Die Gartenlaube (1873)/Heft 10
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No. 10. | 1873. | |
Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.
Wöchentlich 1½ bis 2 Bogen. Vierteljährlich 16 Ngr. – In Heften à 5 Ngr.
„Gar nichts hat er gesagt,“ erwiderte Schäffer. „‚Ich danke Ihnen, Schäffer!‘ das war Alles. Er hat nur die Papiere dabehalten, die ich zur besseren Orientirung für ihn mitgenommen hatte, und sich eingeschlossen. Seitdem habe ich ihn noch nicht wieder gesprochen.“
„Ich sprach ihn gestern Abend, als ich ihm die Forderungen unserer Bergleute vorlegte,“ sagte der Director. „Er wurde freilich todtenblaß, als die Hiobspost zum Vorschein kam; dann aber hörte er stumm zu, ohne auch nur eine Silbe zu erwidern, und als ich einige Rathschläge und Tröstungen laut werden ließ, in der sicheren Voraussetzung, daß es nun zu einer Besprechung kommen würde, schickte er mich fort. Er wollte das erst allein überlegen. Ich bitte Sie, Herr Arthur und überlegen! Heute Morgen erhielt ich denn die Weisung, Sie sämmtlich zur Conferenz herzuberufen.“
Um Herrn Schäffer’s Mund legte sich wieder der alte sarkastische Zug. „Ich fürchte, ich kann Ihnen das Resultat dieser Conferenz vorher sagen: Bewilligen Sie Alles, meine Herren, geben Sie unbedingt nach, machen Sie was Sie wollen, nur sichern Sie mir für den Augenblick den Betrieb der Werke! Und dann wird er Ihnen ankündigen, daß er mit der gnädigen Frau nach der Residenz zurückkehrt und die Sachen hier gehen läßt, wie es dem Himmel und Ihrem Hartmann gefällt.“
„Es trifft ihn aber auch jetzt Schlag auf Schlag!“ mischte sich Wilberg ein, der in ritterlicher Aufwallung für den Abwesenden Partei nahm; „da könnte ein Stärkerer unterliegen.“
„Ja, Sie haben immer Sympathie für die Schwäche!“ spottete der Oberingenieur. „Nur in den letzten Wochen hatten Sie entschieden Sympathie für das Gegentheil. Herr Hartmann erfreute sich ja Ihrer ganz besonderen Freundschaft. Schwärmen Sie etwa noch für ihn?“
„Um Gotteswillen, nein!“ rief Wilberg mit einem fast entsetzten Ausdruck. „Ich habe ein Grauen vor dem Manne seit – seit der Todesstunde des Herrn Berkow!“
„Ich auch!“ sagte der Oberingenieur kurz, „und ich glaube, wir Alle. Es ist furchtbar, daß wir gerade mit ihm unterhandeln müssen; aber freilich, wo keine Beweise sind, thut man am besten zu schweigen.“
„Glauben Sie denn wirklich an die Möglichkeit eines Verbrechens?“ fragte Schäffer die Stimme senkend.
Der Director zuckte die Achseln. „Die Untersuchung hat nur die Thatsache ergeben, daß die Seile gerissen sind. Sie können von selber gerissen sein; ob das wirklich geschehen ist, kann allein Hartmann wissen. Wie gesagt, die Untersuchung fördert da nichts zu Tage, und bei jeder anderen Begleitung wäre der Verdacht auch ausgeschlossen. Der ist zu Allem fähig!“
„Aber bedenken Sie doch, er brachte sich ja selbst in die größte Lebensgefahr dadurch. Der Sprung, mit dem er sich rettete, war ein tollkühnes Wagestück, das der Zehnte nicht unternommen hätte, und das dem Zehnten nicht geglückt wäre. Er mußte gewärtig sein, mit in die Tiefe hinabzustürzen und sich zu zerschmettern.“
Der Oberingenieur schüttelte den Kopf. „Sie kennen Ulrich Hartmann schlecht, wenn Sie glauben, der besänne sich auch nur einen Augenblick, sein Leben in die Schanze zu schlagen, wenn er irgend etwas unternehmen will, wobei dieses Leben in Frage kommt. Sie waren ja dabei, als er sich den Pferden in den Weg warf. Damals hatte er gerade die Laune, retten zu wollen; wenn er verderben will, kümmert er sich wenig darum, ob auch sein eigenes Verderben droht. Das ist ja eben das Gefährliche an diesem Manne, daß er keine Rücksichten kennt gegen sich und Andere, daß er sich im Nothfall selbst opfern würde, wenn –“
Er verstummte plötzlich, da in diesem Augenblick der junge Chef eintrat. Arthur war sehr verändert, die tiefe Trauerkleidung ließ sein ohnehin schon bleiches Gesicht noch bleicher erscheinen, und Stirn und Augen trugen ein Gepräge, als hätten sie während der letzten Nächte nicht den Schlaf gekannt; dennoch erwiderte er ruhig den Gruß der Beamten und trat in ihre Mitte.
„Ich habe Sie herrufen lassen, meine Herren, um mit Ihnen Rücksprache über die Angelegenheiten zu nehmen, die nach dem Tode meines Vaters in meine Hände übergegangen sind. Es ist da Vieles zu ordnen und zu ändern, mehr vielleicht, als wir anfangs glaubten. Ich habe, wie Sie wissen, diesem ganzen Geschäftskreise bisher fern gestanden und werde mich nicht sofort darin orientiren können, obgleich ich es in den letzten Tagen versucht habe. Ich rechne daher im vollsten Maße auf Ihren guten Willen und Ihre Bereitwilligkeit, mich zu unterstützen. Ich werde beides sehr in Anspruch nehmen müssen und versichere Sie im Voraus meines Dankes.“
Die Herren verneigten sich, und die Mehrzahl zeigte etwas verwunderte Gesichter, während der Oberingenieur dem Director einen Blick zuwarf, der zu sagen schien: „Das war ja soweit ganz vernünftig!“
[156] „Die übrigen Angelegenheiten,“ fuhr Arthur fort, „müssen vorläufig zurücktreten vor der augenblicklichen Calamität, vor der Gefahr, mit der uns die Forderungen der Bergleute und die Einstellung ihrer Arbeit im Falle der Nichtbewilligung bedrohen. Es kann hier freilich nur von einer Entscheidung die Rede sein.“
Diesmal war es Herr Schäffer, der dem Oberingenieur einen Blick zuwarf, der ebenso deutlich sprach, wie vorhin der seinige: „Sagte ich es nicht, er giebt unbedingt nach! Jetzt wird er Ihnen die Abreise ankündigen.“
Der junge Chef schien jedoch damit keine Eile zu haben; er meinte im Gegentheil: „Vor allen Dingen ist es nöthig, sich darüber zu unterrichten, wie die Leute organisirt sind und wer sie leitet.“
Es trat ein secundenlanges Schweigen ein, jeder von den Beamten scheute sich, einen Namen auszusprechen, den sie eben noch in so furchtbare Verbindung mit dem geschehenen Unglück gebracht hatten, endlich sagte der Oberingenieur:
„Hartmann leitet sie, und es ist daher kein Zweifel, daß sie gut geleitet sind und daß die Organisation nichts zu wünschen übrig läßt.“
Arthur blickte nachdenkend vor sich hin. „Das fürchte ich auch, und dann wird es einen Kampf geben, denn von einer vollständigen Bewilligung kann natürlich nicht die Rede sein.“
„Kann natürlich nicht die Rede sein!“ wiederholte der Oberingenieur triumphirend, und gab damit das Signal zu einer höchst lebhaften Debatte, in der er mit vollster Entschiedenheit seine vorhin geäußerten Ansichten verfocht. Herr Schäffer, der das Gegentheil vertrat, war nicht minder lebhaft bemüht, mit allerlei Winken und Andeutungen, die der junge Chef nur zu gut verstand, ihm die Nothwendigkeit des Nachgebens klar zu machen. Der Director hielt sich dagegen mehr neutral, rieth zum Abwarten, zum Unterhandeln. Die übrigen Beamten endlich ließen ihre Vorgesetzten sprechen und wagten sich nur hin und wieder mit einer eingestreuten Bemerkung oder unmaßgeblichen Ansicht hervor.
Arthur hörte das Alles schweigend und scheinbar aufmerksam mit an, ohne sich der einen oder der andern Partei zuzuneigen; als aber Schäffer eine längere Rede mit einem unumwundenen „wir müssen“ schloß, hob er plötzlich das Haupt mit einer solchen Entschiedenheit, daß all die Meinungen um ihn her verstummten.
„Wir müssen nicht, Herr Schäffer! Es giebt hier denn doch noch eine andere Rücksicht als blos den Geldpunkt, die Rücksicht auf meine Stellung den Leuten gegenüber, die für immer erschüttert wäre, wenn ich mich ihnen so auf Gnade und Ungnade ergäbe. Wie wenig ich auch noch mit diesen Dingen vertraut bin, so sehe ich doch, daß diese Forderungen über das Maß des Möglichen hinausgehen, und Sie geben mir das Alle einstimmig zu. Es mögen sich Mißstände eingeschlichen, die Arbeiter mögen Grund zur Klage haben –“
„Das haben sie, Herr Berkow!“ unterbrach ihn der Oberingenieur fest. „Sie haben Recht, wenn sie eine Untersuchung und Verbesserung der Schachte, wenn sie eine Erhöhung des Arbeitslohnes verlangen, und über gewisse Erleichterungen und Eintheilungen der Schichten wird sich auch reden lassen. Das Weitere ist eine übermüthige Herausforderung, die einzig und allein ihr Führer Hartmann veranlaßt hat. Er ist die Seele des Ganzen.“
„Dann wollen wir ihn zuerst selbst hören! Ich habe ihn bereits benachrichtigen lassen, daß seine und der übrigen Abgesandten Anwesenheit wohl hier nothwendig sein dürfte; sie sind jedenfalls schon da. Herr Wilberg, wollen Sie sie rufen!“
Herr Wilberg entfernte sich, aber mit offenem Munde und einer Miene, die in ihrem Ausdrucke grenzenloser Verwunderung fast dumm erschien. Herr Schäffer zog die Augenbrauen in die Höhe und sah den Director an; dieser nahm eine Prise und sah die übrigen Herren an, und dann blickten sie Alle zusammen wieder auf ihren jungen Chef, der auf einmal Anordnungen traf und Befehle ertheilte und dabei einen Ton entwickelte, in den sie sich nicht finden konnten, vielleicht mit alleiniger Ausnahme des Oberingenieurs, der seinen Collegen den Rücken gewendet und sich an Arthur’s Seite gestellt hatte, als wisse er nun, wohin er eigentlich gehöre.
Indessen kehrte Wilberg zurück, und unmittelbar hinter ihm traten Ulrich Hartmann, Lorenz und noch einer der Bergleute ein, aber die beiden Letzteren blieben, als ob sich das von selbst verstände, einige Schritte zurück und ließen den jungen Steiger allein vertreten.
„Glück auf!“ grüßte dieser, und „Glück auf!“ auch seine beiden Cameraden, aber der Ton des alten frohen Bergmannsgrußes schien hier seinem Inhalte zu widersprechen. In dem Wesen Ulrich’s hatte freilich von jeher etwas Herrisches, Trotziges gelegen, aber es hatte sich nie so herausfordernd, so geradezu verletzend kundgegeben, wie heute, wo er zum ersten Male dem Chef und dem Beamtenkreise in dieser Weise gegenüber trat, nicht mehr als ein Untergebener, der Weisungen und Befehle zu empfangen hatte, sondern als ein Abgesandter, der ihnen seine Forderungen nicht vorlegte, nein, der sie ihnen dictirte. Freilich war es kein gemeiner Hochmuth, der aus dieser Haltung sprach, aber doch die trotzige Ueberhebung, die in dem Bewußtsein eigener Kraft und fremder Schwäche wurzelt. Er ließ die finsteren blauen Augen langsam durch den ganzen Kreis schweifen, bis sie zuletzt auf dem jungen Chef haften blieben, und seine Lippen warfen sich wieder verächtlich auf, während er schweigend die Anrede erwartete.
Arthur hatte sich während der ganzen vorhergehenden Verhandlungen nicht gesetzt; er war auch jetzt stehen geblieben und stand ernst dem Manne gegenüber, der, wie man von allen Seiten behauptete, die Hauptschuld an dem Schlage trug, welcher ihm jetzt drohte. Von der viel schwereren Schuld, mit der man die letzten Augenblicke seines Vaters in Verbindung brachte, hatte der Sohn zum Glück keine Ahnung, denn er trat mit vollkommenster Ruhe in die Verhandlungen ein.
„Untersteiger Hartmann, Sie haben mir gestern durch den Herrn Director die Forderungen der sämmtlichen Bergleute meiner Werke vorlegen lassen, und im Falle der Nichtbewilligung mit allgemeiner Niederlegung der Arbeit gedroht.“
„So ist’s, Herr Berkow!“ lautete die kurze, sehr entschieden klingende Antwort.
Arthur stützte die Hand auf den Tisch, aber sein Ton war kühl, geschäftsmäßig; er verrieth nicht die mindeste Erregung.
„Vor allen Dingen möchte ich wissen, was Sie eigentlich mit diesem Vorgehen beabsichtigen. Das sind keine Forderungen, das ist eine Kriegserklärung! Sie werden sich selber sagen, daß ich dergleichen nicht bewilligen kann und nicht bewilligen werde.“
„Ob Sie es bewilligen können, weiß ich nicht, Herr Berkow,“ sagte Ulrich kalt, „ich glaube aber, Sie werden es bewilligen, denn wir sind entschlossen, die Werke so lange feiern zu lassen, bis Sie unseren Forderungen nachgekommen, und einen Ersatz finden Sie nicht in der ganzen Provinz.“
Das Argument war so schlagend, daß sich nicht viel dagegen einwenden ließ, aber der Ton, in dem es hervorgehoben wurde, zugleich so hohnvoll, daß Arthur die Stirn runzelte.
„Es ist keineswegs meine Absicht, Ihnen Alles zu verweigern!“ erklärte er fest. „Es sind unter diesen Forderungen einzelne, deren Gerechtigkeit ich anerkenne und denen ich also auch nachkommen werde. Die Untersuchung und Aenderung der Schachte, die Sie verlangen, wird geschehen; der Arbeitslohn wird, wenigstens theilweise, erhöht werden. Ich werde schwere Opfer deswegen bringen müssen, mehr vielleicht, als ich gerade jetzt in geschäftlicher Hinsicht verantworten kann, aber es wird geschehen. Dagegen müssen die anderen Punkte fallen, die einzig und allein darauf abzielen, mir und meinen Beamten die Herrschaft aus den Händen zu winden und die Disciplin zu lockern, die für ein Unternehmen wie das unserige eine Lebensfrage ist.“
Der verächtliche Zug um Ulrich’s Lippen verschwand und machte einem Ausdrucke der Befremdung und des Argwohns Platz, mit dem er erst die Beamten und dann den jungen Chef anblickte, als habe er diesen in Verdacht, er sage etwas ihm Eingelerntes her.
„Es thut mir leid, Herr Berkow, aber die Punkte fallen nicht!“ entgegnete er trotzig.
„Ich glaube wohl, daß sie gerade Ihnen eine Hauptsache sind,“ sagte Arthur, den Blick fest auf Ulrich gerichtet, „dennoch wiederhole ich Ihnen, daß sie fallen müssen. Ich werde in meinen Bewilligungen bis an die Grenze des Möglichen gehen; da aber bleibe ich stehen und thue keinen Schritt darüber hinaus. Was ich gewähre, soll und muß Jeden befriedigen, der ehrliche, lohnende Arbeit sucht. Wen es nicht befriedigt, der sucht [157] eben etwas Anderes, und mit dem ist keine Einigung zu hoffen. Ich gebe Ihnen mein Ehrenwort, daß das Nothwendige zur Sicherung der Arbeiter in den Schachten und zur Erhöhung ihres Verdienstes geschehen soll, und fordere nun auch meinerseits von Ihnen das Vertrauen in meine Worte. Ehe wir aber diese Angelegenheit besprechen, müssen Sie auf den zweiten Theil Ihrer Forderungen verzichten. Die Erfüllung ist unmöglich, und ich gehe unter keiner Bedingung darauf ein.“
Er hatte noch immer den ruhigen, geschäftsmäßigen Ton beibehalten, aber dennoch wich die ganze Rede viel zu sehr ab von der sonstigen Art und Weise des jungen Erben, als daß sie Ulrich nicht hätte auffallen sollen. Dieser trauete seinen eigenen Ohren nicht, aber je unerwarteter ihm der Widerstand kam an einer Stelle, wo er mit Sicherheit auf scheues, zaghaftes Ausweichen gerechnet hatte, das die Brücke zur unbedingten Ergebung schlagen sollte, desto mehr reizte ihn der Widerstand, und seine unbändige Natur brach nur zu bald die ungewohnten Schranken.
„Sie sollten das lieber nicht so von sich weisen, Herr Berkow,“ sagte er drohend. „Wir sind unser Zweitausend und die Werke so gut wie in unserer Hand. Die Zeit ist vorbei, wo wir uns knechten und treten ließen, wie es Ihnen gerade gefiel. Wir fordern jetzt unser Recht, und wenn es uns im Guten nicht wird, dann nehmen wir es uns mit Gewalt!“
Eine halb zornige, halb angstvolle Bewegung ging durch den Kreis der Beamten. Sie sahen eine Scene herankommen, die bei der bekannten Wildheit Hartmann’s mit Gewaltthätigkeiten endigen konnte. Arthur war dunkelroth geworden; er that einige Schritte vorwärts und stand jetzt dicht vor Ulrich.
„Vor allen Dingen ändern Sie den Ton, Hartmann, in dem Sie mit Ihrem Chef sprechen! Wenn Sie hier als Abgesandter empfangen sein wollen und als solcher eine Art von Gleichstellung beanspruchen, so benehmen Sie sich auch, wie es bei solchen Verhandlungen Sitte ist, und schleudern Sie uns nicht gleich Drohungen von Gewalt und Empörung in’s Antlitz! Sie verlangen Disciplin von Ihren Leuten, und ich verlange sie von Ihnen. Werfen Sie sich draußen bei Ihren Cameraden zum Herrn auf, wenn es Ihnen sonst beliebt! So lange ich vor Ihnen stehe, bin ich der Herr dieser Werke und denke es zu bleiben. Richten Sie sich danach!“
Wäre der Blitz in das Conferenzzimmer niedergefahren, er hätte keine größere Wirkung hervorbringen können, als diese mit vollster Energie und gebieterischem Stolze herausgeschleuderten Worte. Die Beamten wichen zuerst zurück und machten dann Miene, wie zum Schutze, einen Kreis um ihren jungen Chef zu schließen, der sie mit einer ruhigen Handbewegung zurückwies. Die beiden Bergleute blickten wie betäubt auf ihn hin, aber Keinen traf dies jähe Aufflammen so furchtbar, wie Ulrich. Er war leichenblaß geworden. Weit vorgebeugt stand er da, mit bebenden Lippen und weit offenen starren Augen, als könne und wolle er nicht begreifen, was er doch sah und hörte. Dann auf einmal schien ihm sein verhängnißvoller Irrthum über Den klar zu werden, von dem er noch vor wenigen Tagen mit verächtlichem Achselzucken behauptet, er zähle überhaupt nicht, und nun blitzte es furchtbar auf in seinen Zügen. Wie ein gereizter Löwe war er im Begriff sich vorwärts zu stürzen. Aber wie diesen zwang ihn ein furchtbarer Blick, der klar, fest und ruhig dem seinigen begegnete. Arthur war unbeweglich stehen geblieben, nur das Auge hatte er groß und voll aufgeschlagen und mit diesem Auge wies er die hervorbrechende Wildheit gebieterisch in ihre Schranken zurück. Nur einige Secunden lang dauerte dieses Anschauen der Beiden; dann war es entschieden zwischen ihnen. Langsam löste sich die geballte Rechte Ulrich’s; langsam wich die wilde Drohung aus seinen Zügen, und der Blick sank zu Boden. Er hatte in dem jungen Chef das ihm Ebenbürtige, vielleicht das ihm Ueberlegene erkannt, und – beugte sich ihm.
Arthur trat zurück. Seine Stimme klang wieder kalt und ruhig, als er fortfuhr: „Und nun theilen Sie Ihren Cameraden mit, was ich Ihnen bewilligen kann und was nicht! Fügen Sie hinzu, daß ich kein Wort von dem Gesagten zurücknehmen werde! Damit sind wir für jetzt zu Ende.“
„Wir sind’s!“ Ulrich’s Ton klang dumpf, fast erstickt von innerer Leidenschaft. „So erkläre ich Ihnen denn im Namen der gesammten Knappschaft Ihrer Werke, daß diese Werke von morgen an feiern werden!“
„Es ist gut. Ich war darauf vorbereitet. Und nun warne ich Sie noch einmal, Hartmann, vor allen extremen Schritten. Man sagt, Sie übten eine unbedingte Herrschaft über Ihre Cameraden aus. So sorgen Sie auch, daß Ruhe und Ordnung aufrecht erhalten bleibt, und hoffen Sie nicht etwa, mich durch lärmende Scenen einzuschüchtern! Ich und meine Beamten werden das Aeußerste thun, um jeden Conflict zu vermeiden; wird er uns dennoch aufgezwungen, so müssen wir Stellung dagegen nehmen, und im äußersten Falle werde ich mein Hausrecht brauchen. Ersparen Sie das mir und sich selber!“
Ulrich wandte sich zum Gehen; aber in dem Abschiedsblick mischten sich Haß und Wuth mit noch etwas Anderem, Tieferem, was freilich Niemand ahnte, was aber die Brust des wilden, leidenschaftlichen Mannes wie im Krampfe zusammenzog. Er hatte den „Weichling“ so lange verachtet und triumphirt in dem Gedanken, daß er auch – anderswo verachtet werden müsse. Wenn er sich dort jetzt auch so zeigte, wie eben hier, dann war es zu Ende mit der Verachtung und dieses große braune Auge, das ihn gezwungen, konnte wohl noch etwas Anderes erzwingen, als Haß und Abneigung. Die fahle Blässe, die das Antlitz des jungen Bergmannes seit jener Zurechtweisung bedeckte, war noch tiefer geworden, als er sich abwandte.
„Wir wollen sehen, wer’s am längsten aushält! Glück auf!“
Er ging, begleitet von seinen beiden Cameraden, aber man sah es an den Gesichtern der Leute, daß die eben beendigte Scene auf sie ganz anders gewirkt hatte, als auf ihren Führer. Es war ein halb scheuer, halb ehrerbietiger Blick, mit dem sie zu dem jungen Chef zurückblickten, und es lag etwas Zögerndes, Unsicheres in ihrem Wesen, als sie sich entfernten.
Arthur hatte ihnen forschend nachgeblickt und wendete sich nun zu den Beamten. „Da sind schon zwei, die ihm nur mit halbem Herzen folgen! Ich hoffe, die Mehrzahl kommt zur Besinnung, wenn man ihr Zeit läßt; für jetzt, meine Herren, müssen wir uns in die Nothwendigkeit ergeben und die Werke feiern lassen. Ich verkenne keineswegs die Gefahr, die uns hier in der Abgeschiedenheit droht von zweitausend aufgeregten Menschen, mit einem Führer wie Hartmann an der Spitze; aber ich bin entschlossen, ihr Stand zu halten und nicht eher zu weichen, bis Alles entschieden ist. Es hängt natürlich von Ihrem freien Willen ab, ob Sie mir hierin folgen werden. Da Sie fast Alle gegen meine Entscheidung waren, so werde ich Ihnen die Folgen derselben natürlich nicht aufzwingen und bereitwillig Jedem Urlaub ertheilen, der jetzt etwa eine zeitweilige Entfernung von den Werken für nothwendig hält.“
Eine allgemeine entrüstete Verneinung beantwortete diesen Vorschlag. Die sämmtlichen Beamten drängten sich mit einem fast leidenschaftlichen Eifer um ihren jungen Chef, um ihm zu versichern, daß keiner von ihnen von seinem Platze weichen würde; selbst der schüchterne Herr Wilberg schien auf einmal Löwenmuth gewonnen zu haben; so energisch stimmte er ein. Arthur athmete tief auf.
„Ich danke Ihnen, meine Herren! Am Nachmittage wollen wir das Weitere besprechen und uns über die zu nehmenden Maßregeln verständigen; für jetzt muß ich Sie verlassen. Herr Schäffer, ich erwarte Sie in einer Stunde drüben in meinem Arbeitszimmer – noch einmal meinen Dank Ihnen Allen!“
Erst als er gegangen war und die Thür sich hinter ihm geschlossen hatte, brachen all die Regungen des Erstaunens, des Beifalls und der Besorgniß hervor, die seine Gegenwart bisher zurückgehalten hatte.
„Mir zittern alle Glieder!“ sagte Herr Wilberg, indem er sich, ohne an die Gegenwart seiner Vorgesetzten zu denken, auf einen Stuhl niederließ, aber der vorhergehende Auftritt schien alle Etiquettenrücksichten aufgehoben zu haben. „Gott im Himmel, war das eine Scene! Ich dachte, der wilde Mensch, der Hartmann, würde sich auf ihn stürzen, aber dieser Blick, diese Art zu reden – wer hätte das in dem Herrn gesucht!“
„Er war zu scharf, viel zu scharf!“ tadelte Schäffer, aber selbst in diesem Tadel und in seinem bedenklichen Kopfschütteln lag ein ganz anderer Ausdruck, als der war, mit dem er vorhin von Arthur gesprochen. „Er sprach, als hätte er noch immer über Millionen zu gebieten und als wäre der Betrieb der Werke [158] nicht eine Lebensfrage für ihn. Sein Vater hätte trotz seines Hochmuthes hier unbedingt nachgegeben, denn es wäre geschäftlich seine einzige Rettung gewesen, und Rücksichten auf seine Stellung und Würde kannte er nicht. Der Sohn scheint freilich anders geartet, aber diese Sprache, die noch vor einem Jahre am Platz gewesen wäre, ist es jetzt nicht mehr. Er hätte vorsichtiger, unbestimmter in seinen Ausdrücken sein müssen, damit ihm die Möglichkeit eines Rückzuges offen geblieben wäre, für den Fall, daß –“
„Zum Kukuk mit Ihren Rücksichten und Bedenklichkeiten!“ fiel der Oberingenieur heftig ein. „Entschuldigen Sie, Herr Schäffer, daß ich grob werde, aber man sieht es, daß Ihre Thätigkeit nur in den Bureaux lag, und Sie niemals Arbeitermassen geleitet haben. Gerade das Richtige hat er getroffen, imponirt hat er ihnen, und das ist in solchem Falle Alles. Ein gütliches Zureden hätte ihnen für Schwäche, eine vornehme Ruhe für Hochmuth gegolten. Ihre eigene Sprache des Entweder – Oder muß man mit ihnen reden, und unser Herr versteht es wie Keiner; das haben Sie an Hartmann gesehen.“
„Ich fürchte nur, er unterschätzt trotz alledem den Kampf, der uns bevorsteht,“ sagte der Director ernst. „Unsere Leute allein hätten sich mit diesen Zugeständnissen zufrieden gegeben, mit diesem Führer an der Spitze thun sie es nicht. Er wird keinen Ausgleich zulassen, und sie folgen ihm blindlings. Aber der Herr hat Recht, er ist bis an die Grenze des Möglichen gegangen, weiter gehen hieße, sich selbst, seine Stellung und uns Alle preisgeben!“
Sie sprachen jetzt auf einmal Alle von ‚dem Herrn‘, als ob sich das von selbst verstände. In einer einzigen Stunde hatte sich Arthur den Titel erobert; jetzt schien gar keine andere Bezeichnung für den jungen Chef zu existiren. Er mußte sich doch wohl als Herr gezeigt haben. –
Die drei Abgesandten hatten das Haus verlassen und schritten nach den Werken hinüber. Ulrich sprach kein Wort, aber Lorenz sagte halblaut:
„Du meintest neulich, wenn uns Einer zu rechter Zeit die Zähne wiese und zu rechter Zeit gute Worte gäbe, dann – höre Ulrich, ich glaube, der da oben versteht’s!“
Ulrich antwortete nicht, er warf einen Blick nach den Fenstern hinauf, und es lagerte auf seiner Stirn wie eine Wetterwolke.
„Das also war hinter den Augen, die immer so schläfrig aussahen, als taugten sie zu nichts auf der Welt als zum Schlafen!“ murmelte er zwischen den zusammengebissenen Zähnen. ‚So lange ich hier stehe, bin ich der Herr dieser Werke!‘ Ich glaube wahrhaftig, er hat das Zeug dazu!“
Sie begegneten jetzt einer Gruppe von Bergleuten, speciell Ulrich’s Leuten, die nicht mit angefahren waren und die drei Abgesandten mit stürmischen Fragen umringten.
„Laßt’s Euch von Ulrich erzählen!“ meinte Lorenz trocken. „Ich glaube, wir sind da an den Unrechten gekommen; er denkt nicht an Nachgeben.“
„Nicht?“ Die Bergleute schienen sämmtlich enttäuscht. Sie hatten wohl auf einen andern Bescheid gerechnet. Es wurden einzelne Rufe und Drohungen gegen den jungen Chef laut, dessen Name dabei mehrere Male mit offenbarer Verachtung genannt wurde.
„Schweigt still!“ herrschte ihnen Ulrich zu. „Ihr kennt ihn nicht, so wie wir ihn eben sahen. Ich glaubte, wir würden leichtes Spiel haben, nun der Vater aus dem Wege ist. In dem Sohne haben wir uns Alle geirrt. Der hat etwas, was kein Mensch dem Weichling zugetraut, einen Willen! Ich sage Euch, der wird uns noch zu schaffen machen!“
Freitags, den 7. Februar 1873, Abends vier Uhr, bewegte sich von der Helferei zum St. Peter in Zürich aus ein Leichenzug nach dem Friedhofe von St. Jakob in Außersihl, – der Leichenzug von Marie Susanne Scherr, geb. Kübler, welche, jählings vom Schlage gerührt, Dienstags, den 4. Februar, Abends acht Uhr, nicht unter ihrem eigenen Dache, aber doch unter dem eines Sohnes, in den Armen ihres Gatten gestorben war.
„Die beste Frau ist die, von welcher man am wenigsten spricht“ – bei ihren Lebzeiten, ja! Wenn aber über einer Frau, welche ich mit voller Ueberzeugung den besten ihrer Zeit beizähle, das Grab sich geschlossen hat, dann ist es nur Gerechtigkeit, auch die Welt wissen zu lassen, was alle Freunde und Freundinnen der Hingegangenen längst gewußt und anerkannt hatten.
Oft fühlte ich mich getrieben, bei dieser oder jener passenden Gelegenheit die unendliche Summe des Dankes, die ich der Frau, welcher ich dieses Todtenopfer bringe, meiner Frau, schuldete, auch öffentlich zu bekennen. Einmal stand das Bekenntniß schon gedruckt, aber sie strich die bezügliche Stelle eigenhändig aus der Correcturfahne, indem sie sagte: „Mach’ mich nicht eitel! Ich weiß ja, was ich Dir bin, und das genügt mir.“[1] Ach, sie gehörte zu den nicht gerade allzu zahlreichen Menschen, welche nicht verstehen, nicht verstehen wollen, was es denn Besonderes, was es Preiswürdiges sei, wenn man seine Pflicht erfüllt, auch mit blutendem Herzen, mit höchster Selbstverleugnung erfüllt. Ihre edle, stets sich gleich gebliebene Anspruchslosigkeit hat nie nach Lob verlangt. Gerade darum lege ich jetzt einen vollen Kranz auf ihr frisches Grab, und ich darf es, denn jedes Blatt desselben ist verdient, zehnfach verdient. Wohl weiß ich, daß Lessing im Januar 1778 nach dem Tode seiner Eva geschrieben hat: „Man sagt, es sei nichts als Eigenlob, seine Frau zu rühmen.“ Aber mit Lessing setze ich zu meiner Rechtfertigung hinzu: „Wenn ihr diese Frau gekannt hättet! Wenn ihr sie gekannt hättet!“
Ihre ungewöhnlichen Geistesgaben hatten von Seiten eines liebevollen Vaters schon frühzeitig eine sorgfältige Entwickelung erfahren. Die Schulen ihrer Vaterstadt Winterthur, welche für ihr Schulwesen mehr thut, als irgend eine andere Gemeinde in Europa, leisteten schon damals Gutes. Das Röderer’sche Institut in Yverdon, welches eines großen Rufes genoß, vollendete ihre Ausbildung, namentlich in fremden Sprachen. Sie verstand Englisch und Italienisch; sie redete das Französische so, daß Kenner ihre Aussprache fein fanden. Von Haus aus besaß sie ein großes Lehrtalent, und daß sie dieses zu verschiedenen Zeiten pflichttreu und wirksam geübt habe, wird eine nicht geringe Anzahl von Schülerinnen gerne bezeugen.
In weiteren, weitesten Kreisen, soweit Deutsch gesprochen wird, hat sie dann später ihre Lehrgabe erfolgreich bethätigt, insbesondere mittelst ihrer zwei bedeutendsten Bücher: „Das Hauswesen“ und „Das Buch der Mütter“. Tausenden und wieder Tausenden von jungen Mädchen, jungen Frauen und jungen Müttern ist sie dadurch eine Lehrerin und Führerin, geradezu eine Wohlthäterin geworden, und gar mancher junge Ehemann hatte, ohne es zu wissen, vollauf Ursache, der „Marie Susanne Kübler“ dankbar zu sein. Im Januar d. J. schrieb sie noch die Vorrede zur sechsten, sorgfältig revidirten Auflage vom „Hauswesen“, dem sie das wie aus ihrem eigensten Wesen gesprochene Motto vorgesetzt hat: „Suche gut zu sein, doch wünsche nicht groß zu sein! Was einer Frau am besten ziemt, ist Zurückgezogenheit, ihre schönste Tugend häusliches Wirken, das, fern der Oeffentlichkeit, jedes zu starke Licht scheut.“
So glaubte sie, so that sie, so war sie. Als eines Tages – es war auf dem Weißensteine bei Solothurn, wo sie so gerne weilte – ein in Constantinopel niedergelassener Deutscher, der sich ihr hatte vorstellen lassen, in warmen Worten ihr seine [159] Dankbarkeit bezeigte dafür, was sie mittelst ihrer Schriften an seinen Töchtern gethan, und dabei die „Schriftstellerin“ betonte, entgegnete sie mit jener Einfachheit, mit jener ungeheuchelten Bescheidenheit, welche alle ihre Freunde an ihr gekannt haben: „Ich bin keine Schriftstellerin. Ich bin nur eine Hausfrau, welche ihre Erfahrungen als solche und als Mutter auch anderen nutzbar zu machen versuchte, da es mich erbarmte, daß so viele sonst gut angelegte Ehen zu unglücklichen werden nur darum, weil die jungen Frauen, nicht aus üblem Willen, sondern nur aus Unkenntniß und Ungeschicklichkeit ihren Pflichten nicht nachkommen können, wie sie sollten und gewiß gerne wollten.“
Nur eine Hausfrau! Ja, eine solche, daß ich alle die Jahre lang, welche mit ihr zu verleben mir gegönnt war, gar nicht wußte, was es für kleine und große Haushaltsfragen giebt. Eine solche, daß sie Alles und Jedes bis zu ihrem letzten Tage mit unvergleichlicher Ein- und Umsicht, mit unermüdlicher Arbeitslust, mit tactvollem Ordnungssinn, mit gewissenhafter Sparsamkeit im Gange und Zuge erhalten hat. Und diese eminent praktische Hausfrau war zugleich allem Schönen und Höheren mit offener Seele zugewandt und vollkommen befähigt, die stille Schönheit jener [WS 1] griechischen Statue wie die Erhabenheit eines gothischen Münsters auf sich wirken zu lassen, eine Symphonie von Beethoven, ein Oratorium von Bach oder Händel feinfühlig zu genießen und den ewigen Gehalt von Dichtungen wie Lessing’s „Nathan“ und Goethes „Iphigenie“ verständnißvoll in sich aufzunehmen. Und wie alle guten Menschen verstand und liebte sie innig das Leben der Natur. Die eigentlichen Feier- und Festtage ihres Daseins erlebte sie auf unseren allsommerlich wiederholten Wanderungen durch die Alpenpracht ihres Heimathlandes. Da ging ihr das Herz auf, und von da brachte sie immer wieder jenen tapfern Muth mit heim, welcher in schwersten Prüfungen so groß und schön sich bewährt hat.
Nur eine Hausfrau! Ja, sie lebte der Ueberzeugung, daß das Haus das eigentliche Heim der Frau, die Stätte ihrer Wirksamkeit und ihres Glückes sei. Darum war ihr alles blos auf Aeußerlichkeit Abzielende, alles sich Vordrängende, Aufgespannte, Komödiantische in tiefster Seele zuwider. Gerade so auch die Windbeutelei, welche jetzt so vielfach mit der Frage der „Frauenarbeit“ getrieben wird. „Es hat noch keinem Mädchen und keiner Frau, welche wirklich arbeiten wollten, an Arbeit gefehlt,“ pflegte sie zu sagen. Ihr Gefühl war tief und von edelster Selbstlosigkeit. Ihre Aufopferungswilligkeit kannte keine Grenzen. Ihre höchste Freude war, ihren Lieben Freude zu bereiten. Eine liebevollere Tochter und Schwester hat es nie gegeben. Ein treueres Mutterherz hat nie geschlagen, leider, ach, wohl selten auch ein schmerzenreicheres! Mir war sie die Lebensgefährtin im Hochsinne des Wortes, die Mitstreiterin, und wenn vor Jahren ein wohlwollender Urtheiler mich „einen nie und durch nichts zu irrenden oder zu entmuthigenden Kämpfer“ genannt hat und ich dies annehmen durfte, weil ja „Mensch sein heißt, ein Kämpfer sein“, so bekenne ich heute leidvoll dankbar, daß ich den Ehrennamen nur erwerben[WS 2] konnte, weil mir meine geliebte Frau zur Seite stand und ging als der beste aller „guten Cameraden“, die jemals einem kämpfenden Manne zur Seite gestanden und gegangen „in gleichem Schritt und Tritt“.
- ↑ Etwa zwei Monate vor ihrem Hingange bat mich mein verehrter Freund, der Eigenthümer der „Gartenlaube“, ohne alles Zuthun von meiner Seite, ihm eine gute Photographie meiner Frau zu senden, indem er ein Bild und eine Charakteristik von ihr in diesen Blättern zu veröffentlichen wünschte. Wissend, daß sie sich entschieden widersetzen würde, handelte ich diesmal – wohl mir, daß ich sagen darf, nur diesmal! – hinter ihrem Rücken, indem ich die Photographie absandte. Ich hoffte, sie mit der betreffenden Nummer der Gartenlaube an ihrem Geburtstage überraschen zu können. Heute, wo ich dieses schreibe, ist der Geburtstag –
„But she is in her grave, and, oh,
The difference to me!“
Ueber Hypnotismus bei Thieren,
Doch lassen Sie mich, meine hochverehrten Anwesenden, eilen, Ihnen darzulegen, daß man bei dem höchst auffallenden und eigenthümlichen Einfluß, den das Vorhalten des Fingers auf die Tauben thatsächlich ausübt, vernünftiger Weise auch nicht entfernt an mystische Agentien, wie thierischen Magnetismus, Od etc. denken dürfe oder gar müsse, Agentien, welche irgendwie aus der lebendigen Organisation des Experimentators herbeifließen und etwa von dem vorgehaltenen Finger ausstrahlen sollen; eine Glaskugel, ein Korkstöpsel, eine kleine Wachskerze, oder sonst ein unverdächtiger, gleichgültiger, lebloser Gegenstand, der auf einem passenden Gestelle befestigt oder der Taube geradezu auf die Stirnschnabelwurzelgegend festgeklebt wird, thut genau dieselben Zauberdienste, wie der Finger der Menschenhand, nur muß man natürlich dafür sorgen, daß das Thier irgendwie, zum Beispiel durch vorhergehende sanfte Ueberwältigung, in die Stimmung versetzt wird, Blick und Aufmerksamkeit längere Zeit auf den Gegenstand zu fixiren, daß, mit einem Wort, sein Gehirn „anbeißt“. –
Ich habe Tauben, ganz freigelassen, minutenlang mit offenen Augen, welche sich dann allmählich wie schlaftrunken schlossen, regungslos sitzen bleiben sehen, nachdem ich ihnen, statt des vorgehaltenen Fingers, ein Zündhölzchen oder ein Wachskerzchen quer auf die Schnabelwurzel geklebt hatte.
Auch mit Hühnern gelingen diese Versuche oft in ganz überraschender Weise. So habe ich wiederholt Hühner, deren Hals und Kopf frei und unberührt blieb, zwischen beiden Händen am Rumpfe gefaßt, mit sanfter Gewalt in die hockende Stellung niedergedrückt und gegen ein Gestell herangeschoben, an welchem zum Beispiel eine kaum wallnußgroße Glaskugel in solcher Höhe befestigt war, daß sie ganz knapp über die Schnabelwurzel des Hühnerkopfes zu stehen kam. Ganz freigelassen, blieb das Thier dann minutenlang, regungslos die Glaskugel anstarrend, sitzen. Dasselbe geschah, wenn ich dem Blicke des Huhnes statt der auf dem Gestell befestigten Glaskugel einen Korkstöpsel darbot, den ich ihm flink auf die Schnabelwurzel festgeklebt hatte.
Endlich will ich noch erwähnen, daß ich den niedergehaltenen Hühnern auch ein kurzes Stück Bindfaden oder ein geknicktes Holzstäbchen, ein hufeisenförmig ausgeschnittenes Stück Pappe, wie ein „Reiterlein“ quer über den Kamm hängte, so daß die Enden dieser Körper knapp vor den Augen herabhingen, und zwar erwähne ich diese Versuche besonders, weil es sich bei denselben ereignete, daß die freigelassenen Hühner nicht nur minutenlang regungslos sitzen blieben, sondern die Augen schlossen und geradezu einschliefen, wobei der Kopf bis zur Berührung der Schnabelspitze mit der Tischplatte herabsank und die Glieder sich in Erschlaffung lösten.
Noch bevor die Hühner einschliefen, konnte bisweilen ihr Kopf durch einen sanften Druck auf den Scheitel nach unten gedrückt oder umgekehrt hoch emporgehoben werden und verblieb dann starr in der gegebenen Stellung, wie wenn er auf einem Halse von Wachs säße. Das ist aber ein Symptom des sogenannten kataleptischen Zustandes, wie er auch beim Menschen unter pathologischen Verhältnissen des Nervensystems und beim sogenannten „Hypnotismus“ beobachtet wird.
Nachdem ich die eben mitgetheilten und theilweise vorgeführten Thatsachen bei den Tauben und Hühnern entdeckt hatte, war mir nun sofort zweierlei klar:
Erstens, daß das Ziehen des Kreidestrichs im Kircher’schen Experiment allerdings etwas und – was es zu bedeuten habe; – es giebt die die Kreide führende Hand und der gezogene Strich ein Object ab, auf welches das Thier den Blick und die Aufmerksamkeit richtet, durch welche Anstrengung allein schon ein räthselhaft veränderter Zustand der Leistungsfähigkeit gewisser Theile des animalen Nervensystems hervorgerufen werden, von kataleptischen Erscheinungen begleitet sein und in Schlaf übergehen kann; und
zweitens, daß es somit, wie man zwar schon längst vermuthet und sogar ausgesprochen, bisher aber noch niemals genauer untersucht und erwiesen hat, thatsächlich auch bei Thieren echte sogenannte „hypnotische“ (von ὕπνος der Schlaf) Erscheinungen giebt; das heißt jene eigenthümlichen und räthselhaften, schlafähnlichen, mitunter von kataleptischen Erscheinungen begleiteten und in Schlaf übergehenden Verstimmungen oder Alterationen des Nervensystems, welche bei manchen Menschen eben durch einfache, gespannte Fixirung des Blickes auf einen gleichgültigen kleinen Gegenstand und durch Concentration des Willens, behufs der Ablenkung der Aufmerksamkeit von den bunt wechselnden Eindrücken der Außenwelt auf den gleichförmigen Zustand des unverwandten Blickes oder einer sonstigen monotonen Action oder Wahrnehmung hervorgerufen werden können.
Es ist bekannt, daß im Jahre 1841 M. Braid, ein schottischer, in Manchester etablirter Chirurg, welcher den öffentlichen „mesmerischen“ Schaustellungen des „Magnetiseurs“ Lafontaine beigewohnt hatte, zuerst auf die Idee kam, daß die als Wirkungen eines mysteriösen, sogenannten magnetischen Fluidums proclamirten und producirten sonderbaren Erscheinungen wohl nur eine ganz natürliche Folge der Starrheit des Blickes und der intensiven Abstraction der Aufmerksamkeit sein könnten, welche sich bei den Versuchsindividuen unter den monotonen Manipulationen des Magnetiseurs einzustellen pflegen.
M. Braid bewies in der That durch seine Versuche die völlige Entbehrlichkeit eines sogenannten Magnetiseurs und seines vermeintlichen, durch gewisse Manipulationen von ihm aus- und überströmenden, geheimnißvollen Agens oder Fluidums; er lehrte nämlich die dafür empfänglichen Versuchsindividuen sich selbst willkürlich in jene sogenannten magnetischen, schlafartigen Zustände einfach dadurch versetzen, daß sie einen beliebigen, leblosen Gegenstand mit gespannter Aufmerksamkeit und unverwandtem Blicke längere Zeit fixirten. Es ist hiernach klar, daß der durch die Starrheit des Blickes und durch die Abstraction der Aufmerksamkeit in einem Theile des Gehirns willkürlich hervorrufbare Zustand der Nervenelemente jene anderen Hirntheile in Mitleidenschaft zieht und in ihrer Function verändert, an deren normale Thätigkeit die Erscheinungen des Willens und der Intelligenz geknüpft sind. Dies ist der thatsächliche, natürliche, physiologische Zusammenhang dieser mysteriösen Erscheinungen, nur bleibt noch zu ermitteln, welche Gehirntheile primär und secundär dabei betheiligt sind und verändert werden, und worin diese Veränderungen eigentlich bestehen.
Nach Braid’s Bericht hatten sich zum Beispiel bei einer Gelegenheit, in Gegenwart von achthundert Personen, zehn von vierzehn erwachsenen Männern durch dieses einfache Verfahren in hypnotische Zustände versetzt.
Alle hatten den Versuch zu gleicher Zeit begonnen; die Einen, indem sie die Augen auf einen an ihrer Stirn vorspringenden befestigten Kork richteten, die Anderen, indem sie mit ihrem Blick beliebig gewählte, feste Punkte im Versammlungslocal fixirten.
Schon nach zehn Minuten hatten sich die Augenlider dieser zehn Personen unwillkürlich geschlossen. Bei Einigen blieb dabei das Bewußtsein erhalten, Andere waren in Katalepsie und vollständige Unempfindlichkeit gegen Nadelstiche verfallen, Andere endlich wußten beim Erwachen von Allem, was während ihres Schlafes mit ihnen geschehen war, absolut nichts. Ja noch mehr, drei Personen aus der Zuhörerschaft fanden sich ebenfalls eingeschlafen, indem sie ohne Wissen Braid’s das angegebene Verfahren befolgt hatten, welches einfach darin bestand, den Blick starr und unverwandt auf einen Punkt im Versammlungslocale zu richten.
Braid’s Versuche, welche als der erste Anfang einer nüchternen, wissenschaftlichen Untersuchung äußerst verwickelter und mit Recht verdächtiger Nervenerscheinungen zu bezeichnen sind, fanden damals nicht jene bleibende Beachtung und Würdigung, welche sie verdienten, und geriethen bald in Vergessenheit; – was sich aus ihrer unliebsamen Verquickung mit dem Mesmerismus sattsam erklärt, obschon gerade jener Lafontaine, dessen „magnetische“ [161] Schaustellungen für Braid die erste Veranlassung zu seinen Untersuchungen geworden waren, nicht ohne Animosität auf’s Lauteste dagegen protestirte, daß der „Hypnotismus“ oder „Braidismus“ mit seinem „Mesmerismus“ identisch sei.
Leider kam noch dazu, daß Braid selbst, im weiteren Verlaufe seiner Beschäftigung mit diesen heiklen Dingen, seine anfängliche Nüchternheit und wissenschaftliche Strenge als Forscher allmählich eingebüßt zu haben scheint, und daß bald darauf, seit 1848, der Amerikaner M. Grimes mit seiner „Electro-Biologie“ hervortrat und jene intellectuelle Epidemie der Mediumwirthschaft und des ganzen spiritistischen Spuks hereinbrach, welche wir staunend miterlebten und fast alle Welt mehr oder weniger unheilbar ergreifen sahen! Da war es wohl kein Wunder, daß auch der Hypnotismus oder Braidismus in Mißcredit gerieth und von der Wissenschaft unbeachtet blieb.
Nur einmal, im Anfang der sechsziger Jahre, fesselte er, freilich nur sehr vorübergehend, das ernste wissenschaftliche Interesse, nachdem nämlich im December 1859 Velpeau und Broca, zwei angesehene französische Chirurgen, der Société de Chirurgie in Paris ihren das ungeheuerste Aufsehen erregenden Bericht über eine schmerzhafte Operation erstattet hatten, welche sie an einer nach Braid’s Verfahren in den hypnotischen Zustand versetzten vierundzwanzigjährigen Frauensperson ausgeführt hatten, ohne derselben den geringsten Schmerz verursacht zu haben. Damals wurde in den Journalen auch vielfach der Versuche über „Hypnotisation“ der Hühner gedacht, deren Beschreibung sich schon in einem Werke des Pater Kircher gefunden hätte!
Allein, charakteristisch genug für die nur nach praktischer Verwerthung der wiederverkündeten frohen Botschaft jagende Hast jener Tage – auch damals hat sich meines Wissens Niemand mit der Untersuchung des alten Kircher’schen experimentum mirabile ernstlich befaßt und nachzuweisen gesucht, daß es sich dabei in der That um echte hypnotische Zustände handelt, obschon dies doch von einleuchtender Bedeutung für die wissenschaftliche Lösung der damals brennenden Frage vom Hypnotismus überhaupt gewesen wäre, da man einerseits bei Thieren vor jedem Gedanken an Betrug und absichtliche Täuschung sicher ist, andererseits aber alle Hülfsmittel der exacten physiologischen Forschung – bis zu vivisectorischen Eingriffen – in Anwendung bringen kann, um das eigentliche Wesen der diesen wunderbaren Erscheinungen zu Grunde liegenden materiellen Veränderungen zu ergründen. Dieser Nachweis des Vorkommens echter hypnotischer Erscheinungen bei Thieren ist nun das vorläufige wissenschaftliche Endresultat meiner soeben mitgetheilten Beobachtungen und Versuche, welche ich noch weiter zu verfolgen und namentlich auch auf Säugethiere, an denen ich noch nicht experimentirte, auszudehnen gedenke. –
Dieselben haben aber für uns noch ein anderes Interesse. Sie haben uns schlagend gezeigt, wie schwer es ist, aus dem trügerischen Gebiete der „ungenau beobachteten“ Thatsache heraus auf den festen sicheren Boden wirklich thatsächlichen Geschehens zu gelangen; sie haben uns ferner gezeigt, welche Umsicht, welche Strenge des Beweises, welche Schärfe der Kritik die naturwissenschaftliche Forschung unbedingt fordern muß, wenn es sich um die Auffindung und Constatirung von Thatsachen handelt – und endlich haben sie jeden Einsichtigen erkennen lassen müssen, wie wenig Gewicht das aufrichtigste Zeugniß der glaubwürdigsten und ehrenhaftesten Personen für die Wissenschaft haben kann, wenn jene Personen – trotz aller Ehrenhaftigkeit und aller sonstigen, vielleicht selbst naturwissenschaftlichen Bildung – vom Geiste der exacten Naturforschung doch nicht wirklich und nicht völlig durchdrungen sind.
Ist aber diese überhaupt nie zu vernachlässigende Vorsicht bei der Werthschätzung von Berichterstattungen und Zeugnissen, namentlich über solche thatsächliche Erscheinungen, welche aus dem Rahmen der gewöhnlichen Naturvorgänge herauszutreten scheinen, schon dann besonders gerechtfertigt, wenn, wie bei hypnotischen Zuständen der Thiere, jede Spur eines Verdachtes von absichtlicher Täuschung und Betrug ausgeschlossen ist: um wieviel mehr ist dann selbstverständlich Zweifel, Zurückhaltung und Ablehnung unabweisliches Gebot und Pflicht, wenn es sich um Erscheinungsgebiete handelt, welche einerseits dem ganzen bisherigen sicheren Besitz der Wissenschaft Hohn sprechen, andererseits nicht nur dem Verdacht, sondern, zuweilen wenigstens, notorisch einem wirklichen Hineinspielen von absichtlicher Täuschung und Betrug unterliegen! Dieses letzteren, zwiefach bedenklichen Charakters erfreuen sich nun aber, wie jeder Besonnene zugeben muß, zweifellos die von Tausenden von Augen- und Ohrenzeugen berichteten und für wirklich gehaltenen Erscheinungen im Gebiete des Mesmerismus, der Hellseherei, des Spiritismus, der Geistermanifestationen etc.
Indessen, die strenge Naturwissenschaft, als eine Erfahrungswissenschaft, entscheidet sich niemals a priori, und der angedeutete, zwiefach bedenkliche Charakter an sich würde die Wissenschaft niemals abhalten, Erscheinungsgebiete solchen Charakters ernstlich in den Bereich ihrer Forschung und Prüfung zu ziehen – und dennoch verhält sich die Wissenschaft unserer Tage gegenüber dem Spiritismus und den verwandten Gebieten in jeder Hinsicht absolut ablehnend! Sollten etwa die leidenschaftlichen Anklagen und Vorwürfe, welchen die Vertreter der Wissenschaft und die Wissenschaft selbst, eben wegen ihres bisher unerschütterten, absolut ablehnenden Verhaltens, von Seiten der zahllosen fanatischen Bearbeiter und Gläubigen dieser mysteriösen Gebiete fortwährend ausgesetzt sind, am Ende doch nicht ganz unberechtigt sein?
Keineswegs!
Es wird mir leicht sein, vor Ihrem Urtheil, meine hochverehrten Anwesenden, nach Allem, was Sie hier gesehen und gehört haben, die viel verketzerte Haltung der Wissenschaft und ihrer echten Vertreter vollkommen zu rechtfertigen, oder doch zu erklären und zu entschuldigen, jene Vorwürfe und Anklagen aber einmal gebührend zurückzuweisen und abzufertigen. – Ich glaubte mich dieser undankbaren Aufgabe, als einer Pflicht meiner besonderen Berufsthätigkeit in diesen der Verbreitung wahrer Aufklärung errichteten Räumen, um so weniger entziehen zu dürfen, als mich das Thema meiner vorgeführten wissenschaftlichen Untersuchung so nahe an jene Gebiete herangeführt hat, auf denen Leichtgläubigkeit, Aberglaube, Urtheilslosigkeit – und oft noch Schlimmeres dominiren. „Undankbar“ nannte ich die Aufgabe, weil man sich Potenzen gegenüber befindet, gegen welche, wie das Sprüchwort sagt, „Götter selbst vergebens kämpfen“.
Immerhin! Die geringe Hoffnung, oder vielmehr die begründete Hoffnungslosigkeit, Besonnenheit und Vernunft mit einigem Erfolg zu predigen, das heißt Verirrte auf den rechten Weg zurückzuführen, Unkundige vor Irrwegen zu bewahren, die in ihrer Selbstüberschätzung und Verblendung durch die unwiderstehliche Macht der ungenau beobachteten Thatsache keiner Führung, keines Rathes zu bedürfen meinen, kann mich nicht abhalten, meine Pflicht zu thun. Die Genugthuung darf ich mir jedoch von vornherein versprechen, daß alle nüchternen Vertreter der Naturwissenschaft – ohne Ausnahme – mit meinen Bemerkungen, welche ich übrigens, schon zu meiner Sicherstellung gegen absichtliche oder mißverständliche Entstellungen, demnächst publiciren werde, völlig übereinstimmen werden. Ich bin mir klar und voll bewußt, daß ich im Sinne und im Namen der strengen Naturwissenschaft spreche.
So hören Sie denn, meine hochverehrten Anwesenden, was ich zu sagen habe, und machen Sie sich davon für Ihr ferneres Verhalten gegenüber den Lockungen vielleicht allzu lieb gewordener Beschäftigungen so viel zu Nutze, wie der ernsten und ruhigen Ueberlegung und Prüfung, die Sie nur immer aufbieten können, irgend möglich sein wird! –
Diejenigen, welche auf den fraglichen, durch den Reiz des Geheimnißvollen und Wunderbaren anziehenden und bestrickenden Gebieten thätig sind, lassen sich in zwei Hauptclassen bringen. – Die eine Classe wird von Menschen gebildet, welchen es gar nicht um die Constatirung und Erforschung der angeblichen wunderbaren „Thatsachen“ ernst und ehrlich zu thun ist, sondern die aus irgendwelchen mehr oder weniger unlauteren oder auch harmlosen Motiven zur Betheiligung an diesen Dingen getrieben werden. Hierher gehören die frivolen Zeitvertreib oder materiellen Gewinn Suchenden, also jene Berufslosen, die sich mit einem eitlen Nimbus umgeben und die Zeit mit scheinbar bedeutsamer Geschäftigkeit todtschlagen wollen, ferner die mehr oder weniger bewußten Charlatane, die betrogenen Betrüger und die Betrüger schlechthin. Von diesem Gelichter brauche ich hier nicht weiter zu sprechen!
[162] Die andere Classe jedoch machen jene anständigen und ehrenwerthen Leute aus, welche es wirklich ernst und aufrichtig mit der Sache meinen – und diese haben ein volles Recht, von uns berücksichtigt, besprochen und ernst und wohlmeinend zurechtgewiesen zu werden – wenn auch Rath und Belehrung natürlich taube Ohren finden!
In dieser Classe sind wieder zwei Gruppen zu unterscheiden: erstens gute Menschen, aber schlechte oder vielmehr gar keine Musikanten, d. h. die naturwissenschaftlichen Laien, die sich entweder niemals oder nur ganz oberflächlich mit Naturforschung, ihren Resultaten und Methoden beschäftigt haben; und zweitens einige wenige Naturforscher von Beruf, die sich sogar auf ihren speciellen Fachgebieten wirkliche und bleibende Verdienste um die Wissenschaft erworben haben können.
Von Denjenigen, welche zur ersten Gruppe dieser Classe gehören und somit ohne Beruf und specielle Vorbildung anscheinend so verwickelte und räthselhafte Vorgänge zu untersuchen sich unterfangen, können wir einfach Folgendes sagen: Hätten diese Biedermänner auch nur eine Ahnung von den Erfordernissen und Schwierigkeiten einer exacten Naturbeobachtung, einen leisen Begriff von der Strenge des Beweises, welche die Wissenschaft unbedingt fordern muß, wenn es sich um die Constatirung von Thatsachen und um die Ermittelung des ursächlichen Zusammenhanges selbst der einfachsten Vorgänge handelt, so würden sie in aller Bescheidenheit von ihren wunderlichen, sinn- und fruchtlosen Bestrebungen gänzlich ablassen, und – wohlgemerkt – zuerst und vor Allem mit dem so reichen Schatze der Errungenschaften der heutigen Naturlehre, und mit jenem Geiste der nüchternen, strengen Forschung sich bekannt zu machen und zu durchdringen suchen, ohne welchen der Mensch – einem Schiff ohne Steuer und Compaß vergleichbar – auf dem Meere des Irrthums und der Täuschung rettungslos herumgeworfen – bis zum Blödsinn verwirrt werden kann! – Ihnen sei der aufrichtige und wohlgemeinte Rath ertheilt, sich, trotz aller Lockung, alles Reizes des Geheimnißvollen und Uebernatürlichen, von jenen nutzlosen und die Integrität ihrer Geistesfunctionen gefährdenden Beschäftigungen absolut fernzuhalten. Ein trefflicher Wahrspruch sagt: „Es giebt eine Tugend der Entsagung im intellectuellen, wie im moralischen Gebiet.“ Und man muß hier, um sich nicht in Versuchung zu führen, diese Entsagung nach den übertrieben rigorosen, aber praktisch erprobten Principien der englischen Temperance-Vereine bis zum intellectuellen „Teatotalism“ treiben!
Schwieriger, so scheint es, ist’s, mit der zweiten Gruppe dieser Classe fertig zu werden, – indessen ist es für jeden Denkenden klar, wären die wenigen Naturforscher, welche diese Gruppe ausmachen, vom Geiste der nüchternen, strengen Forschung, der ihnen früher eigen gewesen sein mag, nicht gänzlich verlassen, so hätten sie längst Mittel und Wege gefunden haben müssen, die „ungenau beobachteten“ Thatsachen, für welche, als von wirklichen Thatsachen, Zeugniß abzulegen sie sich nicht entblöden, wenigstens in einer echt wissenschaftlichen, das Vertrauen und die Beachtung aller nüchternen Forscher gewinnenden Weise zu constatiren. Da ihnen dies aber niemals und in keiner Weise – höchstens gegenüber der Urtheilslosigkeit beschränkter Fanatiker – gelungen ist, so sinkt der Werth auch ihres Zeugnisses, trotz seiner zweifellosen Aufrichtigkeit und Wahrhaftigkeit, auf das gleiche Niveau mit den nicht minder glaubwürdigen und ernst gemeinten Zeugnissen der urtheilslosen Laienmenge, der ersten Gruppe dieser Classe von Biedermännern, herab.
In Bezug auf die Beobachtung und Erkenntniß der Naturvorgänge kann man nicht, wie über menschliche Gesetzesparagraphen, per majora abstimmen lassen, – hier dürfen die Stimmen eben nicht gezählt – sie müssen gewogen werden!
Um übrigens keine Veranlassung zu Mißverständnissen zu geben, will ich ausdrücklich hervorheben, daß die selbstverständlich sehr vereinzelten Naturforscher, von denen ich hier spreche, nicht etwa deshalb allen ihren früheren, etwaigen Ruf, all ihr Gewicht und Ansehen in der Wissenschaft verdientermaßen verloren haben, weil sie mit ihrem Zeugniß für die Realität unerhörter und absolut unglaublich anscheinender Vorgänge öffentlich eintraten, sondern nur deshalb, wie und auf welche Begründung hin sie dies thaten – d. h. Dinge für wirkliche Thatsachen erklärten, die bisher noch gar nichts, als höchstens „ungenau beobachtete“ Thatsachen sind. –
Erinnerungen aus dem Indianeraufstand in Minnesota.
Zwölf Meilen südöstlich von der „Unteren Agentur“ am nördlichen Ufer des Minnesota, ungefähr eine halbe Meile vom Flusse entfernt, liegt Fort Ridgley am Rande der hohen Prairie. Zwischen dieser letzteren und dem Wasser zieht sich eine mit dichtem Buschwerk und höheren Bäumen bewachsene Niederung hin, die sich dann gegen den Prairierand zu zwei vielfach durchschluchteten Waldhöhen erhebt, das Fort gleichsam mit zwei Armen umfassend.
Unter einem solchen sogenannten Fort im Westen der Vereinigten Staaten muß der Leser sich freilich nichts einer Festung Aehnliches vorstellen. Es besteht in der Regel aus nichts als einer Reihe niedriger Holzbaracken für die Soldaten, einigen besseren Wohnhäusern für die Officiere und einer Anzahl anderer leichter Gebäude, theils zu wirthschaftlichen Zwecken, theils für die Familien der Besatzung bestimmt, das Ganze mit Palissaden oder einer leichten Mauer umgeben. Alles ist nur darauf berechnet, den umwohnenden Ansiedlern Schutz gegen die Räubereien und gelegentlichen Feindseligkeiten der Indianer zu gewähren, sowie diesen letzteren durch die Anwesenheit einer Militärmacht den nötigen Respect einzuflößen.
Fort Ridgley war einer der am oberflächlichsten befestigten dieser kleinen Militärposten. Erst vor zehn Jahren angelegt, hatte es sich noch nie gegen ernstliche Angriffe zu vertheidigen gehabt. Ueberdies hatte man bei dem allgemeinen Sicherheitsgefühl, dem sich Alles hingegeben hatte, verabsäumt, auch die nöthigsten Vorsichtsmaßregeln gegen etwaige Feindseligkeiten ernsterer Art zu treffen. Die Südseite des Forts, gegen den Fluß zu, bestand aus einer langen Reihe leichter Holzbaracken; zwischen diesen und dem ziemlich steil abfallenden Prairierand befanden sich ein großer Stall, eine Scheune und zwei alte Häuser. Die Ostseite, an der sich eine Schlucht hinaufzieht, wurde ebenfalls von Soldatenbaracken gebildet; zwischen diesen und der Schlucht stand eine Anzahl kleiner Blockhäuser, die gewöhnlich von Soldatenfamilien als Wohnungen benutzt wurden. An der Westseite lagen, außerhalb des Forts, das Wohnhaus und das Magazin des Postenhändlers. Nach Norden dehnte sich die weite, freie Prairie unabsehbar aus.
Die ganze Umgebung bot einem auf Indianerweise kämpfenden Feinde hinreichend Schutz und Deckung dar. Dazu kam noch, daß das Wetter schon seit einiger Zeit sehr trocken gewesen, die mit Schindeln gedeckten sich weithin streckenden Dächer ausgedörrt wie Zunder waren, und im Fort selbst sich weder Brunnen noch Cisternen befanden, sondern das Wasser aus einer sechszig Ruthen entfernten Quelle in der östlichen Schlucht geholt werden mußte. Der Leser wird es daher begreiflich finden, daß die Besatzung nicht ohne Besorgniß war, als am 18. August Vormittags um neun Uhr der erste Bote eintraf, welcher den Ausbruch und das Blutbad an der „Unteren Agentur“ meldete. Es befanden sich in dem Augenblick nur achtzig Mann vom fünften Minnesota-Freiwilligenregiment im Fort, unter dem Befehl des Capitains J. S. Marsh. Vierundzwanzig Stunden vorher waren zwei Abtheilungen von je fünfzig Mann, die eine nach Fort Ripley am oberen Mississippi, die andere nach Fort Snelling bei St. Paul, abgeschickt worden. Kaum hatte der Unglücksbote seinen Bericht erstattet, als der tapfere Capitain sich, schnell entschlossen, an die Spitze von sechsundvierzig Mann stellte und in Begleitung des Dolmetschers Quinn unverzüglich nach dem zwölf Meilen entfernten Schauplatz der Blutscene aufbrach. Es blieben also nur vierunddreißig Mann unter Lieutenant Culver zurück, die nebst drei Geschützen unter Sergeant Jones die ganze militärische Besatzung des Forts ausmachten, wozu allerdings eine Anzahl Civilisten kamen, die im Laufe des Tages [163] als Flüchtlinge eintrafen und als meistens geübte Schützen in dem bevorstehenden Kampfe ebenso brauchbar waren wie die Soldaten.
Die Nacht kam heran, doch ohne den so heiß ersehnten Regen zu bringen. Die Mannschaft war im Fort und in den Außengebäuden vertheilt und wachte in fieberhafter Spannung. Jeden Augenblick konnte man erwarten, das Kriegsgeheul der heimlich durch die Niederung und die Schluchten herangeschlichenen Wilden zu hören und Brandpfeile auf die so leicht entzündlichen Dächer fallen zu sehen. In diesem Falle blieb der kleinen Schaar nichts übrig, als ihr Leben so theuer wie möglich zu verkaufen und sich unter den Trümmern ihrer Festung begraben zu lassen. Doch es regte sich nichts. Der Morgen brach an, und Alles athmete leichter. Gegen Mittag erschien ein Trupp, der auf das Fort zukam und bald als aus Weißen bestehend erkannt wurde. Es war der traurige Ueberrest von Capitain Marsh’s tapferer Schaar, der in den Vormittagsstunden des Dienstags ankam, um schlimme Kunde zu überbringen. Die Leute, vor Aufregung und Wuth zitternd, erzählten was sie erlebt: von den sechsundvierzig Mann des Capitain Marsh waren dreiunddreißig, sowie der Capitain selbst und der Dolmetscher theils erschossen, theils in dem zu passirenden Flusse auf der Flucht ertrunken. Sie allein, dreizehn Mann an der Zahl, hatten sich gerettet.
Tiefe Trauer ergriff die Besatzung und zugleich eine ingrimmige Begierde, die feigen Mörder ihres geliebten Commandanten und fast der Hälfte ihrer Cameraden zu rächen. Aber wie sollte dies geschehen? Ein Blick auf ihre zusammengeschmolzene Schaar und auf die völlig unzureichenden Schutzmittel machte auch das tapferste Herz erzittern bei dem Gedanken, daß sie bei einem Angriff völlig außer Stande sein würden, etwas auszurichten, und, wenn nicht schleunige Hülfe kam, unrettbar dem Scalpirmesser der rothen Teufel verfallen waren. Denn das wußte man im Fort gut genug, daß die Indianer in solcher Uebermacht angreifen würden, daß die Hand voll Leute durch die Menge in kurzer Zeit erdrückt werden mußte. In ängstlicher Spannung verstrich der Dienstag Nachmittag; weder Freund noch Feind zeigte sich.
Endlich, als die Sonne schon im Westen sank, wurde etwas auf der Prairie, von Nordosten herkommend, wahrgenommen. Als es näher kam, erkannte man, daß es Leute zu Fuß seien; es waren also wahrscheinlich keine Indianer. Da ertönte ein Freudengeschrei; man sah deutlich Bajonnete blitzen; es waren die, wie gesagt, am Sonntag Morgen nach Fort Ripley detachirten fünfzig Mann unter Lieutenant Sheehan, denen ein Bote mit dem Befehl zur Umkehr am Montag nachgeschickt worden war, und die jetzt als Retter mit stürmischem Jubel begrüßt wurden.
Mitternacht war schon vorüber; die unheimlichste Stunde der Nacht lag beklemmend auf den schweigend auf ihren Posten stehenden Männern. Da regt sich’s leise in südöstlicher Richtung über der in tiefstes Dunkel gehüllten Schlucht hin; es klingt, als ob eine Anzahl Menschen näher kommen. Jeder ist fertig, auf das erste Zeichen den Kampf zu beginnen; athemlos lauschend sucht jedes Auge die schwarze Nacht zu durchdringen. Da ertönt auf einmal ein Ruf. Die Herankommenden sind an den äußersten Vorposten angelangt; aber es ist kein Kriegsruf der Wilden; kein Brandpfeil durchschwirrt die Luft; kein Büchsenknall erwidert den Gruß. Neue Freude! es sind abermals Helfer, die jetzt am Fort erscheinen und mit stillem Händedruck und auch mit mancher warmen Mannesthräne im dankbaren Auge begrüßt werden. Es waren wieder fünfzig Mann, die ebenfalls am vorigen Sonntag nach Fort Snelling abgegangenen, durch einen Eilboten zurückbeorderten Cameraden. Sie trafen gerade noch zur rechten Zeit ein, um das Fort und die Besatzung zu retten. Es war, als habe die Vorsehung ihre schützende Hand über diese von aller Rettung scheinbar abgeschnittenen Braven gehalten. Wären die Wilden nach vollbrachter Arbeit an der Agentur an jenem verhängnißvollen Montag sogleich in Masse nach dem Fort aufgebrochen, um dieses zu stürmen, es wäre kein Mann mit dem Leben davon gekommen. So aber hatten sie sich die beiden ersten Tage in kleinen Abtheilungen, mordend und brennend, über die Prairie nördlich und südlich von ihrer Reservation verbreitet und sammelten sich erst, nachdem die beiden Detachements unbelästigt in’s Fort eingezogen waren.
Mittwoch, der 20. August, brach an. Lieutenant Sheehan, der als ältester Officier das Commando übernommen hatte, musterte seine kleine Schaar. Sie bestand aus ungefähr hundertundfünfzig Soldaten, nebst etwa fünfzig waffenfähigen Civilisten mit drei sechspfündigen Haubitzen. Letztere, auf die man hauptsächlich bei der Vertheidigung rechnete, wurden dem Sergeanten John Jones und zwei andern alten Artilleristen übergeben und an den geeignetsten Stellen aufgepflanzt, Erstere möglichst vortheilhaft in den außerhalb des Forts gelegenen Häusern und im Fort selbst vertheilt. So wartete man gefaßt der Dinge, die da kommen sollten. Verstärkung war in den nächsten Tagen nicht denkbar; der Angriff aber mußte, wenn er überhaupt stattfand, bald geschehen.
Die Sonne stand hoch und heiß am wolkenlosen Himmel – und im August strahlt sie auf der weiten baumlosen Prairie mit sengender Gluth – die schlaflosen Nächte und die beständige Spannung wirkte erschlaffend auf die Mannschaften; sie begannen fast einen Angriff herbei zu wünschen, um nur von dieser tödtlichen Ungewißheit befreit zu werden. Da – es war drei Uhr Nachmittags – rollte plötzlich eine donnernde Salve durch die Niederung. Der Feind war endlich da. Echt indianisch hatte er sich am Flußufer entlang herangeschlichen, und, wie aus dem Erdboden gestampft, erhoben sich Hunderte wilder Gestalten aus dem dichten Gebüsch und langen Grase. Blitzschnell bewegten sich die mit grellen Kriegsfarben bemalten, halb nackten rothen Krieger auf’s Fort zu, Salve auf Salve im Marsch entsendend, offenbar mit der Absicht, dasselbe durch einen einzigen wüthenden Anlauf im Sturme zu nehmen. Die in den Schluchten vertheilten Vorposten wurden rasch zurückgetrieben; Lieutenant Sheehan formirte augenblicklich auf dem Paradegrunde seine Leute, und nun begann die Vertheidigung. Was nur Deckung gewähren konnte, wurde benutzt; hinter den Außengebäuden, hinter Kisten und Wagen, in allen Fenstern lagen und standen die Männer, kühl und ruhig, wie es nur der an Gefahren aller Art gewöhnte Grenzbewohner vermag. Da fiel kein unnöthiger Schuß; jeder Einzelne wartete die Gelegenheit kaltblütig ab und nahm seinen Feind, wo er sich zeigte, sicher und fest auf’s Korn. Wenn je, so gab das doppelte Gefühl der Selbsterhaltung und der Rache diesen Männern heute einen Arm, der nicht zitterte, und ein Auge, das sein Ziel nicht fehlte.
Ein tödtliches Feuer ergoß sich auf die mit betäubendem Kriegsgehäul anstürmenden Rothhäute. Fast jede Kugel aus dem Fort traf, während die Indianer in ihrer Wuth nur ein wildes und darum sehr unwirksames Feuer unterhielten. Zwei Soldaten und ein Bürger fielen bei diesem ersten Anlauf, dessen Hitze bald nachließ, nachdem der Feind die Ueberzeugung gewonnen hatte, daß er den Platz so leichten Kaufes nicht würde nehmen können. Die Schwäche der Besatzung bis zum Mittwoch Morgen hatte es unmöglich gemacht, irgend welche neue Befestigungen aufzuwerfen; nicht einmal die hölzernen Außengebäude und die vielen Heuschober in den Schluchten und der Niederung hatten entfernt werden können. Diese dienten nun dem Feinde als bequeme Schutzpunke, hinter denen er Stellung nehmen und so den Angriff wirksamer fortsetzen konnte.
Am Abend entspann sich der Hauptkampf an der Ostseite des Forts in der dort befindlichen Schlucht. Hier stand, wie schon erwähnt, eine Reihe alter Blockhäuser, die von einer Abtheilung Soldaten besetzt waren. Der Feind stürmte unaufhörlich die Schlucht hinauf, nach geringster Berechnung vier- bis fünfhundert Mann stark und unter persönlicher Anführung des berühmten Häuptlings Little Crow, der sie zu immer wüthenderen Anläufen anstachelte. Sie fielen zu Haufen unter den gut gezielten Schüssen der Besatzung. Unter wahrhaft teuflischem Geheul drangen immer neue Schaaren vorwärts, trugen die Gefallenen und Verwundeten zurück und näherten sich allmählich ihrem Ziele. Schon ist es ihnen gelungen, einige der Blockhäuser zu erstürmen; aus denselben und hinter mehreren großen Heuschobern unterhalten sie ein heftiges Feuer auf das Fort. Da schlagen einige Granaten in die von ihnen besetzten Häuser. Augenblicklich steht die ganze Reihe in Flammen, ebenso die Heuhaufen und sie sind gezwungen, die Stellung aufzugeben. Eines dieser Gebäude war ein mit Heu gefüllter Stall. Als dasselbe in Brand gerieth, sprangen mehrere Indianer hinaus, um in die Schlucht zu fliehen, wurden aber sogleich von den Kugeln zweier Halbindianer, Latour und Dashner, die im Fort standen, niedergestreckt. [164] Einer derselben raffte sich wieder auf und rannte weiter. Dashner warf sogleich seine Büchse nieder, und seinem Gefährten zurufend, ihm zu folgen, erreichten sie den verwundeten Wilden in einigen Minuten. Ihn ergreifen und trotz seines verzweifelten Widerstandes in die Flammen werfen, war das Werk eines Augenblicks. Selbst das indianische Kriegsgeschrei anstimmend, kehrten die Beiden nach vollbrachter blutiger That unverletzt in’s Fort zurück. Dieses Beispiel mag zeigen, wie diese blutigen Grenzkriege manchmal geführt werden, nicht gerade von den Weißen, wohl aber gelegentlich von ihren halb oder ganz wilden Verbündeten.
Bis zum dunkeln Abend hatte der Kampf gewüthet, weniger heftig auf der Südfront. Die Flammen der brennenden Gebäude schlossen die wilde Scene des Tages und beleuchteten die abziehenden Feinde, die bald in Masse auf ihren kleinen Ponies nach der Agentur zu weggaloppirten. Die Geschütze warfen noch eine Zeit lang Granaten in die Schluchten, doch ohne Antwort zu erhalten, und stellten dann ihr Feuer ein.
Die ermüdete Besatzung begann ihre dritte schlaflose Nacht. Auf den Außenposten vertheilt, spähten die Tapfern nach dem hinterlistigen Feind, bis der Morgen graute. Die größte Gefahr bestand jetzt darin, daß die Indianer einzeln durch das Buschwerk an die Gebäude heranschlichen und Miene machten, mit brennenden Pfeilen die dürren Dächer in Brand zu setzen. Geschah dies, dann waren Alle verloren.
Gegen Morgen endlich kam die so lange ersehnte Hülfe. Gewitterwolken hatten sich am Horizonte aufgethürmt, und nun öffnete der Himmel unter Blitz und Donner und Sturm seine Schleußen, eine wahre Sündfluth herabsendend, die Alles so gründlich durchnäßte, daß eine Ueberrumpelung durch Feuer für den Augenblick unmöglich wurde. Mit welchem Gefühl die ersten Tropfen von den ermüdeten Kämpfern begrüßt wurden, läßt sich kaum beschreiben.
Donnerstag war ein verhältnißmäßig stiller Tag. Nur kleine Partien Indianer wurden in weiter Entfernung auf der Prairie bemerkt, augenscheinlich um zu recognosciren, ob Verstärkungen einträfen. Es regnete bis gegen Abend, als die Wolken sich verzogen und die Sterne wieder klar und freundlich auf die müden Kämpfer niederblickten. Kühl und labend zog der Wind über die mächtige Prairie hin; erfrischend stieg der Duft von Blüthen und Blättern aus den grünen Schluchten herauf; kein feindlicher Laut regte sich in der weiten, stillen Gegend. Wahrlich, es war schwer, den Gedanken zu fassen, daß vor kaum vierundzwanzig Stunden hier die wildesten Leidenschaften getobt und das Blut von Hunderten den Boden befleckt hatte, schwer, sich mit dem Gedanken vertraut zu machen, daß diese feierliche Ruhe jeden Augenblick durch den Ruf zu neuem Blutvergießen entweiht werden konnte!
Noch in der Nacht von Mittwoch auf Donnerstag, während der Regensturm in voller Wuth tobte, wurde John Frazer, ein alter Ansiedler, der alle Indianerschliche gründlich kannte, abgeschickt, um Depeschen an Gouverneur Ramsey nach St. Paul zu befördern, was ihm in der Folge auch gelang. Am nächsten Tage wurde eine große Anzahl mit Hafer gefüllter Säcke, die in der Scheune gelegen, sowie eine Masse Brennholz an verschiedenen Stellen um das Fort herum aufgestapelt, um der Besatzung als Schutzwehr gegen die Angreifer zu dienen. Ferner wurden die ziemlich flachen Dächer der am meisten ausgesetzten Gebäude mit Erde bedeckt, um gegen die Brandpfeile gesichert zu sein; kurz, es geschah Alles, was sich in der Eile thun ließ, um die Befestigungen zu verstärken.
Zwei Umstände aber erregten die ernstesten Besorgnisse. Es wurde schon im Anfang erwähnt, daß sich im Fort selbst weder Brunnen noch Cisternen befanden. Das Trinkwasser, welches von einer nahen Quelle herbeigeschafft zu werden pflegte, war am Freitag Morgen ausgegangen, und trotz des heftigen Regens war es bei den schlechten Vorrichtungen nicht möglich gewesen, genug Wasser für die Besatzung zu sammeln, abgesehen davon, daß dasselbe bei der wieder eingetretenen Hitze unbrauchbar werden mußte. Es blieb also nichts übrig, als eine Expedition auszurüsten, um Wasser aus der Schlucht herbeizuschaffen.
Obwohl die Gegend ziemlich rein von Indianern zu sein schien, war diese Aufgabe dennoch keine gefahrlose. Wer wußte, wie viele Feinde sich wieder in den dichten Gebüschen am Flusse und in den Schluchten herangeschlichen haben mochten? wer konnte berechnen, wann sie wieder, schnell wie der Blitz, heranstürmen und ihren Angriff erneuern würden? Als die Leute den Brunnen in der östlichen Schlucht erreichten, fanden sie, was freilich vorauszusehen war, das Reservoir zerstört und die Quelle verschüttet. Sie konnten daher nichts Anderes thun, als an einer weniger ausgesetzten Stelle, näher am Fort, einen neuen Brunnen graben, fanden auch bald Wasser und hatten bis Mittag so viel in Sicherheit gebracht, daß die Besatzung wenigstens für zwei bis drei Tage hinreichend versorgt war.
Der zweite Uebelstand war Mangel an kleiner Munition; die meisten Kugeln waren im Mittwochskampfe verschossen worden. Schnell wurde eine Anzahl Männer und Frauen angestellt, aus den in großer Menge vorhandenen Kartätschenladungen Patronen zu machen, und so wurde bald ein ziemlicher Vorrath hergestellt, und zwar weder umsonst, noch zu früh; denn Freitag Nachmittags ein Uhr erschien der Feind wieder.
Von der „Unteren Agentur“ herkommend, stürmten die Indianer in wildem Galopp über die Prairie daher und verschwanden in den Ufergebüschen des Flusses, um gleich darauf in der Niederung zu Fuß zu erscheinen. Ihre Zahl war bedeutend größer, als am Mittwoch, und mit der Menge schien auch die Wuth und die Entschlossenheit in ihnen gewachsen zu sein, das Fort diesmal um jeden Preis zu nehmen. Im vollem Lauf stürmten sie durch die Niederung, beide Schluchten im Osten und Westen herauf, als wollten sie den Gegner in ihrer wilden Umarmung ersticken. Der Anblick dieser Scene war ein großartig schauerlicher. Hunderte dämonisch aussehender Gestalten, in vollem Kriegerschmuck, denen die abscheuliche Bemalung, die wehenden Adlerfedern im Haar und die bestienartige Beweglichkeit der nackten Glieder ein wahrhaft unnatürliches Aussehen verlieh, das markerschütternde Kriegsgeheul, mit dem sie die Luft erzittern machten, die hochgeschwungenen blitzenden Tomahawks und Messer, das Krachen der Büchsen – alles zusammen machte einen Eindruck, als sei die Hölle selbst losgelassen und schicke sich an, eine ihr zugewiesene Beute in den Abgrund zu reißen. Aber die hartbedrängte Garnison erlag solchen Schrecken nicht. Die Tapferen wußten wohl, daß jetzt der Entscheidungskampf gekommen sei; unterlagen sie diesem Angriff, dann war den Meisten der Tod auf dem Schlachtfelde gewiß, den Ueberlebenden aber standen Qualen bevor, wie sie nur die teuflische Erfindungsgabe des wilden Indianers ersinnen kann. Schlugen sie diesmal den Feind zurück, dann war zu erwarten, daß er seinen Angriff nicht erneuern würde, bis Verstärkungen anlangten. Die an der westlichen Schlucht gelegene schöne Wohnung des Postenhändlers Randall loderte sogleich in hellen Flammen auf; der Hauptangriff war indeß diesmal auf die dem Fluß zunächstgelegene Südfront des Forts gerichtet. Hier standen die meisten und leichtesten Holzgebäude dicht zusammengedrängt, hier befanden sich außerhalb der Forts der große Stall, die Scheune, das Waarenlager und zwei andere größere Gebäude.
Schnell war der steile Abhang der Prairie erstiegen und die Indianer erschienen in Masse am Rande derselben. Aber die Männer im Fort wußten sie zu empfangen. Fast bis an die Gebäude herangekommen, wurden sie von einem so entsetzlichen Feuer aus den Häusern und von einem solchen Hagel von Kartätschen aus den drei Geschützen der braven Artilleristen empfangen, daß der enge Raum bis zum Rande der Niederung mit Gefallenen bedeckt war. Die Uebrigen zogen sich schleunigst außerhalb Schußweite[WS 3] in den Schutz der Gebüsche zurück, verfolgt von den Geschossen der Kanonen, die tod- und verderbenbringend zwischen ihnen niederschlugen. Der Rückzug war jedoch nur ein augenblicklicher; sie sammelten sich schnell wieder und stürmten mit verdoppelter Wuth die Anhöhen. Diesmal gelang es ihnen, den großen Stall zu gewinnen, ebenso mehrere andere Außengebäude der Südseite. Jetzt wurde der Kampf ernstlicher. Der Vortheil, den die Wilden errungen hatten, begann sich fühlbar zu machen. Ihr Feuer wurde stetiger und wirksamer. Immer größere Haufen erstiegen die Höhen, geschützt durch die von den Ihrigen genommenen Häuser. Einige Soldaten fielen, mehrere wurden verwundet; die gegenüberliegenden Baracken waren von Kugeln förmlich durchlöchert.
In dieser Bedrängniß erwiesen sich die Geschütze als die Retter der Besatzung. Es gelang denselben, die sämmtlichen Außengebäude in Brand zu schießen, und bald loderten fünf [165] große Häuser in hellen Flammen zum Himmel empor. Die Flammen und der Qualm des Brandes, der Donner der Kanonen, das Krachen der Büchsen, das unaufhörliche Knattern der Musketen und in all dem Toben die dämonischen Gestalten der kämpfenden Wilden, die, rasend vor Wuth über das Mißlingen ihres Planes, den Platz nicht aufgeben wollten, bis sie endlich mit Geheul in die schützende Niederung zurückflohen: alles dies bot des eigenthümlich Grauenhaften so viel, daß dieser Kampf selbst in den Gemüthern solcher, die in größeren Schlachten mitgefochten hatten, einen unvergeßlichen Eindruck des Schreckens zurücklassen mußte.
Auch dieser zweite mißlungene Sturm hatte die Wilden noch nicht ganz entmuthigt. Sie wandten sich nach den Schluchten und setzten von dort aus, im hohen Grase und hinter den großen Bäumen liegend, das Gefecht aus der Ferne bis zum späten Abend fort. Vergebens versuchte Little Crow, sie zu verschiedenen Malen wieder zu einem dritten Sturm zu sammeln. Man sah ihn am Abend einen letzten Versuch machen. Er hatte eine große Anzahl zusammengebracht und feuerte sie augenscheinlich in einer seiner die Indianer so hinreißenden Reden zum Angriff an; sie schienen ihm Gehör zu geben und begannen sich zu formiren. Da fielen einige glückliche Kartätschenschüsse in den dichtesten Haufen, und mit einem wahrhaft überirdischen Wuthgeheul stob der Schwarm auseinander.
Ein Gefangener sagte später aus, daß diese letzten Schüsse neunzehn Wilde tödteten[WS 4] oder schwer verwundeten. Dies war das Zeichen zum allgemeinen Aufbruch. Schnell, wie es gekommen, verschwand das wilde Heer, über die Prairie dahinjagend, um neue und wehrlosere Opfer ihrer Mordlust zu suchen. Jones fuhr fort, bis zur einbrechenden Dunkelheit Granaten in die Schluchten zu werfen; dann wurde Alles still, und wie in allen vorigen Nächten der Woche begann die todesmüde Besatzung ihre schwachen Werke zu bewachen und nach dem falschen, schlauen Feinde auszuspähen. Langsam schlichen die Stunden der Nacht dahin. Aber die Soldaten dürfen nicht schlafen: ihr Feind kennt keinen Schlaf, wenn er auf dem Kriegspfad ist; sie dürfen sich nicht zur ersehnten Ruhe niederlegen: ihr Feind kennt keine Müdigkeit und ruht nimmer, wenn er ein Werk der Rache zu vollbringen hat; sie dürfen kein Auge abwenden von den dunkeln Gründen zu ihren Füßen und von den leicht entzündlichen Dächern ihrer Festung: ihr Feind kann jeden Augenblick seine rothen Pfeile entsenden oder, heimlich heranschleichend, die Brandfackel an die dürren Wände legen. Endlich steigt die Sonne am wolkenlosen Himmel empor; aber der Feind ist nicht wieder gekommen.
Noch vier heiße Tage und vier schlaflose Nächte! Weder Freund noch Feind zeigte sich. Es war, als sei das Fort mit seiner Besatzung allein übrig geblieben in der öden, menschenleeren Wildniß.
Am Mittwoch Morgen, den 27. August, ertönte der Ruf der auf den Dächern postirten Wächter: „Reiter auf der Straße von St. Peter über der Schlucht!“ Waren es Freunde oder Feinde? Die Dämmerung ließ noch nichts deutlich erkennen. Langsam recognoscirend rückten sie näher, bis sie endlich die östliche Schlucht erreicht hatten und nun durch diese heraufgaloppirten. Es waren einhundertfünfzig Mann Cavallerie, unter Oberst Samuel Mac Phail, die jetzt unter dem wilden Hurrahruf der Garnison in’s Fort einritten. Am vorigen Abend von St. Peter abgegangen, hatten sie fünfundvierzig Meilen in der Nacht zurückgelegt. Sie brachten die freudige Nachricht, daß General Sibley mit hinreichenden Verstärkungen unterwegs sei, und nächstens eintreffen werde.
Damit endete die in der Geschichte des jungen Staates Minnesota mit blutigen Zügen verzeichnete Belagerung von Fort Ridgley, unbedeutend vielleicht in den Augen dessen, der die Bedeutung von Kriegsereignissen nur an der Zahl der bei denselben Betheiligten abmißt, denkwürdig aber für die Tausende braver, fleißiger Bürger des großen, schönen Minnesotathals, die dem Heldenmuth der kleinen Schaar Tapferer, mit dem sie drei Tage lang die wilden Horden vom weiteren Vordringen zurückhielten, ihr Leben und die Rettung ihres Eigenthums zu verdanken hatten.
Die gefallenen Helden schlafen am Prairierand ihren letzten, langen Schlaf. Es waren ihrer nur wenige, während die Zahl der getödteten und verwundeten Wilden sehr beträchtlich gewesen sein mußte; genauer konnte dieselbe nicht ermittelt werden, da die Feinde nach Indianerweise alle Gefallenen sorgsam weggetragen und in Sicherheit gebracht hatten.
Unsere eigenen Verwundeten fanden einen treuen und geschickten Pfleger an dem vortrefflichen Chirurgen Dr. Alfred Müller, einem Deutschen, und nicht minder an seiner Allen, die damals im Fort eingeschlossen waren, unvergeßlichen Frau Elisa Müller. Die Hospitale vor Sebastopol haben ihre Florence Nightingale gehabt, und in unserem großen Kampfe für das Leben der Union haben auf allen den blutigen Schlachtfeldern im heißen Süden edle Frauen als Engel der Barmherzigkeit gewaltet; sie haben die Kranken und Verwundeten gestärkt und getröstet, die gebrochenen Augen unserer gefallenen Helden sanft geschlossen. Und wenn noch in späteren Jahren die Braven, die verwundet niedersanken in den blutigen Gefechten um Fort Ridgley, bei Birch Coolie und an Woods Lake, ihren Kindern und Enkeln die Geschichten erzählen werden von den blutigen Gründen an den Wassern des Minnesota und ihnen die Narben zeigen, welche die Kugel und das Tomahawk an ihnen zurückgelassen haben: dann werden sie auch mit feuchtem Auge und mit segnenden Lippen erzählen von Elisa Müller, der deutschen Frau, die in jenen dunkeln Nächten und angstvollen Tagen die freundliche Sonne des Hospitals war, die nimmer ermüdete, Schmerzen zu lindern und Trost zu spenden, die wie eine treue Mutter sich selbst ganz aufopferte und ohne deren edle Hingabe Manche von ihnen dem Tode unrettbar verfallen gewesen wären. Kein Denkmal ist ihr zu Ehren errichtet worden. Die Welt kennt ihren Namen nicht. Aber in den Herzen derer, die damals in Minnesota den Kampf der Civilisation gegen die Barbarei kämpfen halfen, lebt ihr Gedächtniß fort; mögen diese Blätter die Botschaft in weitere Kreise tragen, daß es auch hier der stillen deutschen Frauentreue beschieden war, den edelsten und besten Lorbeerkranz davonzutragen.
Ein Wunderbau für die Thierwelt.
„Wenn Sie den gegenwärtigen Zustand der Naturwissenschaft betrachten, wie sie sich immer mehr zu einer umfassenden Weltkunde gestaltet, was ahnt Ihnen von der Zukunft, ich will nicht einmal sagen, für unsere Theologie, sondern für unser evangelisches Christenthum? … Mir ahnt, daß wir werden lernen müssen, uns ohne Vieles zu behelfen, was Viele noch gewohnt sind, als mit dem Wesen des Christenthums unzertrennlich verbunden zu denken … Unsere neutestamentlichen Wunder, denn von den alttestamentlichen will ich gar nicht erst reden, wie lange wird es noch währen, so fallen sie auf’s Neue, aber von würdigern und weit besser begründeten Voraussetzungen aus, als früherhin zu den Zeiten der windigen Encyklopädie? … Was soll dann werden? Ich werde diese Zeit nicht mehr erleben, sondern kann mich ruhig schlafen legen. Aber Sie, mein Freund, und Ihre Altersgenossen, was gedenken Sie zu thun? Wollt Ihr Euch dennoch hinter diesen Außenwerken verschanzen und Euch von der Wissenschaft blokiren lassen? Das Bombardement des Spottes wird Euch wenig schaden – aber die Blokade! die gänzliche Aushungerung von aller Wissenschaft –“
Als Schleiermacher im Jahre 1829 diese prophetischen Worte an Lücke schrieb, ahnte er da wohl, daß schon nach kaum vierzig Jahren ihre Erfüllung sich anbahnen, daß Syllabus und Synodal- oder Pastoralconferenzen schon nach so kurzer Spanne Zeit den geschmähten und verfolgten Naturwissenschaften zu immer weiter greifender Anerkennung verhelfen würden? Die Bestrebungen der augenverdrehenden Theologie sind schuld, daß die Geheimnisse der Naturforscher nur noch in der Methode und in dem Detail der Wissenschaften liegen, die erforschten Resultate aber allen helleren und umsichtigen Köpfen zugänglich sind. Nächst diesem „Theil von jener Kraft, die stets das Böse will
[166] [167] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt. [168] und – leider nicht – stets das Gute schafft,“ gebührt aber der Dank für die erreichten Erfolge den Männern der Wissenschaft, die aus dem Rahmen der strengen Methode heraustretend in anziehendster Form Popularität und Gründlichkeit zu vereinen verstanden und von den reichen Schätzen des mit Fleiß und Mühe Erforschten und Erarbeiteten so viel spendeten, als der jeweiligen Volksentwickelungsstufe frommte. Da konnte es nicht fehlen, daß die neuzeitliche Speculation, die ihre stets bereiten Hände nach Allem streckt, auch das vom Publicum den Naturwissenschaften entgegengetragene Interesse direct auszubeuten sich anschickte – und den zoologischen Gärten wie den Aquarien wandte sich das Capital in bisher ungekannter „Theilnahme“ zu.
Bei dieser Entwickelung lag und liegt stets die Gefahr nahe, daß die wissenschaftlichen Zwecke durch die materielle Ausbeute benachtheiligt werden, und auch beim Berliner Aquarium, dem wir diese Zeilen widmen, würde der hervorragend wissenschaftliche und künstlerische Anstrich vielleicht nur Mittel zum Zweck gewesen sein, wenn hier nicht die von Beginn des Unternehmens ab gewonnene Mitwirkung eines geistreichen, für seine Wissenschaft begeistert entflammten Mannes, des unseren Lesern wohl bekannten Dr. A. Brehm, eine idealere Weise von Anfang an bedingt, und nie den kalten Standpunkt des frivolen Realismus allein hätte aufkommen lassen, und wenn ferner nicht der bauende Meister, der zu früh dahingeschiedene W. Lüer, ein vollendetes Kunstwerk zu schaffen sich vorgesteckt hätte.
Eine Anlage, welche zum ersten Mal aus dem bis dahin üblichen Rahmen heraustritt und in großartiger Durchführung alle ihre Vorgänge unberechenbar überflügelt, muß an sich selbst erfahren und kennen lernen, welche ihrer neuen Einrichtungen sich bewähren und welche einer Um- oder Neugestaltung werden weichen müssen. Das Berliner Aquarium mußte somit auch sozusagen die Kinderkrankheiten selbst durchmachen. Die hartnäckigste von diesen, die eine Zeit lang sogar das Leben des jungen Sprößlings bedrohte, war das Seewasserleiden, oder wenn man will, die Seekrankheit. Die Lage Berlins – selbst von den nächsten Seeküsten weit genug entfernt, um die Heranschaffung eines guten natürlichen Seewassers bedenklich in Frage zu stellen – ließ die Verwendung künstlichen Seewassers empfehlenswerth erscheinen, und manches trefflich durchdachte, auf den wissenschaftlichen Principien beruhende Experiment mißglückte, ehe Dr. O. Hermes das Problem in befriedigendster Weise löste und damit die Unabhängigkeit der Aquarien von einer nahen Lage zur Meeresküste mit schlagendster Eleganz bewies. Wir können hiernach dem Institut nur Glück dazu wünschen, daß es im vorigen Jahre den Dr. Hermes als zweiten Director dem Dr. Brehm an die Seite stellte, und so die Leitung des Ganzen Männern anvertraute, welche die Garantie des Gedeihens in sich tragen.
Der Plan zur Gründung des „Berliner Aquariums“ war kaum gefaßt, als auch schon seine Erweiterung beschlossen wurde. Nicht nur Wasserbewohner, auch „was da kreucht und fleugt“, sollte Augenweide gewähren, oder, wie Dr. Brehm sich anmuthiger ausdrückte: der Besucher sollte in verlockender Kürze die Promenade von der Wüste aus durch den Urwald bis an die Gestade des Meeres zurücklegen. Dem entsprechend, führt uns die erste Abtheilung vorzugsweise das Gezücht vor, das in den Wüstenstrichen der Wendekreisländer sein unheimliches oder tückisches Wesen treibt. Tropentemperatur empfängt uns und fast völlig regungslos, im Gluthenhauch der heißen Zone, ruht Alles, was wir hier erblicken.
Schlangen und Eidechsen bevölkern überwiegend die Käfige des Schlangenganges (Gruppe A auf unserem Bilde), den wir zuerst betreten. Daß die hier zur Schau gestellte Collection an Reichhaltigkeit und Schönheit der Exemplare ihres Gleichen sucht, sei für diese, wie für die folgenden Abtheilungen von vornherein bemerkt.
An Matadoren nennen wir hier von den giftlosen alt- und neuweltlichen Riesen: Python und Boa constrictor, die und kleineren Streifen-, Wasser-, Ketten-, Schwarznattern; und von den giftigen Puffottern in colossaler Größe: Klapperschlangen, Wasser-, Horn- und Nasenvipern. An Eidechsen finden wir außer den sämmtlichen in Europa vorkommenden Arten Warane, Stumpfschwanzechsen, Tejus und häufig auch die bei uns seltenen Fremdlinge Chamäleon und Leguan. Dazu selbstverständlich Krokodile, und zwar nicht nur die gewöhnlich in zoologischen Sammlungen vorhandenen amerikanischen Alligatoren, sondern auch von jenen Species, die dem Nil entstammen. Ein Blick durch die ersten, rechter Hand gelegenen Scheiben des Schlangenganges trifft die Krolodilgrotte (B), die sich uns später noch einmal von einer andern Seite präsentiren wird.
Besondern Dank verdient Brehm, daß er dafür gesorgt, daß fortdauernd auch die in unserm Vaterlande heimischen giftigen und giftlosen Schlangen vertreten sind, und dadurch den Besuchern des Aquariums Gelegenheit gegeben wird, die schädlichen Mitglieder dieser meist verkannten Thiergattung von den harmlosen und sogar nützlichen unterscheiden zu lernen. Denn nur die giftigen verdienen die Verfolgung, mit welcher unterschiedslos die ganze Classe beehrt wird, während die andern durch Vertilgung des Ungeziefers, speciell der Mäuse etc. auf Schutz und Schonung Anspruch erheben dürfen. Doch freilich – wenn es selbst Schlangenkundigen passiren konnte, die ungefährlichen Vipernnattern[WS 5] mit den in der Zeichnung ihnen sehr ähnlichen, jährlich mehrere Opfer fordernden Kreuzottern oder Vipern zu verwechseln, wie soll man dem Laien untrügliche Merkmale angeben, die Tod und Verderben Bringenden von den harmlos nützlichen zu unterscheiden?
In besondern Glaskästen in den Käfigen des Schlangenganges pflegen zwei zur Classe der Spinnen gehörige Thierarten ausgestellt zu sein, über welche gewöhnlich zu seltsame Anschauungen und Vorstellungen verbreitet sind, als daß es nicht dankbar zu begrüßen wäre, sie einmal lebend beobachten zu können. Der Scorpion und die große, selbst Vögel würgende Buschspinne können unmöglich bessere Gesellschaft finden, als ihnen hier in Schlangen und Eidechsen zu Theil geworden ist. Auch ihnen ist Niemand hold gesinnt. In der Fähigkeit, mit colossaler Ausdauer in einer einmal eingenommenen Lage oder Stellung zu verharren, geben sie den Reptilien auch nichts nach. In dieser letzteren Eigenschaft aber völlig unübertrefflich und deshalb in dieser Umgebung gleichsam heimathsberechtigt ist ein Vierfüßler, dem wir noch einen kurzen Besuch abstatten wollen. Man pflegt wohl zu sagen, daß zur Faulheit keine besondere Uebung gehöre. Mit solcher Virtuosität aber zu faulenzen, wie das zweizehige Faulthier es fertig bekommt, dazu würden andere Geschöpfe doch erst einigen Fleiß verwenden müssen. Selbst das Fressen scheint diesem Thiere eine Last zu sein. Dabei bewährt sich auch hier die Richtigkeit des Sprüchwortes, daß Faulheit mit Armuth lohnt, wenn darunter auch geistige Armuth zu verstehen erlaubt ist, denn nicht viele Säugethiere machen unserem Faulthiere in Bezug hierauf den Vorrang streitig; nicht viele erscheinen gleich ihm als das Conterfei der vollendetsten Stupidität. Es ist fast, als wenn es dieser sich bewußt wäre, und deshalb hartnäckig das blöde Gesicht verstecke! Man gönne ihm das Vergnügen – wir wollen zu lebendigeren Bildern uns wenden.
Die Erfahrung, daß das, was das Auge fesselt, das Ohr abscheulich beleidigen kann, wird jeder Aquariumsbesucher vor jenem Riesenkäfig gemacht haben, zu dem wir nun treten und dessen oberen Theil wir zu Ende des Schlangenganges und noch einmal besonders in der Gruppe C unserer Abbildung erblicken.
Geologische Grotte ist dieses Meisterstück von Baukunst genannt, in ihren Wandungen einen Durchschnitt unserer Erdrinde veranschaulichend. Hoch oben schwirren in ewig lebendigem Spiele Alpendohlen, oder zetern in ohrzerreißendem Geschrei die farbenprächtigsten Papageien und Kakadu’s; rechts in der Mitte erheben die australischen Riesenfischer ihre jeder Beschreibung spottenden und jedes Wohlklanges entbehrenden Tonübungen, und unten aus der Tiefe schallt die durchdringende Stimme der Austernfischer oder das gellende Lachen der Möven empor. Das Auge möchte weilen – der Eindruck ist zu imposant – das Ohr möchte eilen; können beide denn nicht zugleich genießen? Wende dich um, steige wenige Stufen herab – wirf im Herabsteigen einen flüchtigen Blick rechts in den Felsenschacht, der dort zu bodenloser Tiefe sich verliert, und laß dann mit überwältigender Kraft auf dich einwirken, was sich nun dir bietet: die oft bespöttelte, für die, die am Wort Aquarium hängen geblieben, hier unberechtigt erscheinende, in Form und Füllung bis jetzt nirgend übertroffene Prachtvolière (Vogelhaus).
Die Gruppe D giebt die Ansicht, die der Besucher zuerst empfängt; das große Mittelbild unserer Abbildung ist geeignet, den Totaleindruck zu vervollständigen; ganz ist dieser aber ebensowenig [169] vom Malergriffel, wie von der beschreibenden Feder wiederzugeben. Die Sammlung der in diesem in vierzehn große Unterabtheilungen zerfallenden Flugkäfig gehaltenen Pracht-, Zier- und Singvögel ist einzig in ihrer Art; die luftige Vergitterung gestattet von jeder Seite aus den vollen Durchblick durch den ganzen gewaltigen Raum. Man mag vielleicht einmal noch größere Volièren bauen und die Schaar der gefiederten Insassen bis in das Unberechenbare vervielfältigen – an Zierlichkeit und Anmuth und zugleich an Großartigkeit und Fülle wird dieser Prachtbau stets ein vollgültiges Muster bleiben.
Es würde selbstverständlich den Rahmen dieser Schilderung sprengen, wenn wir alles Das, was hier Beachtens- und Besprechenswerthes sich bietet, erwähnen wollten. Der Farbenreichthum der tropischen Vögel, die Klangfülle der vielen Meister der Gesangeskunst, der kunstvolle Nestbau der seltensten Webervögel, darunter der der seltenen Büffelweber, das Alles im Einzelnen dem Leser vorzuführen, ist schlechterdings unmöglich – gehört doch selbst für den aufmerksamen Liebhaber ein wiederholter Besuch dazu, um sich in diesem bunten Chaos der unaufhörlich durcheinanderschwirrenden lustigen Gesellschaft einigermaßen zurechtzufinden. Dazu schweift der Blick noch unwillkürlich an den kunstvollen umgebenden Felsenwandungen entlang, um hier die ersten Süßwasserbecken, dort Krokodil- und Schildkrötengrotte (B und E der Abbildung), hier die in seltsamster Lage hängenden, in ihren Flügeln wie in einem Mantel eingewickelten Flederhunde, dort Nörz und Flatterhörnchen zu betrachten. Es ist zu viel, um Alles zu sehen, und sucht das Auge wirklich einige besonders hervorragende Gestalten festzuhalten, will es das Flammenkleid des rothen Ibis oder den Atlasschmuck der Glanzdrosseln, das bunte Sammetgefieder der Wittwen- und Webervögel oder das farbige Allerlei der Miniatur-Zierfinken genauer betrachten, dann schwirrt wie auf ein gegebenes Zeichen mit einem Male die nach Tausenden zahlende Schaar empor, gänzlich verändert ist die Scene – und was Du eben gesehen, hat einem andern Bilde Platz gemacht. So von immer neuen Eindrücken gefesselt, gelangen wir um den Flugkäfig herum und blicken auf die in Gruppe F dargestellte Süßwassergalerie.
Doch ehe wir diese betreten, wird unsere Aufmerksamkeit durch Das, was wir vor derselben in dem großen Käfig – rechts auf unserm Bilde F – erblicken, nachhaltigst abgelenkt. Der Schimpanse meint hier den Besucher nicht vorüberlassen zu dürfen, ohne ihn mit einem ausdrucksvollen „Oh! oh! oh!“ zu begrüßen und ihn zu bitten, ihm deshalb nicht etwa böse sein zu wollen, weil er und seine Sippe in den Verdacht der Verwandtschaft mit uns gerathen sind. Mit fast nie losgelassener Decke hinkt er uns entgegen, streckt vertraulich und bittend die menschenähnlichen Hände durch das Gitter und scheint aufmerksam prüfen zu wollen, ob wir seiner Zuneigung wohl werth sind. Sofort aber schwingt er sich an seinem Turngerüste in die Höhe, um uns in den ausgelassensten Capriolen und tollsten Gliederverrenkungen davon zu überzeugen, daß wir wenigstens in der Turnkunst noch sehr viel von ihm lernen können. Wenn wir nicht anderweitig noch mehr zu bewundern hätten, so könnten wir ihm wohl noch ein Stündchen Beobachtungszeit schenken und uns davon überzeugt halten, daß sein urdrolliges Benehmen uns fort und fort ergötzen würde. So aber – noch einen Blick nach links und rückwärts auf die ihre unwiderstehliche Anziehungskraft in immer neuer Großartigkeit bethätigende Volière – und nun betreten wir die bereits genannte Süßwassergalerie (F).
Die Mehrzahl der auf ihrer linken Seite befindlichen Wasserbecken sind zur Aufnahme von Seethieren eingerichtet worden. Auf der rechten Seite noch einmal Vögel, der Reihenfolge, nicht dem Werthe nach die letzten, welche die umfangreiche Sammlung besitzt, denn unsere und die besten amerikanischen Edelsänger, ferner australische Flötenvögel, amerikanische Troupiale, Heher und Tyrannen, sowie die in Gefangenschaft sonst nicht weiter gehaltenen zierlichen Lasurmeisen Sibiriens sind wohl eingehendster Beachtung und Beobachtung werth.
Durften wir bisher in einem nach oben durch luftige Glasdächer abgeschlossenen Felsenkessel zu wandeln glauben, so gewinnt das Bild in dieser Galerie einen wesentlich andern Charakter: ein langer nach beiden Seiten durchbrochener Felsengang nimmt uns auf, und nur seitwärts einfallendes Licht vergönnt das über uns sich dehnende starre Felsengewölbe zu betrachten. Die ersten Becken, für Süßwasserbewohner bestimmt und deshalb unter weniger bekannten auch unsere gewöhnlichsten Flußfische enthaltend, gewähren in ihrer künstlerischen Felsendrapirung und in ihrem reizenden Pflanzenschmuck das anmuthigste Bild, das man auf diesem Gebiete sich vorstellen kann. Sie sind die treffendste Illustration zu der Dichterstrophe: „Ach, wüßtest Du, wie’s Fischlein ist so wohlig auf dem Grund!“ Lachende Freundlichkeit und heiteres Leben ist hier die Devise – und gleich darauf, wie um den Contrast recht scharf hervortreten zu lassen, in den daran sich schließenden Seebecken der Ernst des Meeres und seiner unnahbaren Tiefen! Denn auch der bunte Schmuck der Seerosen, die sich hier gleich in einem der ersten Becken präsentiren, kann doch das geheimnißvolle Etwas nicht ganz verleugnen, das ihre räuberisch auf Beute ausgestreckten Fangarme jeden Augenblick zu bethätigen gewillt sind. Grotesk und unheimlich zugleich treten uns schon hier die langbeinigen abenteuerlichen Seespinnen und Tolkrabben entgegen; in zierlichen Schwimmbewegungen gleitet die sonderbare Gestalt des Störs vorüber, und plump in Form und Wesen meint auch der Dorsch die Bekanntschaft, die wir mit dem „gekochten“ schon wiederholt geschlossen, hier „roh“ sofort erneuern zu müssen.
Wir wandern weiter. Eine schmale Treppe führt links hinauf, eine breite rechts herunter. Es muß wohl die Erinnerung daran sein, daß der Tugendpfad schmal und der Sündenweg breit sein soll, daß so viele Besucher noch immer den unglaublichen Versuch wagen, die halsbrecherische schmale Passage zur Linken erklimmen zu wollen. Lassen wir auf dieser nur die Beamten des Instituts zu ihrem Futterboden gelangen und folgen wir dem breiten, mit stattlichen Pflanzen reich geschmückten Steinpfade zur Rechten in die Treppenhalle, die unsere Abbildung in den Gruppen G und H von der dem Kommenden entgegengesetzten Richtung her zeigt. Gerade vor uns haben wir die letzten für Süßwasserfische bestimmten Becken und die „künstliche Fischzucht“, letztere mit Brehm’schen und Lüer’schen Brutkacheln und Kuffer’schen Bruttiegeln. Die Verschiedenheit dieser Bruteinrichtungen näher zu entwickeln, würde für die vorliegende Schilderung ebensowohl zu weit führen, als wenn wir die künstliche Fischzucht überhaupt sachgemäß besprechen wollten. Hier mag die Mittheilung genügen, daß eingesetzter Laich von Salmoniden – Lachs, Lachs- und Gebirgsforellen etc. – regelmäßig lebensfähige Fischchen zur Entwickelung kommen ließ.
An der Bibergrotte – am Fuße der Treppe links – vorüber blicken wir nunmehr einen dunkeln wenig erhellten Weg entlang, der schließlich in ein Felsenwirrsal zu enden scheint (das Bild G zeigt ihn uns im unteren Gange). Hier ist schon Mancher bedenklich geworden, ob er sich in diesen Schlund hineinwagen soll; das wohlgemeinte „Vor Taschendieben wird gewarnt!“ ist an dieser Stelle auch nicht gerade geeignet, den sinkenden Muth zu heben. Nun, einen Blick wenigstens in das erste Seebecken rechts – hier ist es ja noch nicht völlig dunkel, und der Anblick ist mehr als verlockend: Fische im silberleuchtenden Schuppenkleid mit goldenen Längsstreifen, andere mit seltsamen Hörnern über den Augen – das verdient doch wohl nähere Betrachtung. Gewiß! denn nicht viele Aquarien können sich rühmen, die Goldstrichbrasse, die ihres Wohlgeschmackes wegen berühmte Aurata der Alten, den Chrysophrys des Aelian, und die gleichfalls dem Mittelmeere angehörigen Hörnerfischchen dauernd zu halten. Die Scheu vor der Dunkelheit im Gange ist überwunden; das Seewasser ist so krystallklar, die zierlichen Fische darin sind so munter – so laßt uns denn zum nächsten Becken treten. „Es ist gar nichts darin!“ tönt es uns von einem Besucher entgegen, der lange Zeit davor gestanden, ohne etwas entdecken zu können. Von Natur skeptisch, will Jeder selbst „Nichts“ mit eigenen Augen sehen – das ist aber doch kein Felsstück hier an der Seite? Behüte, es athmet ja, es löst sich los und hinein in’s Becken schwimmt ein durch Schönheit keineswegs excellirendes Geschöpf, ein ungeschlachtes Ungethüm, das fast so dick wie lang erscheint. Ein Seehase ist es, von den Fischern Lump genannt, weil er mehr Gräten hat, als zum Genusse dienlich sind; und da noch einer – und noch einer, und plötzlich beginnt der ganze Boden des Beckens zu wimmeln, die Schollen – Flundern, Steinbutt, Seezunge –, die es enthält, [170] hatten unter’m Sande verborgen gelegen, und ein im Hintergrunde versteckt gewesener, jetzt hervorkommender Hummer schreckt sie bei seiner graciösen Promenade über den Meeresboden aus ihrer unsichtbaren Ruhestätte auf.
Und was schwimmt oder schwebt denn hier in dem folgenden Becken? Was ist bei diesem Geschöpf denn rechts und links oder vorn und hinten? In der That, der erste Eindruck, den schwimmende Rochen auf den Beschauer hervorrufen, rechtfertigt wohl das Erstaunen, das sich nicht selten in Fragen wie die eben angedeuteten expectorirt. Wenn diese quermäuligen Fleischlappen mit der flachen lichten Bauchseite an der Scheibe des Beckens sich „emporhaspeln“, so gehört keine überschwängliche Phantasie dazu, den Vergleich mit einem menschlichen Gesicht naheliegend zu finden. Nicht weniger fällt durch seine absonderliche Gestaltung eine andere Fischgattung auf, die in demselben Becken „herumläuft“. Der Knurrhahn, der jedes Angreifen sich mit vernehmlichem Knurren verbittet, scheint in der That bei dem ersten Anblick auf jeder Brustseite drei Beine zu haben und diese – es sind freie unverbundene Strahlen der Brustflossen – auch ganz regelrecht zu Schreitübungen zu verwenden. Die Beine der Krabben und Einsiedlerkrebse wenigstens, die wir in allen Becken vertheilt finden, werden zur Fortbewegung nicht viel anders aufgesetzt, als wie der Knurrhahn seine Flossenstrahlen bewegt, sobald er dicht über den Boden dahingleitet.
Ein weiteres Becken führt uns die feierliche Stille, wie wir sie uns auf dem Meeresboden vorzustellen pflegen, in ernstester Schönheit vor. Dasselbe ist frei von allen Hochschwimmern, denen das Auge unwillkürlich folgt, wenn sie das Becken schnell im neckischen Spiel oder langsam mit würdevoller Grandezza durchziehen. Der Besucher glaubt daher hier anfänglich nur auf Seepflanzen zu blicken. Und doch ist auch hier fast Alles lebend, fast Alles dem Thierreich angehörend, Sabellen und Serpeln, jene Röhrenwürmer, deren zarte und zartgefärbte Fühlerkränze selbst mit den gleichsam nur hingehauchten Tentakeln der Seenelken wetteifern, Korallen, Seeigel, See- und Sonnensterne, Meerhand – Polypenstöcke an Buntheit und seltsamen Formen einander überbietend – und zwischen und theilweise über ihnen der grüne Sammetteppich der Alge – dem Maler, der dies farbengetreu wiedergeben wollte, würde man Uebertreibung vorwerfen. Das Gleiche gilt von dem folgenden Blumenthierbecken, den Erdbeer-, Gürtel-, Edelstein-, Schmarotzerrosen, dazwischen die in Größe besonders ausgezeichneten grünen Fadenrosen des Mittelmeeres mit ihren violetten Spitzen – ein Blumentableau unter Wasser in täuschender Nachahmung! –
In Farbenreichthum Alles übertreffend, eine lebendige Kalospinthechromokrene erscheinen die Lippfische der folgenden Becken (Gruppe I unserer Abbildung, links). Ultramarin-, Pfauen-, Fünffleck-, Zebra- etc. Brassen, ihr Name ihrem Schuppenkleide entlehnt, sind Fische von so prachtvoller Zeichnung, daß der Verdacht künstlicher Färbung verzeihlich erscheint in der Vorstellung des schwergläubigen Kritikers, dem Karpfen, Schlei und Blei etc. als die Hauptrepräsentanten von Wasserbewohnern geläufig sind. Und nicht nur die südlichen Meere liefern solche Farbenmusterkarten, die schon erwähnten Ultramarinbrassen wie die Seeschleien der Nordsee dürfen vollen Anspruch darauf erheben, mit jenen um den Preis der Schönheit zu ringen. Schmuckloser, doch gefällig und ansprechend ist die Besetzung der Becken des sogenannten Achtecks mit seinen Seescorpionen, Seebullen, Grundeln, Aalmuttern, Seeäschen und Karauschen – es wird einem von allem Sehen ganz schwindlig – da winkt in der Ecke ein kleines „Kapellchen“ und ladet den Wandrer zum – Beten? – nein – zum frischen Trunk ein – doch rastlos treibt es ihn weiter fort. So kommen wir den Felsengang herauf, in welchen wir aus der Gruppe I zur Rechten hineinblicken. Es verlohnt hier wohl, den Blick nach oben und rundherum wandern zu lassen, um sich des prachtvollen Felsgrottenbaues bewußt zu werden, der sich hier um und über uns erhebt. Die Genialität des Baumeisters scheint hier sich selbst übertroffen zu haben; es ist nicht denkbar, daß dieser Theil noch künstlerischer, noch großartiger hätte ausgeführt werden können. Als wandelten wir in einem sagenhaften Schloß auf dem Meeresgrunde und sähen hinaus in die umgebenden Fluthen – so blicken wir in die Basaltbecken (Gruppe K ) und ihren prachtvollen Actinieninhalt.
Die Treppe zur Linken hinauf – und wiederum stehen wir vor der schon einmal bewunderten geologischen Grotte, diesmal am Fuß derselben, in unmittelbarster Nähe der dort sich tummelnden Wasservögel und des in graziösen Schwimmübungen auf Fische jagenden Seehundes. Im weitern Verlauf gelangen wir in den Gang, an dem zur Rechten das größte Seebecken des Instituts die größten seiner Insassen zeigt: Seeaale, Störe, Dorsche in respectabelstem Format, Pfeilschwanz- oder Molukkenkrebse mit ihren colossalen Kuppeldächern, kleinere Dorn- und Katzenhaifische, und oben, wie in der Luft einem Raubvogel gleich schwebend, die riesigen Seeschildkröten. Nach links sehen wir noch einmal durch einen Felsendurchbruch (L) unten auf das gesammte Achteck, oben auf die in regster Lebendigkeit auch hier sich präsentirende Volière – und scheiden aus den schönen für Belehrung und Unterhaltung gleich herrlich ausgestatteten Räumen mit dem stolzen Bewußtsein: das unvergleichliche Denkmal monumentaler Baukunst, diese kunstvolle Stätte für wissenschaftliche Forschung nicht bei andern Nationen suchen zu müssen – sie unser nennen zu dürfen!
Blätter und Blüthen.
Das erste Schillerdenkmal in Tirol hat, wie man uns aus Meran schreibt, der Dichter des „Liedes vom neuen deutschen Reich“, Oscar von Redwitz, aufgestellt. Derselbe hat sich bekanntlich seit vorigem Herbst in Meran dauernd niedergelassen und daselbst am Obermaiser Kirchsteig eine Besitzung käuflich erworben, welcher er nach vollendetem Ausbau den Namen „Schillerhof“ gegeben hat. Dem großen Dichterfürsten zu Ehren, steht nun dessen Kolossalbüste, aus fleckenlosem Carraramarmor in doppelter Lebensgröße gebildet, auf granitenem Postament in der Gartenanlage zwischen immergrünem Strauchwerk, von den Hochalpen umragt, in einer wahrhaft imposanten Landschaft voll Majestät und harmonischer Schönheit. Die meisterhafte Büste ist von den kunstfertigen Händen Kaspar Zumbusch’s modellirt worden – desselben, dem München nach sechsjähriger angestrengter Arbeit des Künstlers noch in diesem Herbste sein großartiges König-Max-Denkmal verdanken soll und der unter den deutschen Bildhauern jetzt wohl in erster Reihe genannt wird. – Nun haben auch hier Dichter und Bildhauer vereint ein Werk geschaffen, das ihnen Beiden gleich zur Ehre gereicht; seine Aufstellung aber begleiten auch wir mit dem aufrichtigen Wunsche, daß dieses lorbeergekrönte, an der Grenzmark deutscher Sprache und deutscher Sitte ragende Schillerdenkmal unangetastet und unentweiht fortan stehen möge, ein würdiges Symbol jener leuchtenden Ideen, als deren erhabenen Träger wir Schiller immer verehren und die – wir sind dessen gewiß – eine bleibende Wohnstätte auch in den schönen Thälern Tirols noch finden werden.
Nachträgliches. Den Aufsatz „Der Deutschen Nordmark Ehrenwacht“ in Nr. 44 (1872) unserer Zeitschrift haben wir durch die Erklärung zu berichtigen und zu ergänzen, daß auch der nunmehr verstorbene Berliner Bildhauer P. W. Stürmer einen hervorragenden Antheil an den Siegesdenkmalen auf den Düppler Höhen und zu Arnkiel hat, indem die figürlich-künstlerischen Ausführungen der acht Soldatenbilder, welche diese Monumente zieren, die letzten Werke dieses verdienten Künstlers sind.
C. T. in O. Dem braven Lootsenjungen Fritz Kruse ist so wenig, wie unseren armen Landsleuten an der Ostsee, mit Gedichten zu helfen. Wen das Unglück an sich nicht gepackt hat, der wird auch die Verse darüber nicht lesen; und wenn wir alle Gedichte drucken lassen wollten, die uns mit und ohne Unterstützungsgeld zugeschickt werden, so würden wir Leser und Geber längst selber vertrieben haben. Uebrigens haben sich für Fritz Kruse dessen Vormünder öffentlich verwendet und bitten, Gaben für denselben an den Rathmann N. Mildenstein zu Burg auf Fehmarn adressiren zu wollen. Wie groß auch die Theilnahme für den auf so schreckliche Art zur Waise gewordenen Knaben in Schleswig- Holstein ist, so hat doch die Bevölkerung von der Sturmfluth so schwer gelitten, daß es allerdings auswärtiger Hülfe bedarf, um den braven Jungen zu einem tüchtigen Manne zu erziehen.
Frau F. Th. in Rostock. Es ist sofort nach Ihrer Anweisung verfahren worden. Da Sie auf Wilhelm Bauer’s Siegelring schon überboten waren, so übersandten wir, streng nach Ihrer Anordnung, die betreffende Summe ihm selbst. Eine Quittung konnten wir für Sie nicht unter den Gaben für die Ostsee-Verunglückten ausstellen, und Wilh. Bauer konnte Ihnen nicht direct schreiben, weil Sie Ihre Adresse nicht genannt haben, sonst würden Sie, wie er uns mittheilt, sofort eine Photographie mit einigen Dankesworten von ihm empfangen haben.
G. F. in Gr. Doch gar zu leichte Waare für unser Blatt.
Berichtigung. In dem Artikel „Erinnerungen aus dem Indianeraufstand in Minnesota“ in Nr. 7 der Gartenlaube ist Seite 118, erste Spalte, letzte Zeile unten statt „und das Fort auch glücklich erreichte“ zu lesen: „und das Dorf auch glücklich erreichte“.