und Bildes sehen wir die Kirchenkuppel und rechts das Thürmchen mit der Wetterfahne hervorragen.

Noch sonderbarer als die Bauten erscheinen uns die Menschen darin. Bei aller ihrer Geschäftigkeit und Erregung stehen sie oft in unheimlich lispelnden Gruppen und verrathen Qual und Angst in ihren Gesichtern. Die schwarzmänteligen Unholde mit ihren graugelockten Perrücken, scharfen Gesichtern und grausamen Augen entscheiden ja innerhalb der unheimlichen Räume umher über ihr Lebensglück, über Schätze, auf welche sie Anspruch machen, und über das Vermögen, welches sie noch besitzen; denn die Kosten müssen unter allen Bedingungen in ganzer Höhe und Masse bezahlt werden. Der Verurtheilte hat in der Regel nichts mehr, so daß der glückliche Gewinner bluten muß.

Ein ängstlich niedriger Gang führt uns in den zweiten, kleineren Canzleihof mit der im Tudorstil erbauten Kirche. Die kolossalen Pfeiler und Bogen, auf welchen sie ruht, beschatteten früher eine Promenade, jetzt einen vom rostigen Eisengitter eingeschlossenen Kirchhof für die Anwälte. Kirche und Kirchhof in dieser Festung der Juristenzunft? Wie antwortet man auf dieses Fragezeichen? Am besten damit: es ist eben englisch; gelehrte Abhandlungen darüber würden ebenso viel Raum als Anstrengung erfordern. Nur die Juristenzünfte und das zunftmäßig eingetheilte englische Recht bedürfen noch einer Erklärung. Es giebt in England ein von den Angelsachsen aus Deutschland eingebürgertes gemeines Recht (Common Law) mit allen den Rechtsgewohnheiten, welche aus der alten germanischen Freiheit hervorwuchsen. Es ist nicht geschrieben und deshalb das heilige Recht, welches in uns wie Herzensblut quillt. In Deutschland ist es durch tyrannisches römisches, dynastisches und hierarchisches Recht, in England durch Millionen von Paragraphen des statute-law, d. h. von Parlamentsbeschlüssen, vielfach verdrängt und überwuchert worden.

Das gemeine Recht ist meist nur noch geblieben, um Streitigkeiten über Mein und Dein zu entscheiden. Die Rechtsbestimungen dafür sind ursprünglich Sitte, Gebräuche und Zustimmung der freien Persönlichkeit. Aber im Laufe der Zeit wurden Erklärungen und Auslegungen der Richter zur Hauptsache und diese deshalb mehr oder weniger Despoten. Indem sich nun Richter und Advocaten immer wieder über das gemeine Recht erhoben und allgemeine Principien des Rechts zur Geltung brachten, entstand die dritte Art des englischen Rechts, das Billigkeitsgesetz (Law of Equity).

Die Eifersucht der Sachsen und Normannen nach dem Siege der letzteren vor mehr als achthundert Jahren gab der Geistlichkeit unter einer Reihe unfähiger Könige überwiegenden Einfluß auf weltliche Angelegenheiten. Endlich ward durch die magna charta, die constitutionelle Grundverfassung vom Jahre 1215, auch ein Rechtsboden gewonnen. Civilgerichtshöfe brauchten nun dem Hofe des Königs nicht mehr zu folgen, sondern konnten sich gewissermaßen als selbständige Geschäfte etabliren. In Folge davon entstand besonders das Oberlandesgericht (Court of common pleas) zu Westminster als Rechtsbollwerk gegen die Willkür der Geistlichkeit. Diese war freilich bedeutender Grundbesitzer und hatte zugleich die Universitäten in ihrer Gewalt, von denen sie die Jurisprudenz ganz ausschloß. Sachsen und Normannen mit dem ganzen Rechtsbewußtsein des Volks, gegen diese Geistlichkeit vereinigt, verschafften den Rechtsgelehrten die Mittel und die Macht, materiell und geistig befestigte Sitze der Rechtslehre und Gerichtshöfe in Form von Zünften und Innungen zu bilden. Dies war damals sehr vernünftig und nothwendig; aber „Vernunft wird Unsinn, Wohlthat Plage“; und so haben sich diese besonderen Gerichtsinnungen mit ihren verschiedenen Arten von Recht und Gericht bis auf den heutigen Tag erhalten.

Die erste dieser Innungen bildete sich in dem vorher von Tempelherren bewohnten Ritterhofe an der südlichen Grenze der City bis zur Themse hinunter. Sie ist noch jetzt als Temple eine der interessantesten Merkwürdigkeiten und Schönheiten Londons. Der duftige, sonnige, stille Garten desselben mitten in dem betäubenden Geräusche Londons, der plätschernde Springbrunnen, der nackte Mohr mit der Sonnenuhr und die im classischen normännischen Baustil ausgeführte Kirche, das Anlernen, Lehren und Leben darin ist schon oft in englischen und deutschen Büchern mehr [239] oder weniger ausführlich geschildert worden, und schon mancher englische Roman ward von müßigen, jungen Juristen darin geschrieben. Eine andere solche Juristenzunft, Gray's-Inn, liegt noch mehr versteckt, und wir erwähnen sie nur, weil die beiden größten Staatsmänner der Königin Elisabeth, Lord Burleigh und der auch als Gelehrter berühmte Lord Bacon, darin erzogen wurden.

Auch das geistliche Gericht für Heiraths-, Testaments- und sonstige Angelegenheiten, über welche im Namen der Hochkirche Recht und Gesetz „begangen“ wird, nämlich Doctors Commons, südlich hinter der Paulskirche versteckt, ist uns durch Dickens’ Schilderung in „David Copperfield“ genügend bekannt geworden.

Nur noch einen Blick auf unseren Canzleigerichtshof von außen in der berühmten Chancery-lane oder Canzleigasse, welche zugleich Verbindungsstraße zwischen der Temple- und Gray's-Inn- Zunft ist. Da diese Gasse zugleich die beiden Hauptverkehrsadern vom Westende nach der City verbindet, kann man darin gar oft das bunteste Gemisch von Lebens- und Leidensbildern studiren. Kläger eilen ungeduldigen hastigen Schrittes über das schlüpfrige Pflaster und drängen sich durch Pedells, Executoren, erkaufte Zeugen, fliegende Kaufmannsdiener, schwarzmäntelige, weißperrückte und doppelt bezopfte Priester des „Billigkeits-Gerichtes“ auf den engen Trottoirs hindurch, diesen stellenweise bereits ziemlich ausgetretenen Fußwegen, auf welchen schon die berühmtesten Juristen älterer und neuerer Zeit ihre Füße setzten, ohne die Stätte heiligen zu können. Hier wanderte Coke, der brutale Gegner Bacon’s und des Grafen Essex, der unerbittliche Verfolger Raleigh’s und unerschrockene Vertheidiger der Volksrechte gegen die absolutistischen Uebergriffe des ersten Jacob. Hier schritt der unlängst verstorbene, unvergeßliche Henry Brougham, um in den düstern Hallen des Canzlei-Gerichtshofes nicht blos Worte des Rechts, sondern auch der Gerechtigkeit zu donnern und zu blitzen. Eine Welt von Tugenden und Lastern, Lüge und Wahrheit, Unverschämtheit und Unschuld, Leidenschaft und weiser Gelassenheit, Ehrlichkeit und Elend, Meineid und Habgier, Verzweiflung und Verderben drängt sich in dieser Gasse und im Gerichtshofe seit Jahrhunderten täglich aus und ein.

Die Innung dieses Canzleigerichtshofes (Lincoln’s Inn-Society) bildete sich als Ergänzung des „Temples“ im Anfange des vierzehnten Jahrhunderts und wurde bald der alleinige Sitz für Lehre und Praxis des Billigkeitsrechtes. Das Oberlandesgericht nämlich, das Oberhofgericht und das Oberkammergericht, in Civilsachen gleichberechtigt, beschränkten sich auf Anwendung und Ausführung des geschriebenen und gemeinen Rechts angelsächsischen und normännischen Ursprungs und vieler feudaler Barbarei in ihren Bestimmungen, so daß das Billigkeitsrecht, zum Theil altrömischen Ursprungs, mehr und mehr Bedürfniß und Nothwendigkeit ward. Diesem entsprach unser Canzleigerichtshof, in welchem Studium und Anwendung des Billigkeitsrechtes nach und nach persönliches, zünftiges Eigenthum der Richter und Zunftmeister wurden. Lange standen sich gemeines und Billigkeitsrecht feindlich gegenüber, aber Bildung und öffentliche Meinung, die in England vielfach Recht und Gesetz beherrschen und deren Grausamkeiten, Unsinn und Plage, wenn nicht beseitigen, so doch mildern, stumpften diesen Gegensatz ab, so daß sich jetzt die allerdings noch sehr theure Billigkeits-Gerichtsbarkeit wesentlich auf solche Fälle beschränkt, über welche sich im gemeinen, geschriebenen Recht keine Bestimmungen finden, also auf moderne Verhältnisse, während alle älteren Rechte und Gesetze auf dem vielfach überwundenen Feudalstaate beruhen.

Darüber giebt es unzählige dicke Bücher, aus denen kein vernünftiger Mensch so leicht klug wird. Sie zerfallen in Lehrbücher über die drei angedeuteten Hauptarten des Rechts und der Gerichtsbarkeit. Es läßt sich also leicht denken, durch welche Labyrinthe von Verlegenheiten und Kosten jeder arme Sterbliche irren muß, um nur erst vor die rechte Thür zu kommen. Im Namen unserer Hunderttausende von Landsleuten in England und aller Deutschen, welche mit England in Verbindung stehen, wollen wir deshalb dem deutschen Rechtsschutzverein in London hiermit unsere wärmste Dankbarkeit und Anerkennung aussprechen, da er sich seit Jahren mit Redlichkeit, Aufopferung und auch Erfolg bemüht, uns möglichst mit heiler Haut durch die rechten Gerichtshöfe hindurch zu führen oder uns in Gnaden ganz davor zu schützen. [1]




Blätter und Blüthen.


Rettung eines Lützowers.[2] Der letzten und verzweifelten Gegenwehr des Lützower Corps in dem schmachvollen Ueberfalle bei Kitzen am 17. Juni 1813 hatte die hereinbrechende Dunkelheit schnell ein Ende gemacht. Nur hie und da vertheidigten sich noch Einzelne und versuchten mit oder ohne Erfolg sich durchzuschlagen. Dazu gehörte auch ich. Als ich nun aber an der linken Schulter verwundet worden war, mußte ich den Kampf aufgeben. Es blieb mir nichts weiter übrig, als mich auf die bewährte Tüchtigkeit meines Pferdes zu verlassen. Ich gab ihm also die Sporen, sprengte davon und machte erst Halt in einem nicht allzufernen Laubholze, wo ich für’s Erste geborgen war.

Sehr bald ergab es sich hier, daß ich nicht allein war. Etwa zwanzig Cameraden, zum Theil verwundet und ohne Waffen, waren eben so glücklich wie ich gewesen. Unter ihnen waren namentlich der Rittmeister von Heiden und Lieutenant von Löschbrand. Der letztere hatte eine tiefe Wunde am Kopfe. Ich nahm mein schwarzseidenes Halstuch und verband sie ihm. Dann hielten wir einen Kriegsrath, was nun weiter zu thun sei, und kamen bald überein, da uns ja nur der Rückzug übrig blieb, uns nach Böhmen durchzuschlagen, das bis dahin neutral war. Nach kurzer Rast brachen wir also auf und ritten weiter. Selbstverständlich hüteten wir uns dabei, so gut es ging, irgend einen Ort zu berühren oder ihm auch nur zu nahe zu kommen.

Mit Anbruch des Tages hatten wir unweit von dem Städtchen Teuchern zwischen Weißenfels und Zeitz wieder ein Laubholz erreicht. Hier machten wir auf einem offenen Platze Halt, sahen uns aber plötzlich von polnischen Ulanen überfallen, die jedenfalls unserer Spur gefolgt waren. Eine Flucht war unmöglich, auch konnten wir selbstverständlich nicht daran denken, uns zu vertheidigen, dazu war unsere Zahl zu klein, zumal da Etliche verwundet und sogar ohne Waffen waren. Es blieb uns nichts übrig, als uns zu ergeben. Rittmeister von Heiden nahm also ein weißes Taschentuch und winkte damit Pardon zu. Zu unserer großen Verwunderung wurde es aber durchaus nicht beachtet. Die Feinde schossen ihre Pistolen auf uns ab, sprengten heran, umzingelten uns, rissen uns von den Pferden und plünderten uns aus. Dann mußten wir unsere Pferde führen und wurden gen Weißenfels transportirt.

In der Nähe dieser Stadt, unweit vom Schießhause, mußten wir Halt machen und eine Front bilden. Man befahl uns die Pferde stehen zu lassen und zwanzig Schritte vorzutreten. Nun wurden unsere Pferde ergriffen und weggeführt. Uns selbst gestattete man, uns auf den Boden nieder zu setzen oder zu legen. Wir thaten es, allein unsere Lage fing bald an, eine recht peinliche zu werden.

In Folge der Anstrengungen und Strapazen der vorigen Nacht waren wir nicht allein todtmüde, sondern wurden auch von beißendem Hunger gequält. Umsonst aber baten wir, daß man uns etwas Brod verabreichen möchte. Nicht einmal für das Geld, welches einer unserer Cameraden in seinem Stiefel verborgen hatte, konnten wir etwas bekommen. Ja, so hart und grausam behandelte man uns, daß selbst die Personen aus der Stadt, welche Theilnahme für uns hatten und etwas bringen wollten, abgewiesen wurden. Der Tag verging, und wir bekamen nichts. Mit Einbruch des Abends aber mußten wir antreten und rechts und links von Infanterie umgeben abmarschiren. Wir ließen Weißenfels links, zogen hinter den sogenannten Klemmbergen vorüber und gelangten in der Nähe der Herrenmühle auf die Straße nach Leipzig.

Den saueren Marsch dahin habe ich mein ganzes übriges Leben hindurch lebendig im Gedächtnisse behalten. Die Grausamkeit der Feinde gegen uns zeigte sich während desselben erst recht in ihrem höchsten Glanze. Es fiel den uns transportirenden Officieren auch jetzt noch nicht im Entferntesten ein, uns etwas zur Stärkung verabreichen zu lassen. Hätte sich nicht ein zufällig an uns vorüberreitender Major der Artillerie über mich erbarmt, so wäre ich wohl gleich wie einige Cameraden liegen geblieben oder gar umgekommen. Ich hatte das Pferd, welches er ritt, sofort als das meinige erkannt und dem neben mir marschirenden von Hill zugerufen: „Sieh mein Pferd!“ Das hatte derselbe gehört und war an mich herangeritten, um mich darüber auszufragen. Ich muß annehmen, daß er an meinen derben Antworten Wohlgefallen fand, denn er that mir dann viel Gutes. – Nachdem er schon wiederholt auf dem Marsche, aber leider immer vergeblich, versucht hatte, uns einen Trunk Wasser oder Bier verabreichen zu lassen, brachte er uns, namentlich mir, in der Nähe von Markranstädt, wo wir einen kurzen Halt machten, selbst einige Butterbrode. Das stärkte mich so, daß ich mich wieder weiter schleppen konnte. Als er wegritt, wies er tröstend auf die Thürme von Leipzig und sagte: „Wer weiß, wie es dort kommt!“ Als wir aber diese heißersehnte Stadt endlich erreicht hatten, graute der Morgen. Wir machten Halt auf der Promenade unweit des Roßplatzes.

Unsere Ankunft war sofort dem Commandeur, Herzog von Padua (Arighi), gemeldet worden. Schon nach einer halben Stunde kam derselbe

[240] in Begleitung einiger Officiere selbst. Er musterte und bedeutete uns, daß wir Quartiere bei unseren Cameraden in der Pleißenburg erhalten sollten. Gegen fünf Uhr wurden wir dahin abgeführt. Wie uns der Herzog gesagt hatte, fanden wir dort einen Theil unserer Leidensgefährten, die schon bei Kitzen gefangen genommen worden waren.

Die guten Leipziger hatten von Anfang an ein großes Interesse für uns an den Tag gelegt. Man hatte ihnen erlaubt, die Wunderthiere des Corps der Rache zu sehen, und sie hatten davon den liebenswürdigsten Gebrauch gemacht, indem sie Etlichen von uns zur Flucht verholfen hatten. Zu dem Ende waren die lieben Leute mit doppelter Kleidung hereingekommen und mit einfacher wieder weggegangen, während die glücklichen Cameraden, die man sich ersehen hatte, in dem Hofraume, wo Heu und Stroh aufgeschichtet war, oder in den umliegenden Gebäuden Zeit und Gelegenheit fanden, sich umzukleiden und davon zu machen. Es läßt sich denken, daß auch ich dieses Glück mit Freuden begrüßt haben würde. Da man aber bereits hinter diese Schliche gekommen war und Niemand mehr ohne Paßkarte eingelassen wurde, auch die Cameraden sich einander das Wort gegeben hatten, von dieser Art der Flucht keinen weitern Gebrauch zu machen, so mußte ich es wohl in einer andern Weise versuchen.

Zur damaligen Zeit stand die schöne jetzige katholische Kirche in Leipzig noch nicht; der Gottesdienst wurde vielmehr in der Pleißenburg gehalten. In einem Seitengebäude wohnte auch der katholische Küster. Das hatte ich bald genug entdeckt und faßte darnach meinen Plan.

Es mochte etwa gegen zehn Uhr des Morgens sein, als ich im Hause desselben Clavier spielen hörte. Als Freund der Musik, dachte ich, darfst du es wohl einmal versuchen, ob du nicht näher kommen kannst. Da wir frei im Hofe der Pleißenburg herumgehen durften, lag mir dazu zunächst nichts im Wege. Ich trat also in das Haus, pochte höflich an die Thür der Stube, wo gespielt wurde, und bat, als man mich eintreten hieß, ein wenig zuhören zu dürfen. Der Küster, welcher gerade sein Töchterlein unterrichtete, gestattete das. Sobald sich aber eine Gelegenheit bot, suchte ich ein Gespräch anzuknüpfen. Auch das gelang mir, und das erste Resultat desselben war, daß ich durch das erwähnte Töchterlein ein Briefchen an meinen Freund, den Leinwandhändler Friederici, gelangen lassen konnte; das andere, daß ich durch diesen trefflichen Mann wieder zu Geld kam, da ich bald darauf ein freundliches Billet mit fünfzehn Louisd’or erhielt; das dritte, daß ich von der guten Küsterfrau zu Tische geladen wurde. Ich nahm dies natürlich dankbar an und bat nur, mir eine Flasche Wein dazu holen lassen zu dürfen. Man gestattete auch dies, und ich hatte die Freude, sie mit meinem freundlichen Wirth und seiner Familie leeren zu können.

Dabei fand ich nun Gelegenheit, mit meiner eigentlichen Herzensangelegenheit herauszurücken. Ich sondirte und klopfte an, ob sie mir nicht zu meiner Befreiung behülflich sein wollten.

Dieser erste Versuch mißglückte mir indeß vollständig. Der Küster erzählte mit, daß er sich bereits durch die Befreiung zweier russischen Officiere der größten Gefahr ausgesetzt habe und deshalb noch unter polizeilicher Aufsicht stehe. Es sei ein Glück für ihn gewesen, daß seine geistlichen Oberen für ihn eingetreten seien und bei dem Herzoge ein gutes Wort für ihn geredet und sein Leben gerettet hätten. Er wies mich auf seine noch unerzogenen fünf Kinder hin und verbat sich jede weitere derartige Zumuthung.

Ich sah ein, daß sich für’s Erste nichts weiter thun lasse. Ich wäre aber kein Lützower gewesen, wenn ich nun gleich alle Hoffnung aufgegeben hätte. Das that ich denn auch keineswegs und verlebte deshalb diesen und die kommenden Tage größtentheils im Kreise dieser Familie. Sogar des Nachts brachte ich im Hausflur zu, wo man mir mein Strohlager aufzuschlagen gestattet hatte, während meine Cameraden in den Stroh- und Heuhaufen auf dem Hofe oder in den anliegenden Gebäuden der Pleißenburg übernachteten. So war der Sonntag herangekommen.

Schon des Morgens um sechs Uhr dieses Tages, als ich noch auf meinem Strohlager lag, wurde ich benachrichtigt, daß das Frühstück da sei. Ich raffte mich auf und erkundigte mich nach der Ursache, weshalb wir heute unser Frühstück so früh erhielten. Zu meinem Schrecken erfuhr ich, daß wir heute in die Kerker gesperrt werden sollten, um nicht wieder herausgelassen zu werden. Als Grund davon gab man an, daß die Katholiken sich beklagt hätten, wir hätten ihren Gottesdienst gestört und man mache ihre Burg zu einer Mördergrube. Jetzt war guter Rath theuer.

Noch mit dem Brod in der Hand, begab ich mich in das Haus des Küsters. Hier fand ich die Stubenthür nicht verschlossen, trat ein, näherte mich dem Alkoven, weckte den noch schlafenden Küster und seine Gattin und theilte ihnen mit, was ich soeben gehört hatte. Zugleieh wiederholte ich nun meine Bitte, daß er mir zur Flucht behülflich sein solle. Ich bat, daß er mir das Nöthige von seiner Küsterkleidung leihen möge, damit ich so verkleidet in die Kirche und von da in die Stadt entkommen könne. Sollte ich erkannt werden, so würde ich ihn doch nicht verrathen. Jetzt sei der Augenblick meiner Rettung oder nie. Allein auch das blieb ohne Erfolg. Ich mußte das Zimmer unverrichteter Sache verlassen und stand nun rathlos auf der Hausflur.

Ueber eine Weile kam die Hausfrau heraus und schritt an mir vorüber in die anliegende Küche, um Feuer anzumachen und Kaffee zu kochen. Zu ihr ging ich hin, brachte meine Bitte nochmals vor und versprach ihr Alles, was ich besaß, wenn sie mir Kleider, Barbierzeug und Gesangbuch brächte. Jetzt war ich glücklicher. Die gute Frau sagte, daß sie nochmals mit ihrem Manne reden wolle. Sie ging in das Zimmer, kam bald darauf wieder zurück und bedeutete mich, auf den Boden zu gehen und mich dort einstweilen zu verbergen, bis sie das Gewünschte hinaufbringe. Wenn mir die Rettung gelungen wäre, sollte ich dann die Kleider in ein Tuch binden, das sie mir mitgeben wolle, und bei Friederici niederlegen; von da würden sie dann abgeholt werden. Ich dankte herzlich, aber kurz und befolgte sofort ihren Vorschlag. Vor Freude und Erwartung bebte mir das Herz. Ich fühlte, daß es sich um mein Leben handeln konnte.

Auf dem Boden angelangt, zog ich zunächst einen Dachziegel auf und schaute hinunter auf den Hof, um zu sehen, was da vorgehe. Ich gewahrte nun, wie meine Cameraden in die Kerker getrieben wurden und wie man alle Winkel nach dem Fehlenden durchsuchte. Selbst die Strohlager durchstach man und auch auf die Küsterwohnung sah ich drei Mann zuschreiten. Gleich darauf hörte ich sie schon die Treppe heraufkommen. Ich sah mich schnell nach einem Versteck um, konnte aber nichts entdecken, was mir dazu hätte dienen können. Im Augenblicke der Noth schwang ich mich jedoch noch auf die Rußesse und legte mich platt nieder. Es war die höchste Zeit. Kaum hatte ich das ausgeführt, als schon ein Mann heraufkam und sich auf dem leeren Boden umschaute. Ich hatte das Glück unentdeckt zu bleiben und hörte ihn bald darauf wieder die Treppe hinuntergehen und mit den andern Beiden das Haus verlassen. Jetzt athmete ich auf, und gleich darauf erschien auch die Küsterfrau und brachte mir die gewünschte Kleidung. Ein paar Minuten reichten hin, um mich in das Bild des ehrsamen Küsters zu verwandeln. Nur die Abnahme meines Bartes bereitete mir etliche Verlegenheit und Schwierigkeit, denn das Messer war ziemlich stumpf und das Wasser kalt geworden.

So nothdürftig in den Stand gesetzt und ausgerüstet, trat ich meinen Armensündergang an. Ich drückte den Küsterhut möglichst tief in das Gesicht, nahm das Gesangbuch in die Hand und stieg die Treppen hinunter. Unangefochten verließ ich das Haus und auch zwei Marketenderinnen, die an der Hausthür Posto gefaßt hatten und wuschen, hatten mich nicht erkannt und mir keine weitere Verlegenheiten bereitet. Ich hatte wohl Grund das zu befürchten, denn die eine von ihnen war in Hamburg, als sie einer Magd den Milchtopf vom Kopfe gerissen hatte, mit etlichen Kantschuhieben von mir regalirt worden. Auch den Hof passirte ich ungehindert und erreichte glücklich das Gotteshaus. Hier hielt ich meinen Hut betend vor die Augen, näherte mich dann einigen Herren, die links von mir knieten, und wartete, was weiter kommen werde.

Nicht lange währte es, so erhob sich der mir zunächst Knieende, ein junger Mensch von etwa fünfzehn Jahren. Er blieb stehen, sah mich mit großen Augen an, und es fehlte nicht viel, so hätte er laut zu lachen angefangen. Schnell aber schien er sich noch zu besinnen. Er trat zu dem älteren Herrn neben ihm heran und flüsterte ihm etwas in’s Ohr. Was er sagte, verstand ich nicht, aber es schien mir, daß mich auch dieser nunmehr einer Musterung unterwarf und als ob ich also aus dem Regen in die Traufe gekommen sei. Einen Augenblick versuchte ich in dieser Noth zu beten, aber es gelang mir schlecht genug. Ich machte daher, daß ich fortkam, mischte mich unter die Menge, die gerade die Kirche verließ, und passirte so unangefochten auch den Wachtposten am Thore der Pleißenburg. Endlich befand ich mich im Freien, aber auch jetzt noch schien nicht alle Gefahr beseitigt zu sein.

Während ich die Burgstraße hinabging, hörte ich plötzlich hinter mir: „Pst! Pst!“ Ich wußte wohl, daß ich damit gemeint sei, aber es fiel mir nicht ein, mich umzudrehen. Da bekam ich plötzlich einen Schlag auf meine linke Schulter, daß ich fast laut aufgeschrieen hätte. Als ich mich umwandte, sah ich den ältern Herrn vor mir, der mich in der Kirche erkannt zu haben schien. Er sagte mir aber sofort in dem artigsten Tone, daß ich von ihm nichts zu fürchten habe. Er wisse, daß ich einer der unglücklichen Preußen und von Allem beraubt sei, und erlaube sich nur, mir zum Fortkommen seine Börse anzubieten. Vergeblich suchte ich die Wahrheit seiner Entdeckung zu leugnen und gab mich für einen Oekonomieverwalter aus der Gegend von Bernburg aus. Er sagte mir in’s Gesicht, daß das nicht wahr sei und daß mich nicht nur der eben erst schlecht beseitigte Bart verrathe, sondern daß auch sein Sohn, der von dem Küster Unterricht erhalte, dessen Kleidung erkannt habe. Ich war also überführt, befand mich aber in guten Händen. Der brave Mann warnte mich noch, die lebhafteren Straßen zu betreten, wo ich leicht in größere Gefahren kommen könnte, und führte mich durch Nebengäßchen in das Haus meines Freundes Friederici. An der Treppe bot er mir nochmals seine Börse an; ich schlug sie aus und bat um seinen Namen. Die Erfüllung dieser Bitte verweigerte er der schlimmen Zeiten wegen. Dann entfernte er sich schnell, und ich bin nur einem Unbekannten dankbar geblieben.

Im Hause meines Freundes Fr. wurde ich auf das Herzlichste aufgenommen. Er ließ mir einen Friseur und Kleider kommen, und bald war der wilde Jäger und schlecht nachgebildete Küster in einen lammfrommen Oekonomen mit gelben Stulpenstiefeln umgewandelt. Als solcher verließ ich mit heißem Danke für die mir erwiesene Liebe meines Freundes schon nach zwei Tagen Leipzig und traf einige Tage später bei dem Amtsrath Breymann in Bernburg ein, wo ich für den Augenblick sicher zu sein glaubte.




Diese Kitzner Erinnerung giebt uns Veranlassung, die Leser der Gartenlaube an die Mittheilung zu erinnern, welche wir in Nr. 11 des Jahrgangs 1863 über die treue Pflegerin des bei Kitzen verwundeten Theodor Körner machten. Die wackere Frau nun, die Gattin des damaligen Gärtners Häusser in Großzschocher bei Leipzig, welche den von ihrem braven Manne im Walde aufgesuchten und in sein Haus gebrachten Freiheitskämpfer mit größter Hingebung und unermüdlicher Sorgfalt pflegte, ist vor wenigen Wochen als hochbetagte Greisin in ihrem Heimathdorfe gestorben und unter großer Betheiligung der ganzen Gegend zur letzten Ruhe gebettet worden. Friede sei der Asche dieser würdigen Patriotin!


Inhalt: Reichsgräfin Gisela. Von E. Marlitt. (Fortsetzung.) – Thier-Charaktere. Von Karl und Adolph Müller. 6. Aus dem Räuberleben des Hühnerhabichts. Von Karl Müller. Mit Abbildung. – Literarische Briefe. An eine deutsche Frau in Paris. Von Karl Gutzkow. III. – Der Engel von Brabant. – Aus dem englischen Rechtsleben. Mit Abbildung. – Blätter und Blüthen: Rettung eines Lützowers.


Verantwortlicher Redacteur Ernst Keil in Leipzig. – Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.

  1. Bei dieser Gelegenheit antworten wir auf die vielen Anfragen, die uns nach der Adresse des deutschen Rechtsschutzvereins in London zugegangen sind, daß Alle, welche die Vermittelung desselben in Anspruch zu nehmen gedenken, sich an den Buchhändler Herrn R. Trübner in London, Paternoster Row Nr. 60, wenden wollen.
    Die Redaction.     
  2. Mittheilung der Erlebnisse eines alten Lützowers, des Rendanten a. D. Masius zu Zeitz, nach dem Ueberfall bei Kitzen am 17. Juni 1813.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: Keulenschäge
  2. Marco Scacchi; Vorlage: Scuchi